Unsichtbare Narben - Johannes Jungbauer - E-Book

Unsichtbare Narben E-Book

Johannes Jungbauer

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Beschreibung

Das Schweigen brechen Kinder psychisch erkrankter Eltern machen besondere Erfahrungen, die oft ein jahrzehntelang gehütetes Familiengeheimnis darstellen. In diesem Buch brechen erwachsene Kinder ihr Schweigen und stellen sich ihren Erinnerungen. Mit großer Offenheit erzählen sie über Belastungen damals und heute, komplizierte Gefühle und schwierige Lebenswege, aber auch über Kraftquellen und Möglichkeiten einer positiven Bewältigung. Damit machen sie anderen betroffenen Angehörigen Mut, sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen. Ein ermutigendes Erfahrungsbuch mit aktualisiertem Serviceteil in der zweiten Auflage.

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Das Schweigen brechen

»Wenn es jemanden gibt, den ich mit meiner Geschichte an seine eigene erinnere, dann möchte ich diesem Menschen Folgendes sagen: Vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung. Erzählen Sie anderen von Ihren Gefühlen. Bleiben Sie nicht isoliert. Geben Sie, so wie ich auch, die Hoffnung nicht auf! Es kann sich lohnen.«Katharina, 42 Jahre, Tochter einer Mutter mit einer Zwangsstörung

Johannes Jungbauer, Katharina Heitmann (Hg.)

Unsichtbare Narben

Erwachsene Kinder psychischerkrankter Eltern berichten

Inhalt

»Es wäre toll, ein Buch zu diesem Thema lesen zu können!«

Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann

»Ich möchte endlich darüber sprechen dürfen«

Katharina, 42 Jahre, Tochter einer Mutter mit einer Zwangsstörung

»Meine Narben bleiben für immer«

Vanessa, 41 Jahre, Tochter einer an Schizophrenie erkrankten Mutter

»Als Kind habe ich nicht gelernt, wie man glücklich sein kann«

Andreas, 53 Jahre, Sohn eines Vaters mit Alkoholabhängigkeit

»Die Verletzungen heilen nur langsam«

Alexandra, 27 Jahre, Tochter einer Mutter mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

»Nach außen war ich der Fels in der Brandung«

Ute, 54 Jahre, Tochter einer Mutter mit Depressionen und Alkoholabhängigkeit

»Mama und Mama anders«

Anna, 38 Jahre, Tochter einer Mutter mit schizoaffektiver Störung

»Auf der Suche nach mir selbst«

Michael, 34 Jahre, Sohn einer an Schizophrenie erkrankten Mutter

»Der Kontaktabbruch rettete mir das Leben«

Nele, 46 Jahre, Tochter einer Mutter mit Borderline-Persönlichkeitsstörung

»Ich bin stolz auf das, was ich trotz allem geschafft habe«

Reiner, 49 Jahre, Sohn eines Vaters mit Alkoholabhängigkeit und einer Mutter mit Depressionen

»Meine Kindheitserfahrungen haben mich stark gemacht«

Dagmar, 64 Jahre, Tochter einer an Schizophrenie erkrankten Mutter

»Über allem Positiven schwebte eine dunkle Wolke«

Claudia, 31 Jahre, Tochter eines Vaters mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

»Nichts war sicher, nichts war berechenbar«

Miriam, 38 Jahre, Tochter einer Mutter mit schizoaffektiver Störung

Serviceteil

»Es wäre toll, ein Buch zu diesem Thema lesen zu können!«

Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann

Die Idee zu diesem Buch entstand während einer großen Fragebogenstudie, in der wir rund fünfhundert erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern zu ihren Kindheitserfahrungen und zu ihrem weiteren Lebensweg befragt haben. Im Verlauf dieser Studie erhielten wir sehr viele positive Rückmeldungen, Anrufe und Zuschriften. So schrieb uns z. B. eine 28-jährige Tochter einer depressiv erkrankten Mutter: »Vielen Dank für diese Umfrage, die ich gerne unterstütze! Wir erwachsenen Kinder werden leider oft vergessen, da das Hauptaugenmerk auf den minderjährigen Kindern liegt.«

