Unsozialstaat Deutschland - Cansin Köktürk - E-Book

Unsozialstaat Deutschland E-Book

Cansin Köktürk

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Beschreibung

Die Armutsquote in Deutschland hat ein Rekordhoch erreicht. Die verheerenden Auswirkungen erlebt Cansin Köktürk bei ihrer täglichen Arbeit als Sozialarbeiterin hautnah: In Kitas, in Schulen, in der ambulanten Jugendhilfe, in Notunterkünften und in den Städten, die am stärksten davon betroffen sind. Sie fordert eine Vermögenssteuer, ein bedingungsloses Grundeinkommen und offene Grenzen als Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Ihrer Partei, den Grünen, wirft sie vor, die eigenen Werte verraten zu haben. Cansin Köktürks Buch ist eine unverzichtbare, streitbare Stimme im Kampf für soziale Gerechtigkeit.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatVorwortKapitel 1: Soziale Arbeit als politischer AuftragKapitel 2: Soziale Arbeit als Auftrag der MenschlichkeitKapitel 3: Wir müssen uns daran erinnern, dass wir Menschen sindKapitel 4: Der Weg in die Politik und die Enttäuschung über parteipolitische ArbeitKapitel 5: Deutschland ist kein SozialstaatKapitel 6: Chancengleichheit ist eine IllusionKapitel 7: Radikal sein: Endlich handelnKapitel 8: Warum wir radikal humanistisch werden müssenKapitel 9: Was wir zusammenfassend aktiv tun können und müssenAbschließendDanksagung

Über dieses Buch

Die Armutsquote in Deutschland hat ein Rekordhoch erreicht. Die verheerenden Auswirkungen erlebt Cansin Köktürk bei ihrer täglichen Arbeit als Sozialarbeiterin hautnah: In Kitas, in Schulen, in der ambulanten Jugendhilfe, in Notunterkünften und in den Städten, die am stärksten davon betroffen sind. Sie fordert eine Vermögenssteuer, ein bedingungsloses Grundeinkommen und offene Grenzen als Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Ihrer Partei, den Grünen, wirft sie vor, die eigenen Werte verraten zu haben. Cansin Köktürks Buch ist eine unverzichtbare, streitbare Stimme im Kampf für soziale Gerechtigkeit.

Über die Autorin

Cansin Köktürk studierte nach dem Abitur Soziale Arbeit, weil sie soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Probleme seit ihrem 16. Lebensjahr bewusst beschäftigt haben. Sie wollte wissen, wieso Menschen in Armut leben müssen und wieso Menschen aus ihrer Heimat fliehen und vor allem wieso Menschen erst und überhaupt durch die Soziale Arbeit aufgefangen werden müssen. Die Erfahrungen unmenschlicher Zustände brachten sie dazu, später bei den Grünen in Bochum Mitglied zu werden, in der Hoffnung politisch etwas bewegen zu können.

CANSIN KÖKTÜRK

UNSOZIALSTAATDEUTSCHLAND

Warum wir radikal humanistisch werden müssen

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Kuepper, München

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Umschlagmotiv: © Jo Kirchherr Photographie, Köln

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4292-4

luebbe.de

lesejury.de

Für meine Klienten und müde Herzen

»Ich bin, weil wir sind.«

Afrikanisches Sprichwort

Vorwort

Ich schreibe dieses Buch, während Russland die Ukraine angreift, die Coronapandemie nach wie vor unseren Alltag bestimmt, während Menschen im Mittelmeer ertrinken, wir Menschenrechtsverletzungen einfach hinnehmen und die Ampel-Regierung ein drittes Alibi-Entlastungspaket verabschiedet. Ich mache das, damit wir uns wieder daran erinnern, dass wir Menschen sind. Ich mache das, weil ich selbst meinen Glauben an die Menschheit nicht verlieren will. Ich mache das, weil ich nicht verbittern will, eines Tages, weil der Weltschmerz mich ohnmächtig fühlen lässt. Irgendetwas in mir sagt, dass das nicht alles sein kann, was die Menschheit zu bieten hat: der Hass, die Kriege, die Ignoranz, während die Natur so behutsam und durchdacht mit sich umgeht und nicht darauf abzielt, sich selbst zu zerstören.

Wieso also tun wir das alles? Was treibt uns in den Hass? Was macht uns zu diesen egozentrischen und unsozialen Menschen?

Alle wissen, dass es soziale Ungleichheit gibt, und viele wissen, dass es obdachlose Menschen gibt, Kinder in Armut und auch, dass Menschen flüchten müssen und auf dem Weg im Mittelmeer gnadenlos ertrinken. Dass es Kriege gibt und geflüchtete Menschen, die anders behandelt werden als andere. Dass Menschen in Schlangen vor dem Jobcenter oder dem Sozialamt stehen müssen, weil sie mal wieder Sanktionen zu ertragen haben. Aber viele verdrängen es, weil es eben wehtut, sich mit der Realität zu beschäftigen, und auch, weil das Helfen immer mit Hürden einhergeht. Bürokratien stehen oftmals im Weg und erzeugen selbst hier künstliche Grenzen. Es tut weh, hinzusehen, und ja, es macht etwas mit uns. Um weiter verdrängen zu können, fangen wir an zu zweifeln und fragen uns, ob alles, was uns zu Ohren kommt, sich auch wirklich so verhält. Weil es einfacher und bequemer ist, wegzuschauen, und weil es einfacher ist, jemand anderem die Verantwortung dafür zuzuschieben.

