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Unser wirkliches Leben E-Book

Imogen Crimp

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Beschreibung

"Imogen Crimps Hauptfigur Anna passt weder in die Welt der angehenden Opernstars noch ins Leben ihres Liebhabers. Und die Autorin schildert diese Zerrissenheit mit feinem psychologischem Gespür. Manchmal erinnert ihr dialogreicher Stil an die Autorin Sally Rooney – den irischen Literatur-Shootingstar der letzten Jahre." NDR Kultur

Die Gesangsstudentin Anna konkurriert tagsüber beim Vorsingen gegen ihre Kommilitoninnen aus gutem Hause, nachts singt sie Jazz in einer verrauchten Bar, um die Miete bezahlen zu können.
Dort trifft sie den wohlhabenden Max. Einen betörenden Winter lang oszilliert ihr Leben zwischen den schwer erkämpften Momenten auf der Bühne und den Nächten in Max’ Apartment, das über die Lichter der Stadt blickt. Doch Annas Karriere fordert einen immer größeren Teil ihres Lebens – ebenso wie Max.
Imogen Crimps Romandebüt ist eine fesselnde Liebesgeschichte und ein tiefgehender psychologischer Roman über eine Beziehung mit ungleichen Machtverhältnissen, über Geld, Sex und Abhängigkeit.

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Über das Buch

Die Gesangsstudentin Anna konkurriert tagsüber beim Vorsingen gegen ihre Kommilitoninnen aus gutem Hause, nachts singt sie Jazz in einer verrauchten Bar, um die Miete bezahlen zu können.Dort trifft sie den wohlhabenden Max. Einen betörenden Winter lang oszilliert ihr Leben zwischen den schwer erkämpften Momenten auf der Bühne und den Nächten in Max’ Apartment, das über die Lichter der Stadt blickt. Doch Annas Karriere fordert einen immer größeren Teil ihres Lebens — ebenso wie Max.Imogen Crimps Romandebüt ist eine fesselnde Liebesgeschichte und ein tiefgehender psychologischer Roman über eine Beziehung mit ungleichen Machtverhältnissen, über Geld, Sex und Abhängigkeit.

Imogen Crimp

Unser wirkliches Leben

Roman

Aus dem Englischen von Margarita Ruppel

hanserblau

›Sowas sagt man doch nicht‹, hab ich ihm gesagt. Und er sagte: ›Aber es ist doch wahr, oder? Für fünf Pfund bekommt man ein sehr hübsches Mädchen, wirklich schon ein sehr hübsches; man bekommt ein sehr hübsches Mädchen sogar umsonst, wenn man nur weiß, wie man’s anstellen muß.‹

Jean Rhys, »Irrfahrt im Dunkel«

Erster Teil

1

Laurie kellnerte an diesem Abend, statt hinter der Bar zu stehen, also blieben die gratis Drinks für mich aus. Aber ich hatte einen guten Tag und überlegte, mir noch einen zu bestellen, als der Mann neben mir sich umdrehte und mich ansprach.

Ich habe dich eben gesehen, sagte er. Beim Singen. Das warst doch du, oder nicht?

Ich nickte.

Ja.

Ich wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Sie wollten immer noch etwas sagen, die Männer, die mich ansprachen. Normalerweise etwas darüber, wie schön mein Gesang, oder ich, sei. Oder wie sexy. Grob geschätzt, entschied sich die eine Hälfte für schön und die andere für sexy. Oder es ging in ihrem Monolog darum, dass eins der Lieder, die ich an dem Abend gesungen hatte, sie in eine Zeit zurückversetzt habe, in der sie dieses oder jenes getan hätten, an diesem oder jenem Ort gewesen seien, oder darum, wie meine Stimme sie an ihre Ex-Freundin oder getrennt lebende erste Ehefrau oder ihre Mutter erinnere, wobei ich meistens den Faden verlor.

Dieser Mann sagte jedoch nichts mehr. Er nickte ebenfalls und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder seinem Drink zu, ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen, blickte tief hinein. Das ärgerte mich.

Wie hat es dir denn gefallen?, fragte ich.

Ja, doch, sagte er. Es war gut, schätze ich.

Okay.

Ganz ehrlich? Nicht so mein Fall.

Oh.

Er verstummte wieder.

Warum bist du dann hier?, fragte ich.

Ich saß auf einem dieser drehbaren Barhocker, und er legte eine Hand auf dessen Rückseite und schwang mich herum, sodass ich das Fenster im Blick hatte. Ich wollte ihn fragen, was zur Hölle das wohl werden sollte, doch als ich ihn ansah, war sein Gesicht so ausdruckslos, so gleichgültig meiner Reaktion gegenüber, dass es peinlich gewesen wäre, mich aufzuregen. Es machte mir auch nichts aus, nicht wirklich. Aber ich wusste, dass es mir vermutlich etwas hätte ausmachen sollen.

Er deutete aus dem Fenster.

Siehst du das Gebäude da?

Das graue?

Ja. Zähl hoch bis zum fünften Stock. Hast du es? Siehst du das äußerste Fenster auf der linken Seite? Das ist mein Fenster. Dort arbeite ich.

Oh, okay, sagte ich. Bist du dann öfters hier?

Hast du mich das gerade wirklich gefragt?

Du weißt, was ich meine.

Er lächelte ein schmales Lächeln.

Ich bin ziemlich oft hier, ja. Ich glaube, ich habe dich sogar schon mal singen gehört. Vielleicht war es aber auch jemand anders.

Wir hören uns alle gleich an, was?

Er zuckte mit den Schultern.

Wie gesagt, ich verstehe nicht viel davon.

Was machst du denn dort drüben?, fragte ich.

Kennst du dich im Finanzwesen aus?

Gar nicht, nein.

Na also, und ich schmolle deswegen auch nicht, oder? Das ist jedenfalls, was ich mache, und heute war ein langer Tag. Um also deine ursprüngliche Frage zu beantworten, ich bin nicht wirklich wegen der Musik hier, sagte er, als würde er einem Kind erklären, dass er zu müde fürs Fingerfarbenmalen sei. Versteh mich nicht falsch, ich bin mir sicher, es war bezaubernd. Aber ich bin hier, weil ich einen Drink brauchte.

Alles klar.

Aber es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.

Er lächelte und wandte den Blick ab.

Normalerweise läuft es ungefähr so ab. Jemand versucht, dich aufzureißen, und entweder ist er so dumm, dass du deine Intelligenz verstecken musst und immerzu sagst ach wirklich! oder wie witzig! und wie eine hohle Nuss lachst, damit du ihn nicht abschreckst, obwohl du dir eigentlich nichts sehnlicher wünschst, als ihm deinen Drink ins Gesicht zu schütten. Oder aber er ist schlau, er ist schlau und möchte sich über dich lustig machen. Er will dir ein Bein stellen und dich auslachen, wenn du ausgestreckt auf dem Boden liegst.

Dieser Mann war weder das eine noch das andere. Nicht so ganz. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Zum einen schien er nicht daran interessiert, mir näher zu kommen. Er hatte eine Hand auf seinem Bein, die andere an seinem Drink. Er hatte nicht noch mal versucht, die Lücke zwischen uns zu schließen. Wenn überhaupt, war er weiter weggerückt, und ich lehnte mich auf einmal vor, um zu hören, was er sagte. Und seine Worte schienen keine bestimmte Absicht zu verfolgen. Es schien ihn nicht zu kümmern, wie ich reagierte. Er warf sie achtlos hin, wie jemand Essensreste in einen Hundenapf schmeißt, nur um sie loszuwerden und ohne darauf zu warten, dass sie aufgegessen werden.

Mir war nicht klar, dass du überschwängliches Lob erwartet hattest, sagte er. Verzeih mir.

Ist schon gut. Wir Künstlerinnen sind einfach sensibel, weißt du?

Ach?

Ja, sagte ich. Wenn meine Zuhörer mir also nicht gleich sagen, dass es ihnen gefallen hat, gehe ich davon aus, dass sie es schrecklich fanden.

Und das ist ein Problem für dich?

Nun, ja, sagte ich. Weil ich dann denke, dass es vermutlich schrecklich war, und dann, na ja, eskalieren die Dinge ziemlich schnell im Kopf einer Künstlerin. Bevor wir wissen, wie uns geschieht, ersticken wir in Selbsthass, sagen uns, dass es jetzt reicht, dass es Zeit ist, aufzugeben, unsere Niederlage zu akzeptieren, wir sind nicht gut und werden es niemals sein, und jeder andere hier weiß das, wir versinken in dem Gefühl, jemand hätte uns kopfüber in eine Grube geschubst, aus der wir herauszukriechen versuchen, während von oben jemand Erde hineinschaufelt. Und das alles nur, weil es jemand gewagt hat, das Gespräch mit einer Bemerkung über das Wetter oder die Zahl der Gäste auf der After-Show-Party zu beginnen, anstatt gleich zum wichtigen Punkt zu kommen — wie fabelhaft wir waren, was ehrlich gesagt alles ist, worüber wir reden wollen.