Zahlreiche andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Studie äußerten sich in ähnlicher Weise. Einerseits empfinden sie es meist als großen Fortschritt, dass die oft sehr belastende Lebenssituation von betroffenen Kindern und Jugendlichen heute zunehmend öffentlich wahrgenommen und diskutiert wird. Andererseits fühlen sie sich selbst eher übersehen. Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Bereich bislang kaum Fach- und Ratgeberliteratur zur biografischen Entwicklung und zum spezifischen Hilfebedarf von erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern. Dies ist eigentlich erstaunlich, denn aus etlichen Studien ist bekannt, dass sich eine elterliche psychische Erkrankung sehr nachhaltig auf den weiteren Lebensweg der Kinder auswirken kann. Viele der erkrankungsbedingten Belastungen enden eben nicht mit der Volljährigkeit. Vielmehr entstehen für erwachsene Kinder häufig neue, andere und manchmal sogar schwierigere Herausforderungen – sowohl im Umgang mit den erkrankten Eltern als auch beim Ringen um ein eigenes Leben.

In den meisten Fällen wird die Beziehung zum erkrankten Elternteil als lebenslange, unauflösliche Verbindung und Verpflichtung empfunden. Hinzu kommt, dass viele erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern das Gefühl haben, durch die belastenden Erfahrungen ihrer Kindheit negativ geprägt und beeinträchtigt zu sein. Vor diesem Hintergrund haben sie den Wunsch, sich bewusster mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und dadurch ihre heutige Lebenssituation besser zu verstehen. Eine unserer Studienteilnehmerinnen brachte es auf den Punkt: »Es wäre toll, ein Buch zu diesem Thema lesen zu können, z. B. mit Erfahrungsberichten anderer Betroffener. Ich wüsste gerne mehr darüber, welche meiner heutigen Probleme allgemein bei Betroffenen auftreten und wie sie damit umgehen.«

Ein solches Buch mit Erfahrungsberichten halten Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun in Ihren Händen. Es ist ein Buch, in dem zwölf erwachsene Töchter und Söhne zwischen 27 und 64 Jahren ihre Lebensgeschichte erzählen. Sie schildern darin nicht nur, wie sie als Kind die psychische Erkrankung ihrer Mutter oder ihres Vaters erlebten, wie in der Familie damit umgegangen wurde und wie sie gelernt haben, mit den unterschiedlichen erkrankungsbedingten Problemen umzugehen und zu (über-)leben. Sie berichten auch, wie sie selbst erwachsen wurden, wie sich die Beziehung zu ihren Eltern über die Jahre hinweg entwickelt hat und wie ihr eigener Lebensweg bis heute verlaufen ist. Dabei zeigt sich eindrücklich, wie stark sich die oft sehr belastenden und traumatisierenden Kindheitserfahrungen auf die Persönlichkeit, die Beziehungen und wichtige Lebensentscheidungen der erwachsenen Kinder ausgewirkt haben.

Auch die Entstehungsgeschichte dieses Buches sei an dieser Stelle kurz erzählt: Zunächst nutzten wir bereits bestehende Kontakte zu unterschiedlichen Institutionen sowie zu Kolleginnen und Kollegen, um erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern zur Mitwirkung an einem Erfahrungsbuch aufzurufen. Besonders hilfreich war dabei die Unterstützung durch die Bundesarbeitsgemeinschaft »Kinder psychisch erkrankter Eltern«, in der sich – wie wir wussten – viele erwachsene Kinder engagieren. Auch über den Verein Seelenerbe e. V., der sich für die Belange und Interessen der erwachsenen Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen einsetzt, konnten wir einige Teilnehmer für unser Buchprojekt gewinnen. Die meisten der von uns gesammelten Geschichten basieren auf ausführlichen persönlichen Gesprächen, die von uns anschließend schriftlich aufbereitet wurden. Einige der erwachsenen Kinder schickten uns auch selbst verfasste und zum Teil sehr ausführliche Texte zu, die wir als Grundlage für Erfahrungsberichte nutzen konnten. Die Endfassungen aller Erfahrungsberichte wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nochmals zum Gegenlesen vorgelegt und von diesen zur Veröffentlichung freigegeben. An diesem Punkt entschieden sich die meisten (nicht alle) dafür, ein Pseudonym zu benutzen, um ihre Anonymität zu wahren.