Wegrennen, sich den Problemen nicht stellen, weil es einen selbst nicht betrifft. Aber so läuft das eben nicht, und das sehen wir anhand dessen, dass die Welt gerade ist, wie sie ist. Ich habe das Gefühl, und so mag man wohl häufig über die jeweilige Gegenwart sprechen, dass wir in der unsozialsten und unmenschlichsten Zeit überhaupt leben. Natürlich gab es temporär schlimmere Zeiten in unserer Geschichte, aber dafür noch nie so viel Aufklärung wie jetzt. Nie hatten wir so viele Möglichkeiten, über Geschehnisse informiert zu werden und sie zu benennen. Nie war es uns möglich, durch Videomaterial, Social Media oder konstruktiven Journalismus zu erfahren, was da draußen eigentlich passiert. Und dennoch stellen sich viel zu wenige von uns auf die Straßen, um gegen das große Sterben im Mittelmeer zu rebellieren, um dagegen zu sein, dass jemand einen Luxus-Sportwagen fährt und ein anderer um fünf Uhr in der Früh anfangen muss, Pfandflaschen zu sammeln. Was viele dabei vergessen: Wir alle können irgendwann obdachlos werden oder müssen vielleicht flüchten. Und trotzdem gehen die Menschen nicht wählen, ignorieren politische Entscheidungen und schauen weg. Wieso tun wir das, und vor allem, wie können wir diese Ignoranz mit unserem Gewissen vereinbaren?

An dieser Stelle, und das ist wirklich essenziell, ist es wichtig zu erwähnen, dass Solidarität auch eine Frage der eigenen Ressourcen ist. Wenn ein Mensch voller Existenzängste und Sorgen ist, um die er sich allein kümmern muss, wenn er ständig darüber nachdenkt, ob er am Ende der Woche noch etwas zu essen hat, wird er sich nicht so einfach überzeugen lassen, auf eine Demo zu gehen, weil ihm die Kraft fehlt. Es ist völlig normal und auch menschlich, dass wir uns nicht kümmern können, wenn wir zu viel mit uns selbst beschäftigt sind. Aber genau das sollte Menschen paradoxerweise in ein aktives Mitgefühl versetzen, weil sie eben wissen und erfahren, wie es sich anfühlt, nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen zu dürfen.

Wenn wir hinschauen, sehen wir klar das Ergebnis eines unsozialen Staates, der regelmäßig völlig überfordert Krisenmanagement betreibt, Versprechen nicht einhält und nur kurzfristige Alibi-Lösungen an den Tag bringt. Wir sehen eine ignorante Oberschicht und zum Teil eine Gesellschaft, die versucht, sich selbst im Überlebenskampf nicht zu verlieren. Ein Kreislauf, in dem wir alle gefangen sind. Die einen, weil sie nicht anders können, und die anderen, weil es sie schlichtweg nicht interessiert, wie es ihren Mitmenschen geht. Was dies betrifft, vertrete ich die Ansicht, dass nicht die Menschen, die über wenig verfügen, »sozial schwach« sind, sondern viel eher die wohlverdienenden Politiker*innen, die zwei Porsches besitzen und sich gegen fördernde Maßnahmen für soziale Gerechtigkeit stellen. Die privilegierten, reichen Menschen, die sich einen Scheiß (ja, die Wortwahl ist genau richtig) drum kümmern, wie es anderen geht, sind in Wahrheit die sozial Schwachen.

Alle Veränderungen und alle Widerstände sind durch den Menschen entstanden. Alle großen politischen Entscheidungen wurden durch Gegenwind und Widerstand aufgelöst oder eben durchgeführt. Das sehen wir am Beispiel der Klimabewegung Fridays for Future, eine Bewusstseinserweiterung, die durch Menschen und durch Widerstand erst ermöglicht wurde. Doch es ist eben auch eine Utopie zu glauben, dass wir gegen das System als Einzelne rebellieren können, wenn wir nur auf die Straße gehen und demonstrieren. Das bringt langfristig nichts, wenn als Ergebnis keine politischen Entscheidungen und Veränderungen erfolgen, die an diese Proteste anknüpfen und sie ernst nehmen. Genauso wenig bringt Mitleid etwas. Und auch nicht der Pseudo-Aktivismus, der sich über Instagram-Posts oder Tweets definiert, die im nächsten Moment schon wieder durch etwas Neues ersetzt werden. Aufmerksam machen, darüber reden, Missstände teilen – das ist wichtig. Doch irgendwelche Beiträge posten, in denen vor allem im parteipolitischen Rahmen immer wieder gesagt wird, dass sich etwas ändern muss? Ja, das haben wir auch verstanden. Aber die Frage nach dem »Wie?« bleibt dabei meistens auf der Strecke.

Die großen Dinge ändern sich durch die Menschen, die das Instrument Politik bedienen. Als Sozialarbeiterin allein werde ich es vermutlich nicht schaffen, mich für die ärmeren Menschen in unserer Gesellschaft im Ganzen einzusetzen. Aber durch gemeinsames Lauter-Sein, durch Mitmischen, durch Druck machen und durch Aufklärung hoffentlich schon. Und damit, euch und Sie so lange zu nerven, dass das hier alles einfach nicht gerecht ist.