Ich gab ein kleines Lachen von mir, um zu zeigen, dass ich es ironisch meinte, aber er schien es nicht zu bemerken.

Das klingt sehr anstrengend, sagte er.

Glaub mir, das ist es.

Dann lass mich dir einen Drink ausgeben, und wir beginnen diese ganze Sache noch mal von vorne.

Er deutete auf mein leeres Glas.

Was trinkst du?

Was auch immer du trinkst, sagte ich.

Er wandte sich an den Barkeeper, und ich musterte ihn, während er sprach. Er war älter als ich — Ende dreißig, Anfang vierzig vielleicht — und attraktiv. Beinahe schön, denn irgendwie hatte er etwas Feminines an sich, obwohl seine Schultern breit waren und sein Haarschnitt der eines typischen City-Bankers. Seine Wimpern vielleicht. Er hatte hübsche lange Wimpern, geschwungen und hell wie die einer Frau. Doch seine Art der Schönheit strahlte eine Kälte aus. Schwer zu erahnen, was sich dahinter verbarg.

Der Barkeeper stellte uns zwei Drinks hin.

Was ist das?, fragte ich. Meiner unterschied sich von seinem.

Probier mal, sagte er. Du wirst es mögen.

Und er hatte recht. Das Getränk war cremig und süß. Es wärmte mir die Kehle.

Also, wo waren wir stehen geblieben?

Wir wollten von vorne anfangen.

Stimmt. Genau. Also …

Er drehte sich auf seinem Hocker, bis er mir zugewandt war.

Also, sagte er. Ich habe dich eben gesehen. Beim Singen. Das warst doch du, oder nicht?

Ich nickte.

Ja.

Ich hoffe, du hältst mich nicht für aufdringlich, sagte er. Ich meine, weil ich dich einfach so anspreche, während du hier alleine sitzt. Wenn du möchtest, dass ich aufhöre, sag es. Dann höre ich auf.

Ich sagte nichts.

Er fuhr fort.

Ich wollte dir nur sagen, wie sehr es mir gefallen hat. Deine Stimme, meine ich. Wie bezaubernd sie war. Wirklich, ich meine es ernst.

Ich lachte.

Ach, danke, sagte ich. Das ist lieb.

Nein wirklich. Ehrlich. Ich meine es ernst. Lach nicht. Wie heißt du?

Anna.

Anna, wiederholte er. Ich meine es ernst, Anna. Das ist kein Witz. Willst du die Wahrheit hören? Ich habe dich hier tatsächlich schon mal gehört. Und ja, bevor du etwas sagst, ja, ich weiß, was ich gesagt habe. Aber du warst es definitiv, das weiß ich. Und die Wahrheit ist, es hat mir gefallen.

Er lächelte und zuckte mit den Achseln, sein Blick leer und unschuldig.

Es ist nicht unbedingt mein Ding, wie gesagt. Nichts, womit ich mich auskenne. Aber, ich weiß nicht, es hatte etwas an sich, du hattest etwas an dir. Es hat mir gefallen.

Zuerst dachte ich, er mache sich über mich lustig, und versuchte, einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der zeigen sollte, dass ich verstand. Dass ich bei seinem Witz mitspielte. Doch er redete weiter, ich bin schon ein paarmal hierher zurückgekommen, an Abenden, an denen ich dachte, du wärst hier. Ich wollte dich wiedersehen, und er sah mich weiter unverwandt an, seine Augen blickten geradewegs in meine, blinzelten nicht hinunter zu meinen Lippen oder meinen Brüsten oder meinen Beinen, und nach einer Weile war ich mir nicht mehr sicher, was er tat. Ich wusste nicht mehr, was ich mit meinem Gesicht anfangen sollte. Seine Stimme fuhr immer weiter fort, sanft und beruhigend, und ich dachte an nichts anderes mehr als daran, wie sie sich anhörte, alles andere entglitt mir allmählich, all die Gefühle, all die Gedanken strömten aus meinem Körper wie eine Welle, die ins Meer gesogen wurde.

Er sprach nun von der Intensität. Irgendwas über Intensität und Atmosphäre, wie ein Magnet, er sagte jedenfalls etwas über Magneten und auch über meine Augen, er sprach von meinen Augen.

Aber da ist etwas, sagte er, ich kann es nicht erklären, aber da ist etwas, das du brauchst, um zu tun, was du tust, und ich weiß nicht viel darüber, aber ich weiß, dass du es hast.

Doch dann erkannte ich, dass seine Mundwinkel ein wenig nach oben zeigten und in seinen Augen ein kalter, harter Schimmer lag, wie bei einem Schuljungen, dessen Streich kurz vor der Enthüllung stand, und er endete mit: Deine Stimme, sie hat … sie hat einfach zu mir gesprochen, und dann grinste er, und ich wusste mit Sicherheit, dass er sich über mich lustig machte, und wollte mich unter dem Tisch verkriechen.

Ich griff nach meinem Drink und wandte meinen Blick ab von ihm.

Was?, sagte er. Was? Ich hab’s versucht. War das nicht besser?

Viel besser, sagte ich. Danke.

Hey, ich wollte dich nicht verärgern. Reg dich nicht auf.

Ich rege mich nicht auf. Gut gemacht, das kannst du wirklich gut.

Danke.

Ich habe dir fast geglaubt, sagte ich.

Wer sagt, dass es nicht die Wahrheit war?

Doch seine Augen lachten immer noch.

Dann erklärte er mir, worum es in seinem Job ging, und während er sprach, zupfte ich an einem Stück Haut an meinem Daumen herum. Ich kam mir dumm vor. Er hielt mich für eitel, affektiert, und er hatte recht, das war mir klar, deshalb hatte ich das Gefühl, er hätte mir eine Streichholzflamme unter den Fingernagel gehalten. Ich hatte es noch nie gemocht, aufgezogen zu werden, hatte nie gewusst, wie ich darauf reagieren sollte. Ich war eins dieser empfindlichen Kinder gewesen, die unter Tränen zum Lehrer rannten, wenn jemand etwas Gemeines zu ihnen sagte, aufrichtig überzeugt von der moralischen Richtigkeit des Universums, in dem Glauben, dass Menschen, die etwas Falsches getan haben, dafür zur Verantwortung gezogen werden.

Die Art, wie er mit mir sprach, fühlte sich widersinnigerweise gut an, obwohl es wehtat, wie einen Mückenstich zu kratzen, bis er blutet. Da war etwas an der Art, wie er mich ärgerte und herabsetzte, mir Dinge erklärte und sagte, hast du das jetzt verstanden?, und ja, da war ich, spielte mit, schmollend und posierend wie ein kleines Mädchen, mich selbst dafür hassend, und dachte, du sollst mich mögen, du sollst mich mögen, du sollst mich mögen.

Also, sagte er, als er fertig war. Du bist nicht sehr entgegenkommend, oder?

Bin ich nicht?

Ich machte diese Sache, über die sich meine Gesangslehrerin immer aufregte, ließ meine Stimme am Ende jedes Satzes hochgehen und in ein nervöses Kichern übergehen. Mit der Atmung, sagte sie dann. Steh dazu. Entschuldige dich nicht.

Nein. Du hast mir fast gar nichts erzählt. Alles, was ich über dich weiß, ist, dass du schnell beleidigt bist. Na los. Erzähl mir etwas über dich.

Das würde ich gerne, aber da gibt es nicht viel zu erzählen.

Wieder dieses defensive Lachen.

Probier es.

Ich überlegte.

Ich stellte mir vor, wie ich die Fäden meines kleinen Lebens vor ihm auspackte, ausbreitete und ordnete, mich fragte, was würde er schön finden? Was würde er haben wollen?

Nein, nichts davon, er würde nichts davon wollen, das konnte ich jetzt schon sagen. Er würde es schäbig und billig und überhaupt nicht nach seinem Geschmack finden. Die Art von Leben, die nur aus vier Wänden ohne Bilder besteht, Bilder sind nicht erlaubt, denn sie würden den Anstrich oder die hässlichen blassen Möbel beschädigen — diese Möbel, die nur für provisorische Zimmer gekauft werden, von Menschen, die nicht vorhaben, dort jemals zu wohnen. Das würde ich ihm nicht zeigen. Lauries lange Haare zusammengeknäult in meiner Haarbürste zu finden, meine fehlenden Klamotten in ihrer Kommode, nur so lange in der Badewanne bleiben zu können, bis ich unsere Vermieter, die Ps, unten auf der Treppe flüstern hörte — und selbst wenn ich meinen Kopf untertauchte, selbst wenn ich den Wasserhahn aufdrehte, konnte ich sie noch immer hören, als wären sie gleich neben mir, als wären sie mit mir in die Wanne gestiegen und flüsterten mir ins Ohr. Ich stellte mir vor, wie er den Stoff all dessen zwischen Zeigefinger und Daumen rieb, sich dachte, nein, zu dünn, billig, und ihn wieder fallen ließ.