Am Ende standen wir schließlich vor der schwierigen Aufgabe, aus dem vorhandenen Material zwölf Texte für unser Buch auszuwählen, die ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen und Lebenswege abbilden sollten. Dabei war es uns beispielsweise wichtig, Töchter und Söhne unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen sozialen Milieus zu Wort kommen zu lassen. Ein weiteres Anliegen war es, unterschiedliche psychische Erkrankungen der Eltern zu berücksichtigen, wie z. B. Schizophrenie, bipolare Störungen, Zwangserkrankungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen.

Die uns anvertrauten Lebensgeschichten empfinden wir als Geschenk. Für viele unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer bedeutete es einen großen Schritt, so offen und ausführlich über ihre Erfahrungen, Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen oder zu schreiben – und einige hatten überhaupt zum ersten Mal den Mut, es zu tun. Nicht selten entwickelt sich nämlich eine elterliche psychische Erkrankung zu einem »Familiengeheimnis«, über das nicht gesprochen werden darf. Tabuisierung und Sprachlosigkeit können so die Kinder psychisch erkrankter Eltern über viele Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte hinweg daran hindern, belastende Erfahrungen zu teilen und zu verstehen. Doch es kann sehr befreiend und heilsam sein, das eigene Schweigen zu überwinden. Der 34-jährige Michael, der mit einer schizophren erkrankten Mutter aufgewachsen ist, drückt dies folgendermaßen aus: »Indem ich meine Geschichte erzähle und mir die Geschichten der anderen anhöre, lerne ich auch sehr viel über mich und ich habe das Gefühl, dass ich für meine Kindheitserlebnisse endlich die passenden Worte finden kann. Wo vorher Schweigen und Sprachlosigkeit herrschte, wird etwas besprechbar und erscheint dadurch weniger bedrohlich. Ich habe – wie viele andere Kinder psychisch kranker Eltern – sehr lange gebraucht, bis ich mich getraut habe, meine Geschichte zu erzählen, und auch, bis ich gelernt habe, überhaupt die passenden Worte zu finden.«

In allen Erfahrungsberichten dieses Buchs wird deutlich: Das Erzählen der eigenen Geschichte bedeutet immer eine intensive und häufig auch schmerzhafte Auseinandersetzung mit sich selbst. Oft wird erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern der Zugang zu lange verborgenen Gefühlen wie Wut oder Trauer möglich. In anderen Fällen bedeutet Erzählen vor allem ein Neu-Verstehen der eigenen Biografie und eigener Verhaltensweisen – und auch dies kann manchmal sehr wehtun. Doch zugleich ist dieses Verstehen vielfach die Voraussetzung dafür, dass die eigenen Bedürfnisse besser wahrgenommen werden können. Damit gewinnt das Erzählen den Charakter von Biografiearbeit – es gleicht einem mühevollen Ringen um Sinn, Identität und Versöhnung.

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern sowie deren Familienangehörige und Freunde. Ferner dürfte es ebenso interessant für alle sein, die »von Berufs wegen« mit diesen erwachsenen Kindern zu tun haben – wie etwa Psychotherapeutinnen, Berater, Supervisorinnen und Sozialarbeiter. Auch für Studierende der Psychologie und der Sozialen Arbeit bietet das Buch reichhaltiges Material, z. B. für praxisnahe Fallbesprechungen und Diskussionen in Lehrveranstaltungen. Für Betroffene soll es vor allem ein »Ermutigungsbuch« sein, das positive Anregungen gibt, den eigenen Weg zu finden. Die 41-jährige Vanessa, die mit einer schizophren erkrankten Mutter aufgewachsen ist und deren Erfahrungsbericht uns zum Titel dieses Buchs inspiriert hat, formulierte es so: »Meine Kindheitserfahrungen haben bleibende Narben hinterlassen, aber keiner kann sie sehen. Der Umgang mit den erlittenen Verletzungen und dem schweren Erbe, das ich mit mir trage, ist wohl eine lebenslange Aufgabe. Aus dieser Erkenntnis schöpfe ich aber auch viel Kraft. Ich bin es mir wert, für die unabhängige Entfaltung meiner Persönlichkeit und Autonomie zu kämpfen. Und ich hoffe, dass die Erzählungen der Menschen in diesem Buch jede Leserin und jeden Leser genauso fühlen lassen. Keine Kindheitserfahrung, keine noch so tiefe, unsichtbare Narbe darf Sie entmutigen und daran hindern, Ihr eigenes Leben zu leben!«