Soziale Arbeit ist unter anderem das Ergebnis einer gescheiterten Politik. Das Resultat dessen, dass wir viel zu viele Jahre damit verbracht haben, nicht hinzusehen, nur das Mindeste an Möglichkeiten ausgeschöpft und Armut nicht wahrhaftig bekämpft haben. Nicht nur, dass Deutschland es nicht getan, sondern ganz klar nicht gewollt hat. Das notwendige Geld wurde in andere Dinge investiert, die den Menschen in der Politik offenbar wichtiger erscheinen. Von da oben hat man eher einen ziemlich schlechten und sehr realitätsfernen Blick auf die Dinge, die draußen wirklich passieren. Wirtschaft ist nicht wichtiger als der Mensch, die Bundeswehr ist nicht wichtiger als der Mensch, und Geld ist grundsätzlich nicht wichtiger als der Mensch. Die Prioritäten sind absolut unmoralisch gesetzt, und wir haben uns von der Menschlichkeit trotz unserer Ressourcen noch nie so weit entfernt wie jetzt.

An dieser Stelle mag vielleicht jemand sagen: »Oh, wieder ein idealistischer Appell«, aber ich sage: Ihr seid idealistisch! Ihr, die ihr denkt, dass dieses System so, wie es aufgestellt wurde, genau der menschlichen Natur entspricht. Den Menschen in ein System zu pressen, aus dem er nicht entkommen kann, und wenn er es versucht, ihm mit allen Mitteln als Bestrafung alles wegzunehmen, auch seine Würde – das hat nichts mit einer sozialen Haltung gemein. Wir leben aktuell zweifellos in einer prekären Welt, vielleicht sogar in einer Umbruchzeit, und vor uns liegen Entscheidungen, die bestimmen, welchen Weg wir gehen, wie wir diese Welt mitgestalten und wie wir sie hinterlassen möchten. Ein Staat, dessen Regierung die Sorgen sozial benachteiligter Menschen nicht ernst nimmt oder ignoriert und nicht dazu beiträgt, dass diese Umstände sich bessern, darf sich in meinen Augen nicht als Sozialstaat betiteln.

Kapitel 1

Soziale Arbeit als politischer Auftrag

Mir fällt es selbst sehr schwer, in dieser Zeit die Hoffnung nicht zu verlieren und ein Buch zu schreiben. Mir fällt es schwer, in Worte zu fassen, was ich täglich als Sozialarbeiterin erlebt habe und aktuell erlebe. Doch weiß ich auch, dass es wichtig und notwendig ist, das jetzt gerade zu tun: helfen, kümmern und füreinander da sein. Genau das ist die Essenz, die uns zu sozialen Wesen macht, zu Mitmenschen, die erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind.

In meiner Jugend hatte ich Schwierigkeiten zu verstehen, wieso diese Welt so ungerecht ist und niemand etwas dagegen unternimmt. Warum wir auf der einen Seite des Globus privilegiert leben dürfen, während auf der anderen Seite oder sogar im selben Land Menschen leiden. Meine Großeltern kamen als Gastarbeiter in den Siebzigerjahren nach Deutschland. Schon während meiner Kindheit und Jugend sah ich, wie unterschiedlich die Leben von Menschen ungewollt verlaufen und wie schmerzhaft es sein kann, dass man nicht frei, sondern bereits zum Zeitpunkt der Geburt vorbelastet ist. Wie es ist, wenn man Kinder in der Heimat hat, in einem fremden Land unter schlechten Bedingungen arbeiten muss und der einzige Bestandteil des Alltags der Überlebenskampf ist.

Ich wurde früh damit konfrontiert, dass meine Familie sich anderen Hürden gegenübersah als die Familien meiner Freunde. Zumindest wirkte es so auf mich. Aus dem Ausland hierherzukommen, eine neue Sprache zu lernen und sich der neuen Kultur anpassen zu müssen, ist kein einfacher Weg. Ich bemerkte, wie meine Großeltern anders auftraten in ihrem neuen, bürgerlichen deutschen Leben als sonst, wenn sie mit uns zusammen waren. Ich erlebte ihre zwei Versionen – denn sie waren unterschiedliche Personen; die fremde Sprache machte sie zu anderen Menschen, hemmte sie darin, sich zu entfalten und so sein zu dürfen, wie sie eigentlich waren. Mir fiel schon damals auf, wie viele Faktoren das Leben bereithält, die wir selbst nicht beeinflussen können. Ich empfand immer Mitgefühl und auch Mitleid mit meinen Großeltern, dass sie ihre Heimat verlassen mussten, um ihren Kindern etwas bieten zu können.

Meine Welt als Kind und als Jugendliche war geprägt von unterschiedlichen Lebensweisen. Zwischen zwei Kulturen fand ich mich wieder und durchlebte eine Identitätskrise, die meine deutschen Freunde nicht nachvollziehen konnten. Ich spürte die Melancholie auf der einen und die vielen positiven Eindrücke auf der anderen Seite. Abends sprachen wir Türkisch, und morgens musste ich in der Schule Deutsch sprechen. Ich konnte beide Sprachen fließend, doch auch heute noch gibt es Dinge im Türkischen, die es im Deutschen nicht gibt, und andersherum genauso. Die unterschiedlichen Benennungen der Dinge und der Gefühle waren für mich Geschenke. Meine Welt weitete sich, und meine Blickwinkel wurden verdoppelt. In meiner Welt gab es mehr Emotionen, mehr Gefühle und mehr Schmerz als nur in einer Sprache. Andere Bezeichnungen erschufen neue Dimensionen und machten sie greifbarer.

