Unter Bäumen - Benno Fürmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Unter Bäumen E-Book

Benno Fürmann

0,0
17,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

 Benno Fürmann, vielfach ausgezeichneter Schauspieler, Weltenbummler, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, nimmt uns mit auf seine bewegte und berührende Lebensreise und schildert eindrücklich, warum er, wann immer es ihm möglich ist, die Nähe zur unberührten Natur sucht. Ob im Dschungel Südamerikas, am Fuße des Himalaya oder im bayerischen Voralpenland: "Wenn wir uns der Natur wirklich aussetzen, berührt uns das im Innersten."   "Dies ist kein Ratgeber, sondern eine Auseinandersetzung mit mir und meiner Beziehung zur Natur. Es geht um meine Lust am Leben und meine Überforderung in anspruchsvollen Zeiten. Ich erzähle von dem, was mich umtreibt, was mich aufbaut, meinen Sehnsüchten. Ich erzähle von entscheidenden Stationen meines Lebens und den Fragen, die ich habe: Was ist mir wichtig? Wie schöpfe ich Kraft? Was bedeutet anständiges Verhalten im Hier und Jetzt? Wie versuche ich auf mich, andere und die Natur achtzugeben und zugleich lustvoll durch die Welt zu navigieren? Ich möchte in diesem Buch das Leben feiern." Benno Fürmann   "Ein literarisches Hoch auf das Leben." Passauer Neue Presse  "Ein Buch, das Mut macht und dazu einlädt, einen eigenen Beitrag zu leisten." Buchjournal  "Benno Fürmann betritt Neuland." Bunte  "Inspirierend!" Büchermenschen  "Fürmann steht zu seinen Fragen und Widersprüchen" Wir. Der Mutmach-Podcast  "Eine unterhaltsame und aufregende (Lebens-)Reise zu mehr Klarheit und Vertrauen in den Lauf der Dinge." buchszene.de, das Literatur- und Kulturmagazin

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 341

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Wilhelm Klemm, Philip Laubach

Bildredaktion: Petra Ender

Covergestaltung: Lena Kleiner, favoritbüro München

eBook-Herstellung: Pia Schwarzmann

ISBN 978-3-8338-8954-7

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Coverabbildung: Pascal Büning

Fotos: Thomas Koy; Benno Fürmann (privat); Edith Held; Max Muench

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-8954 03_2023_01

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

Für Zoe

Benno Fürmann, Reisender zwischen den Welten, ist sich darüber im Klaren:»So viel Bäume, wie ich pflanzen müsste, um meine Flugreisen zu neutralisieren, kann ich gar nicht pflanzen. Aber ich finde, vor einer Aufgabe zu kapitulieren, nur weil sie einem zu groß erscheint, sollte niemals ein Alibi für das Nichtstun sein.« In seinem ersten Buch nimmt er uns mit auf seine bewegte und berührende Lebensreise und schildert eindrücklich, warum er, wann immer es ihm möglich ist, die Nähe zur unberührten Natur sucht. Ob im Dschungel Südamerikas, am Fuße des Himalaya oder im bayerischen Voralpenland – wenn wir uns der Natur wirklich aussetzen, berührt uns das im Innersten.

»Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.«

Nazim Hikmet

Prolog

Das Leben im Hier und Jetzt empfinde ich oft als herausfordernd. Wenn ich in mich hineinhorche, stoße ich auf deutlich mehr Fragen als Antworten. Wahrscheinlich hätte ich hier und da gerne mehr Klarheit und mehr Vertrauen in den Lauf der Dinge. Aber letztendlich weiß ich, dass Fragen mein Treibstoff sind. Und ich weiß natürlich auch, dass es auf die wirklich wichtigen Fragen, die das Leben uns stellt, keine einfachen Antworten gibt.

Dennoch haben wir uns angewöhnt, mehr in Ausrufezeichen als in Fragezeichen zu sprechen – womöglich, um die eigenen Unsicherheiten zu übertönen. Das ermüdet mich. Mir ist es wichtig, der Stille und den Fragen zu lauschen und ihnen Raum zu geben. Ich habe nicht den Anspruch an mich, immer Antworten haben zu müssen, und wer vorgibt, sie stets zu kennen, weckt meinen Argwohn. Wo das Fragen aufhört, beginnt gerne das selbstverliebte Proklamieren. Darum werden Sie in diesem Buch mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen finden. Ich, oder besser gesagt mein Computer, haben sie gezählt. Es sind 357 Fragezeichen und 158 Ausrufezeichen.

Mehr als einmal habe ich mir beim Schreiben gedacht: Soll ich es nicht lieber lassen? Ist es nicht anmaßend, dass ich jetzt ein Buch schreibe? Ich bin kein Experte für Lebenskunst, kein Experte für Klimawandel und Naturschutz, kein Experte für Politik, ich bin kein Experte für Glück und Zufriedenheit. Ich bin überhaupt kein Experte für irgendwas.

Und damit bin ich wieder bei den Fragezeichen: Ich weiß, dass ich mit all meinen Fragen und Unsicherheiten nicht alleine bin. Wie das Leben geht, wissen die wenigsten von uns. Aber ich denke, dass wir alle die Sehnsucht haben, den Antworten ein kleines bisschen näher zu kommen und dass die Hingabe an unsere Fragen uns auch ein bisschen mehr miteinander verbinden kann. Was ist mir wichtig? Wie schöpfe ich Kraft? Was bedeutet heutzutage anständiges Verhalten? Wie schaffe ich es, auf mich, andere und die Natur achtzugeben und zugleich lustvoll durch die Welt zu navigieren? Ich hoffe, dass dieses Buch, in dem ich von meiner Lust am Leben, meiner Beziehung zur Natur und dem, was mich umtreibt, was mich aufbaut, meinen Sehnsüchten und entscheidenden Stationen meines Lebens erzähle, dazu einen bescheidenen Beitrag leisten kann.