Besonders hinweisen möchten wir noch auf den »Serviceteil« am Ende des Buchs, der primär für die erwachsenen Kinder psychisch erkrankter Eltern unter den Leserinnen und Lesern gedacht ist. Hier finden sich Anregungen und kommentierte Hinweise für eine individuelle Weiterbeschäftigung mit der Thematik. Neben weiteren Erfahrungsberichten, die in Buchform erschienen sind, haben wir einige empfehlenswerte Ratgeberbücher und eine kleine Auswahl an Fachliteratur zusammengestellt, außerdem sehenswerte TV-Reportagen, Dokumentar- und Kinofilme, die entweder als DVD im Handel erhältlich sind oder über unterschiedliche Videoportale gestreamt werden können. Schließlich finden sich im Serviceteil nützliche Adressen und Links für weiterführende Informationen und hilfreiche Kontakte speziell für erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern.

An dieser Stelle möchten wir uns bei all denjenigen bedanken, die zum Gelingen dieses Buchs beigetragen haben. Vor allem sind dies natürlich die erwachsenen Söhne und Töchter, die uns Vertrauen geschenkt haben und dazu bereit waren, ihre persönliche Geschichte für dieses Buchprojekt zur Verfügung zu stellen. Dabei gilt unser besonderer Dank auch denjenigen, deren Erfahrungsberichte aus Platzgründen in diesem Buch nicht abgedruckt werden konnten. Danken möchten wir weiterhin Frau Karin Koch vom Psychiatrie Verlag, die unsere Idee eines Erfahrungs- und Ermutigungsbuchs von Anfang an engagiert unterstützt hat. Frau Katrin Klünter gebührt Dank für das engagierte, feinfühlige Lektorat des Buchmanuskripts und viele nützliche Anregungen. Und schließlich gilt ein herzliches Dankeschön auch unseren studentischen Mitarbeiterinnen Julia Bosch, Kathrin Kaufmann, Lena Kühme und Deborah Metz.

Den nun folgenden Erfahrungsberichten wünschen wir viele aufmerksame Leserinnen und Leser!

»Ich möchte endlich darüber sprechen dürfen«

Katharina, 42 Jahre, Tochter einer Mutter mit einer Zwangsstörung

Das Schleusensystem

Was haben eigentlich andere Kinder am Wochenende unternommen? In meiner Erinnerung spielen sie auf der Straße. Ich kann von meinem Zimmer aus ihre Stimmen und ihr Lachen hören. Ich drücke meine Nase gegen die Fensterscheibe, schaue ihnen zu und wünsche mir so sehr, dabei zu sein. Auch ich hatte ein »Programm«, wenn ich aus der Schule nach Hause kam – aber ein anderes …

Sobald ich das Haus betreten habe, musste ich mich hinter der Eingangstür nackt ausziehen, durch das Haus direkt ins Bad gehen, um dort unter Aufsicht meiner Mutter mindestens eine Stunde lang gründlich zu baden. Ich stieg anschließend in frisch gewaschene, neue Klamotten, die mir meine Mutter bereitgelegt hatte. Danach schloss sie die Türe ab, damit ich nicht mehr hinauskonnte und mich wieder »verunreinigte«. Weder in meiner Kindheit noch in meiner frühen Jugend war jemals Besuch in unserem Haus. Es waren immer nur wir: meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich. Meine Mutter hatte mir von klein auf eingetrichtert, bloß niemandem von zu Hause zu erzählen. Vor meinem Mittagsschlaf, den ich ungefähr bis zu meinem 14. Geburtstag jeden Sonntag halten musste, dachte ich mir fantasievolle Geschichten aus und floh damit für eine kurze Zeit aus der Realität.