Wir fuhren in meiner Kindheit oft in die Türkei und durchs ganze Land, und ich konnte verschiedene Eindrücke sammeln. Ich traf damals auf viele Kinder in meinem Alter, die ein völlig anderes Leben führten als ich. Es bewegten sie andere Dinge, obwohl wir im selben Alter waren. Laut meinen Tagebüchern dachte ich bereits damals darüber nach, wieso es uns allen nicht gleich gut gehen kann. Wieso muss es arme Menschen geben und dafür in so einem starken Kontrast Superreiche? Wieso darf ein Mensch nicht von Anfang an selbst entscheiden, welche Version er von sich werden möchte? Die Gegebenheiten, in die wir hineingeboren werden, bestimmen unser Leben – wo wir auf die Welt kommen, wie viel Geld unsere Eltern oder Großeltern haben, welche Schulen wir besuchen und noch so viel mehr. Unser Glück ist abhängig von vielen Zufällen, die wir nicht selbst bestimmen können.

Wann wurden ungerechte Umstände als normal angesehen?

Schon als Kind verstand ich die Unterschiede nicht, die zwischen Menschen gemacht werden. Am Ende des Tages wollen wir alle in den Arm genommen werden und brauchen etwas zu essen und zu trinken, dachte ich. Wieso also muss es jemandem schlechter gehen als mir selbst? Wieso darf nicht jedes Kind dieser Welt lachen und Spielzeuge haben? Wieso müssen manche Menschen vor Angst zittern, um ihr Leben bangen und um ihre Freiheit kämpfen, während andere das Gegenteil erleben und sich ihrer Freiheit nicht mal bewusst sind?

Diese Gedanken verfestigten sich in mir mit den Jahren. Geprägt durch linke Zeitungen, die meine Eltern lasen, und die Musik, die ich in meiner Jugend hörte, wandelte sich meine Neugier in eine Haltung um, die ich bis heute einnehme und verteidige. Für gleiche Rechte und vor allem die gleichen Chancen, damit sich jeder Mensch entfalten kann. So wie er oder sie es möchte und nicht, wie die Umstände es vorgeben. Ich träumte von einer Welt, von einem System, in dem jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich glücklich zu fühlen und Glück zu erfahren, Erfolg zu spüren, sich selbst zu finden und zufrieden irgendwann von dieser Welt zu gehen. Ich war mir sicher, dass es weniger Hass, Kriege und Neid geben würde, wenn Menschen zufrieden wären und sich nicht mehr vergleichen oder andere dafür beschuldigen würden, dass sie weniger haben. Ich glaubte daran, und das tue ich nach wie vor, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen müssen und verantwortlich dafür sind, sofern wir die Freiheit haben, eigenverantwortlich handeln zu können, und die Strukturen fair sind. Ich konnte es schon in meiner Jugend nicht ertragen, an einem obdachlosen Menschen vorbeizugehen – nicht, ohne wütend zu werden. Warum musste der Mensch draußen in der Kälte sitzen? Ich war süchtig danach, Erklärungen zu suchen, wollte die Welt begreifen. Luxusgüter und teure Dinge interessierten mich nicht, ich wollte wissen, was uns antreibt und wieso wir die Wege gehen, die wir eben gehen. Wer hatte die Erlaubnis, über mich zu bestimmen, wenn er oder sie doch auch nur ein Mensch war, so wie ich? Wie konnten sich die einen über die anderen stellen, wenn wir doch gleich waren? Hatten sie irgendeine Superpower, von der wir nichts wussten, oder wieso durften die das? Wieso nutzten manche ihr Glück aus und stemmten sich dagegen, dass alle Menschen so leben durften?

Mir leuchteten Hass und Gier, Neid und Missgunst nicht ein. Wieso es so war und ich so empfand, kann ich nicht erklären. Es war ein Gefühl, das ich früh in meiner Jugendzeit spürte und das mit der Empörung darüber einherging, dass die Welt so unfair war. Ich war schockiert darüber, dass Menschen mit geschlossenen Augen durch diese Welt gingen und andere Wesen, die ihnen doch glichen, wie Dreck behandelten. War denn niemandem klar, wohin wir uns bewegten, wenn wir so weitermachten?

Ich floh damals in die Melancholie und trug dabei eine Wut in mir, die so lange in mir schlummerte, bis ich den Beruf der Sozialarbeiterin wählte. Ich hatte keine Lust, einen Job zu machen, der sich lediglich übers Einkommen definierte. Für dieses menschenverachtende System sollte ich nur deshalb arbeiten, um Geld zu verdienen? So war ich nicht. Geld war nicht das, wieso ich hier war. Zugleich war es in meinen Augen genau dieses System des Gelderwerbs, das arme Menschen ärmer machte und die Reichen noch reicher. Ich fragte mich: Wer oder was war wirklich schuld daran, dass wir uns nicht mehr menschlich verhielten und einander kaum mehr Beachtung schenkten? Wann wurde der Mensch zu einem absolut egoistischen Monster, dem es egal war, dass andere Menschen im Mittelmeer ertranken oder in der Kälte starben?

