Unsere Seelen unter der Haut - Marion Brüning - E-Book

Unsere Seelen unter der Haut E-Book

Marion Brüning

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Beschreibung

Die fünfzehnjährige Emily leidet seit über einem Jahr an einer Persönlichkeitsstörung. Fast täglich sitzt sie in ihrem Zimmer und versucht, dem Druck zu widerstehen, sich zu ritzen, und an anderen Tagen betet sie zu Gott, dass er sie bitte einfach zu sich nehmen möge. Dann kommt das Wochenende, an dem sie sich entscheiden kann, ob sie die Tage mit ihrem Bruder auf einem Reiterhof verbringen oder lieber in der Therapiewohngruppe bleiben möchte. Emily entscheidet sich für den Reiterhof, auf dem sie endlich ihre Gelegenheit sieht, dem Leben ein Ende zu setzen. Dort trifft sie allerdings auf Chrissi, den Sohn des Besitzers, und plötzlich ändert sich alles. Aus dem Kennenlernen wird die erste Liebe, auf das Doch-Leben-Wollen antwortet der Tod. Chrissi leidet an einer schweren Form der Leukämie.

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Marion Brüning

Unsere Seelen unter der Haut

...und nachts flüstere ich deinen Namen...

© 2018 Marion Brüning

Umschlag, Illustration: Vincent Sandholtet, Sonja Berghaus

Lektorat, Korrektorat: Christine Bendik

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-8245-1

e-Book:

978-3-7469-3525-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Oskar!

…der Platz in meinem Herzen bleibt für dich immer frei...

Was du aus diesem Buch lernen kannst ist unendlich mehr wert, als du glaubst, denn Lieben heißt bei jemanden zu bleiben, erst recht, wenn es schwierig wird.

Prolog

„Ich mag diesen Rummel nicht!“, mault er, aber ich schiebe seinen Rollstuhl einfach durch die Menge. „Ich werde dich killen!“, zischt er.

Über unseren Köpfen fliegt ein Rotkehlchen durch den Himmel.

„Das ist mir egal und das weißt du“, sage ich ernst. Er schmunzelt hinter seinem Mundschutz und um seine Augen bilden sich Lachfältchen.

Er ahnt, dass ich das mit dem Gerne-Gekillt-Werden nicht mehr ernst meine.

Von vorne und von hinten drängeln Menschen, die uns bei der Aktion helfen wollen. Mein Herzschlag tuckert in meinem Leib. Einen Moment lausche ich der Stimme in meinem Inneren. Es muss einfach gutgehen.

Besserwisser können uns mal!

„Wir setzen ‚Menschenmasse‘ auf unsere ‚Geht-gar-nicht-Liste‘ dazu!“ Er fängt an, in seiner Jackentasche zu wühlen.

„Ich habe den Zettel“, gebe ich ihm kurz zu verstehen und blinzele in die Sonne. Das Rotkehlchen ist in einem Baum neben uns verschwunden. Die Zweige werfen dunkle Schatten auf uns. Ein Windzug. Noch mehr Blätter, die auf den Boden flattern.

„Dann gib ihn mir!“

Ich bleibe stehen und ziehe das zerknitterte Blatt aus meiner Hosentasche. „Da!“

„Alles Gute, Junge! Viel Glück!“ Ein Mann winkt Chrissi zu. Chrissi rutscht noch tiefer in den Sitz. Gleich fällt er mir noch aus dem Rollstuhl. Herrje!

„Schreib jetzt!“, befehle ich ihm, um ihn etwas abzulenken.

Und mich auch. Chrissi beugt seine Schultern nach vorne.

„Wenn du so rast, dann kann ich nicht schreiben. Schau, voll krakelig!“

Er hält mir den Zettel so nah vor die Augen, dass ich nichts lesen kann, aber ich weiß ja auch so, was dort steht. Wir haben heute Morgen schon zwei Wörter auf unsere Geht-gar-nicht-Liste gesetzt: Rollstuhl und Stufen. Die Wand ist bald vollgeritzt. Chrissi hat schon gesagt, wenn wir weiter alles nur blöd finden, dann muss sein Vater anbauen. Eine Wand seines Schuppens, auf die wir Worte ritzen, in der Hoffnung, dass das Gemäuer unsere Probleme einfach verschluckt.

„Weißt du was? Menschenmassen sind doch gar nichts Negatives, vor allen Dingen in unserer Situation nicht. Im Moment sind wir auf diese Massen angewiesen.“ Ich höre selber, dass meine Stimme nicht so mutig klingt, wie ich es gerne hätte.

Er dreht sich zu mir um und schaut mir lange in die Augen. „Stimmt!“, meint er irgendwann.

„Und Rollstuhl und Stufen können wir eigentlich auch wieder streichen.“

„Nein, auf keinen Fall“, sagt er, panisch. „Wir müssen dafür kämpfen, dass alle Rollstuhlfahrer barrierefrei durch ihr Leben rollen können.“

Es hat drei Tage ununterbrochen geregnet und die Reifen lassen Wasserspritzer durch die Luft wirbeln. Sie besudeln meine helle Hose.

Eine Fernsehkamera richtet sich auf uns. Wo kommt die denn plötzlich her?

Ich versuche, freundlich zu lächeln. Chrissi dagegen verzieht sein Gesicht zu einer Fratze. Das kann ich trotz des Mundschutzes sehen. Unachtsam laufe ich mitten durch eine Pfütze.

Ich höre Ricardo im Stall wiehern. Nach Mist riechender Wind weht mir um die Nase. „Oh Mann, Chrissi!

„Wir können nicht die ganze Welt retten“, sage ich und schiebe den Rollstuhl mit Karacho über das Brett, das am Eingang des Zeltes liegt, weil eine dicke Pfütze den Zugang versperrt hat.

„Wir müssen es erst einmal schaffen, uns selbst zu helfen.“

August 2015 Emily

Die Tage beginnen immer gleich. Ich wache auf und es dauert nur ein bis zwei Sekunden, bis mein Gedanke wieder da ist, dass ich eigentlich nie mehr aufwachen wollte. Zuerst ist der Gedanke nur ein Hauch. Dann schließe ich meine Augen und versuche, wieder einzuschlafen. Was mir natürlich nicht gelingt. Und schon wird aus dem Hauch ein Wissen, und meine ganze Welt steht wieder Kopf. Jede Zelle meines Körpers ist schon am Anfang des Tages müde, wie benutzt und ausgelaugt, aber ich kann ganz langsam von eins bis tausend zählen, ich schlafe nicht wieder ein.

Und noch etwas ist an vielen Tagen gleich: Ich sitze an meinem albernen rosa Schreibtisch aus Kleinkindertagen und versuche verzweifelt, dem Druck zu widerstehen, mich zu verletzen. Das Rasiermesser an einer Stelle an meinem Unterarm anzusetzen und mich dann zu ritzen. Die Klinge zuerst kalt auf meiner Haut zu spüren, dann den Druck, der mein Fleisch in zwei Hälften teilt. Danach den Schmerz zu feiern und zuzusehen, wie mein Leid in Form von rotem Blut aus meinem Körper weicht.