Ich fühlte damals eine starke und diffuse Anspannung, eine Irritation in mir. Ich war noch ein Kind und hatte keine Begriffe dafür, aber natürlich spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Zu Hause sprachen wir nie über das Ritual der Säuberung. Erst viel später, als ich schon erwachsen war, verstand ich, dass meine Mutter eine schwere Zwangsstörung hatte. In einer Psychotherapie konnte ich erstmals über all die »verrückten« Dinge sprechen, die meine Mutter tat, wie z. B. andauerndes Händewaschen, Putzen oder die komplizierte Prozedur beim Betreten der Wohnung, die einer meiner Therapeuten einmal als »Schleusensystem« bezeichnet hat. Mir wurde nach und nach klar, dass ich ungewollt auch noch zur Aufrechterhaltung ihrer Zwangsproblematik beigetragen habe. Denn ich schwieg nicht nur darüber, ich unterstützte meine Mutter sogar noch in ihren Zwängen oder nahm die Rolle einer Therapeutin ein. Ich half ihr in vieler Hinsicht und ließ mich so in ihre Erkrankung mit hineinziehen. Wenn sie am Tag unsere Wäsche wusch – immer nur wenige Teile –, dann half ich ihr dabei, darauf zu achten, dass die saubere, gewaschene Wäsche beim Herausnehmen den äußeren Ring der Waschmaschine nicht berührte. Wenn sie sich die Hände wusch, dann stand ich neben ihr und zählte die genaue Anzahl der Tropfen, die von ihren Händen ins Waschbecken perlten, bis die von ihr als genügend eingestufte Anzahl der Tropfen erreicht war. Meine Mutter hatte unser Haus in »schmutzige« und »saubere« Bereiche eingeteilt. Wenn sie saubere Gegenstände versehentlich auf einen »schmutzigen« Platz im Haus stellen wollte, war ich es, die sie rechtzeitig warnte.

Im Teufelskreis der Zwangsstörung

Wir hatten ein sehr enges, um nicht zu sagen symbiotisches Verhältnis. Meine Mutter war für viele Jahre meine (vermeintlich) beste Freundin. Ich habe ihr zuliebe sehr vieles getan, erduldet und über mich ergehen lassen. Meine Therapeutin drückte es folgendermaßen aus: »Sie haben Ihre Wahrnehmung zugunsten der Beziehung zu Ihrer Mutter geopfert.« Dieser Satz geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Im Nachhinein sehe ich mich in dieser Zeit wie in einem Nebel – vernebelt durch meine Mutter und die Abhängigkeit von ihr. Denn ich wollte es ihr recht machen. Ich war gefangen im Teufelskreis ihrer Zwangsstörung, aber unfähig, die Störung und meinen eigenen Beitrag zu erkennen. Lange Zeit dachte ich, dass meine eigene Wahrnehmung mich trügt. Ich wollte es nicht wahrhaben und habe mich sozusagen selbst zensiert. Erst jetzt, mit 42 Jahren, fange ich an, wirklich darüber zu sprechen und anderen davon zu erzählen.

Unsichtbarer Stempel

Meine Schulzeit habe ich besonders in der Grundschule als extrem belastend und anstrengend erlebt. Wie schaffe ich es, mir in der normalen Außenwelt nichts von meiner anderen Welt, dem »Irrenhaus« zu Hause, anmerken zu lassen? Vor allem zu Beginn hatte ich Anpassungsprobleme. Ich verhielt mich anders als die übrigen Kinder und wurde zudem noch wegen meiner Kleidung oft gehänselt. Manchmal machte ich seltsame Dinge. Ich erinnere mich an eine Szene, in der ich einer Klassenkameradin den Stuhl weggezogen habe. Warum ich das getan habe, weiß ich nicht. Eine Zeit lang kam ich jeden Tag weinend nach Hause, weil ich in der Grundschule oft Außenseiterin war. Aber ich konnte mich niemandem anvertrauen und wurde von niemandem getröstet. Meinen Vater habe ich nie als eine wirkliche Stütze und Autoritätsperson erlebt. Ich war auf mich selbst gestellt und musste die Spannung zwischen den beiden für mich völlig unvereinbaren Welten von Schule und Zuhause alleine aushalten. Ich hatte das Gefühl, dass ich einen unsichtbaren Stempel auf meiner Stirn hatte.