Kapitel 1

Natur

Bäume

Bäume, das schweigende Wunder des Lebens. Sie berühren mich auf eine schwer zu benennende, nicht greifbare Weise. Sie wirken auf mich wie ein schweigender Aufruf zur Achtsamkeit, zur Wertschätzung und zum Lauschen. Ihre stille Präsenz, die in ihrer Würde auf etwas jenseits der Worte, jenseits der Ratio, jenseits des Benennbaren hinweist, mahnt mich immer wieder zur Demut. Mit ihren oft mehreren Hundert, manchmal mehreren Tausend Jahren Lebenserfahrung strahlen sie Weisheit, Gelassenheit und Verbundenheit aus. Sie sind unbeeindruckt von mir oder dir. Sie stehen schweigend vor uns und erinnern uns daran, dass so vieles im Verborgenen stattfindet. Das Leben eines Baumes findet für uns größtenteils unsichtbar und in Zeitlupe statt. Nur wenn wir ganz genau hinsehen und uns viel Zeit nehmen, können wir mit etwas Glück sehen und begreifen, wie ein Baum lebt und wächst.

Etwas leichter fällt es uns, die Bäume zu hören. Zumindest indirekt. Wenn der Wind in ihre Kronen fährt, entlockt er ihnen mal flüsternd, mal furios die wunderbarsten Klänge. Ich liebe das Rascheln der Blätter dafür, in den Lärm der Welt beruhigende, streichelnde Klänge einzuflechten, die der Seele soufflieren, dass alles weitergeht und Teil der göttlichen Komödie ist …

Das Rascheln scheint mir sagen zu wollen: Wir sind hier und du auch, der Wind ist unser Zeuge. Ausruhend unter Bäumen, im Schatten grüner Kronen, Schutz suchend vor der entblößenden Helligkeit der Welt, umhüllt von verwurzelter Präsenz in entwurzelten Zeiten lauschen wir dem Flüstern des Lebens und fühlen die stille, geheimnisvolle Kraft des Lebens, die keiner Worte bedarf.

Bäume sind keine Einzelgänger. Sie kümmern sich nicht nur aufopferungsvoll um ihren Nachwuchs, sie sind über das unterirdische, vor unseren Blicken geschützte Wurzelwerk auch mit anderen Bäumen im Wald in Kontakt. Sie versorgen und pflegen kranke Artgenossen, warnen sich gegenseitig vor Gefahren, sie haben Empfindungen und sogar ein Gedächtnis.

Ist es die schiere Größe eines Baumes, die dafür sorgt, dass ich mich im Schatten eines Baumriesens oft kleiner und jünger fühle? Fühle ich mich alt, wenn ich im Waldboden ein winziges Bäumchen entdecke, das erst vor Kurzem aus seinem Samen gekrochen ist? Und wie fühle ich mich, wenn ich im Hochgebirge vor einem kleinen, geduckten und verkrüppelten Baum stehe, von dem ich weiß, dass er viel älter ist als ich selbst, dem die Elemente und der karge Boden bisher nur keine Chance gegeben haben, größer zu werden? Wer ist dann groß? Wer ist dann klein? Wer ist dann alt? Wer ist dann jung?

Vor allem in den Tropen gibt es Bäume, die auf eine so verschwenderische Art wachsen und gedeihen, dass einem schwindelig werden kann. Aber bei den meisten Bäumen, vor allem jenen, die in kühleren Bergregionen wachsen, verläuft das Leben im Wandel der Jahreszeiten äußert gemächlich. Möglicherweise haben gerade sie deshalb so eine entschleunigende, beruhigende Ausstrahlung auf mich.

Vielleicht ist es genau wie bei uns Menschen: Das Alter bringt die Würde, die gewachsene Reife. Wobei: Ich habe mich auch schon von jungen Bäumen, winzigen Pflanzen und Moosen in ihren Bann ziehen lassen.

Ich glaube, es ist das sich unserem Verständnis entziehende Wesen und die wortlose Kommunikation der Bäume, die sie so unergründlich und erhaben machen. Sie erinnern mich an schweigsame Menschen. Man weiß nicht, welche Geheimnisse sie bergen.

Ich empfinde vor großen Bäumen Ehrfurcht. Ich glaube, sie rührt daher, dass ich mir im Angesicht dieser schweigend in den Himmel verästelnden Erscheinungen bewusst werde, dass sie sich während ihres ganzen Daseins ungeschützt den Elementen aussetzen. Sie sind einfach da. Sie nehmen die Dinge ganz unbeeindruckt so, wie sie kommen. Ich hingegen hülle mich in Gore-Tex und versuche, meine Zeit bei den Bäumen so zu planen, dass es nicht zu heiß, nicht zu kalt, nicht zu stürmisch und nicht zu regnerisch ist, wenn ich mich der Natur aussetze.

Haben wir Ähnlichkeit mit Bäumen? So wie man sagt, jeder von uns ein Tier hat, dem er entspricht, dem er ähnlich sieht, das ihm in seinem Wesen gleicht? Was wäre ich für ein Baum? Eine schlanke Tanne, die dem eisigen Wind der Taiga trotzt? Eine Schirmakazie, unter deren Ästen die Tiere der Savanne ihren Mittagsschlaf halten? Eine Birke, deren Wurzeln im schwarzen Moor gründen? Eine Weide, die im Nebel melancholisch ihr Haupt neigt? Ich weiß nicht mal, was für ein Tier ich wäre. Menschen haben in mir schon eine Wildkatze, einen Greifvogel oder auch mal einen Königspudel gesehen.