„Was bringt dir der Scheiß?“, hat meine Mutter einmal panisch geschrien, als sie mich blutend im Badezimmer vorfand. In ihrer Verzweiflung donnerte sie eine Dose Hautcreme an die Wand, die scheppernd zu Boden fiel.

„Warum schreist du so? Oder willst du mit dem Krach den Unsinn aus meiner Seele vertreiben?“, wisperte ich. Aber meine Mutter schaute mich nur böse an. Zwei dunkle Punkte, die mich ansahen wie verirrte Fusseln.

Danach gab es weder von ihr noch von mir eine plausible Antwort. Wie auch, wenn nicht einmal die Psychologen eine hatten.

Meine Mutter ist ein rational denkender Mensch. Gefühle kommen bei ihr erst an zweiter Stelle. Nachdem sie Entscheidungen getroffen hat, führt sie diese stets lösungsorientiert aus. Aber ich bekomme diesen Gedanken und den Druck, es zu tun, einfach nicht aus meinem Kopf. Irgendwie muss ich meinen seelischen Schmerz doch loswerden. Ich hasse es, traurig zu sein. Und es bringt Erleichterung. Es ist wie ein Ventil. Der körperliche Schmerz ist dann einfach nicht so schlimm wie mein seelischer. Und wenn ich ritze, lenkt mein körperliches Schmerzempfinden von meiner Traurigkeit ab. Ja, wenn ich mich ritze, vergesse ich die Welt um mich herum, und meine Probleme scheinen weit weg zu sein. Wie im Tod. Eine kurze Erleichterung, ein kurzer Moment seelischer Schmerzstille. Vielleicht fände ich auch anders meine Ruhe, wie zum Beispiel in einem wunderbaren Traum, aber das Dumme ist ja, ich kann einfach nicht wieder einschlafen.

Mein Leben hat keine festen Wurzeln. Für andere sicher unvorstellbar: Ich wohne mit meinem Bruder und mit meinen Eltern in einem großen, schicken Haus. Alleine unsere Küche strahlt im verchromten super modernen Hightech-Design. Haushaltsgeräte der neusten Generation verleihen der Küche höchste Eleganz. Und im ganzen Haus blitzt es in Weiß und Chrom auf, dass, wenn die Sonne durch die riesigen Fensterfronten scheint, man gut daran tut, bei einem Streifzug durch unser Haus, mit einer Sonnenbrille bewaffnet zu sein, damit man nicht geblendet wird. Auch unser Wohnzimmer hält dem modernen Purismus stand. Und es hat eine Größe, dass mindestens hundert Leute Platz haben, sich frei zu bewegen. Selbst mein Zimmer könnte mindestens meine Schulklasse aufnehmen.

Aber in meiner Phantasie reicht es nicht aus, für ein gemütliches, lustiges Treffen mit sogenannten Freunden in meinen eigenen vier Wänden. Mir fallen dazu nur lange Augenblicke eines verlegenen Schweigens ein und dass mich alle anstarren würden, weil sie mich hassen.

Meine Mutter ist Tierärztin und mein Vater ist Chefarzt der Kinderchirurgie in der hiesigen Uni-Klinik. Er richtet Arm- und Beinbrüche, er korrigiert Missbildungen und Fehlstellungen, er vernäht kleine Wunden und schneidet Bäuche von Kindern auf und näht sie wieder zu. Er soll sogar sehr lustig mit seinen kleinen Patienten umgehen. Meine Erfahrung ist anders. Ich kenne ihn nur still und in sich gekehrt, wie seine Blicke in unbeobachteten Momenten auf mir ruhen und er über seine missratende Tochter nachzudenken scheint. Ich kann mich aber auch täuschen, vielleicht ist er gedanklich schon wieder bei einem seiner nächsten Patienten und sieht nur durch mich hindurch.

Meine Mutter kümmert sich auch um Verletzungen und Wunden, um Brüche und um Koliken, nur halt bei Tieren. Sie salbt die angeschwollenen Beine von Pferden, Kühen und Schafen ein und schnippelt und schneidet auch schon mal an Tierbäuchen herum. Meine Eltern können fast blind Häute öffnen und wieder schließen, Brüche richten und Schmerzen nehmen, aber sie schaffen es beide nicht, die vielen Löcher in meiner Seele zu flicken oder meinen inneren Schmerz auch nur ein klein wenig zu lindern.

Mein Bruder ist dreizehn, zwei Jahre jünger als ich und ein niedlicher Depp. Sven liebt Tanz und Musik und er geht reiten. Außerdem braucht er doppelt so lange im Badezimmer wie ich. Wenn er aus dem Bad kommt, stehen seine blonden Haare gegelt und stachelig zu allen Seiten ab. Manchmal verspüre ich den Drang, so eine Strähne anzufassen und wie ein dürres Ästchen zu knicken.

Mein Bruder ist sicher schwul und wird Friseur. Meine Eltern werden toben, aber mir ist es egal. Auch dann werde ich ihm viel Glück wünschen. Einfach nur, dass er so, wie er lebt und liebt, glücklich sein soll. Ich habe zu dem Thema schon stundenlang in der Bibel geblättert. Wo steht eigentlich geschrieben, dass der Mensch reich, gesund, hetero, schön, gebildet sein soll und dass es vor Gott strafbar ist, eine dunkle Haut zu haben, eine andere Religion oder Lebensart?

Ich habe nichts gefunden.

Warum werden dunkelhäutige Menschen von Leuten beschimpft und beleidigt, die selber stundenlang in der Sonne braten oder mindestens ein Mal in der Woche ins Solarium rennen, um braun zu werden? Es gibt Menschen, die strahlen ihre Überheblichkeit aus und umhüllen andere damit, wie mit einer dreckigen, stinkenden Decke.

Sie sollten sie einfach in Ruhe lassen.

Mir selber gestehe ich diese Großzügigkeit der Toleranz allerdings keine Sekunde zu. Meine Mutter sagt oft: „Die Leute spielen sich bei den Fehlern anderer auf wie Richter und bei ihren eigenen Fehlern wie Verteidiger.“ Damit hat sie bis zu einem gewissen Punkt recht. Wenn es um uns beide geht. Sie kann mir sagenhaft gut auflisten, was ich nicht richtig mache. Bei mir liegt sie allerdings falsch. Ich halte nicht zu mir. Ich bin kein verbissener Verteidiger meiner selbst. Ich mag mich auch nicht. Ich finde mich zu dick, zu hässlich, zu oberflächlich. Habe ich schon dumm erwähnt?

Kurz gesagt: Ich bin mein eigenes Schicksal!

Heute geht es mir den ganzen Tag über schon sehr merkwürdig. Ich habe das Gefühl, als hätte ich beim Aufstehen vergessen, unter meiner Bettdecke hervorzukrabbeln. Ich schleiche mit diesem Gefühl, eine Wolldecke über dem Kopf zu haben, aus meinem Zimmer, die Treppe nach unten und dann bis zur Haustür. Meine Mutter sitzt schon in ihrem Cabriolet und hupt ungeduldig. „Emsmausle! Wir müssen lo-os!“

Wie ich diesen Namen hasse!