Jeder kannte mich an dieser Schule, ich konnte mir die Gerüchte über mich und meine Familie gut ausmalen. Unglücklicherweise habe ich mir damals selbst die Schuld an meinen Schwierigkeiten in der Schule gegeben. Diese Schuldgefühle haben sich so sehr eingebrannt, dass ich auch heute noch in den verschiedensten Situationen mit diesem Gefühl zu kämpfen habe und mich selbst hinterfrage – auch dann, wenn nicht ich, sondern andere etwas falsch gemacht haben. Noch lange Zeit danach bekam ich Bauchschmerzen, wenn ich an meiner Grundschule vorbeigefahren bin.

Nach der Grundschule wechselte ich auf ein Gymnasium und besuchte anschließend während meiner Ausbildung zur Bankkauffrau eine berufsbildende Schule. Bis zum Alter von etwa zwanzig Jahren hatte ich nie das Gefühl von Eigenständigkeit oder Privatheit erlebt. Jedes Geschenk, jeder Liebesbrief wanderte automatisch durch die Hände meiner Mutter, um desinfiziert zu werden. Ich spürte eine enorme Erleichterung, als ich auf die Berufsschule in einer neuen Stadt gehen konnte, denn hier kannte niemand meine Vorgeschichte. Ich konnte dem Dunstkreis meiner Familie und meinem Gefühl der Stigmatisierung durch andere erstmals entfliehen. Es fühlte sich wie eine neue Chance an, ein Neuanfang für mein Leben. Nach meiner Ausbildung begann ich ein Psychologiestudium in einer anderen Stadt. Bereits mit 14 Jahren hatte ich entschieden, Psychologin zu werden. Wenn niemand von außerhalb meiner Mutter helfen wollte oder konnte, wer außer mir sollte es dann tun?

Der Nebel lichtet sich

Auch als ich ausgezogen war, hielten meine Mutter und ich zu Beginn des Studiums weiterhin engen, fast täglichen telefonischen Kontakt. Bei jedem Besuch musste ich selbst als erwachsene junge Frau noch durch die Prozedur der Reinigung gehen, so wie ich es seit meiner Kindheit getan hatte, nur dann ohne Aufsicht meiner Mutter. Irgendwann konnte ich meine Eltern nur noch im Urlaub besuchen, weil ich mich schlichtweg nicht mehr dem »Schleusensystem« meiner Mutter beugen konnte und wollte. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, an dem ich meine Familie das erste und einzige Mal ohne vorherige Absprache besuchen wollte. Als ich in Sichtweite unseres Hauses kam, sah ich, wie meine Mutter am Gartentor erstarrte. Sie ließ mich nur unwillig hinein. An diesem Tag erkannte ich, dass ich mit meinem Auszug auch aus meinem zwanghaften Familiensystem herausgegangen und für meine Mutter zu einer nicht kalkulierbaren Gefahr geworden war. Die Tatsache, dass ich dadurch meine Heimat verloren hatte und meine Zuflucht, ist heute noch eine der schmerzhaftesten Erfahrungen meines Lebens.

Erst als ich während meines Studiums auch praktisch tätig wurde, lichtete sich mein Gefühl der Vernebelung immer weiter. Immer stärker drang in mein Bewusstsein, was ich so lange verdrängt hatte. Etwas in meinem bisherigen Leben stimmte nicht. Ich hatte es immer gespürt, aber nie zugelassen, es aus dem Nebel hervorkommen zu lassen. Ich spürte, dass ich unbedingt etwas verändern musste. So begann ich eine erste Psychotherapie, denn ich hatte das Gefühl, keine Luft zum Atmen zu haben: die Anrufe meiner Mutter, ihre Erzählungen über die Probleme beim Wäschewaschen, ihre Briefe, die sie mir schrieb. Alles war mir viel zu eng und zu viel, ich hatte das Gefühl, ich brauche mehr Abstand. Ich wusste, ich muss und will in ein anderes Boot steigen.

Mit meiner späten Loslösung von meiner Familie und besonders von meiner Mutter begann für mich ein jahrelanger Kampf, der bis heute nicht zu Ende ist. Es ist ein existenzieller Kampf um Bindung, Ablösung und Neuorientierung. Ein Kampf mit meinen Schuldgefühlen, denn es bricht mir das Herz, wenn ich an meine weinende Mutter denke, die ich im Stich gelassen habe, obwohl sie mich doch brauchte. Und ein Kampf mit meiner Trauer, um die Beziehung zu meiner Mutter, auch wenn ich weiß, dass mir diese Beziehung nicht gutgetan hat. Dennoch liebe ich meine Eltern und meinen Bruder, wie andere Kinder auch. Ich vermisse meine Familie sehr.