Mystik

Ich habe einmal den Vortrag eines bekannten Astronomen gehört. Er erzählte, dass er Gravitation eigentlich nie wirklich verstanden habe, obwohl er Professor für Astronomie ist. Er berichtete aber auch von einem Moment der Offenbarung.

Nachts, in den Anblick der Sterne vertieft, wurde er sich plötzlich bewusst, dass wir nicht auf dem Planeten leben, sondern der Planet sind. Dass wir Materie sind, beseelt von etwas Größerem. Wir sind Sternenstaub, aber auch Teil eines kosmischen Bewusstseins, sagte er. Und insofern sind wir, wenn wir kontemplativ in den Sternenhimmel schauen, das Universum, das sich selbst betrachtet. Subjekt und Objekt zugleich. Ich war so ergriffen von seinem Vortrag, dass ich Tränen in den Augen hatte: Wir sind das Universum, das sich selbst bestaunt.

Jeder Stein, jeder Baum, jeder Mensch – wir genauso wie alles uns Umgebende – ist Teil der Schöpfung, die sich in jedem Augenblick neu schöpft, Teil des großen Geheimnisses des Lebens. Des Lebens, das man vermessen, benennen und erforschen kann und des gleichen Lebens, das uns im Grunde unerklärlich ist und bleiben wird. Das, was uns erfasst, wenn wir uns in der Betrachtung, dem Fühlen, eines Baumes, eines Sternes verlieren, ist nichts anderes, als würden wir uns mit ungeteilter Aufmerksamkeit mit uns selbst beschäftigen. Denn wie alle anderen Wesen und Dinge sind wir Teil des unteilbaren Universums und betrachten uns in der Beschäftigung mit dem vermeintlichen Fremden immer auch selbst.

Uns ist im Zuge unserer Entwicklung – vor allem seit der Aufklärung – unsere mit allen Sinnen gefühlte enge Beziehung zur Natur immer mehr abhandengekommen. Der Mensch hat den Glauben an Wunder gegen den Glauben an die Wissenschaft eingetauscht. Die Natur wurde entmystifiziert und in messbare und berechenbare Teilbereiche fragmentiert.

So richtig und wichtig ich es finde, dass der Mensch mündig wurde, indem er die Allmacht und alleinige Deutungshoheit der Kirche hinter sich ließ, so sehr blieb dabei – leider, wie ich finde – der Glaube und das Verneigen vor dem Nichtmessbaren, dem Größeren, Höheren auf der Strecke. Der Mensch löste sich von seinem Glauben an die göttliche Schöpfung und wurde so selbst zum Schöpfer.

Heute wissen wir genau, wie hoch jeder Berg und wie tief jeder Ozean ist. Wir wissen, wie lange das Eichhörnchen schwanger ist, wie tief die Wurzeln des Bergahorns sich in steinigen Boden bohren können und aus wie vielen Eiweißmolekülen sich die DNA der Stechmücke zusammensetzt. Die Welt ist vermessen und analysiert. Wir glauben an das, was wir bestimmen und in Laboren untersuchen können. Was sich nicht empirisch mit den Mitteln der Naturwissenschaften erklären lässt, findet nicht statt. Die Tiefe und Mystik, die allem Leben innewohnt, geht dabei häufig verloren.

Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden. Ich ziehe den Hut vor Wissenschaftlern, vor Menschen, die uns mit dem Blick durch die Lupe das Leben erklären und die komplexen Abläufe der Welt sichtbar machen, die uns durch ihr unermüdliches Forschen jene Errungenschaften der modernen Welt geschenkt haben, die das Leben so viel leichter, sicherer und besser machen. Ich ziehe den Hut vor ihrer Geduld, ihrer Beharrlichkeit, ihrer Beobachtungs- und Abstraktionsgabe, vor der Akribie, vor ihrer bohrenden Neugier, vor ihrer Intelligenz. Für mich gilt »Follow the science«. Aber ich glaube auch, dass die Natur nicht ausschließlich mit den Naturwissenschaften erfasst werden kann.

Wenn ich den Versuch unternehmen möchte, die Natur wirklich zu verstehen, zu begreifen und (in mir) zu spüren, dann brauche ich dafür mehr als die Naturwissenschaft, dann brauche ich auch mein eigenes unverstelltes und unvoreingenommenes Empfinden.

Ich bin kein Forscher. Wenn ich nachts in einen wunderschönen Sternenhimmel gucke, muss ich nicht unbedingt wissen, in welchem Sternbild da oben Weiße Zwerge, Planeten oder Sterne funkeln und wie viele Lichtjahre sie von mir entfernt sind. Wenn ich dem betörenden Gesang der Nachtigall lausche, wird ihre Musik für mich nicht noch schöner, wenn ich weiß, in welcher Frequenz sie ihr Lied trällert. Wenn ich im Schatten eines Baumes ruhe, bin ich nicht entspannter, wenn ich weiß, wie alt dieser Baum werden kann. Ich möchte meine Ratio nicht meine Emotionen dominieren lassen und permanent analytisch unterwegs sein. Ich möchte das Stille, das Feinstoffliche mit all meinen Sinnen spüren, ich muss nicht immer und überall allem auf den Grund gehen.

Die vermeintlich auf alle Fragen eine exakte Antwort habende Naturwissenschaft kann uns dazu verleiten, unser Gefühl beim Naturerlebnis außer Acht zu lassen, es der kalten Analyse zu opfern. Wir vergessen dann, dass uns die Wissenschaft nicht die tiefste Wahrheit über die Natur liefern kann. Die letzte Antwort kann nie gegeben werden.