Diesen Drang, mich der Welt mitzuteilen und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, habe ich seit meinem elften Lebensjahr. Damals wollte ich Bücher und Texte schreiben, um Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Oft hatte ich das Gefühl, die Einzige zu sein, die unter diesen wahnsinnigen Missständen litt und die Wahrheit sagen wollte. Was auch immer ich damals als Wahrheit empfand – ich wollte eben darauf aufmerksam machen, dass es nicht gut ist, so wie es ist! Das Gefühl, ausbrechen zu wollen aus dieser künstlich eng denkenden Welt, spürte ich in meinem Brustkorb. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Weite der Meere und der Wälder dieser Erde sollten uns als Vorbild dienen, über den Tellerrand hinauszudenken. Die Grenzen der Menschlichkeit engen uns ein und machen uns zu ignoranten Monstern. Wir gehen davon aus, dass wir alle unterschiedlich sind und uns nicht mögen können, wenn wir eben ein paar Unterschiede haben; wir verfeinden uns, greifen uns an und interessieren uns nicht mehr für das Leid der anderen. Dabei verhält es sich doch völlig anders: Uns alle eint mehr, als dass uns trennt.

Wie kann man Wut auf diese Welt in etwas umwandeln, das den Menschen hilft?

In meiner Jugend fand ich mich auf Demos wieder und schrieb Texte über die Moral der Menschheit und darüber, dass sie sich schämen sollte. Ich hatte ein sehr schlechtes Abitur, anscheinend interessierte es mich nicht, ein Gedicht zu analysieren oder Gleichungen zu lösen. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich wollte einfach nur ein guter Mensch werden. Und wenn ich irgendwann diese Welt verlassen würde, sollten andere nicht darüber reden, dass ich großartige Noten gehabt hätte, sondern, dass ich geholfen hätte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, wenigstens ein kleines bisschen. Das war eine meiner Visionen und ist es heute immer noch. Ich entschied mich für das Studium der Sozialen Arbeit, da ich darin die Verknüpfung zu meiner politischen Haltung sah. Ich wollte all die bewegenden Geschichten meiner Mitmenschen hören und vielleicht ein paar Antworten auf die Fragen aus meiner Jugend finden. Bis heute weiß ich, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war, da ich in der Sozialen Arbeit immer wieder aufs Neue lernen kann, was Menschen bewegt. Ich habe verstanden, dass alles im Leben seine Gründe hat. Ich fand eine Haltung durch meine Arbeit, fand meine politische Einstellung durch aktives Hinschauen und erkannte, dass es eigentlich die Aufgabe der Politik ist, diese Zustände zu bekämpfen, und nicht die eines ganzen Berufszweigs. Wie viel Hilfe können Menschen denn leisten, wenn das System dahinter bröckelt?

Während meines Studiums war mir nicht klar, wieso die Soziale Arbeit als irgendein sozialer Beruf dargestellt wird. Für mich war sie schon damals ein eigenes System, in dem die Realität vieler Menschen durchaus bekannt ist und auch, was notwendig ist, um das Gleichgewicht des Systems zu bewahren. Was aber passiert mit all diesen Informationen, Eindrücken und Beobachtungen, die einen Teil unserer Gesellschaft betreffen, der sonst kaum Beachtung findet?, überlegte ich. Die Antwort: Daraus muss geschöpft und gelernt werden, all die Stimmen der Menschen, die nicht gesehen werden, können durch die Soziale Arbeit aufgedeckt werden. Das ist für mich der eigentliche Auftrag neben der Hilfe zur Selbsthilfe: Laut werden und die Stimme für die Menschen sein, die nicht gesehen werden.

Was kann Soziale Arbeit eigentlich?

Der Job als Sozialarbeiterin ist sehr fordernd, belastend und auch anstrengend. Es ist ein Versuch, an der Ungerechtigkeit anzuknüpfen und etwas zu verändern. Wir kümmern uns um Problemlagen und multiple Probleme, die verschiedene Ursprünge haben, welche wir meistens gar nicht alle beheben können.

Zu denen, die im Rahmen der Sozialen Arbeit betreut werden, gehören ganz unterschiedliche Menschen, die Hilfe in bestimmten Lebensphasen brauchen: Akademiker und Schulabbrecher, drogensüchtige und alkoholkranke Menschen, psychisch erkrankte Menschen, Systemsprenger, alleinerziehende Frauen und Männer, Kinder, Jugendliche, Obdachlose, geflüchtete Menschen und viele mehr. Wenn Soziale Arbeit gut und erfolgreich läuft, sind die Klient*innen am Ende der Hilfe dazu bereit, ihr Leben selbst zu managen. Doch meistens reicht die vorhergesehene Dauer der Betreuung dafür kaum aus. Bis sich Denkmuster oder Routinen ändern, die den Alltag der Betroffenen bestimmen, dauert es meist Jahre. Während dieser Zeit sind die Menschen allerdings noch vielen weiteren Niederschlägen ausgesetzt – gesellschaftlich, finanziell oder durch ihren mentalen Zustand, der über die Jahre häufig das Ergebnis des langen Überlebenskampfes ist. Es gibt keinen Zeitraum, um sich erholen zu dürfen von all dem Kampf, der Existenzangst und den Sorgen. Soziale Arbeit greift bereits in der Kita ein, weiter in der Grundschule und in weiterführenden Schulen. Unterstützend, beratend und präventiv versucht sie, Menschen dabei zu helfen, im System zu bleiben, und sie davor zu schützen, aus dem System zu fliegen. Und auch, wenn sie aus dem System exkludiert wurden, streckt sie die Hände aus, um die Betroffenen zurückzubringen. Soziale Arbeit findet sich in der Jugendhilfe, Erziehungshilfe, im Kinderschutz, in der Jugendarbeit, in verschiedenen sozialen Diensten, im Sozialmanagement, in der Suchtberatung und Straffälligenhilfe, der Flüchtlingshilfe, Altenhilfe, Frauenberatungsstellen und Einrichtungen des Gesundheitswesens und einigem mehr wieder. Es ist ein weites Spektrum, das durch die Soziale Arbeit abgedeckt wird und absolut notwendig ist. Ein Spektrum, das sich zusammensetzt aus den Schicksalen Einzelner, von denen manche von Geburt an benachteiligt waren und andere plötzlich hineingeraten sind. Menschen, die von anderen nicht mehr gesehen werden und die doch einen großen Teil unserer Gesellschaft bilden.