Die Sonne scheint grell und warm und das Dach des Wagens ist geöffnet. Die Ledersitze fangen sicher schon an zu glühen. Ich sollte noch ein paar Minuten warten, bis ich mich setze.

„Ich muss nochmal aufs Klo!“

Durch das Glas der Haustür kann ich sehen, wie meine Mutter hinter ihrer großen schwarzen Sonnenbrille ihre Augen verdreht. Ihre Augenbrauen ziehen sich nach oben. Außerdem trommelt sie nervös mit ihren Zeigefingern auf das Lenkrad. Ihr heller Nagellack funkelt in der Sonne. Der Drang, mit mir zu schimpfen oder mich zu maßregeln, ist ihr in den letzten Monaten gründlich vergangen.

Der Asphalt flimmert von der Hitze, wie Rauch von einem Feuer. Ich gehe langsam auf das Gästeklo. Ich hebe meinen Rock hoch, ziehe meine Unterhose hinunter und setze mich auf die Toilette und warte. Meine Ellenbogenknochen bohren sich tief in meine Oberschenkel, aber es tut nicht weh. Nicht weh genug!

Ich warte weiter. Eine Minute. Eine zweite Minute.

Ich muss gar nicht. Also stehe ich auf, ziehe mich wieder an und schaue aus dem Fenster. Ich kann meine Mutter sehen. Gerade betrachtet sie sich im Spiegel und malt ihre Lippen mit einem zartrosa Lippenstift nach. Dann wischt sie sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. Die Sonne brennt weiter munter ihre Hitze auf das Leder. Meine innere Anspannung steigt an. Mein freies Wochenende ist um. Meine Mutter wird mich für die nächsten fünf Tage wieder in die Wohngruppe der Kinderpsychiatrie bringen. Nervige Zimmernachbarn, langweiliges Essen, alberne Gruppenstunden und nervtötende Einzelgespräche erwarten mich, sowie ein Internet- und noch schlimmer ein Handyverbot.

Ich muss zurück und mein Vater hat es nicht einmal für nötig gehalten, sich von mir zu verabschieden. Nach einem Anruf, den er gegen zehn Uhr heute Morgen erhielt, ist er mit einem „Muss los“, in die Klinik geeilt. Er kam demonstrativ mit dem Telefonhörer in die Küche, sagte die zwei Worte, machte auf dem Absatz kehrt, und das Echo seiner Absätze auf dem Boden klang länger nach als der Duft des Rasierwassers, was er heute Morgen benutzt hatte. Fast hätte ich hinter ihm auf den blank polierten Fußboden gespuckt. Keine Minute Zeit, um mir wenigstens für die nächste Woche alles Gute zu wünschen. Ich habe ja nicht verlangt, dass er mich in den Arm nimmt und sagt, dass er mich vermissen wird. Meine Eingeweide spielen verrückt und meine innere Anspannung steigt noch mehr an.

Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und hauche meinen warmen Atem dagegen. SCHEIßE!, schreibe ich mit meinem Zeigefinger auf die beschlagene Stelle. Meine Mutter hupt wieder. Jetzt könnte ich meinen Notfallkoffer gut gebrauchen. Der liegt aber schon im Kofferraum verstaut und brütet vor sich hin. Also rufe ich meinen Notfallplan auf. Aber im Moment kann ich mich nur mit eiskaltem Wasser retten. Ich halte meine Arme unter den Wasserstrahl. Wegen der Hitze kommt das Wasser nur lauwarm aus den Rohren geblubbert. Das bringt nichts.

Mein innerer Druck steigt noch weiter an. Und meine Mutter hupt schon wieder. Sie macht Anstalten, aus dem Wagen auszusteigen. „Ich komme!“, rufe ich deshalb durch das Klofenster. „Habe bloß etwas vergessen!“

Etwas Spitzes, denke ich und laufe die Treppe zu meinem Zimmer wieder hoch. Oben am Treppengeländer steht mein Bruder und versperrt mir den Weg: „Tschau Emily“, meint er trocken, was bestimmt so viel heißen soll, wie: Ich habe dich durchschaut. Er weicht keinen Zentimeter zur Seite. Ich habe etwas vergessen“, sage ich nervös und versuche noch einmal, an ihm vorbeizukommen. Unsere Blicke treffen sich hart, nichts dazwischen, was sie abfedern könnte.

„Soll ich dich zum Auto tragen?“, fragt er.

„Nein“, sage ich bissig und finde den Scherz überhaupt nicht lustig.

Ich wiege bestimmt zehn Kilogramm mehr als der Zwerg.

„Ich will nur…“ Weiter komme ich nicht. Meine Wangen fangen an zu glühen. Jetzt breitet er auch noch seine Arme aus. Meine Mutter hupt wieder. Wir müssen bis spätestens um achtzehn Uhr in der Psychiatrie eintreffen. Die Zeit läuft ihr davon, mal etwas richtig zu machen.

„Ich werde dir alles nachschicken, was du brauchst, Schwesterherz“, sagt mein Bruder ernst.

„Du mich auch!“, fauche ich. Svens Oberkörper hebt und senkt sich bei jedem Atemzug. Als ich die Treppe langsam hinuntergehe, fühlt es sich an, als würde Svens Atem von hinten auf mich treffen und versuchen, mich die Treppe hinunterzupusten. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken.

Keine Chance für mich!

Also beiße ich von innen in meine Unterlippe, bis ich Blut schmecke, und gehe langsam aus dem Haus. Sofort trifft die Sonne warm auf mein Gesicht und blendet mich. Ich schließe für einen Moment meine Augen.

Als ich in das Auto steige, hebe ich meinen Rock hoch, sodass man meinen String-Tanga sehen kann, und lasse mich stöhnend mit meinen nackten Beinen und mit meinen bloßen Po-Backen auf das heiße, schwarze Leder plumpsen.

Ein wenig öffnet sich das Ventil meiner gequälten Seele. Im Rückspiegel kann ich meinen gierigen Blick nach noch mehr verbrennender Hitze sehen, und wie ein schmales Rinnsal Blut aus meinem Mund läuft.

Oben am Fenster steht mein hagerer Bruder in seinem weißen Muskelshirt und winkt mir zum Abschied. Dann treffe ich auf den Blick meiner Mutter und registriere ihre in sich zusammengesackten Schultern und wie der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen über meinen Mund zu meinen nackten Beinen auf dem heißen Ledersitz gleitet. Sie starrt entsetzt auf meinen Unterkörper, als würden Qualmwolken aufsteigen.

„Geht es dir gut?“, stottert sie und nimmt die Brille von ihrer Nase. Ihre Augen schimmern, ich kann mich in ihnen spiegeln. Aber alles, was ich darin sehe, ist mein eigener Zweifel. Trotzdem sage ich: „Im Moment ja!“, und hoffe, dass der Schmerz noch etwas anhält.

Ich schaue wieder hoch zu meinem Bruder und bin mir plötzlich sicher, dass seine Schultern weitaus breiter sind als die meiner Eltern.

„Und, Mona? Wie ist es dir am Wochende ergangen?“

„Gut. “

Wir wissen, dass sie lügt, aber tun so, als würden wir ihr glauben.