Selbst wenn wir uns der Natur mit allen Sinnen, mit allem Wissen und allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln nähern, werden wir sie nie ganz erfassen und begreifen können. Wir können die tiefste Wahrheit niemals verstehen. Sie lässt sich nicht messen und auch nicht denken.

»Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist«, heißt es im 2. Buch Mose. Ich finde es sehr schwer, Worte für das Göttliche zu finden. Das Wort Gott ist vermenschlicht, besetzt, hat für viele aufgrund der zahlreichen Verbrechen, die im Namen von Religionen begangen wurden und werden, eine negative Konnotation. Deshalb spreche ich nicht von einem Gott, sondern vom Göttlichen oder der Schöpfung, wenn ich mich auf das Mysterium des Lebens beziehe, die höhere Ordnung, die verbindende Kraft, die unter allem liegt, was Worte nicht fassen können, von dem man sich kein Bild machen kann.

Ich verstehe die Aufforderung aus dem Alten Testament so: Wir können Licht nicht festhalten. Wir können niemals alles verstehen. Wir können das Göttliche nur erfahren, aber niemals zum Objekt unseres Verstandes machen. Wir können nicht den Zauber in uns denken, in dem wir selber stattfinden. Und schon gar nicht, indem wir versuchen, ihn zu analysieren und zu erklären und ihm so das Göttliche und die sich daraus ergebende Verpflichtung zu einem ethischen und moralischen Umgang miteinander und mit der Natur absprechen.

Aus Streben nach Überschaubarkeit neigt der Mensch zum Kartografieren und zum Entmystifizieren. Er hat sich eine Haltung zugelegt, aus der heraus er sich die Dinge erklären kann. Und vergisst dabei das, was Henry David Thoreau in seinem Buch »Walden« vor fast 170 Jahren so schön als Frage formuliert hat: »Kann er (der Mensch) sich denn auf seine Unwissenheit besinnen, wie es für sein inneres Wachstum erforderlich wäre, wo er doch so oft von seinem Wissen Gebrauch machen muss?« Und weiter: »Die besten Seiten unseres Wesens bleiben uns gleich dem Flaum frischer Früchte nur dann erhalten, wenn wir sie sehr behutsam behandeln. Und doch gehen wir weder mit uns noch mit anderen so zart um.«

Obwohl selbst Teil einer sich stets weiterentwickelnden, niemals ruhenden Bewegung, versucht der Mensch aus Angst die Übersicht zu verlieren, abzusichern, was von Natur aus vergänglich und unbeständig sein muss. Die Natur plant nicht, sie ist fluide, schafft Optionen, ist immer flexibel. Was für eine Freiheit in diesem Wissen liegt, was für eine Fülle und Beweglichkeit! Warum versuchen wir ständig, sie einzugrenzen?

Ich habe den Eindruck, dass es in letzter Zeit eine verstärkte Rückbesinnung auf das Heilige, das Göttliche gibt. Demut, Heilung, Achtsamkeit, Spiritualität und Stille erhalten im Bewusstsein vieler Leute einen immer größeren Stellenwert. Pandemie, Krieg und die immer krasser zu Tage tretenden Auswirkungen des Klimawandels führen uns wohl deutlicher als je zuvor die Fragilität langjähriger Gewissheiten und die Endlichkeit aller Dinge vor Augen sowie unsere Sehnsucht nach Verbindung und die Notwendigkeit einer inneren Verankerung.

Das Bewusstsein und die Intelligenz eines Menschen kann man nicht sehen, man spürt nur die Wirkungen. Wie im Wald findet auch im restlichen Leben ein Großteil der Prozesse und Abläufe im Verborgenen statt. Das, was wir sehen, ist also immer nur ein Ausschnitt von etwas viel Größerem. Allein dieses Wissen sollte für mehr Demut gegenüber der Natur und all dem sorgen, was wir nicht wissen, wahrscheinlich niemals wissen werden oder mit Worten werden erklären können, was aber dennoch die Textur unseres Lebens darstellt. Schöner als Ezra Pound kann man das nicht sagen: »Regungslos war ich, Baum mitten im Wald und wusste die Wahrheit nie gesehener Dinge.«

Empfindsamkeit

Manchmal begegnet die Natur mir durchblutet, lebendig, kraftstrotzend, unkaputtbar und bedrohlich. Scheinbar undurchdringliche Dschungel, schroffe Berge, heftige Stürme, schneidendes Eis. Manchmal wirkt sie auf mich fragil, bedroht, bedürftig und hochsensibel. Ein zarter Schmetterling, ein junger Trieb, der mit einem unachtsamen Schritt plattgemacht werden kann, ein sich nach Regen sehnender Wald. Mal ist sie brutal und kieferzerschmetternd, mal verletzlich.

Ich glaube, meine früheste Erinnerung an die Natur ist folgende: Ich schaue aus einem Fenster des oberen Stockwerks eines, so fühlt es sich an, Bauernhauses. Vielleicht irgendwo in Deutschland. Oder Österreich. Die Landschaft ist hügelig. Direkt vor mir ein Weg, der am Hof vorbeiführt. Hinter dem Weg ein weites Feld, leicht erhaben, eine sehr große Koppel. Ein Unwetter sorgt für dramatische, aufgeladene Stimmung. Es regnet. Es ist dunkel. Es ist Nacht. In schwachen Umrissen sehe ich auf der Koppel einen Baum und zu seiner Rechten ein Pferd. Plötzlich erhellt ein gleißender Blitz die Szenerie, kurz darauf zerreißt ein dröhnender Donner den Klangteppich des fallenden Regens. Erschrocken sich aufbäumend steht das Pferd imposant in seiner ganzen wilden Kraft und Pracht auf den Hinterläufen, hell erleuchtet im nächtlichen Sturm. Wilder ungebremster Ausdruck der Angst eines schönen, anmutigen Wesens in ungezügelter Natur. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich war wohl fünf, sechs Jahre alt. Mein kindlicher Horizont war um eine unvergessliche Erfahrung bereichert, dieses Bild des starken und doch so verängstigten Pferdes prägte sich mir für immer ein.