Und die Nächte mit Laurie. Die würde ich ihm nicht zeigen. Sie und ich, von einem hinterletzten Loch Londons zum nächsten, billige Bars, fremde Wohnzimmer, mit denselben blassen Möbeln wie bei uns — aus demselben Katalog —, an all diese Orte würde er niemals gehen. Nichts davon. Nicht dieses üble Gefühl in meinem Bauch, wenn ich im Bett lag und hörte, wie die Ps sich im Dunkeln auf der Treppe bewegten. Ich hörte, wie ihre Finger suchend über die Tapete tasteten, während sie sich ihren Weg bahnten — tip tip tip, wie Käfer im Holz —, nachts wollte ich nicht auf Toilette gehen, falls sie da wären und sie sagen würde, wieder mal wach, wie? Als ich einmal eine Blasenentzündung hatte, pinkelte ich lieber in meine schmutzige Kaffeetasse, als Mrs P erneut sagen zu hören wieder mal wach, wie? zum fünfzehnten Mal, während sie am Fuß der Treppe auf der Lauer lag wie eine riesige Schlange, kannst nicht schlafen, hm? Nein. Nichts davon. Das konnte ich ihm nicht zeigen.

Vor allem aber nicht die Hässlichkeit dieses Lebens. Damit konnte ich ihn nicht beeindrucken. Das konnte ich ihm nicht stolz präsentieren und ihn fragen, was er davon hielt. Die Flecken auf der Unterwäsche, die nicht mehr rausgehen, das alte Make-up, das sich, klumpig und ausgetrocknet, nicht glatt an meine Haut schmiegt, die Absätze, die ein Klick-Klack-Geräusch machen, weil sie eine Reparatur benötigen und ich auf Metall laufe. Und die Langeweile daran. Die Langeweile daran, jeden Monat das Geld zu zählen, reicht es, reicht es nicht? Frühmorgens im Übungsraum stehen, immer und immer wieder dieselbe Note singen — es ist noch nicht ganz richtig, noch nicht, es ist noch nicht perfekt, es muss perfekt sein — und den Raum erst nachts wieder verlassen, die grauen Straßen ein Nichts, weil mein Kopf voll von Musik ist, mein Körper pulsiert, summt zu seinem ganz eigenen Rhythmus und alles um mich in den leuchtendsten Farben. Das würde er nicht verstehen. Nicht, dass ich mir selbst immer wieder sagte, es wird sich auszahlen, dieser Teil meines Lebens, er wird sich auszahlen, eines Tages werde ich über all dies lachen. Das würde ich ihm nicht zeigen — weder, wie ich mir das immer wieder in diesem kahlen weißen Zimmer einredete — kalt, dort war es immer kalt —, noch die traurigen Sirenen, die vor dem Fenster aufstöhnten, das Heulen des Verkehrs, launenhaft wie ein Kind, das seinen Willen nicht bekommt — nein —

Er sah mich erwartungsvoll an, also erzählte ich ihm das Einzige, was in meinen Ohren vielversprechend klang.

Ich bin eigentlich keine Jazzsängerin, sagte ich. Ich bin Opernsängerin.

Es war schon spät. Die Bar leerte sich. Lauries Schicht war zu Ende, also kam sie rüber und bot ihm das volle Programm, laut und frech, spielte mit ihren Haaren und neckte ihn. Ich dachte, er würde sich ihr zuwenden, und fühlte so was wie Erleichterung, aber er schien kein Interesse zu haben. Er lauschte ihr mit einem höflichen Zuhör-Gesicht — so eins, das ein wenig angestrengt aussieht, als würde sie ihm versehentlich ins Gesicht spucken.

Dann sagte er, er müsse gehen, und wir alle verließen die Bar zusammen. Draußen auf der Straße steckte er mir eine Karte zu und sagte, ruf mich an, dann gehen wir essen, und ich sagte, alles klar, und er sagte, gut, und dann ging er fort. Nicht in Richtung der U-Bahn, sondern in die entgegengesetzte.

Laurie hakte sich bei mir ein, und wir gingen zur Haltestelle. Wir waren in dem Teil von London mit all den Büros, wo niemand wirklich wohnt, und obwohl die Gebäude hell erleuchtet waren, war auf den Straßen niemand zu sehen.

Was für ein Idiot, sagte Laurie. Hat er dir gefallen?

Ich weiß nicht. Nicht wirklich.

Doch ich wurde sein Bild nicht los, als hätte es sich auf der Innenseite meiner Augenlider eingebrannt, und während Laurie sprach, hörte ich die ganze Zeit seine Stimme in meinem Kopf.

In der U-Bahn grölte eine Gruppe betrunkener Männer. Eine Frau betrachtete ihr Gesicht im Display ihres Handys, zupfte an der Haut unter ihren Augen herum und versuchte, sie glatt zu ziehen.

Ich holte mein Buch heraus, um seine Karte hineinzustecken. Prévosts Manon. Ich lernte die Rolle am Konservatorium und wollte sehen, wo die Geschichte herkam. Laurie sah sich das Cover an.

Sie ist eine Hure, oder?, sagte sie. Manon? Ich glaube, das habe ich mal gelesen.

Keine Ahnung. Ich habe es noch nicht angefangen.

Ja, ist sie. Sie dir nur das Bild an. Und Männer schreiben keine Bücher mit einem Frauennamen als Titel, wenn es nicht um irgendeine Art von Hure geht, oder? Fällt dir eins ein?

Madame Bovary, sagte ich. Die ist keine Prostituierte.

Na ja, vielleicht keine professionelle, aber sie ist definitiv so was wie eine Hure.

Anna Karenina.

Dito.

Alice im Wunderland.

Das ist für Kinder, sagte sie. Das zählt nicht.

Mir fielen keine mehr ein.

Laurie seufzte.

Luke hat mir vorhin geschrieben, sagte sie. Er will sich treffen.

Aber du machst es nicht?

Nein.

Sie fing an, von Luke zu erzählen. Wie er versucht hatte, ihre Kreativität zu ersticken. Sie zu einem festen Job zu überreden. Sie zu zerstören, mit anderen Worten. Ihr sei klar geworden, dass er versucht habe, sie zu zerstören. All das hatte ich schon von ihr gehört. Laurie war Schriftstellerin und führte Teile ihres Lebens gerne immer und immer wieder aus. Ich konnte ihr nie etwas erzählen, das sie überrascht hätte, denn ihr war stets etwas Ähnliches passiert, und sie berichtete mir stattdessen davon.

Er hat nie das Richtige über mein Schreiben gesagt, erzählte sie. Oder sogar komplett das Falsche. Von oben herab. Dinge wie — sehr schön, Baby, aber, na ja, ich bin mir nicht ganz sicher, ob —. Also sagte ich irgendwann, dass ich nichts schrieb, obwohl das nicht stimmte, weil ich Angst hatte, er würde es lesen wollen. Wie er die Worte auf jeder Seite mit dem Finger verfolgt hat. Stirnrunzeln, dann gespielte Begeisterung, als würde er meine minderwertige Bastelarbeit beurteilen. Es ging so weit, dass ich jeden Satz, den ich schrieb, wieder durchstrich, weil ich mir vorstellte, wie er ihn las und was er denken und was er sagen würde. Und der Sex war immer vorbei, sobald er gekommen war, weißt du, auch wenn ich noch nicht so weit war. Er war einer von diesen Männern. Einen Scheiß werd ich tun und ihn jetzt treffen.

Sie klang hart und wütend, aber sie sah traurig aus, drehte mit den Fingern eine Haarsträhne ein. Sie war achtundzwanzig und sehr hübsch, wie ich fand — blond, groß und schlank —, aber sie machte sich Sorgen ums Älterwerden. Sie zog mich neben sich vor den Spiegel, um zu vergleichen, an welchen Stellen mein Gesicht glatt und ihrs faltig war.

Triffst du dich mit diesem Mann?, fragte sie.

Vielleicht. Soll ich?

Ich würde mit ihm essen gehen. Warum nicht? Er wird dich schön ausführen. Männer wie er machen das so. Er hat Geld, sagte sie und betonte das Wort verächtlich, als wäre es eine Geschlechtskrankheit. So viel ist klar.

Laurie hatte ein besitzergreifendes Interesse am Geld anderer Leute. Sie konnte es stets bei jemandem erschnüffeln und es ihm aus den Rippen leiern, wie ein Trüffelschwein.

Das, sagte sie, war ein sehr teurer Anzug. Und die Uhr. Hast du die Uhr gesehen?

Ich schüttelte den Kopf. Hatte ich nicht.

Hast du nicht gesagt, er ist ein Idiot?, fragte ich.

Na und? Du musst ihn ja nicht heiraten. Wahrscheinlich ist er schon verheiratet. Meiner Erfahrung nach sind das die meisten.

Was, Männer?

Diese Art von Mann.

Welche Art von Mann?

Die Art, die Mädchen in einer Bar auflauert.

Würdest du das auflauern nennen? Ich würde das nicht auflauern nennen.

Nein, sagte sie. Natürlich würdest du das nicht.