Soziale Arbeit und die Politik – eine wechselseitige Beziehung

Soziale Arbeit muss mitgestalten. Sie muss aufgrund ihrer Profession und vor allem, weil es eine Menschenrechtsprofession ist, zukünftig eine stärkere Stimme innerhalb der Politik bekommen.

Es braucht Sozialarbeiter*innen, die berichten, ob die politischen Entscheidungen hilfreich oder eben nicht hilfreich sind, wenn wir schon den betroffenen Menschen nicht zuhören. Studien reichen anscheinend nicht aus, wenn wir davon reden, dass Armut tatsächlich schwer krank macht.

Sozialarbeit ist ein notwendiger Bestandteil der Struktur einer zivilisierten Gesellschaft, die darauf abzielt, Einzelnen zu helfen und mit den Problemen fertig zu werden, die sich aufgrund von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und politischen Entscheidungen ergeben. Zugleich soll sie der Gesellschaft helfen, die Anforderungen und wirklichen Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Die Notwendigkeit Sozialer Arbeit deutet durch ihre Erkenntnisse aus dem Alltag darauf hin, dass in unserer ungerechten Gesellschaft mit ihren oft widersprüchlichen Anforderungen und ungleichen Chancenverteilungen unvermeidbare Belastungen auftreten. Diese Belastungen für unterschiedliche Menschen machen wir deutlich, denn darauf basiert unsere Arbeit. Hört uns zu, wenn euch die Menschen wichtig sind!

Wie alles begann

Während meines Studiums arbeitete ich an Schulen. Früh bemerkte ich das Selektieren nach dem Bildungsniveau der Eltern, nach sozialer Herkunft und all den oberflächlichen Faktoren, wie gebrauchter Kleidung oder fehlenden Schulmaterialien, die auf Armut schließen ließen. In den Pausen empfand ich ausgerechnet die Kinder, die eine Hauptschule besuchen sollten, als besonders klug und emotional intelligent. Wie viel sagten dann also eine Note in Mathe aus und auch der Beruf der Eltern? Was konnten die einzelnen Kinderherzen dafür, dass ihre Eltern selbst nicht die besten Möglichkeiten im Leben hatten?

Das System, in dem wir gefangen sind und leben, ist so festgefahren, und viel zu wenige trauen sich, das alles zu hinterfragen. Obwohl wir im Gegenzug in vielen anderen Bereichen so weit sind, lassen wir uns dennoch von Dingen, die »schon immer« so waren, einfach blenden. Es ist nicht in Ordnung, mental erschöpft zu sein und in der Verfassung arbeiten gehen zu müssen. Es ist auch nicht in Ordnung, um seinen Job zu bangen, wenn man sich krankmelden muss. Es ist genauso wenig in Ordnung, nur fürs Arbeiten zu leben, weil man noch einen zweiten Job annehmen muss, um seine Kinder versorgen zu können. Es ist nicht in Ordnung, sanktioniert und gedemütigt zu werden, wenn man ohnehin Hartz IV oder – neuerdings schöner beschrieben – Bürgergeld beziehen muss. Dass Armut krank macht, ist längst kein Geheimnis mehr. Das ist doch das stärkste Argument! Was braucht ihr da oben denn noch mehr als dieses Argument, um endlich das Leid zu minimieren? Gesundheit und Vitalität müssen jedem Menschen gewährleistet werden. Wie weit will diese Zweiklassengesellschaft noch gehen?

In meiner Arbeit habe ich klare Beweise erlebt, wie stark Menschen zu Krankheiten neigen, wenn sie aus ärmeren Verhältnissen kommen. Es fängt damit an, dass sie nicht auf ihre Ernährung achten können, auch damit, dass sie sich keinen Ausgleich schaffen, ihren Hobbys nicht nachgehen können. Dass sie ständig unter Stress stehen, wenn sie ihre ganzen Rechnungen nicht begleichen können, wenn ihr Briefkasten voll davon ist. Die Strom- und Gaskosten sind für viele längst nicht mehr tragbar. Bereits vor der Energiekrise und der Inflation fiel es etlichen Menschen schwer, die Rechnungen zu begleichen. Für Politiker*innen ist es sicher nicht greifbar, dass man um jeden Euro bangen muss, nicht, wenn man selbst fünfstellig monatlich verdient. Es ist auch hier ein Kreislauf, den ich beobachtet habe: Viele Betroffene sind damit überfordert, den Briefkasten zu leeren und sich um die Rechnungen zu kümmern. »Ich kann es eh nicht zahlen. Was soll ich machen?«, heißt es immer. Die Menschen werden jedoch nicht gehört und stattdessen sanktioniert, bestraft, Inkasso-, Schufa-Einträge und Gerichtsvollzieherkosten folgen hinterher. Wovon sollen sie all das eigentlich zahlen? Wie viel tiefer will man die Menschen denn noch in ein Loch voller Hoffnungslosigkeit drücken? Und dann wundern wir uns über Suizide, Langzeitarbeitslose und Gewalt. Der Druck ist für den menschlichen Körper wie auch für die Psyche einfach zu hoch. Ja, ist er, wenn wir keine Familie und Freunde hinter uns stehen haben, die uns den Rücken stärken, und wenn wir kein Sicherheitsnetz irgendwo da draußen haben. Dann dürfen wir nicht mal mehr eine Idee von dem Leben haben, was wir führen möchten. Wir haben keine Zeit, zu träumen, das zu tun, was uns glücklich macht, und wir haben auch keine Zeit mehr, überhaupt zu uns zu finden, denn wir müssen funktionieren. Und wenn nicht, wird uns alles genommen, was uns hilft, eigenständig zu denken und frei zu sein. Den Menschen wird die Eigenverantwortung genommen, ihr Leben erfolgreich zu kreieren, weil sie nur mit Überleben beschäftigt sind. Und am Ende sind die meisten mit all den Problemen alleine und haben niemanden, mit dem sie darüber reden können, weil selbst die Gesundheitsversorgung mit Geld einhergeht. Therapieplätze sind kaum zu bekommen, und private Therapieplätze selbst zu bezahlen, ist in so einer Schieflage eine Utopie.