So wie ein anderes Bild aus dem gleichen Urlaub. Als ich morgens in der riesigen Bauernstube mein Frühstücksei köpfte, entdeckte ich in dem offensichtlich bereits angebrüteten Ei ein Embryo. Jetzt erschrak ich zu Tode. Als Stadtkind, das sich bis dahin nie viel Gedanken darüber gemacht hatte, wo Eier, Milch und Fleisch eigentlich herkommen (außer aus dem Supermarkt), war das halbfertige Küken eindeutig ein bisschen zu viel Natur. Dramatik: ja; Anmut wie beim Pferd im Gewitter: nein.

In der Natur fühle ich mich eingebettet in die Schöpfung, ich bin ein Geschöpf unter vielen. Wie oft war ich tief berührt, wenn im Morgengrauen die Welt aus der Dunkelheit ins Licht trat und sich mit all ihren Farben in majestätischer Würde zeigte. Wenn ich in den Bergen lief, um mich nur Licht war und mir vor Glück die Tränen in die Augen schossen. Es sind Momente wie diese, Momente der äußersten Verbundenheit, die Wasser sind für den Durst meiner Seele, meines Herzens. Momente, von denen ich im Augenblick des Erlebens weiß, ich werde sie fortan in mir tragen, weil sie mich tiefer ins Leben geführt haben und damit tiefer in mich selbst.

Wenn wir uns der Natur aussetzen, wirkt sie ungefiltert auf uns ein. Zeigt sie sich uns von ihrer rauen Seite, zwingt sie uns, unserer eigenen Leidensfähigkeit zu begegnen – die eigene Fragilität zu spüren, die auf unseren eigenen Willen trifft. Die im Alltag von uns oft nur noch abstrakt wahrgenommene Natur wird dann zu einer sinnlichen Erfahrung. Wir erleben jetzt die in ihrer Feinheit kraftvolle Verbindung mit der uns umgebenden Welt. Wenn ich durch die Natur wandere, habe ich oft das Gefühl, tiefer in meine Existenz zu rutschen. Mein Kopf mit all seinen Kapriolen fällt dann der Schwerkraft anheim und ruht nun entspannt mit klarer Ausrichtung auf meinen Schultern, getragen von Füßen, die um die nächsten Schritte wissen. Innere Ruhe durch äußere Bewegung. Eigentlich müssten wir in einem permanenten Sinnestaumel durch die Welt gehen. Umso wütender macht es mich immer wieder, wie achtlos wir mit der uns anvertrauten Schöpfung umgehen. Um dem Flüstern der Natur lauschen zu können, müssen wir innehalten, still werden und uns hingeben. Wir müssen unsere empfindlichen, im lauten Alltag vielleicht verkümmerten Antennen ausfahren, um die Frequenz empfangen zu können, auf der die Natur mit uns kommuniziert, um die leisen Töne aus dem Lärm des Alltags herauszufiltern. Wenn wir diese inneren, feinfühligen Antennen regelmäßig trainieren, lassen wir unsere Sinne spüren, was sie eigentlich spüren können, um so unsere natürliche Fähigkeit zu erhalten, einer Welt zu lauschen, die sich unserer Sprache entzieht.

Die Natur schweigt, aber gleichzeitig scheint sie zu flüstern. Spricht sie oder schweigt sie, oder sind diese Begriffe zu vermenschlichend? Will sie aktiv mit uns in Kommunikation treten oder ist es die Präsenz des Lebens an sich, die wir wahrnehmen? Ich glaube, sich regelmäßig darin zu üben, sich vor der Größe der Schöpfung zu verneigen und sich so daran zu erinnern, dass es etwas gibt, das größer ist als wir, macht uns empfänglicher für die stillen Botschaften des Lebens, des Göttlichen.

Um mich neu auszurichten, hilft mir oft schon ein Tagesausflug in die Natur. Dort erwache ich, öffne mich ohne mein Zutun dem Leben, das ich zuvor manchmal ausgesperrt hatte.

Die Natur nehme ich noch bewusster wahr, wenn ich an Orten bin, die ablenkende Störreize ausblenden oder schlucken. Am meisten sind meine Sinne geschärft, wenn ich ganz oben oder ganz unten bin – also mehrere Tausend Meter über dem Meeresspiegel oder einige Meter darunter. Um mir eine neue, mir vollkommen unbekannte Welt erschließen zu können, habe ich vor ungefähr 25 Jahren den Tauchschein gemacht und bin seitdem in einige der sieben Weltmeere abgetaucht. Vollkommen auf das Betrachten ausgerichtet zu sein, kann für mich eine tiefgehende Erfahrung sein. Vom scheinbar unendlichen kühlen Blau umgeben, verlangsamt sich die Welt. Staunend bewundere ich dann das mich tragende und umhüllende maritime Universum. Anmutige Mantarochen sah ich über mich hinweg schweben, ich tauchte durch riesige, silbrige, das Sonnenlicht reflektierende Thunfischschwärme, versuchte an pfeilschnellen Pinguinen dranzubleiben, beobachtete Meeresschildkröten, kam verspielten Robben nahe, die mit ihren scharfen Zähnen übermütig an den Taucherflossen rissen, erkundete versunkene Schiffswracks und tauchte durch riesige Höhlen im Dschungel. Manchmal war das Wasser warm wie in der Badewanne, manchmal zitterte ich trotz eines dicken Neoprenanzuges.