So war er nicht, sagte ich. Die meisten Männer, mit denen ich dort rede, geben mir einen Drink aus und tun so, als wäre das ihre Eintrittskarte. Gültig und bereit zum Abstempeln. Sie wollen nicht mal ansatzweise etwas über mich wissen. Er war anders. Er — es war, als würde er mir seinen Finger auflegen und zudrücken, bis es wehtat. Weißt du, was ich meine?

Ja. Du willst ihn vögeln, weil er heiß und irgendwie fies ist und du eine Masochistin bist. Ist schon okay, Anna. Dafür musst du dich nicht schämen. Es gibt Schlimmeres, was du sein könntest. Und du musst wirklich bald jemanden vögeln. Ich habe mal keine Ohrringe getragen, solange wie du keinen Sex mehr hattest, und meine Löcher sind zugewachsen.

Danke für dieses anschauliche Bild, sagte ich.

Gerne. Morgen ist unsere Miete fällig, oder?, fragte sie.

Erster Freitag im Monat. Ja.

Du musst mir wahrscheinlich was leihen. Nicht viel. Fünfzig oder so. Bei mir wird es knapp.

Klar.

Ich hatte genug. Diesen Monat hatte ich ein paar zusätzliche Auftritte gemacht und gerade mein Honorar bekommen. Da war ein dicker Umschlag in meiner Tasche.

Ich kann es dir sofort geben, sagte ich.

Ich holte das Geld raus und gab ihr die Scheine. Es machte mir nie etwas aus, ihr Geld zu leihen. Sie zahlte es mir nie zurück, dafür war sie übertrieben großzügig, wenn sie Geld hatte, dann bestand sie auf Luxus und zahlte für alles — Drinks, Abendessen und Taxis. Deshalb rann ihr das Geld durch die Finger wie Wasser, deshalb brauchte sie immer welches, und deshalb hasste sie Menschen, die welches hatten.

Sie musste Angst gehabt haben, mich darum zu bitten, denn danach war sie glücklich. Wir stiegen aus und lachten viel über nichts, den ganzen Weg entlang der Mitcham Road, wo die Leute sich in Grüppchen scharten, egal wie kalt es war — sie versammelten sich vor dem prachtvollen alten Kino, das jetzt ein Bingo-Saal war, schrien und küssten sich auf der Straße, spielten Handymusik, standen Schlange vor dem Nagelstudio, das zu später Stunde Toast verkaufte. Weiter oben wurde es jedoch ruhig, und Schaufensterpuppen starrten uns aus den unbeleuchteten Schaufenstern an. Üppig geschminkte Köpfe in Perückenläden. Stoffhandlungen mit Kindermannequins in Festkleidung aus Satin. Laurie brachte mich dazu, Parts aus den Jazzsongs zu singen, die sie mochte, und fiel ein, wenn sie den Text kannte, suddenly I saw you there, and through foggy London town, the sun was shining everywhere, und die Passanten starrten uns an. Erst als wir in unsere Straße einbogen, verschlechterte sich ihre Laune. Sie sagte nichts mehr, seufzte ein paarmal, und ich spürte dieses wütende, Übelkeit erregende, hoffnungslose Gefühl in meinem Bauch und wusste, dass es ihr ebenso ging. Sie schob den Schlüssel in die Tür und sagte, dieses verdammte elende Haus, dieses verdammte elende Leben, warum machen wir das, Anna? Ich sollte mir einen richtigen Job suchen. Das sollte ich. Das werde ich. Ich halte das nicht mehr aus, und dann drehte sie den Schlüssel um.

2

Am Montagmorgen hatte ich eine Gesangsstunde bei Angela. Ich nahm die U-Bahn nach Moorgate — die Pendler, die sich in die Northern Line quetschten, waren mit jedem Halt in Richtung City businessmäßiger und teurer gekleidet — und stieg dann für eine Haltestelle bis Farringdon um. Als ich die Clerkenwell Road entlangging, war der Himmel noch trüb, wie von einer Energiesparlampe erleuchtet, und das Konservatorium war leer und still. Musiker waren in der Regel nicht gerne so früh auf den Beinen, doch Angela liebte das. Wenn du die Stimme früh morgens zum Laufen bekommst, pflegte sie zu sagen, dann kannst du sie jederzeit zum Laufen bekommen.

Sie war schon im Übungsraum. Es war neun Uhr, und sie sah wie immer bereit für die Bühne aus — Seidenbluse, Lippenstift, High Heels.

Schönes Wochenende gehabt?, fragte sie.

Nicht schlecht. Ich habe bei einer dieser Charity-Dinner-Sachen gesungen, die Marieke immer rumschickt. Frankie auch.

Tapfer von dir. Da muss man allerlei Unsinn singen, oder?

Es war eigentlich ganz okay. Gilbert und Sullivan. Ein bisschen Jazz. Und ein paar große Opernhits, die jeder kennt. Frankie hat sich an ›Nessum Dorma‹ herangewagt. Es hat Spaß gemacht. Oder na ja, es gab immerhin etwas zu essen.

Angela gab ihr Missfallen mit einem theatralischen Tss kund.

Jesus, sagte sie. Ein absolut unpassendes Repertoire für ihn. Wer ist noch gleich sein Lehrer? John? Wusste John, dass er das singen würde?

Glaube nicht. Aber Frankie hat es hinbekommen. Du weißt doch, wie er ist, ihn bringt nichts so leicht aus der Fassung. Jedenfalls war die Bezahlung gut.

Eure Stimmen für eine schnelle Mark zu prostituieren, sagte sie. Schrecklich verantwortungslos von euch. Dann lass uns mal schauen, wo wir stehen, nach all dem Gekreische.

Sie spielte einen Akkord und sang eine Übung vor, die ich nachmachen sollte. Ein simpler Dreiklang, offener Ah-Vokal, nichts Besonderes — und doch, meine Güte, Angela Lehmann im selben Raum wie ich, sie gleich neben mir singen zu hören, diese Stimme so nah — dieselbe, der ich jahrelang allein in meinem Zimmer zugehört hatte. Ihre Stimme war die erste, in die ich mich verliebte. Als Jugendliche hatte ich ihre Aufnahmen entdeckt, überwältigt von der Schönheit und all dem, was eine menschliche Stimme sein konnte — ihre samtige Stärke, so süß und dunkel und üppig, dass es wehtat. Als Studentin hatte ich einmal Geld gespart, um nach London zu fahren und sie in Tosca zu sehen. Nach der Show wartete ich vor dem Bühneneingang und hoffte auf eine Chance, mit ihr zu sprechen — doch es fing an zu regnen, und sie kam nicht.

Ich wollte immer am Konservatorium studieren, weil ich wusste, dass sie dort lehrte, aber es war eine vage Wunschvorstellung — so wie ein Kind sagt, dass es ins Weltall fliegen möchte, wenn es groß ist. Für das Grundstudium bewarb ich mich noch nicht, war zu eingeschüchtert von den endlosen Anforderungen fürs Vorsingen und den fachlichen Ausführungen auf der Webseite — sie wollten Sänger, die künstlerisch aufrichtig seien, stand dort. Vielseitig. Musikalisch exzellent. Stimmlich vorbereitet auf die Ansprüche eines professionellen Trainings.

Ich landete an einer kleinen Hochschule für darstellende Künste außerhalb Londons und blieb dort für das Aufbaustudium, als mir ein Stipendium angeboten wurde. In meinem Abschlussjahr bewarb ich mich für die Opernschule am Konservatorium ohne jegliche Hoffnung, auch nur zum Vorsingen eingeladen zu werden, doch das wurde ich — und in der E-Mail stand, dass Angela in der Jury sitzen würde. Im Laufe einer Woche würden sie sich Hunderte von Sängern anhören, von denen die meisten bereits am Konservatorium oder einem anderen großen College in Großbritannien und der ganzen Welt studierten. Aus ihnen würden sie bloß zwölf für ihr zweijähriges Opernstudium auswählen — der letzte und prestigeträchtigste Schritt in der Ausbildung einer jungen Sängerin. Meine Chancen, angenommen zu werden, standen, das war mir klar, praktisch bei null.

Als ich jedoch in London aus dem Zug stieg, fühlte ich mich seltsam selbstsicher. Ich atmete ein, und die Stadt strömte in mich hinein. Sie füllte meine Lungen und sättigte mein Blut, erneuerte mich, und da lag meine Zukunft ausgestreckt vor mir, leuchtend und ungebrochen. Sie gehörte mir schon, ich musste nur eintreten, und das tat ich, hinaus auf die Bühne zum Vorsingen, meiner selbst absolut sicher. Diese Sicherheit hatte ich immer nur beim Singen verspürt — als gehörte der Raum mir und als könnte ich darin einfach alles tun —, und nachdem ich gesungen hatte, lächelte Angela und sagte Brava. Später war sie es, die mich anrief, um mir zu sagen, ich hätte einen Platz.

Und ich habe mich gefragt, sagte sie, ob du bei mir lernen möchtest? Ich würde dich gerne unterrichten, wenn du einverstanden bist.