Schließlich wollen wir alle selber nicht durchschaut werden. Mona trägt einen kurzen Rock. Ihre Beine ragen darunter hervor wie dünne Mikado-Stäbchen. Wenn ihr Rock auf die Seite rutscht, sieht man, dass ihre Oberschenkel mit drei weißen Pflastern geziert sind. Jeder weiß, was sie versucht zu verbergen. Wenn ihr innerer Druck zu groß wird, zündet sie sich eine Zigarette an, inhaliert ein paar Mal kräftig, und noch während der letzte Qualm aus ihrem Mund fließt, nimmt sie die glühende Zigarette und drückt sie auf ihrer eigenen Haut aus.

Frau Dr. Norek nickt nur kurz mit dem Kopf. Sie wird sich Mona nachher in ihrer Einzeltherapiestunde vorknöpfen, darauf wette ich zehn Euro.

Ich schaue einmal durch die Runde. Michaela, Sophie, Eva-Marie, Louisa, Mona und ich sitzen mit unserer Therapeutin auf harten, blauen Stahlstühlen im Kreis. Das Ganze hat ein bisschen was von einem Stuhlkreis in einer Kindergartengruppe. Wir singen aber keine fröhlichen Lieder und klatschen dabei auch nicht in die Hände und lachen tun wir auch nur äußerst selten. Der Stuhl zwischen Michaela und Sophie ist leer. Lisa fehlt. Wir wissen noch nicht warum.

In unserem Gruppenraum steht nicht viel herum. Er ist sehr spartanisch eingerichtet. Eigentlich gibt es nur unsere Stühle und ein großes mobiles Whiteboard auf einem stabilen Aluminium-Fahrgestell. Die Tafel ist blank geputzt. Jemand hat sich ordentlich Mühe gegeben, unsere Krankheiten und unsere Symptome auszuradieren. Auf der Ablagetafel für Stifte hat Lisa am Freitag gelbe Gummibärchen gegen die Marker getauscht und aufgereiht. Sie sehen aus wie kleine Zinnsoldaten, die auf einen Befehl warten.

Wie lange mein Krieg hier wohl noch andauern wird?

Die Stifte hat Lisa anschließend einfach hinter der Gardine versteckt.

Anscheinend hat Frau Dr. Norek das noch nicht bemerkt. Ich muss grinsen. Dann fällt mein Blick auf die Fensterbank. Ein paar Blumen stehen in der Wärme und lassen ihre Köpfe hängen. Keiner hat sich an diesem Wochenende um sie gekümmert. Ich muss der Versuchung widerstehen, die Blumen zu gießen. Also schaue ich wieder in die Runde.

Alle Anwesenden, außer Frau Dr. Norek, gelten als Exzentriker. Wir weichen nämlich stark von der Norm ab. Michaela praktiziert riskanten Sex (das ist etwas, das ich mir nicht richtig vorstellen kann- und vor allen Dingen auch gar nicht möchte); Sophie dagegen balanciert am liebsten auf Brückengeländern von Autobahnen; Eva-Marie und Louisa haben die gleichen Symptome wie ich. Die Ärmel ihrer Shirts reichen auch bis weit über ihre Fingerspitzen hinaus. Hinter die Krankheitszeichen von Lisa bin ich noch nicht so ganz gestiegen. Aber egal, welche Symptome jede Einzelne von uns auslebt, wir leiden alle unter derselben Krankheit. Wir haben BPS. Das heißt, wir haben eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bei dieser Störung sind bestimmte Vorgänge in den Bereichen unserer Gefühle, unseres Denkens und unseres Handelns beeinträchtigt. Dieses wirkt sich durch negative und paradox wirkende Verhaltensweisen in zwischenmenschlichen Beziehungen, sowie gegen uns selbst aus. Die Krankheit wird häufig noch von weiteren Belastungen begleitet. Nur, um meine zu nennen: Depressionen und Essstörungen.

Und weiß Gott, diese Krankheit erkennt man nicht an einem Tag. Auch nicht in einer Woche oder nach einem Monat. Bis man seine Diagnose erhält, hat man schon einen verdammt harten und steinigen Weg hinter sich, aber auch dann wird es nicht viel einfacher. Mit seinen Fehlern und Macken konfrontiert zu werden, lässt einen manchmal das Gefühl bekommen, zu explodieren.

„Nun zu dir, Emily“, sagt Frau Dr. Norek und schaut mich erwartungsvoll an.

„Wo ist Lisa?“, platze ich heraus, obwohl ich die Frage gar nicht stellen wollte. Michaela und Sophie schauen gleichzeitig auf den freien Platz zwischen sich, als wäre ihnen bis jetzt noch gar nicht aufgefallen, dass ihre Sitznachbarin fehlt. Ein halber Meter, der nur mit einem nackten Stuhl gefüllt ist. Frau Dr. Norek hüstelt. „Lisa kommt erst in ein paar Tagen wieder zu uns.“

Mona lässt sich mit ihrem Stuhl gefährlich weit nach hinten kippen. Ihre Fußspitzen berühren kaum noch den Boden. „Machen Sie es doch nicht so spannend!“, faucht sie und sieht Frau Dr. Norek provozierend an.

„Bitte?“, unsere Psychologin zieht drohend ihre rechte Augenbraue hoch. Aber Mona hält nicht die Klappe: „Lisa hat versucht, sich an einem Holzbalken im Schuppen auf dem Bauernhof ihrer Großeltern umzubringen und hat nur überlebt, weil dieses Scheißseil gerissen ist.“ Als sie das sagt, drückt sie mit dem Daumen auf eines ihrer Pflaster, aber verzieht dabei keine Miene.

„Woher weißt du das?“

Mona starrt Frau Dr. Norek ein paar Sekunden an. Mir schießt durch den Kopf, ob die uns hier eigentlich alle für so blöde halten, dass wir am Wochenende bei unseren Eltern keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können. In den Augen von Michaela sehe ich Tränen. Sie kommt sich sicher wieder vor wie auf einer großen Theaterbühne.

Theatralisch wie immer. Eva-Marie und Louisa schauen gespannt zu Frau Dr. Norek. Ungläubigkeit ist ihnen ins Gesicht gemeißelt.

„Von Lisas Schwester“, höre ich Mona sagen.

Als Frau Dr. Norek nickt, bleibt für mich für einen Moment die Welt stehen. Ich schwanke zwischen Entsetzen und Neid. Mein Puls fängt an zu rasen. Ich öffne den Mund und schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Lisa hat es gewagt! Sie hat es wirklich gewagt!

„Möchtest du etwas sagen?“ Frau Dr. Norek schaut in meine Richtung. Ich schüttele heftig mit dem Kopf.

„Wenn sie am Montag noch da sind, kannst du die Gummibärchen alle alleine essen“, hat Lisa mir am Freitag beim Verlassen des Therapiezimmers zugeflüstert.

Das du bekommt plötzlich eine andere Bedeutung, genauso wie das alleine.

Kann mir mal einer sagen, warum wir daraufhin gelacht haben?