Ein Zeichen setzen

Die Vision hinter meinem Job ist nicht nur allein die Hilfe, die ich im Rahmen meiner eigenen Kräfte leisten kann. Ich finde, dass Soziale Arbeit ein Zeichen in der Gesellschaft setzt, dass wir solidarisch sein müssen. Dass wir aktive Hilfe leisten müssen, weil es eben nötig ist. Wir stehen in der Pflicht, uns dagegenzustellen, dass man denen etwas wegnimmt, die ohnehin zu wenig haben.

Die Menschen, die von Armut und Not betroffen sind, dürfen nicht einfach ignoriert und vergessen werden. Wir alle können uns in einer Notunterkunft wiederfinden und in Armut aufwachen, wenn wir in Not geraten und keinerlei Unterstützung haben. Und wenn jeden von uns ein Schicksalsschlag treffen kann, wieso sollten wir uns nicht jetzt schon für betroffene Menschen starkmachen?

Vielleicht gibt es Mechanismen, die dabei helfen, die Realität auszublenden, aber in Wirklichkeit ist es belastend, und tief in unserem Inneren wissen wir, dass es falsch ist, wegzuschauen. Wir spüren das jedes Mal, wenn jemand uns nach Geld fragt und wir nichts dabeihaben, dass es sich irgendwie falsch anfühlt, nicht zu helfen. Manchmal sind wir genervt davon, dass es Menschen gibt, die das Leid anderer ausnutzen und so tun, als wären sie bedürftig. Ich würde aber hierbei immer davon ausgehen, dass die Mehrheit wirklich Hilfe braucht. Und falls es nicht der Fall ist, muss derjenige, der die Hilfe ausnutzt, es mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren.

Wir verdrängen das Leid der Welt, weil es uns insgeheim wehtut, dass es so ist, wie es ist. Und auch, dass wir uns als menschliche, liebende Wesen vergessen haben über all die Jahre, weil auch wir funktionieren müssen. Aber wir haben es eben selbst in der Hand, aus dieser Art des Denkens wieder herauszukommen. Mitgefühl und Liebe verdoppeln sich, wenn man sie teilt. Das ist die wundervolle Seite des Lebens, und nichts ist wichtiger als Herzensverbindungen und das Miteinander. Die magnetische Kraft der Liebe bindet Menschen an die Lebensenergie an, mit der wir geboren wurden, und das haben wir tief in uns auch alle gemeinsam.

Soziale Arbeit muss da oben mitmischen!

Soziale Arbeit ist politisch. Für mich ist sie nicht nur eine helfende Instanz, nicht nur ein Berufszweig und nicht nur irgendwelche Menschen, die irgendwie helfen. Es ist eine Haltung, ein politischer Auftrag – wenn man die Soziale Arbeit wahrhaftig begreifen mag –, eine Einstellung und eben das eine wichtige System, das in unserem antisozialen System nötig ist. Im Grunde mache ich jeden Tag diese Arbeit, weil die Politik ihre Versprechen nicht hält und ihren Job nicht richtig macht. Spätestens nach den ersten Fällen, die man in meinem Beruf erlebt, müsste man anfangen, sich zu politisieren. Wenn ich die Armut in den Familien sehe, Kinder, die in Armut aufwachsen, oder eben Menschen betreue ohne eine Wohnung und mit wenig Geld, empfinde ich Wut. Zwangsläufig habe ich mich mit dem Ursprung beschäftigt und damit, wie man all das hätte verhindern können. Der politische Auftrag besteht in meinen Augen eben auch darin, darüber zu sprechen, was wir in der Sozialen Arbeit tagtäglich erleben. Wir müssen darüber sprechen, wie es Menschen geht, und eben auch, wie es denen geht, über die am wenigsten gesprochen wird, und wenn, dann negativ. Das alles zu verschweigen, ist auch eine Haltung. Wenn wir nicht darüber reden, wird sich nichts ändern – denn worüber nicht gesprochen wird, existiert nicht.

Erfahrungen und Erlebnisse schlagen Theorie, und so betrachte ich die Soziale Arbeit als vollkommen, wenn sie in den politischen Diskurs hinein einen Einfluss hat. Wenn wir euren Aufgaben und Aufträgen nachgehen sollen, die ihr von uns erwartet, müsst ihr auf unsere Ergebnisse hören. Wenn ich Menschen in das System zurückbringen soll, das ihn im Grunde erst zur Ausgrenzung geführt hat, muss ich als Sozialarbeiterin mit entscheiden dürfen, wie das System auszusehen hat. Schließlich habe ich erfahren, wieso der Mensch überhaupt aus dem System geflogen ist. Erst dann, wenn man den Job aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist man in der Lage, ihn professionell zu machen.