Also würde ich nach London ziehen, in die Stadt der Superlative — die besten Sänger, die besten Regisseure, die besten Möglichkeiten. Ich schwebte durch die letzten Monate meines Masters, nahm kaum etwas davon wahr — die Jahresabschlussoper im Gemeindezentrum, ohne Budget, in unserer eigenen Kleidung kostümiert und mit Requisiten von zu Hause improvisierend — mein letztes Konzert in einem überbelichteten, halb vollen Kirchensaal.

In meiner ersten Stunde rückte mir Angela den Kopf zurecht.

Nun, ich bin mir sicher, dass du da, wo du herkommst, der Star warst, sagte sie. Und hier wirst du nicht der Star sein, zumindest nicht für eine Weile, und das wird hart für dich sein, ich weiß. Aber du bist selbst für deine Zukunft verantwortlich, Anna. Die Stimme ist da, und sie hat etwas Besonderes an sich, sonst wärst du nicht hier. Doch niemand wird Rücksicht darauf nehmen, dass du hinterherhinkst. Die anderen sind harte Arbeit gewohnt, sagte sie und lächelte dann. Aber ich habe nun mal eine Schwäche für Überraschungstalente. Wir zeigen es ihnen, nicht wahr?

Seit ich letzten Monat angefangen hatte, war ich fast immer die Erste im Konservatorium, kam etwa eine Stunde, bevor die Kurse anfingen. Um diese Zeit über die Korridore zu gehen — vorbei an den Schwarzen Brettern, auf denen Instrumente zum Verkauf, Sprachunterricht, Wohnungen zur Miete angeboten wurden —, die Eingänge der meisten Übungsräume noch dunkel. Hier und da Licht im Türspalt, ein Fetzen einer Violinsonate, eine Sängerin, die die Tonleiter erklimmt, ansonsten Stille. Das war meine Lieblingszeit zum Üben. Eine Stunde allein mit meiner Stimme, bevor der Tag anfing und ich nicht mehr richtig Luft holen konnte. Vor dem Spiegel stehen, Schultern straffen und den Kiefer massieren. Diese Welt verlassen und in eine neue eintauchen, eine, die ich lieber mag. Sie aus der Stille hervorholen, beginnend bei der Atmung, dann sanft in echten Klang übergehend, bis meine Stimme wieder da ist, genau so, wie ich sie zurückgelassen habe. Repertoire. Ein Stück vom Boden her aufbauen. Zu den Noten La singen, dann mit dem Text arbeiten — ihn übersetzen, phonetische Anmerkungen notieren, die Vokale üben, die Tonfolge hinbekommen, dann die Konsonanten hinzufügen, ohne dass sie die Melodie brechen. Sie sind das Fundament. Dann noch die Wände, die Farbe und die Einrichtung hinzufügen. Das Stück zu einem Ort machen, den ich bewohnen kann, einem Raum, in dem ich mich bewegen kann. Üben, bis ich es gar nicht mehr falsch machen kann. Es in meinem Körper verinnerlichen, mir vorstellen, wie sich die Noten in meinen Zellen reproduzieren, sodass ich die Musik lebe und nicht bloß singe. In meinem Inneren nach Bildern suchen, nach Erinnerungen, die mich den Text fühlen lassen, und dann mein Innerstes nach außen kehren, damit sie mein Lied färben — denn Singen ist kein Bauchreden. Eine Figur zu sein, bedeutet nicht, ihre Stimme durch deinen Körper erklingen zu lassen, ihre toten Worte auf dem Papier, sondern selbst in ihre Haut zu kriechen, sie mit deiner Stimme zum Leben zu erwecken, ihren Worten neues Leben einzuhauchen.

An diesem Tag hatte ich Manon mit in die Stunde gebracht. Ich war die Zweitbesetzung für eine aus dem Abschlussjahrgang im szenischen Opernkonzert, das für Dezember geplant war.

Sie passt zu dir, sagte Angela, als die Stunde vorbei war. Manche Rollen passen perfekt zu deiner Stimme, und diese hier ist eine von deinen, also genieß es.

Ich wusste, was sie meinte. Die Musik fühlte sich für mich wie ein alter Pulli an, der bequem saß, an den richtigen Stellen ausgeleiert war.

Sie ist eine großartige Figur, sagte ich. Ich habe sie schon immer geliebt.

Ich auch. Kein Mann weiß etwas mit ihr anzufangen, nicht wahr? Verführerin oder Naivchen? Leidenschaftliche Liebhaberin oder geldgierige Hure? Aber du musst sie verstehen. Lerne nicht nur die Noten. Sieh zu, dass du die Frau auch wirklich kennst.

Während ich meine Noten wegpackte, erzählte mir Angela von der Zeit, als sie die Rolle gesungen hatte. Ein sehr berühmter Tenor hatte ihren Chevalier gespielt.

Viele Jahre ist das jetzt her, sagte sie. Ich würde die Grenzen der Glaubwürdigkeit strapazieren, wenn ich heute eine Jugendliche spielen würde, selbst nach Opernstandards. Dieser Mann war jedenfalls vollkommen von sich überzeugt, dachte, er könnte auf der Bühne nichts falsch machen, und er küsste mich immer mit Zunge, obwohl ich ihn ständig bat, es zu lassen. Er meinte, nur so könnte er in die Rolle finden. Eines Abends also, als er mir die Zunge in den Hals steckte, biss ich zu. Brachte ihn sogar zum Bluten, was mir leidtat, ich wollte nicht so fest zubeißen. Auch noch genau vor seiner Arie.

Was hat er getan? War er wütend?

Nun ja, er hat es nie wieder getan, sagen wir es mal so. Ich will dich nicht dazu ermutigen, deine Kollegen anzugreifen, aber manchmal bleibt einem eben nichts anderes übrig. Hast du heute Abend etwas Schönes vor?

Schon irgendwie, antwortete ich. Ich gehe mit einem Mann essen, den ich letzte Woche kennengelernt habe. In der Hotelbar, in der ich singe.

Ich hatte lange gebraucht, um die Nachricht an ihn auszutüfteln. Ich kam mir komisch dabei vor, mich auf einen Ton festzulegen, wohlwissend, dass ich etwas aus mir machte, das er immer wieder lesen konnte, doch als ich sie abgeschickt hatte, antwortete er sofort und schlug Montag vor. Es würde allerdings später werden, weil er nicht so früh wegkomme. Er nannte eine Uhrzeit, ein Restaurant. Kurz und knapp, als würde er einen Geschäftstermin vereinbaren.

Oh gut so, Mädchen, sagte Angela. Geh und fang eine Liebesaffäre an. Hol dir Lebenserfahrung. Etwas, worüber du singen kannst.

Angela war eine der wenigen Personen, die ich kannte, die Ausdrücke wie Liebesaffäre ohne Ironie benutzten.

Na gut, ich gebe mein Bestes, sagte ich.

Den restlichen Morgen über war Schauspielunterricht bei Stefan, der immer einen langen schwarzen Mantel trug und jeden, ohne zu lächeln, Freundchen nannte. Wir spazierten abwechselnd mit einer Aufgabe in imaginäre Räume, während er hinten an der Wand lehnte und zusah.

Wo ist sie?, fragte er. Wie fühlt sie sich? Wie alt ist sie? Wird das deutlich aus dem, was sie macht?

In der Mittagspause fiel mir auf, dass ich mein Sandwich bei den Ps liegen gelassen hatte, also saß ich da und trank heißes Wasser. Beth — die das Glück hatte, die einzige Mezzo in meinem Jahrgang zu sein, und somit alle Rollen bekam — fragte, warum ich nichts aß. Ich sagte, ich würde heilfasten.

Ooh, wie interessant, erwiderte sie. Ich habe das noch nie gemacht. Ist das gut für die Stimme? Vielleicht sollte ich das auch mal probieren.

Zu Beginn des Semesters hatte ich einige der Sänger über eine Absolventin herziehen gehört, die darüber gejammert hatte, dass sie pleite sei — die denkt wohl, sie ist etwas Besonderes —, und ich wollte nicht denselben Fehler machen. Eine Gesundheitsfanatikerin zu sein, war jedoch in Ordnung. Sogar gerne gesehen.

Am Nachmittag übte ich ein wenig allein, und dann folgte allgemeine Repetition mit Marieke, der Operndirektorin. Der Kurs fand im Konzertsaal statt, ohne Fenster, ohne Beleuchtung, außer auf der Bühne. Im Saal fanden Hunderte Platz, doch der Kurs bestand nur aus meinem Jahrgang, uns zwölf, dicht gedrängt in den ersten Reihen machten wir uns Notizen, nickten zu allem, was Marieke sagte, und versuchten, ihr zu gefallen.

Ich war froh, dass ich nicht mit Singen dran war. Ich war vom Kurs abgelenkt, fragte mich, warum ich zugestimmt hatte, ihn zu treffen — einen Mann, der vermutlich mindestens ein Jahrzehnt älter war als ich, einen Mann, den ich mit ziemlicher Sicherheit nicht ausstehen konnte. Vielleicht wird es ätzend, hatte ich zu Laurie gesagt, als ich überlegte abzusagen. Ja schon, meinte sie. Aber die Gefahr besteht immer.