Und was für eine Gänsehaut hatte ich, als ich zum ersten Mal mit Haien tauchte. Riesige Hammerhaie tauchten vor den Galapagosinseln im Blau des Pazifiks aus der Dunkelheit auf. Ich schaute sie gebannt und wie hypnotisiert an. Ich weiß noch, dass ich damals nichts denken konnte. Das Kräfteverhältnis war eh klar. Es blieb Demut. Und Dankbarkeit, mit ihnen zumindest für einige Minuten am gleichen Ort sein zu dürfen. Was die Tiefe und die Höhe (davon später mehr) eint, ist, dass sie schwer zugänglich sind. Wenn man sich entlegene Orte erarbeitet, gewinnt man allein dadurch eine andere Form des Respekts.

Respekt

Meine Tochter Zoe ist im Herbst geboren, und ich kann mich noch genau erinnern, wie ich mit ihr – als sie rund ein halbes Jahr alt war – bei den ersten wärmenden Sonnenstrahlen in den Park des Berliner Schlosses Charlottenburg ging: der erste Frühling im Leben meiner Tochter! Ich war aufgeregt.

Nach dem Grau des Winters leuchteten die von der Sonne beschienenen Grashalme satt. Ich nahm Zoe aus dem Kinderwagen und legte sie vorsichtig auf die Wiese. Der Wind bewegte zart die Halme. Zoe schaute neugierig auf das helle Gras. Sie sah fasziniert aus. Ich war gerührt und sagte: »Das ist Gras, mein Engel«, und fühlte mich etwas einfältig aufgrund dieser nicht gerade überkomplexen Aussage. Aber der Anblick meiner Tochter, die auf der ersten Wiese ihres Lebens über das grüne Meer der für sie nicht gerade kleinen Grashalmen blickte, bewegte mich. Natur, die Natur entdeckt. Ein kleiner Mensch, der alles zum ersten Mal sieht! Was ging vor in ihren Synapsen? Was sah sie? Was hörte sie? Was roch sie?

So sehr mich Zoes erste halbwegs bewusste Begegnung mit der Natur rührte, so sehr hat mich ihr Verhalten bei Ausflügen in die Natur manchmal irritiert. Natürlich wusste ich, dass sie sich als gebürtige Berlinerin in der Stadt vertrauter bewegt als im Wald, trotzdem ärgerte es mich immer mal wieder, wenn ich sah, wie sie demonstrativ – so empfand ich es zumindest – angeekelt war, wenn sie auf Insekten und Schnecken traf. Ich hatte in diesen Momenten das Gefühl, es nicht geschafft zu haben, mein Kind naturverbunden zu erziehen, das Gefühl versagt zu haben, sie in ihrer natürlichen Neugier auf das Leben richtig zu begleiten.

Manchmal schämte ich mich für mein hartes Urteil. Wenn sie – so wie viele andere kleine Mädchen auch – beim Anblick eines für sie offenbar ekelhaften Tieres aufschrie, fiel es mir schwer, Zoes »Verzweiflung« ernst zu nehmen. Ich hatte Probleme damit, diese schrillen Töne als genuin und authentisch wahrzunehmen. Kreischt man wirklich aus tiefstem Herzen, wenn man einen Tausendfüßler, eine Nacktschnecke, oder eine Spinne sieht? Ist das nicht vielmehr gesellschaftlich anerzogenes Verhalten?

Gleichzeitig war ich mir darüber im Klaren, dass das Ideal von meinem Kind als vollkommen freies, unvoreingenommen liebendes, furchtloses und allem und jedem gegenüber aufgeschlossenes Wesen in der Natur nur eine romantische Vorstellung war. Mein naiver Wunsch. Eine Projektion. Meine Sehnsucht nach dem natürlichen Gleichgewicht der Dinge – oder vielleicht eher nach einem über- oder unnatürlichen Zustand. Denn ist es nicht natürlich und (überlebens-)wichtig, sich vor manch Unbekanntem in der Natur zu ekeln und zu fürchten? Es ist natürlich, sich eine vermeintlich ursprüngliche Welt zu wünschen, in der alle Dinge in Balance sind und ihren Platz haben und alle Kreaturen permanent neugierig aufeinander sind, alle Tierchen sich verliebt beschnuppern und sich einfach freuen, zu sein. Ist es nicht eine illusorische Vorstellung, dass meine Tochter in der Natur eine nie endende Party der Neugier feiert, weil sie permanent beeindruckt ist von der Schönheit und dem Zauber der Flora und Fauna? Als würde sie in jedem Moment jubilierend und aus tiefstem Herzen dankbar sein und mir – eine kleine Harfe spielend – engelsgleich ins Ohr flöten: »Danke, Papa, dass du mir die Natur nahegebracht hast. Die Natur in all ihrer Mannigfaltigkeit, der ich ja selbst entspringe und die mich auf so wundersame Art und Weise durchfließt. Juchhei!«

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich als Kind beim Anblick von Kriech- und Schleimzeug nicht lauthals »Iiihh« gerufen. Aber ich habe anderes gemacht. Ich habe Schlimmeres gemacht. Ich habe Tiere gequält.