So steil diese These auch ist: Fakt ist, dass Soziale Arbeit das Ergebnis einer gescheiterten Politik ist. Irgendjemand soll sich um die Menschen kümmern, die aus dem menschengemachten und aus politischen Entscheidungen entstandenen System fallen und allein nicht zurückfinden. Also dürfen wir als Sozialarbeiter*innen Forderungen stellen, denn wir wissen, was bei den Menschen tatsächlich ankommt und was nicht. Wir wissen, womit Menschen zu kämpfen haben, was sie beschäftigt, wie sie sich fühlen und was sie brauchen. Ich kann meine Arbeit nur ausführen, wenn ich mich an die von der Sozialpolitik verabschiedeten Gesetze halte. Aber ich habe keine Lust, meine Arbeit unprofessionell machen zu müssen, weil die Gesetze und Entscheidungen falsch getroffen wurden. Eigentlich haben die Soziale Arbeit und die Sozialpolitik dasselbe Ziel, nämlich die Verbesserung sozial prekärer Lebenslagen und ungleicher Lebenschancen. Der Bezug ist allerdings ein anderer, denn während Sozialpolitik versucht, soziale Strukturen aufzubrechen, beschäftigt sich die Soziale Arbeit mit Personen, die davon betroffen sind. Und Politik muss Brücken bauen, um authentischer zu werden. Politiker*innen müssen anfangen, aufrichtiges Interesse zu zeigen, ob die Entscheidungen, die sie treffen, überhaupt funktionieren.

Soziale Arbeit muss sich mit einem eigenen Beitrag in den öffentlichen Diskurs einmischen, denn es ist das System, das unabhängig von anderen Systemen agieren muss, das am Menschen selbst beteiligt ist und das Ergebnis politischer Entscheidungen hautnah und direkt spürt.

Ich habe täglich in meinem Beruf gespürt – ob in der Kita- oder Schulsozialarbeit, in der Jugendhilfe, der Flüchtlingshilfe, der Obdachlosenhilfe –, dass es uns an einer Sache ganz deutlich fehlt: Gerechtigkeit. Wir sind erst dann ein gerechter Staat, wenn alle Menschen gleiche Bedingungen und Chancen haben, sich zu entfalten. Wie soll sich ein Mensch entfalten, der Geldprobleme und Existenzängste hat? Wann soll dieser Mensch in der Lage sein, sich um sich selbst zu kümmern, wenn er mit dem Überleben beschäftigt ist? Wie kann es gerecht sein, dass Kinder danach beurteilt werden, was ihre Eltern geleistet haben, und nicht danach, welches Potenzial in ihnen selbst schlummert? Wieso selektieren wir Kinder danach aus, was sie nicht können? Warum schaffen wir nicht eher einen Raum, in dem sie das werden können, was sie sind, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft?

Ungerechtigkeit ist die Quelle der meisten Probleme. Hass und Unzufriedenheit in der Gesellschaft würden aufhören, wenn alle genug zum Leben hätten und Fairness im Überlebenskampf Einzug halten würde.

Ein gemeinsames Ziel

Statt Unterschiede zu suchen, müssen wir unsere Gemeinsamkeiten wiederfinden. In diesem Sinne müssen wir den Mut haben, Denkformen zu kritisieren und uns zu fragen, wie wir unsere Gesellschaft entsprechend aufbauen sollten. Die Unterscheidung zwischen uns und den anderen, zwischen Geist und Körper, Mensch und Natur ist künstlich erzeugt und steht nicht im Einklang mit der Wirklichkeit. Ich begreife wie gesagt nicht, warum wir uns durch unsere Unterschiede definieren müssen statt damit, was uns gemeinsam ist. Der Fokus auf die Dualität und die Unterscheidungen wird uns unsere Menschlichkeit kosten, indem wir uns immer weiter voneinander entfernen. Wir suchen nach Unterschieden, statt Gemeinsamkeiten zu finden. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass wir das, was wir den anderen zufügen, uns selbst zufügen. Dieser Gedanke muss sich in politischen Entscheidungen wiederfinden.

Wir haben alle nur ein Ziel auf dieser Welt in diesem einen Leben: glücklich und gesund durchzukommen, und das in Wärme, Liebe und Vertrauen. Es muss Hoffnung gemacht werden, dass menschliche Bedürfnisse und Gefühle bei wichtigen politischen Entscheidungen eine Rolle zu spielen haben. Zufriedenheit kann nur entstehen, wenn der Mensch entspannt, fröhlich und gelassen ist. Das ist er nicht, wenn er in einer ungerechten Gesellschaft lebt und darüber nachdenken muss, ob er sich auch am Ende des Monats noch versorgen kann.

Die Politik muss sich auf die Verminderung und die Eindämmung von Leiden konzentrieren. Politik ist ein Instrument, um Schwierigkeiten und Probleme der Gesellschaft zu lösen und keine neuen zu schaffen. Ob dieses Instrument schädlich ist oder nicht, hängt von denen ab, die es anwenden. Das eigentliche Ziel sind nicht die persönlichen Interessen des Einzelnen, es ist das Wohl der Gemeinschaft.

Kapitel 2

Soziale Arbeit als Auftrag der Menschlichkeit