Es regnet jetzt schon den ganzen Morgen. Ich stehe in meinem Zimmer am Fenster und sehe hinaus. Meine Einzeltherapiestunde liegt noch vor mir. Bestimmt werden wir über Lisas Suizidversuch sprechen. Ich stelle mir vor, dass sie es geschafft hätte. Dieses Seil wäre nicht gerissen und sie hätte wirklich an dem Balken gebaumelt, bis ihre Oma sie tot aufgefunden hätte. Dann würde sie jetzt in einem kalten, weißen Sarg liegen. Ihre wunderschönen, dunklen, lockigen Haare würden auf dem weißen Kissen wie ein Fächer ihr hübsches Gesicht umrahmen und sie würde aussehen wie Schneewittchen. Hinter ihr wären hunderte von Kerzen aufgestellt und würden leuchten. Durch das Flackern würden Schatten über ihr Gesicht huschen und sie wieder lebendig aussehen lassen.

Warum nur hat sie es versucht?

Und warum genau an diesem Wochenende?

Am Freitag hatten wir noch über die aufgestellten Gummibärchen gelacht und uns den empörten Gesichtsausdruck von Frau Dr. Norek ausgemalt, wenn sie ihre Stifte suchen und stattdessen auf die gelben Dinger stoßen würde. Eigentlich hatte uns das Lachen ein wenig glücklich gemacht. Oder, ich dachte, wenigstens Lisa hätte es ein wenig glücklich gemacht.

Niedrig hängende Wolken lassen Regentropfen fallen. Der Asphalt glitzert, als hätte jemand Feenstaub darüber gestreut. Dächer, Bäume und Autos werden nass. Das Wasser spült die Natur sauber und den Dreck von allen Oberflächen. Aber auch, wenn ich mich jetzt nackt in den Regen stellen würde, würde es der Regenguss nicht schaffen, meine depressiven Gedanken wegzuspülen. Also bleibe ich am Fenster stehen und denke weiter darüber nach, was passiert sein könnte, dass Lisa den nächsten Schritt einfach gewagt hat. Immer wieder flimmert mir das Seil um Lisas Hals durch den Kopf.

Ich weiß selber, dass uns schon ein paar falsch gesagte Worte völlig aus der Bahn werfen können. Selbst gut gemeinte, wie: „Schau dir doch mal das tolle Wetter an. Ist es heute nicht herrlich? Jetzt freu dich doch mal!“ Das Einzige, was man bei uns damit erreicht, ist, dass wir uns noch schlechter fühlen. Die Worte klopfen an unser Gewissen, denn eigentlich müssten wir uns darüber ja freuen und glücklich sein, aber der Eingang in unserem Kopf zu den schönen Dingen ist versperrt.

Die Tür ist zu. Verschlossen. Also bekommen wir es doppelt ab und fühlen uns sofort noch ein wenig schlechter. Manchmal komme ich mir vor wie der Schaum im Milchkaffee meiner Mutter, durch den sich der Milchaufschäumer in rasender Geschwindigkeit dreht. Eine Spirale ohne Pause. Für das nächste Wochenende haben meine Eltern mich vor die Wahl gestellt: Entweder muss ich in der Klinik bleiben oder ich kann das Wochenende mit meinem Bruder auf einem Reiterhof verbringen. Meine Eltern sind beruflich auf Mallorca. Mein Vater muss dort einen Vortrag über eine neue Methode der Arthroskopie bei Kleinkindern halten.

Ob er über meine Krankheit auch so gut Bescheid weiß?

Natürlich fahre ich mit meinem Bruder, auch wenn ich mich furchtbar langweilen werde, aber in der Klinik bleiben? Freiwillig? Bei all den Kranken, die mich noch verrückter machen?

Das einzig Sinnvolle, wenn ich hierbleiben würde, wäre, ich könnte mich um die vertrockneten Blumen kümmern und Hobbygärtnerin spielen. Die Zimmerpflanzen am besten in einem Eimer mit Wasser tränken, damit ihr Stoffwechsel wieder in Gang kommt, genug Wasser dahin gelangt, wo es hinmuss und die Pflanzen wieder atmen können. Danach könnte ich stundenlang zusehen, wie die Köpfe der Blumen versuchen würden, sich wiederaufzurichten. Generell, dass das noch klappen kann, gibt es aber auch dafür keine Garantie.

Tränen rinnen aus meinen Augen, was wirklich sehr selten passiert. Frau Dr. Norek würde sich jetzt darüber freuen. „Du hast doch keine Ahnung“, murmele ich. Meine Tränen laufen wegen der Erkenntnisüber mein Schicksal. Und meine Einsamkeit. Meine Einsamkeit ist bitter, denn egal, wie viele Menschen sich mit mir in einem Raum befinden, irgendwie fühle ich mich immer alleine.

Es regnet immer noch. Bindfäden. Ich lehne meinen Kopf an die Wand, verschränke meine Arme schützend vor meinem Körper und schaue weiter dem Regen zu, wie er über die Dächer und dann an den Hauswänden hinunterläuft. Ich starre solange auf das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes, bis ich vergesse, dass ich auf einen Betonklotz schaue und glaube, dass Häuser auch weinen können.

Ich winke und winke. Meine Eltern können mich gar nicht mehr sehen. Plötzlich ist das Auto meines Vaters verschwunden, als hätte der Wald, der rechts und links vor den Toren des Gutshofes liegt, den BMW mitsamt meinen Eltern einfach verschluckt. Ich spüre die zweite Erleichterung des Tages. Was soll noch schlimm sein, wenn meine Eltern nicht mehr da sind? Die werden mich schon mal nicht mehr vermissen.

Habe ich vermissen gesagt?

„Emily!“, ruft mein Bruder.

Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken.

An den hatte ich gar nicht mehr gedacht!

Ich höre Hufe klappern, die näherkommen und als ich mich langsam umdrehe, schaue ich direkt auf einen großen Pferdekopf. Fleur schubst mich mit ihrem weichen Pferdemaul an die Schulter. Ich hole ein Zuckerstückchen aus meiner Hosentasche und halte es dem Pferd meines Bruders unter das Maul.

„Kein Zucker!“, meint Sven vorwurfsvoll. Das Zuckerstückchen knackt, als Fleur es mit ihren großen Zähnen zermahlt.

„Möchtest du auch mal?“

„Was?“

„Reiten.“

„Nein!“, das Wort verlässt meinen Mund wie ein kleiner entsetzter Schrei. Durch einen schmerzvollen Sturz will ich auch nicht aus dem Leben scheiden.

„Dann schau mir wenigstens zu“, bittet Sven.

„Klar“, sage ich und gehe hinter den beiden her. Sven sitzt stocksteif wie ein Pfeil auf dem Pferderücken und grinst. Auch die Reitkappe sitzt pfeilgerade auf seinem Kopf. Seine blonden, gegelten Haare, die vorne unter dem Helm herausschauen, zeigen gen Himmel. Gerade in diesem Moment hüstelt Sven und hält sich seine weiße, behandschuhte Hand albern vor den Mund.

Er ist schwul, ich schwör’s! denke ich und trotte weiter hinter ihnen her.