Marieke war auch noch in einer besonders pedantischen Stimmung, und so durfte niemand mehr als ein oder zwei Takte singen, ohne von ihr gestoppt zu werden. Mit einer glorreichen Karriere im Rücken war Marieke erst kürzlich Operndirektorin geworden, und zwar eine furchterregende. In einem Moment konnte sie noch charmant schrullig sein — tanzte herum, fuchtelte mit den Armen oder ließ dich einen Baum imitieren —, im nächsten machte sie dich vernichtend nieder.

Jetzt wurde Natalie auseinandergenommen. Sie sang zwanzig Sekunden, und Marieke stoppte sie.

Der Text ist verstreut, verkündete sie. Doppelkonsonanten überall. Ganz verstreut. Diphthonge. Diphthonge. Warum machst du diese Diphthonge?

Sie hielt die Hand vor den Mund, als hätte sie körperliche Schmerzen.

Warum?, wiederholte sie.

Natalie schien etwas sagen zu wollen, was ein Fehler gewesen wäre. Mariekes Fragen waren beinahe immer rhetorisch gemeint, und sie mochte es nicht, wenn man ihre Monologe mit einer Antwort unterbrach. Zum Glück begann sie, bevor Natalie zu Wort kam, den Text selbst aufzusagen.

E pur così in un giorno perdo fasti e grandezze?, deklamierte sie in einem Akzent, der italienischer klang, als ihn die Italiener auch nur im Traum hätten hervorbringen können. So habe ich an einem Tag meinen Ruhm und meine Größe verloren?

Da wollen wir hin, sagte sie. Genau so. Mach es genau so.

E pur così—

Nein, nein, nein, unterbrach sie verzweifelt. Nicht so. So. E pur così, E pur così. Spreche ich etwa eine Fremdsprache?

Einer ihrer Lieblingswitze. Wir alle kicherten pflichtbewusst.

Sie ließ es Natalie noch einmal mit dem Singen versuchen, unterbrach sie aber bei jeder Note, sodass aus dem Versuch ein wirres Durcheinander wurde. Natalies Gesicht spiegelte die jämmerliche Verzweiflung Kleopatras allerdings immer glaubhafter. Womöglich war das ja die ganze Zeit Mariekes Ziel gewesen.

Wer hat dir gesagt, du sollst da eine Appoggiatura machen?, rief sie. Eine Appoggiatura ist eine Längung. Expressiv. Warum solltest du eine Längung auf einem Namen machen, hm? Also, ich meine, natürlich, räumte sie ein, ist es in manchen Fällen sinnvoll, einen Namen zu längen, aber DAS IST KEINER DAVON. Hör damit auf. Es gefällt mir nicht.

Oder — du hast doch gesagt, dass du das zu deinem Italienischlehrer mitgenommen hast, oder nicht? Oder hast du das nicht? Also dann, um Himmels willen, nimm es noch mal mit.

Oder — diese Note sollte mit dieser verbunden sein. Nun ja, sie sollten eigentlich alle miteinander verbunden sein, aber eins nach dem anderen.

Oder — dieses Wort ist wichtig, Natalie, also mach es wichtig. Es ist ein aktives Wort. Verstehst du, was ich mit einem aktiven Wort meine? Also was? Dann sag nicht, du verstehst es, wenn du es nicht tust. Wir sind hier nicht in der Grundschule.

Natalie gab ihr recht, und Marieke entließ uns alle gähnend, wie eine Katze, die vom Spielen mit einer Maus unerwartet müde wird und sie gehen lässt, ohne sie zu fressen.

Mir blieb noch eine Stunde bis zu meiner Verabredung mit ihm, also ging ich in die Cafeteria. Sophie aus dem Abschlussjahrgang, deren Zweitbesetzung für Manon ich war, saß dort alleine, also setzte ich mich zu ihr.

Oh, du bist noch da, sagte sie. Hast du heute noch eine Probe?

Nein, ich bin gleich noch verabredet.

Oh, ach so. Ich habe ein extra Coaching, sagte sie mit einem Unterton, der stark suggerierte, dies sei eine bessere Art, seine Zeit zu nutzen. Tim hat mich in einem extra Slot untergebracht. Ich mache Così extern, und das Rezitativ bringt mich um. Er ist super, was Rezitative angeht.

Sie neigte ihren Kopf zur Seite und zog mit einer Hand daran. Ich hörte ein Knacken.

Und, wie gefällt dir Manon?, fragte sie.

Immer wenn sie sprach, schien sie nach außen hin zu gestikulieren, als wollte ihr jeder zuhören und sie hätte sich damit angefreundet.

Es läuft ganz gut, sagte ich.

Es war das erste Opernszenenstudium, seit ich angefangen hatte, und ich hatte keinen eigenen Part bekommen, nur die Zweitbesetzung. Es fiel mir schwer, nicht enttäuscht zu sein.

Du bist doch aber eine Soubrette, oder?, sagte Sophie. Ich meine, das dachte ich jedenfalls? Findest du Manon nicht etwas groß für dich? Das ist wirklich keine Hilfe, was sie hier machen. Leuten Rollen geben, die sie in großen Häusern nicht in einer Million Jahren singen würden. Das ist für deinen Lebenslauf so gut wie nutzlos, nicht wahr?

Es ist eigentlich gar nicht zu groß für mich. Ich habe die Arien schon vorher gelernt.

Da, wo du vorher warst?

Ja.

Weißt du, viele der Mädels in meinem Jahrgang fanden es unglaublich, dass du hier aufgenommen wurdest. Als wir die Liste gesehen haben, meine ich, nicht dass du nicht gut wärst, beeilte sie sich zu sagen. So meine ich das natürlich nicht. Aber das, wo du vorher warst, war kaum ein richtiges Konservatorium, oder? Alle haben gesagt, du müsstest außergewöhnlich sein. Bevor du angefangen hast, meine ich.

Äh, danke, sagte ich, obwohl es nicht wirklich ein Kompliment war.

Im letzten Monat am Konservatorium war mir klar geworden, dass es keine Garantie für Erfolg war, meinen Platz bekommen zu haben, wie ich dummerweise geglaubt hatte. Es bedeutete bloß, dass ich nun im Rennen war statt nirgendwo. Wir mussten uns für alles bewerben, sogar intern, und es gab nicht genug Rollen für uns alle. Es war ein einziger Wettkampf, und ich stand nicht auf der Gewinnerseite. Wenn ich in den Unterricht ging und an der Reihe war, zu singen, musste ich mir oft jenen Moment während meines Vorsingens vorstellen, als Angela mir zugelächelt und Brava gesagt hatte, denn ich fühlte mich überhaupt nicht wie diese Sängerinnen und Sänger. Sie sprachen eine andere Sprache, redeten von Personen, die ich nicht kannte, Ensembles, von denen ich noch nie gehört hatte, externen Vorsingen, die stattgefunden hatten, ohne dass ich davon mitbekommen hatte.

Sophie hatte das Interesse an mir verloren. Sie wandte sich wieder ihrer Kiefermassage zu.

Die Stimme ist heute nicht besonders glücklich, sagte sie.

Ich sprach von meiner Stimme noch nicht als separate Einheit. Ich machte mir eine Notiz im Kopf, damit anzufangen.

Larynx ist eng, sagte sie.

Sie ließ ihre Zunge aus dem Mund hängen und begann, darauf herumzukauen.

Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit auf ihn.

Lange genug, um mich schon bei der Ankunft zu blamieren, als ich hoffte, er würde schon da sein, und stattdessen die Frau an der Tür vor mir hatte.

Auf welchem Namen haben Sie reserviert?

Max, schätze ich.

Nichts unter diesem Namen. Wie ist der Nachname?

Ähm —

Also kramte ich mein Buch mit seiner Karte heraus, die ich darin als Lesezeichen benutzt hatte, um nachzusehen. Also lange genug für sie, um die Situation neu zu bewerten und mir gegenüber ein anderes Lächeln aufzusetzen. Um auf das zerrissene Innenfutter meines Mantels hinabzuschauen, als ich ihr die Karte hinhielt, und diese mit einem Ausdruck höflicher Abscheu anzunehmen, wie eine Ärztin, die versucht, einen Behälter blutigen Urins mit neutralem Blick entgegenzunehmen. Lange genug, um mir zu überlegen, was man hier wohl trank, wahllos ein Glas Wein aus der mittleren Preiskategorie zu bestellen, es — zu schnell — zu trinken und dann zu denken, es sieht nicht gut aus, wenn er kommt und ich hier mit einem leeren Glas sitze, und um ein weiteres zu bitten. Lange genug, um sauer zu werden. Um mich zu fragen, wo zur Hölle er steckte und warum er mir nicht gesagt hatte, dass es später werden würde. Um in Erwägung zu ziehen, wieder zu gehen, und mich daran zu erinnern, dass man dann von mir erwarten würde, den Wein zu bezahlen.

Schließlich kam er zwanzig Minuten zu spät, spazierte jedoch wie jemand herein, der gerade zur rechten Zeit kam, gab der Frau seinen Mantel, witzelte mit ihr herum, beide lachten, keine Eile, zum Tisch zu kommen.