Ich war mit meiner Mutter, einer Freundin meiner Mutter und deren Sohn, der ungefähr so alt war wie ich, in Holland. Am Meer. An den Namen des Jungen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch genau, dass er Sommersprossen und rotblonde Haare hatte und fast einen Kopf größer war als ich. Ein weißer Spargel. Mit ihm baute ich neben unserem Reetdach-Häuschen am Strand einen kleinen Garten, eine Art Mini-Bonsai-Paradies aus Blättern, Stöckchen, Steinchen und kleinen Wegen. Wir fanden diese kleine von uns erschaffene Welt gut, aber irgendwie auch ein bisschen langweilig. Wir brauchten etwas, das sich bewegt. Wir entschieden uns für träge bienenartige Insekten, die nicht stachen, wenn man sie griff. Trotz aller Trägheit neigten sie doch dazu, unsere schöne neue Welt verlassen zu wollen. Also entschieden wir uns kurzerhand dafür, ihnen die Flügel abzureißen. Die kleinen Racker blieben nun und liefen über unsere Wege, so wie wir es uns vorgestellt hatten, auch wenn sie etwas desorientiert wirkten. Wir waren zufrieden – und sahen, dass es gut war. Da war, bis unsere Mütter kamen, kein schlechtes Gewissen.

Ein paar Jahre später, ich war neun oder zehn Jahre alt, war ich mit meinem Vater und meiner kroatischen Stiefmutter im Sommerurlaub in Jugoslawien, im heutigen Kroatien. Mein Vater hatte ein kleines Häuschen mitten in der Natur gemietet, irgendwo bei den Plitvicer Seen. Das einfache Haus und die Umgebung waren wunderschön. Es gab weit und breit keine Nachbarn, kein weiteres Haus, nur uns, und ich empfand es als wahnsinnig aufregend, alleine in der Natur unterwegs zu sein. Allerdings war ich kein unerschrockener Abenteurer wie meine Vorbilder Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Ich zog zwar meine Kreise, blieb aber immer in der Nähe des Hauses. Irgendjemand hatte mir erzählt, in Jugoslawien gäbe es Schlangen, giftige Schlangen! Nur bekleidet mit meiner Badehose, meinen Gummistiefeln und meinem am Gürtel baumelnden Fahrtenmesser streunte ich durch die üppige Natur. Ich war bereit zuzustechen, hatte aber zugleich eine diffuse Angst vor dem Fremden, dem Gefährlichen, dem Unkalkulierbaren. Aber das aufregende Gefühl, an der Grenze der Zivilisation zur Wildnis alleine unterwegs zu sein, war stärker.

Es geschah jedoch – nichts. Absolut nichts. Ich drehte tagein, tagaus meine Runden, bekam aber kein einziges gefährliches Tier zu Gesicht, nicht mal eine Blindschleiche. Mein Vater, ob er nun meine Frustration spürte oder nicht, zeigte mir eines Morgens ein großes, spinnenartiges Insekt. Er wies mich auf die beeindruckend langen Beine hin, erklärte mir dann noch dieses und jenes, was mich in dem Moment jedoch nicht die Bohne interessierte. Als er mit seinen Ausführungen fertig war, richtete ich mich auf und trat das Tier tot.

Mein Vater war zu schockiert, um auszurasten. Es war allerdings auch nicht nötig. Ich wusste im selben Moment, dass das, was ich gerade getan hatte, absolut nicht in Ordnung war. Mein Vater schaute mich ungläubig an, fing an, wütend auf mich einzureden und mich überkam ein ähnliches Gefühl wie damals am Strand in Holland. »Was ist los mit dir? Was stimmt nicht mit dir? Hast du einen Knall?« Ich schämte mich.

Muss man Natur lernen? Muss man Demut vor etwas Lebendigem, der Schöpfung erlernen? So wie man Achtsamkeit, Sensibilität und soziale Konventionen lernen muss? Eigentlich würde ich diese Fragen gerne mit Nein beantworten. Dieser Respekt vor allem Leben sollte doch eigentlich in jedem von uns von Geburt an drinstecken und nicht erst mühevoll über Jahre kultiviert werden müssen. Aber zumindest für mich galt das offenbar nicht. Ich musste mich dem Unbekannten langsam annähern. Ich musste die Natur erst begreifen und erfühlen, um ihr wirklich nah sein und sie ehren zu können.

Meine ersten Erfahrungen mit Natur und Bergen (aus heutiger Sicht müsste ich eher Hügel sagen) sammelte ich im Siebengebirge am Rhein. Meine Mutter kam aus Niederholtorf, einem Dorf bei Bonn. Ich liebte es, mit meiner Mutter ihre Familie zu besuchen. Sie war die Einzige aus ihrer sehr katholischen Familie, die der Enge des Dorfes entflohen und nach West-Berlin gezogen war, um dort Lehramt zu studieren.

Später waren die Fahrten nach Niederholtorf meine ersten Reisen allein, viele Stunden mit dem Zug durch die damalige DDR und die alte BRD. Ich als gefühlt einzig alleinreisendes Kind unter lauter Erwachsenen. Cool!

In Niederholtorf hatte mein Opa Hannes eine Bäckerei. Der Geruch von frisch Gebackenem ist für mich seitdem einer der schönsten Gerüche der Welt. Und ich durfte sogar in die Backstube hinter dem Tresen, sozusagen Backstage. Es war meine erste VIP-Erfahrung. Ich kannte jemanden, der dort etwas zu sagen hatte, schließlich gehörte meinem Opa der Laden.

Und ich liebte die Spielabende mit meinen Cousins, meiner Tante und meinem Onkel. Zuhause spielte ich nur sehr selten mit meinen Eltern. Aber meine Oma arbeitete in Bonn bei »Spiele König«, saß also direkt an der Quelle und brachte oft die neuesten Spiele mit.