Der Gutshof liegt am Rand von Oldenburg, direkt an einer schmalen, kurvenreichen Landstraße. Man erreicht den Reiterhof über einen holprigen Schotterweg, der von Bäumen gesäumt ist. Dass mein Bruder sich hier wohlfühlt, kann ich verstehen. Sobald man das Waldstück hinter sich hat, sieht man alles, was ein Reiterherz höherschlagen lässt: eine lichtdurchflutete Reithalle, eine attraktive Außenanlage mit einer Führanlage, einen Außenreitplatz und Stallungen. Und ringsherum nichts als grünes Weideland, soweit das Auge reicht. Das Haupthaus sieht aus, als wurde es als Kulisse für den Klassiker Immenhof genutzt, ein Heimatfilm aus den Zeiten meiner Großmutter. Gedanken an meine Oma treiben mir grundsätzlich Schwermut in meinen Kopf. Eine Leere, in Mutlosigkeit und Traurigkeit gemeißelt. Ich denke dann an Apfelkuchen mit Sahne und an Bratwurst mit Rotkohl. Ich fühle wieder ihre fleischige Hand, wie sie meine wie ein Schutzschild umklammerte. Momente, in denen ich wusste, dass mir nie wieder etwas Schlimmes passieren kann, solange ich in ihrer Nähe bin. Schon auf dem Rückweg vom Friedhof, als meine kleine Hand in der knochigen Handfläche meines Onkels lag, und ich von ihm nach Hilfe rufend von dem noch offenen Grab meiner Großmutter weggezerrt wurde, wusste ich, dass ich mehr als nur einen Menschen und eine Hand, die mich hält, verloren hatte.

„Du kannst dich da hinsetzen“, schlägt mein Bruder vor und zeigt auf eine Bank, die vor dem Außenreitplatz steht.

„Ja, ja“, knurre ich. Neben der Bank erkenne ich Svens Sporttasche. Sie ist offen und ich sehe neben seinen Ersatzhandschuhen, seinen neuen Chaps, einer Wasserflasche und einem Deo, das gebogene Endstück einer Banane. Da mein Zuckerspiegel weit unten im Keller und mir schon ganz flau ist, schnappe ich danach und esse sie mit fünf gierigen Happen auf. Die Bananenschale werfe ich einfach in die Tasche zurück. Sven wird fluchen, wenn er das bemerkt.

Mein Frühstück, das ich unter den Argusaugen meiner Mutter verspeisen musste, habe ich längst wieder in die Toilette befördert (das war die erste Erleichterung des Tages). Denn eigentlich wollte ich leer und schlank in den Tod gehen, aber, wenn ich jetzt hier auf dem Reitplatz kollabieren würde, würde man mich höchstens in ein Krankenhaus befördern und meine Eltern informieren. Dann würden sie wieder gespenstisch aus dem Universum auferstehen. Drei Meter entfernt reitet mein Bruder mit seiner Fleur an mir vorbei und wundert sich nicht, als ich, plötzlich auf dem Zaun sitzend, neben ihm spreche.

„Warum galoppierst du nicht? Oder springst da hinten über die Hindernisse?“

„Ich muss das Pferd erst einmal warmreiten.“

„Ach so“, gebe ich mich zufrieden und schließe meine Augen. Ich halte mein Gesicht der Sonne entgegen und spüre, wie die wärmenden Strahlen meine Haut durchfluten.

Vielleicht wird sich das Sterben so anfühlen?

Weich und angenehm?

Ich weiß schon jetzt, dass dieses Vorhaben für mich an diesem Wochenende sehr schwer sein wird. Nicht, weil es mir auf dieser Scheißwelt so gut gefällt, sondern, weil mein kleiner Bruder dann sein Leben lang mit meinem Tod behaftet sein würde.

Warum hast du nicht auf sie aufgepasst?

Wie konnte das nur passieren?

Ich lasse meine Augen weiterhin geschlossen und merke, wie das Klappern von ankommenden Pferdehufen auf Asphalt mich beruhigt. Ein Trecker kommt nah an mir vorbeigetuckert. Ich rieche frisches Heu. Die Pferdehufe entfernen sich, mit ihnen zwei Mädchen, deren Geplapper mich einhüllt wie ein Samt-Tuch. Und jetzt kann ich auch die Hufschläge von Fleur auf dem weichen Sandboden ausmachen. Mein Bruder reitet im Trab. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Sofort stiehlt sie mir die Wärme auf der Haut. Ich öffne die Augen einen Spalt und es sieht aus, als würde hinter dem Wolkenrand das Licht mit der Wolkendecke verschmelzen. Seit mindestens einer halben Stunde kauere ich jetzt auf dem schmalen Holzzaun. Mein Po ist längst eingeschlafen. Wolken ballen sich immer öfter zusammen und die Sonne verschwindet immer länger. Ich lasse meine Augen trotzdem zusammengekniffen, denn mir gefallen die Geräusche auf dem Hof. Eine Katze miaut, der Trecker kommt wieder zurück, hinterlässt auch dieses Mal einen Geruch nach frischem Heu, nur nicht so intensiv wie vorhin, eher lieblich.

Wenn man nichts sieht, gewinnen die anderen Sinnesorgane an Schärfe. Ich höre verschiedene Vogelarten, die zwitschern, wieder eine Katze, die miaut. Sven ruft laut: „Eins, zwei, drei, vier, fünf…“ Gleichzeitig höre ich Fleurs Hufe in den Sandboden donnern. Nach neun ist mein Bruder still, auch das Laute der Hufe bleibt einen Moment länger aus. Sven springt über Hindernisse und zählt die Galoppsprünge seines Pferdes zwischen den einzelnen Hürden. Er hat nächste Woche ein wichtiges Turnier. Dann werde ich ihm sicher zuschauen, sollte ich noch leben, aber jetzt kneife ich meine Augen weiterhin zu, denn in meinem Kopf wird das Chaos allmählich ruhiger.

Ewigkeiten könnte ich hier so sitzenbleiben. Und es ist, als würde zaghaft etwas neben mir auftauchen. Ein leises Stöhnen verlässt meinen Mund. Eine wimmernde Bitte, die in den Himmel schreit: Lieber Gott, sei nicht taub!

Ich warte auf das Gefühl von Angst, aber es kommt nicht. Blind sein tut anscheinend weniger weh. Vielleicht sollte ich meine Augenlider einfach für immer sanft auf meinen Augen ruhen lassen. Denn ich ahne es, wenn ich jetzt meine Augen öffne und in die Welt blicke, beginnt mein Alptraum von vorne und ich werde nichts weiter entdecken als meine ängstliche, triste, dunkle, einsame und öde Zukunft.