Da ich nicht aufstand, drückte er meine Schulter und setzte sich.

Tut mir leid, dass ich zu spät bin, sagte er. Ich hatte einen Kunden aus New York am Telefon. Er hat Not am Mann. Ich konnte nicht weg.

Ist schon okay.

Dann fiel mir ein, dass ich ihn nicht so leicht davonkommen lassen wollte: Aber hast du nicht gesagt, du wärst irgendwie wichtig?

Habe ich das?, fragte er. Das klingt ganz und gar nicht nach mir.

Ich glaube, das stand zwischen den Zeilen.

Ein leicht irritiertes Lächeln, dann eine Pause. Sie dauerte etwas zu lang, und ich nahm einen Schluck Wein, um mein Gesicht zu verbergen.

Also, sagte er. Ich nehme an, du bist schon seit einer Weile hier?

Ich war auf einer katholischen Schule. Vorauseilender Gehorsam. Ich bin unfähig, zu spät zu kommen.

Was zum Teufel redete ich da bloß? Er sah mich an, als wäre ich ein bizarres Performance-Stück, auf eine merkwürdige Art unterhaltsam, aber schwer zu sagen, worum es dabei gehen sollte.

Es ist auch eine Frage der Bühnendisziplin, sagte ich in dem Versuch, etwas hinzuzufügen, das etwas mehr Sinn ergab. Bist du nicht da, wenn der Regisseur anfangen will, wirst du nicht wieder engagiert.

Also hast du es ernst gemeint?

Ernst gemeint? Was?

Das mit der Oper. Du hast gesagt, du seist Opernsängerin.

Natürlich habe ich das ernst gemeint. Was, dachtest du, das sei gelogen?

Nein, nicht gelogen, entgegnete er. Es hat mich überrascht, das ist alles. Du kommst mir nicht wie eine Opernsängerin vor.

Was zur Hölle soll das denn heißen?

Alles, was ich sagte, kam falsch rüber, jede Intonation flach und daneben wie bei einer Bandansage. Er lachte.

Wow, sagte er. Ich weiß nicht. Bloß, dass du ziemlich jung aussiehst, schätze ich.

Ich bin vierundzwanzig.

Ja, also. Ist das nicht jung für eine Sängerin? Ich kannte mal eine, die eine Weile in der Oper gesungen hat, bis sie Kinder bekam. Ihre Ausbildung hat Jahre gedauert, glaube ich. Aber vielleicht war sie auch nicht sehr gut.

Ich bin auch noch in der Ausbildung. Ich bin Studentin.

Ah, ich verstehe, sagte er. Also meintest du nicht professionell.

Mein Körper versteifte sich in einer Abwehrhaltung, als hätte er mich geschubst.

Tja, das kommt wohl darauf an, was du unter professionell verstehst, sagte ich. Ich singe vor Publikum. Manchmal werde ich bezahlt, manchmal nicht, denn welcher Künstler arbeitet schließlich nicht gerne umsonst für ein bisschen Aufmerksamkeit. Also ja, vielleicht passe ich nicht genau auf deine Definition.

Ich versuchte, mich dem Menschen anzupassen, als den ich ihn in Erinnerung hatte, versuchte, kalt und abgeklärt zu erscheinen, wie Laurie es sein konnte, aber er wirkte bloß verwirrt. Er war nicht mehr dieser Mensch, und das zog mir den Boden unter den Füßen weg, wie wenn man im Dunkeln glaubt, da sei noch eine Stufe am oberen Ende der Treppe. Man stolpert. Die Welt um einen herum gerät ins Wanken.

Ich habe dich nicht so aggressiv in Erinnerung, sagte er. Letztes Mal, meine ich. Vielleicht hatte ich dich ja auf dem richtigen Fuß erwischt. Aber du hast recht. Ich habe keine Ahnung.

Mir fiel nichts Schlaues ein, was ich erwidern konnte, und dann kam der Kellner, um unsere Bestellung aufzunehmen. Er flirtete mit Max, zog ihn damit auf, dass er mich hatte warten lassen, und Max reagierte auf diese nachsichtige Wir wissen beide, dass das nur Smalltalk ist-Art und Weise. Ich bohrte die Spitze meines Absatzes in den fleischigen Teil meines anderen Fußes. Reiß dich zusammen. Hör auf, so zickig zu sein. Das gefällt ihm nicht.

Als der Kellner wieder gegangen war, fragte Max beiläufig, als hätten wir uns eben erst hingesetzt, ob ich schon mal in New York gewesen sei. Nein, sagte ich, ich war noch nie wirklich irgendwo gewesen. Er erzählte mir, er habe mal dort gelebt, fliege noch immer häufig der Arbeit wegen hin.

Es ist ein bizarrer Ort, sagte er. Du kannst wirklich alles tun, was du willst. Wann immer du willst. Es ist ein bisschen so, wie man sich das Erwachsensein vorstellt, wenn man ein Kind ist, und dann wird man erwachsen und stellt fest, dass es viel langweiliger ist. Einmal im Februar —

Der Kellner brachte uns eine Flasche Wein, ein frisches Glas für mich und schenkte uns beiden ein. Ich blieb still und hörte zu, weil mir das am ungefährlichsten erschien.

Ein paar von uns waren nach der Arbeit zusammen aus, erzählte er, und wir kamen auf den Sommer zu sprechen. Alle wurden nostalgisch, und da war dieser eine Typ, der meinte, er habe von einer Rooftop-Bar gehört. Heizstrahler. Das ganze Jahr über den Grill am Laufen. Es war zwei Uhr nachts, aber wir fuhren mit dem Taxi dorthin, und plötzlich war es Sommer. Genau wie eine Sommernacht, der Duft von Grillfleisch in der Luft und die Hitze im Gesicht.

Es ist schon komisch, sagte er. Man kann immer unterscheiden, wer aus New York stammt und wer zu Besuch da ist, weil die Besucher alle mit dem Blick nach oben durch die Gegend schlurfen. Sie sind wie Kinder, die in einer Menschenmenge nach ihren Eltern suchen. Ich war auch immer ein bisschen so. Bin nie auf sie klargekommen, die Wolkenkratzer, obwohl ich jahrelang dort war.

Würdest du wieder hinziehen?

Ich glaube nicht. Ich hätte tatsächlich erst vor Kurzem die Chance gehabt und habe abgelehnt. Ich bin auf dem Land groß geworden. Ich will nicht für immer in einer Stadt leben.

Er begann, mir eine Geschichte zu erzählen — er war gerade frisch nach London gezogen, in den Zeiten vor Google Maps, und versuchte, von der Edgware Road bis Edgeware zu laufen, in dem Glauben, es könne ja nicht so weit auseinanderliegen —, und ich entspannte mich allmählich. Mir wurde klar, dass das kein Test war. Er versuchte nicht, mich zu überrumpeln, mir eine Falle zu stellen. Er versuchte, mich zu unterhalten. Er versuchte sogar, dachte ich mir, mich zu beeindrucken, und dann brachte der Kellner unser Essen und füllte unsere Gläser auf. Plötzlich fühlte ich mich sehr glücklich. Ich ließ zu, dass diese neue Version von ihm die alte überlagerte, sodass dies alles wurde, was er war.

Wann bist du nach London gezogen?, fragte er.

Erst vor Kurzem. Im Sommer. Ich habe im September am Konservatorium angefangen.

Und wie findest du es hier?

Na ja, es ist okay.

Okay? Wo wohnst du?

Bei einem Ehepaar, den Ps. Sie vermieten die Zimmer in ihrem Dachgeschoss. Laurie wohnt auch dort. Du erinnerst dich an Laurie? Du hast sie letztes Mal kennengelernt.

Die Kellnerin?

Sie ist eigentlich Schriftstellerin. Hauptsächlich Theater, ein paar kurze Stücke von ihr wurden schon aufgeführt, und jetzt schreibt sie einen Roman. Aber, ja, so haben wir uns kennengelernt. Bei den Ps. Sie hatte sich von diesem Typen getrennt, mit dem sie jahrelang zusammengelebt hatte. Kurz vor dem Sommer. Also ist sie zur gleichen Zeit wie ich eingezogen.

Ihr Mädels wohnt also in einer richtigen Künstlermansarde?, sagte er. Wie romantisch.

Er lächelte, und ohne zu wissen, warum, beschrieb ich ihm auf einmal das Haus. All die Details, von denen ich angenommen hatte, sie würden ihn abstoßen.

Na ja, sagte ich. Romantisch kann man es auch nennen. Da gibt es diesen alten Kater mit klebrigem Fell, der ständig in meine Schuhe pinkelt. Und alle Schränke sind voll mit Karten. Ich meine so was wie Geburtstagskarten, Weihnachtskarten, Glückwunsch-zu-eurem-neuen-Baby-Karten, die bis in die Siebziger zurückreichen. Und Lauries und mein Zimmer waren Abstellräume, bevor wir kamen. Sie haben sich nicht mal die Mühe gemacht, die Zimmer wirklich auszuräumen, sondern haben einfach alles auf die Treppe gestellt, die jetzt voller Kartons ist. Ausrangierte Küchenutensilien. Zerrissenes Bettzeug. Zusammengerollte Teppiche. Ein Schaukelpferd. Einmal haben wir versucht, sie umzustellen, weil wir ständig im Dunkeln drüber gestolpert sind, aber unter dem ersten Karton, den wir hochgenommen haben, war ein Haufen sich windender Motten. Ein echter Haufen. Man hätte sie mit vollen Händen schöpfen können.