Und es ist auch ein Ringen um Leben, denn ich muss mein Leben ganz neu sortieren. Es ist, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggerissen und mich innerlich gespalten, seit sich der Nebel langsam auflöst. Ein Gefühl, das nicht in Worte zu fassen ist, aber so schwer aushaltbar ist, dass ich darüber oft den Lebensmut verloren habe. Es macht mir auch große Angst. Denn meine bisherige Grundlage, alles wird durch die Lichtung des Nebels infrage gestellt. Ich muss mein Lebensskript neu schreiben.

Schmerzhafte Einsichten

Seither bin ich große und wichtige Schritte gegangen. Seit zwei Jahren habe ich den Kontakt zu meiner Mutter, meinem Vater und meinem Bruder abgebrochen, weil ich mit meiner Familie nicht über die Krankheit meiner Mama reden darf. Mein Vater ordnet sich meiner Mutter – oder besser gesagt: ihrer Erkrankung – völlig unter. Mein Bruder betäubt sich vor allem durch Alkohol- und Cannabiskonsum. Ich habe meine Familie verloren. Ich habe vor allen anderen Dingen meine vermeintlich beste und engste Freundin verloren. Einen Menschen, den ich wirklich gebraucht und geliebt habe, der mich wiederum aber vor allem für seine Störung missbraucht hat.

Mittlerweile weiß ich, dass die Zwangsstörung meiner Mutter immer stärker sein wird als ihr Wunsch nach einer Beziehung zu mir. Und das tut so weh. Sie war ja in Wirklichkeit oft keine gute Mutter, keine gute Freundin für mich. Auch meine kindlichen Bedürfnisse früher musste ich ja immer ihrer Erkrankung unterordnen. Bis heute fällt es mir sehr schwer, mit diesen starken und ambivalenten Gefühlen umzugehen. In meiner Kindheit und Jugend habe ich mich nach der Nähe meiner Mutter gesehnt und alles getan, um diese zu erhalten. Mein Wunsch wurde oft nur teilweise erfüllt, da die Angst meiner Mutter vor einer Kontaminierung bei Körperkontakt häufig stärker war. Außerdem hatte sie mir oft angedroht, den Kontakt zu mir abzubrechen, wenn ich mich nicht in ihrem Sinne verhalten hatte. Daraus hat sich in mir ein bestimmtes Muster verfestigt, das sich auch in anderen Beziehungen zeigt: Aus Angst, dass mich mein Gegenüber mit Missachtung oder Liebesentzug bestraft, ziehe ich mich aus jeder Konfrontation oder Diskussion zurück, passe mich häufig an, auch wenn ich andere Meinungen oder Sichtweisen habe. Für mich bedeutet es einen enormen Kraftakt, offen über meine Bedürfnisse und Gefühle in einer Beziehung zu sprechen. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass ich häufig nicht einmal weiß oder spüre, was mein Bedürfnis überhaupt ist!

Ich traue meiner eigenen Wahrnehmung bis heute nicht, was Beziehungen und Gefühle betrifft. Ich bin mir oft unsicher, ob ich mit meiner Einschätzung und meinem Verhalten richtigliege. Aufgrund dieser so massiven Unsicherheit habe ich schon viele neue und alte Freundschaften und Partnerschaften verloren. Mir hat in der Kindheit ein Gegenüber gefehlt, das mir die Welt um mich herum erklärt, das mir sagt: »Ja, deine Mama ist krank, du nimmst das richtig wahr. Da stimmt was nicht. Aber du bist in Ordnung! Und sie hat dich trotzdem lieb.« Da es dieses Gegenüber nicht gab, traue ich auch heute oft immer noch nicht so recht meiner eigenen Wahrnehmung. Mir hilft dann, wenn ich bei engen Freunden nachfragen kann, ob sie eine Situation ähnlich wahrnehmen wie ich.