Chrissi

Das Erste, was mir einfällt, als ich sie erblicke, ist ein japanisches Wort. Sie sitzt auf dem Holzzaun am Reitplatz und hält ihr Gesicht Richtung Sonne. Ihre dunkelblonden, langen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden, der bis weit über die Mitte ihres Rückens ragt, und auf ihrem Kopf trägt sie ein rosa Cap. Mit ihren Händen stützt sie sich am Zaun ab. Ich kann ihr Gesicht kaum erkennen, aber irgendwie weiß ich, dass sie schön ist. Langsam gehe ich auf sie zu. Sven reitet auf seinem Pferd an mir vorbei und nickt nur kurz zu mir herüber. Ich forme meine Lippen lautlos zu einem Gruß und hebe meine Hand, denn ich möchte das Mädchen aus der Nähe betrachten, ohne dass sie mich sieht. Wie eine Katze schleiche ich mich an und stelle mich neben sie. Mit voller Aufmerksamkeit betrachte ich ihre Figur und ihren Gesichtsausdruck. Ihr Kinn zeigt störrisch nach oben, und weil sie gegen die Sonne anblinzelt, haben sich auf ihren Wangen niedliche Grübchen gebildet. Sie stöhnt leise.

An was sie wohl gerade denkt?

Ich schaue mir ihr Profil von unten an. Ihr blasses Gesicht, umrahmt von dem Cap, gleicht einem zartrosa Blütenkopf. Sie sieht aus wie ein Mädchen aus einem meiner früheren Träume.

„Yume!“, sagte ich deshalb. Sie öffnet ihre Augen und starrt mich so erschrocken an, als hätte ich dicke Pickel im Gesicht oder wäre ein verwunschener Zwerg.

„Hey“, grüße ich schüchtern, aber sie gibt mir keine Antwort. Sie sieht mich abcheckend an, deshalb schaue ich schnell wieder weg. Greta und Janni, zwei Mädchen aus einer Reitgruppe meines Vaters, haben ihre Pferde an Halteringen an der Wand des Stalles angebunden. Die Pferde sehen sich an und stehen viel zu nah beieinander. Während Greta ihr Pferd noch putzt, kommt Janni schon mit ihrem neuen Reitsattel an. Als sie den Sattel auf den Rücken ihres Pferdes legt, schlägt das Pferd kräftig mit seinem Schweif. Danach zieht Janni den Gurt an und es schnappt wütend nach dem anderen Pferd. „Hey“, sagt Janni strafend zu ihrem Pferd und boxt es in die Seite. Das wird mir zu bunt. Also verlasse ich das schöne Mädchen, das sowieso keine Notiz von mir nimmt und gehe zu dem beiden Reitschülerinnen hinüber.

„Was soll das, Janni?“, frage ich.

„In letzter Zeit spinnt der Gaul. Ich glaube, der braucht mal Dominanztraining“, faucht sie.

„Ich glaube eher, du brauchst etwas mehr Pferdeverstand“, sage ich ruhig und rüttele an dem Sattel. Wieder schlägt das Pferd kräftig mit seinem Schweif.

„Siehst du?“, frage ich sie.

„Was?“

„Dein Pferd möchte dir etwas sagen, aber du achtest nicht darauf.

Irgendetwas stimmt mit dem Sattel nicht.“

Janni überlegt einen Moment. Sie weiß, dass ich recht habe. Wenn es um Pferde geht, habe ich immer recht. Ich bin mit ihnen aufgewachsen und verstehe ihre Sprache oft besser als die mancher Menschen.

„Warum beißt er dann Gretas Pferd?“

Ich beuge mich zu ihr hinunter, damit ich sie vor ihrer Freundin nicht laut maßregle und flüstere: „Schau doch mal, wie nahe ihr die zwei nebeneinander festgebunden habt. Wie hätte dein Pferd da in den Sattel beißen sollen, damit du verstehst, was es hat?“

Janni wird rot. Dann fragt sie mich schüchtern, ob ich ihr vielleicht helfen könnte, den Grund zu finden, was mit dem Sattel nicht stimmt. Wir finden die Ursache schnell. Der angezogene Gurt drückt die Sattelfläche zu fest an die Wirbelsäule des Pferdes.

„Nimm heute lieber deinen alten Sattel und zeige deinen neuen nochmal dem Sattler. Der kommt sowieso morgen früh vorbei.“ Ich klopfe dem Pferd aufmunternd den Hals und gehe.

„Danke“, höre ich Janni hinter mir murmeln.

„Gerne geschehen“, sage ich ehrlich und drehe mich zu ihr um: „Und merke dir, Janni, dein Pferd will dir grundsätzlich nichts Böses.“

Als ich mich wieder umdrehe, steht das schöne Mädchen mit dem rosa Cap direkt vor mir.

„Kannst du Gedanken lesen?“, fragt sie. Ich zucke mit den Schultern und versuche zu lächeln. Sie ist noch schöner, als ich dachte. Ihre Augen sind grün und haben die Form von Katzenaugen. Jetzt, wo sie so nah vor mir steht, erkenne ich eine Spur von Rot in ihrem Haar-Ton. Auf ihrer Nase sehe ich viele kleine Sommersprossen. Alles niedlich, denke ich, aber ihr Blick macht sie zu etwas ganz Besonderem. Man kann ihn nicht deuten. Weder ihre Gefühlslage, noch das, was sie denkt, spiegeln sich in ihren Augen wider. Als wäre sie von einem anderen Stern.

„Nein, leider kann ich keine Gedanken lesen.“

„Und was war das eben?“, fragt sie und zeigt auf Janni und Greta. In diesem Moment hievt Janni ihren alten Sattel auf den Pferderücken und ihr Pferd bleibt ruhig stehen.

„Bist du etwa ein Pferdeflüsterer?“ So wie sie es fragt, hört es sich nicht an, als würde sie sich über mich lustig machen. Für ein paar Sekunden sagen wir nichts. „Pferdeflüsterer?“, frage ich dann. „Nein, das nicht, aber ich kenne mich mit ihnen sehr gut aus. Ich wohne schon mein ganzes Leben auf diesem Hof. Die Pferde sind quasi wie meine Geschwister“, versuche ich, einen Scherz zu machen.

Sie nickt, als wüsste sie genau, was ich meine: „Geschwister kennen einen manchmal besser als man sich selbst.“

Es ist das erste Mal in meinem Leben, das ich einfach einem Mädchen in die Haare greife, wie sonst einem Pferd in die Mähne. Ich zucke erschrocken zusammen, als etwas Samtweiches durch meine Finger gleitet und sich nicht anfühlt wie eine fettige, stumpfe Mähne.

In ihren Augen blitzt es. Auch das kann ich nicht deuten.

„Ich muss gehen“, sage ich deshalb feige.

„Fragst du denn gar nicht nach meinem Namen?“, will sie wissen.

„Nein. Ich habe schon einen Namen für dich. Und kein anderer könnte besser passen.“

Dann drehe ich mich weg und gehe. Zehn Meter weiter schaue ich mich noch einmal um. Sie steht noch an der gleichen Stelle und sieht mir nach.

„Wenn dich ab jetzt jemand Yume ruft, dann bin ich das!“

„Yume?“, ruft sie mir nach. „Was soll das heißen?“

Ich ziehe meine Achseln grinsend hoch, werfe ihr einen Luft-Kuss zu und gehe einfach weiter. Ich wette, es wird keine Stunde dauern, dann weiß sie, was das heißt.