Er lachte, und ich fühlte mich gut.

Wie sind sie so?, fragte er. Die Ps.

Wie sie so sind? Also, sie schlafen auf einer Matratze auf dem Boden. Ich war einmal in ihrem Zimmer, als sie weg waren. Es ist wie eine Crackhöhle — schmutzige Bettwäsche, Rumflaschen auf dem Boden — aber sie, Mrs P, hat einen Kleiderschrank voll wunderschöner Sachen. Seidenkleider, Cardigans von Agnès B. Ich weiß nicht, wann sie das jemals getragen haben soll, aber ich schätze, sie müssen Geld haben. Das Haus ist ziemlich groß, aber das meiste davon dürfen wir nicht betreten. Sie geben sich nicht gerade Mühe, damit wir uns wie zu Hause fühlen. Sehen es nicht gern, wenn wir die Küche benutzen. Und sie haben uns gesagt, wir dürfen die Badewanne nur bis zu einem bestimmten Punkt füllen. Wenn wir sie benutzt haben, schleicht sich Mr P ins Bad und überprüft, bis wohin wir sie gefüllt haben, und wenn er denkt, dass es zu hoch war, kommt er zu uns und schreit uns an, während wir noch in unseren Handtüchern stecken. Oh, und sie halten ständig alle Fenster geschlossen. Sie sind an den Seiten mit Kreppband zugeklebt. Sie glauben wahrscheinlich an giftige Sporen oder so was.

Eine weitere Flasche Wein erschien. Ich hatte nicht bemerkt, dass er sie bestellt hatte. Er hatte aufgehört zu lachen und sah mich plötzlich ernst an.

Aber wie geht es dir denn damit?, sagte er.

Was meinst du?

Na das hört sich furchtbar an. Ich meine, wie geht es dir damit, so leben zu müssen?

Und er schien so sehr die absolute Wahrheit zu erwarten, dass ich kaum darüber nachdachte und sie ihm einfach verriet. Ich erzählte ihm von Mrs. P. Dass sie mich stundenlang vollquasselte, über die unterschiedlichsten Dinge jammernd — ihre Kinder, die reduzierten Öffnungszeiten ihrer Bank, die Schule oben an der Straße und wie schlimm sie heutzutage geworden sei, ihre gesundheitlichen Probleme, und dass sich das Programm von Radio 4 stetig verschlechterte. Dass ich dastand, die Minuten verstreichen sah, das Gefühl hatte, sie würde die Zeit einsammeln und sie dann in einem Loch im Garten versenken. Ich erzählte ihm von den Abenden mit Laurie. Das stundenlange Googlen, durch endlose Bilder von zu vermietenden Zimmern Scrollen, aber nichts, das wir fanden, war auch nur ansatzweise so billig wie bei den Ps. Ich erzählte ihm von der Mitcham Road. Dass ich mir bei jedem Atemzug vorstellte, alles würde sich in meinen Lungen ablagern wie Sand auf dem Boden eines Reagenzglases. Dass alle Straßen, die davon abzweigten, genauso aussahen wie unsere, die Häuser sich immer weiter fortsetzten, so weit das Auge reichte, alle exakt gleich. Man lief sie entlang und blickte durch die Fenster, und da standen überall Betten. Betten in den vorderen Zimmern. Betten vor Fenstern, die direkt zur Straße hinausgingen, so dass man hineinschauen und die Leute in ihren Unterhosen dort liegen sehen konnte. Betten, die von schmuddeligen Netzgardinen kaum verdeckt wurden. Betten in Kellergeschossen mit Gittern vor den Scheiben. Dass ich es hasste. Ich erzählte ihm, dass ich es hasste. All diese Betten. All diese Menschen. Der Gedanke, wie wenig Raum eine Person einnahm. Ich wollte schreien davon.

Was willst du also?, fragte er.

Was ich will?

Ja. Wofür machst du das? Wie sieht der große Plan aus?

Oh, ich weiß nicht, sagte ich. Ich glaube, ich würde mir irgendwann gern eine kleine Karriere zusammenschustern.

Ich glaube dir nicht, sagte er.

Wie meinst du das, du glaubst mir nicht?

Ich meine damit, ich glaube, dass du unehrlich bist. Weißt du, was ich glaube?

Nein. Bitte. Klär mich auf.

Ich glaube nicht, dass du dich mit einer kleinen Karriere zufrieden geben würdest, Anna. Du kommst mir nicht wie diese Art von Person vor. Du hast den Ehrgeiz, das sehe ich. Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen.

Dann begann er, mir Fragen zu stellen, und während ich antwortete, saß er reglos da und hörte mir zu. Er war keiner von den Männern, die zu nicken brauchten, um Verständnis zu signalisieren. Seine Energie war gebündelt, auf mich fokussiert, als würde er ein Licht in meine Augen halten, und ich verspürte dieselbe intensive Konzentration wie bei einer Aufführung — nur dieser Raum ist jetzt von Bedeutung und nichts weiter.

Er fragte mich, wie ich zur Oper gekommen war, und ich erwiderte, Singen sei etwas Natürliches, oder? Jeder singt. Alle Kinder singen, bevor sie anfangen, sich zu schämen. Ich sang mir immer selbst vor, nachdem die Lichter abends ausgingen, versuchte, mich an die Texte von Liedern zu erinnern, die ich kannte. Ich war schon recht alt, als ich es ernsthaft zu lernen begann, als ich darüber nachzudenken begann, was ich damit anfangen sollte, aber als es so weit war, erschien es mir ziemlich einleuchtend. Denn eine Berufung ist eine Tatsache. Sie ist etwas, was man mit Sicherheit über sich selbst weiß, wie den eigenen Namen oder die eigene Haarfarbe, selbst wenn man sich über nichts anderes sicher sein kann. Er fragte, wie ich für all das aufkomme, die ganze Ausbildung, sie müsse teuer sein, und ich antwortete, dass es zwar stimme, aber für meine Gebühren gesorgt — Stipendium — und die Miete billig sei. Hier und da würde ich mir etwas dazuverdienen, ein bisschen Chorarbeit, das Jazzsingen — Laurie hatte mir den Job besorgt, sie kellnerte dort schon seit Jahren an der Hotelbar —, was okay bezahlt werde. Ich würde mich durchschlagen. Es könne jedoch einsam werden, sagte ich. Niemand war am Konservatorium, um Freundschaften zu schließen. Die anderen Sänger beurteilten einen ständig. Ist sie besser als ich oder schlechter? Bedrohung oder keine Bedrohung?

Und was ist mit Geld?, fragte er.

Was ist damit?

Bekommst du jemals welches, meine ich? Das alles klingt nach einer ziemlichen Tortur, die man durchmacht, um dann niemals bezahlt zu werden.

Oh, aber eine Künstlerin macht das nicht für Geld, erwiderte ich. Sie tut es der Liebe wegen.

Davon kann man bestimmt leben.

Der Kellner hatte unsere Teller abgeräumt, obwohl ich glaubte, nicht viel gegessen zu haben. Ich stand auf, um die Toilette zu suchen. Das Restaurantgeschoss war weitläufig, ein Irrgarten aus Tischen und Stühlen, dunkel vertäfelten Wänden, gedimmtem Licht.

Das WC, Madame?, fing mich ein Kellner ab.

Er wies auf eine dunkle Holztür ohne Aufschrift.

Dort hinein.

Mir war schwummrig, aber nicht auf eine unangenehme Weise. Die Welt fühlte sich weicher an, einladender. Die Schwummrigkeit glättete die scharfen Kanten, und ich hatte dieses Gefühl, das man immer nach ein paar Gläsern Wein bekommt — dass nichts anderes von Bedeutung ist, dass, egal was morgen kommt, nur heute Nacht zählt. Ich wusch mir die Hände, sah mich im Spiegel an und fand, dass auch ich weicher aussah und meine Augen schwarz und bodenlos waren.

Als ich ins Restaurant zurückkam, hatte er bereits bezahlt. Ich sagte Danke, und er sagte Danke fürs Kommen, und man half uns in unsere Mäntel.

Draußen auf der Straße standen wir eng beieinander, und er schaute zu mir hinunter und lächelte. Das alles war eine ausgeklügelte Anekdote gewesen, und er stand kurz davor, mir die Pointe zu verraten. Sie war vorhersehbar, ich kannte ihr Ende schon, doch ich würde überrascht tun, denn ich wusste, das würde ihm besser gefallen.

Doch er sagte bloß: Gehst du zur U-Bahn? Der Abend ist so angenehm. Ich kann dir einen schöneren Weg zeigen, wenn du möchtest.

Klar, sagte ich.