Heute, nach vielen gescheiterten Beziehungen und Freundschaften weiß ich, dass ich seit meinem Auszug aus meinem Elternhaus auf der Suche nach einem Ersatz für diese eine Freundschaft war, die mich so geprägt hat. Eine Freundschaft, die eng, symbiotisch und verstrickt war, keine Freiheit zuließ und meinen Wunsch nach Nähe nie gänzlich befriedigt hat. Obwohl – oder soll ich besser sagen: gerade, weil – diese Enge in der Beziehung zu meiner Mutter der überwiegende Grund für mich war, aus dieser Konstellation auszubrechen, lege ich in Beziehungen und Freundschaften selbst ein oft sehr bedürftiges Verhalten an den Tag. Ein normales Konzept von Beziehung muss ich heute neu erlernen wie eine Fremdsprache. In der Beziehung zu Freundinnen will ich häufig mehr, als diese mir geben können. Ich bin verletzt, wenn ich die ersehnte Aufmerksamkeit nicht erhalte, und muss mich immer wieder aufs Neue bremsen. Mir helfen die Bestätigung und die Ermutigung von anderen, weil ich bisher kaum in der Lage bin, mir diese selbst zu geben, und mir Sorgen mache, nicht wirklich gemocht zu werden.

Schwieriger Umgang mit Nähe

Auch das Thema Partnerschaft ist für mich immer wieder eine große Herausforderung. Durch meine Therapien und besonders durch meinen Aufenthalt in einer psychosomatischen Fachklinik bin ich mir vieler meiner Verhaltensweisen in Beziehungen bewusst geworden und stelle mich ihnen. Vor allem der Beginn einer Beziehung, die Verliebtheit, die andere vielleicht als die schönste und wunderbarste Zeit erleben, macht mir Angst. Das Anfangsspiel von Nähe und Distanz reaktiviert in mir alte Muster, sodass ich schnell in eine Verstrickung gerate. Das »gesunde« Überprüfen, ob ein Partner überhaupt zu mir passt, habe ich bisher oft übersprungen. Zieht sich ein Partner scheinbar von mir zurück, bekomme ich sofort Panik, weil es mich an früher, an meine Mutter erinnert. Wenn ich dann allerdings die gewünschte Nähe und Bestätigung tatsächlich erfahre, bekomme ich Angst, weil ich nicht gelernt habe, für mich einen gesunden Autonomiebereich zu entwickeln. Andauernd bin ich dabei, zu testen: Ich teste die Absichten meines Gegenübers, hinterfrage jede Äußerung. Hier habe ich von Kindesbeinen an sehr feine Antennen entwickelt.

Heute bin ich 42 Jahre alt und verspüre den starken Wunsch nach einer stabilen, gesunden Partnerschaft. Ich möchte ankommen, möchte Rückhalt und Kinder haben. Trotz all dieser Wünsche habe ich es bisher nicht schaffen können, mich auf einen Mann einzulassen, der mich und eine Beziehung zu mir wirklich will. Es ist auch so, dass ich mich eher von Männern angezogen fühle, die offenkundig kein Interesse an einer ernsthaften Beziehung hegten. Ich bin ihnen regelrecht »hinterhergejagt«, mit dem zwangsläufigen Ergebnis, dass ich immer wieder verletzt wurde. Männer, die aufrichtiges Interesse an mir zeigten, fand ich langweilig. Ich bin mir sicher, dass dieses Muster mit meinen Kindheitserfahrungen und der Beziehung zu meiner Mutter zusammenhängt.

In einem Buch habe ich einmal den Ausdruck »Wiederholungszwang« dafür gefunden. Tief in mir drin gibt es wohl eine irrationale Hoffnung: Wenn ich einen Mann, der eigentlich kein Interesse an mir oder an einer Beziehung mit mir hat, doch für mich gewinne, dann geht meine Geschichte endlich gut aus. Meine Mutter hat es nicht geschafft, ihre Liebe zu mir vor ihre Zwangsstörung zu stellen. So ist bei mir womöglich die Idee entstanden, bei einer Reinszenierung mit einem Mann, der eigentlich weder eine Beziehung noch mich will, meinen Frieden mit meiner Mutter schließen zu können – wenn sich dieser schließlich wider Erwarten doch für mich entscheidet.

Für sich selbst sorgen