„Schon wieder da?“, fragt mein Vater. Er ist gerade dabei, sich in seine Reitstiefel zu zwängen. „Hast du die Mädels gesehen? Haben sie schon ihre Pferde gesattelt?“

„Ja, gleich fertig“, sage ich und öffne den Kühlschrank. „Der Sattler muss sich allerdings mal den neuen Sattel von Janni ansehen. Er drückt zu feste auf Blunas Wirbelsäule.“

„Okay.“ Mein Vater steht auf und geht.

Der Kühlschrank ist prall gefüllt, aber ich kann nichts entdecken, auf das ich Appetit habe. Also schließe ich ihn wieder und gehe in mein Zimmer. Als ich mein Bett sehe, übermannt mich plötzlich eine schreckliche Müdigkeit und ich lasse mich rücklings auf die Matratze fallen. Mein Lieblingssänger Eminem starrt mich von einem Poster mitfühlend an und ich schließe die Augen. Ich dämmere schnell ein. Mir war nicht bewusst, dass das fremde Mädchen schon so einen gewaltigen Eindruck auf mich gemacht hat, aber ich träume direkt von ihr. Ich reite auf meinem schwarzen Hengst Ricardo. Das schöne Mädchen sitzt hinter mir und umgreift meine Hüften mit ihren Armen. Ihr offenes Haar flattert im Wind. Vor uns erstreckt sich das weite, weite Meer.

Das Meer? Wo kommt das plötzlich her?

Hier gibt es kein Gewässer.

„Chrissi?“

Woher weißt du meinen Namen? frage ich sie.

Ich kenne deinen Namen nicht, sagt sie und schaut mich ernst an. Du musst eine gute Seele haben, wenn du die Sprache der Pferde verstehst. Vielleicht kannst du auch meine Seele verstehen und retten? fragt sie und klopft dabei mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand auf die Stelle ihres Herzens.

„Chrissi, Liebling?“

Die Hufe von Ricardo galoppieren ins Wasser und Wassertropfen spritzen wie die Funken eines Feuerwerks zu allen Seiten. Die Sonne geht unter und wir reiten mitten in das herrliche Abendrot hinein.

„Chrissi?“ Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus dem gigantischen Anblick und ich öffne gequält meine Augen.

„Geht es dir nicht gut? Dein Vater sagt, du schläfst jetzt schon seit Stunden.“

„Weiß nicht“, murmle ich und versuche, noch einmal das Bild von gerade in mein Gedächtnis zu holen. Aber es ist weg.

„Ich glaube, du hast schon wieder Fieber“, sagt meine Mutter und geht aus dem Zimmer. Ich höre meinen Wecker ticken. Das macht mich erneut schläfrig, aber bevor ich eindösen kann, steht meine Mutter am Bett und schiebt mir das Thermometer in den Mund. In ihren Augen sehe ich eine unbekannte Sorge, als das Thermometer piept und sie auf das Display schaut.

„Chrissi! Schon wieder fast neununddreißig Grad. Du hast Fieber. Jetzt reicht es aber, morgen besuchen wir den Arzt!“ Sie geht aus dem Zimmer, um mir ein Glas Orangensaft zu holen. Morgen ist aber Samstag, da hat keine Praxis auf, will ich ihr nachrufen, aber ich habe keine Lust. Auf meinem weißen Bettlaken sehe ich lauter schwarze Pferdehaare. Es sieht fast so aus, als wäre ich wirklich mit Ricardo durch das Bett galoppiert, aber dann bemerke ich, dass ich meine Hose und mein Poloshirt noch trage. Ich habe es nicht einmal mehr geschafft, meine Reitstiefel auszuziehen.

Ich zupfe ein paar Pferdehaare zusammen und merke schnell, wie sehr mich das bisschen Mühe anstrengt.

Vielleicht habe ich mir auf der Klassenfahrt in Spanien einen Virus eingefangen? Da läuft einem ein blöder Zufall über den Weg und schon ist man voll angeschmiert!

Meine Arme und Beine fühlen sich nämlich an wie Pudding.

Wo bleibt mein kalter Orangensaft?

Mit etwa zwölf Jahren fingen diese schrecklichen Mandelentzündungen bei mir an. Das ist jetzt über vier Jahre her. Mein Hals schmerzte, ich konnte kaum schlucken. Meine Arme und Beine fühlten sich schwer und träge an. Das Fieber kam und ging. Nach der vierten Mandelentzündung innerhalb ein paar Monaten, nachdem mein Kinderarzt mir wieder tief in den Rachen geschaut hatte, riet er zu einer Tonsillektomie. Meine Mandeln wurden schon in den nächsten Ferien entfernt und ich bekam nach der Operation massenhaft Eis zum Lutschen. Kurze Zeit später war alles gut und die Beschwerden kamen nie wieder.

Meine Mutter betritt das Zimmer mit dem versprochenen Glas Orangensaft. Ich greife schnell danach und schlucke den kalt gepressten Saft gierig hinunter. Eminem beobachtet mich immer noch. Eher skeptisch.

„Mama?“, frage ich hoffnungsvoll zwischen zwei Schlucken: „Können Mandeln eigentlich wieder nachwachsen?“

Es ist dreiundzwanzig Uhr zwanzig, als ich mich umständlich aus dem Bett bis zum Rand schäle. Durch mein Fenster sehe ich den Himmel. Ich kann nicht einen einzigen Stern am Himmelszelt erkennen. „Verdammt“, fluche ich, weil das Mädchen jetzt nicht mehr da sein wird. Ich weiß praktisch nichts von ihr.

Wer ist sie? Woher kommt sie? Wer kennt sie?

Plötzlich fällt mir ein, dass zu dem Zeitpunkt, als sie auf dem Zaun saß, Sven auf dem Platz mit seiner Fleur geritten ist. Vielleicht kann er mir etwas über das Mädchen sagen? Oder hat vielleicht gesehen, mit wem sie gekommen oder wieder weggefahren ist. Sven bleibt sicher das ganze Wochenende. Das macht er öfters. Seine Eltern sind vielbeschäftigt. Was er zu wenig hat, habe ich zu viel. Meine Eltern sind den ganzen Tag um mich herum. Ihnen gehört die Reitanlage. Sie sind beide Reitlehrer und kümmern sich mit ein paar Stallburschen auch um alles andere. Unser Betrieb läuft die ganze Woche. Zu dem normalen Reitbetrieb kommt noch ein Gästehaus mit zehn Zimmern. Das Haus ist fast jedes Wochenende und die ganzen Ferien über bis unter die Dachspitze belegt. Die meisten reisen mit ihren eigenen Pferden an und wollen unbedingt in den Genuss des Reitunterrichtes meines Vaters kommen. Mein Vater ist ein Spitzen-Reiter. Vor ein paar Jahren war er zwei Mal in Folge deutscher Olympiasieger in der Dressur. Im Frühjahr und im Herbst veranstalten wir ein großes Reitturnier. Ich schlafe quasi mit Pferden ein und wache mit ihnen wieder auf. Grundsätzlich finde ich das auch okay, nur diese Pferdehaare in meinem Bett nerven mich. Ich bilde mir ein, sie kratzen. Ich brauche fünf Minuten, bis ich endlich ganz aufstehe und noch weitere fünf Minuten, bis ich es schaffe, das Laken von der Matratze zu ziehen.

Himmelherrgott!