Spielen wurde bei meiner Familie am Rhein sehr ernst genommen, trotzdem oder gerade deshalb ging es dabei laut und leidenschaftlich zu. Besonders gut erinnere ich mich an Scotland-Yard- und Sagaland-Partien, bei denen man die kleinen grünen Plastik-Tannen auf dem Spielfeld umdrehen musste, um sich die darunter verborgenen Symbole zu merken.

Aber noch mehr als die Plastikbäume auf dem Spielfeld liebte ich die echten Bäume an den Hängen des Siebengebirges. Am tollsten fand ich den Drachenfels. Von dort oben sah ich den Rhein sich groß und breit durch die sanft hügelige Landschaft schlängeln. Und hier erzählte mir meine Tante Dorothee die Legende vom Rheingold und Siegfried, der den Drachen erschlagen haben soll, in dessen Blut er badete, um unverwundbar zu werden. Während ich als kleines Kind gebannt dieser Sage lauschte, konnte ich nicht ahnen, dass ich über 20 Jahre später selbst in »Die Nibelungen« den Siegfried spielen würde.

Wenn im Frühjahr die Kröten- und Froschwanderungen in vollem Gange waren, trugen mein Onkel Günter, meine Cousins und ich die Tiere auf die andere Seite der Landstraße, damit sie sicher zu ihren Laichgebieten gelangen konnten und hofften, dass sie den Rückweg ohne unsere Hilfe überleben würden. 35 Jahre später machte ich das gleiche mit meiner Tochter und meinem besten Freund Binali in Costa Rica, als Zoe dort ein halbes Jahr zur Schule ging.

Im Siebengebirge kletterten meine Cousins und ich auf Hochsitze, wetteiferten, wer den schönsten Stock fand und versuchten Tierspuren zu identifizieren. Für mich war dieses Dorf, umgeben von Wäldern, heile Bilderbuch-Welt, das andere Deutschland. Die Natur war hier so nah. Man ging aus dem Haus und war mittendrin, es war so anders als zu Hause in Kreuzberg, wo das Natürlichste, was man unmittelbar vor der Haustür fand, Hundehaufen waren.

In Niederholtorf fütterte ich mit meiner Oma Änne den Bussard in ihrem Garten an. Wir legten klein geschnitten Pansen auf einen Baumstumpf und zogen uns zurück. Wir mussten nicht lange warten, bis der Vogel erschien und sich vom Himmel stürzte.

Zu Ostern versteckte mein Opa Hannes im Garten Eier. Erst wenn es knackte, wusste man, dass man eines gefunden hatte, denn er hatte die seltsame Angewohnheit, die hart gekochten Ostereier unter ausgestochenen Grassoden zu verstecken. Ich habe es nicht ein Mal geschafft, ein heiles Ei in der Hand zu halten.

Das Leben in Niederholtorf war so, wie ich es sonst nur aus Kinderbüchern kannte. Es war mein persönliches Bullerbü. Hier konnte man sein Fahrrad überall unabgeschlossen stehen lassen, und auf der Straße grüßte jeder jeden freundlich.

Berlin war anders. Meine Grundschule war am Hermannplatz in Neukölln, und auf meinem Schulweg, dem Kottbusser Damm, kamen mir morgens schon die ersten Besoffenen aus dem »Blauen Affen« entgegen. Hätte ich mein Fahrrad in der Schule nicht angeschlossen, hätte ich 100-prozentig nach Hause laufen können.

Liegt meine heutige Naturverbundenheit daran, dass ich als Kind immer wieder durch die Wälder im Siebengebirge gestreift bin? Oder liegt es an den Falken?

Als Kind war ich bei den »Falken«, einem Kinder- und Jugendverband, der aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen war und sich für die Verwirklichung des Sozialismus einsetzte. Aber das war mir ehrlich gesagt ziemlich schnuppe. Als Kreuzberger Etagenwohnungs-Kind ging es mir vielmehr darum, dass man mit den Falken raus in die Natur konnte. Unsere Gruppe hieß »Lila Wolke«. Wir verbrachten Wochenenden im Wald, schnitzten Holzmesser und batikten Halstücher. Abends schmetterten wir am Lagerfeuer zur Gitarre »Gebt Sacco und Vanzetti frei!«, ein Lied des linken Liedermachers Franz Josef Degenhardt. Auch wenn es sich gut anfühlte, am Lagerfeuer aus Leibeskräften gegen die Ungerechtigkeit der Welt anzusingen, viel interessanter waren damals für mich die Naturerlebnisse und die ersten zarten Kontakte zu Mädchen. Beim verqueren und hilflosen Versuch, eine Annäherung ans andere Geschlecht herzustellen, legte ich der schönen Johanna eine tote Maus in den Schlafsack und freute mich diebisch, als ich beim ins Bett gehen ihren spitzen Schrei hörte.

Als Zoe klein war, bin ich mit ihr so oft wie möglich in die Natur gegangen, wesentlich häufiger als meine Eltern mit mir. Und trotzdem war da oft dieses »Iiihh«.

War mein Onkel Günter für mich der bessere Natur-Lehrer als ich für meine Tochter? Oder war ich genauso brauchbar? Nur, dass hier kein verzerrtes Bild von Zoe entsteht: Sie liebt die Natur. Sie hat einen mikroskopischen Blick selbst für die allerkleinsten Blumen, wir haben stundenlang zusammen Muscheln gesammelt, Staudämme in trüben Bächen errichtet und Höhlen im Wald gebaut, während die Stunden verflogen. Zoe und ich hatten immer Spaß, wenn wir zusammen draußen waren, auch wenn ich Zoe – durch und durch Stadtkind – jedes Mal, wirklich jedes Mal, überreden musste, mit mir in die Natur zu kommen.

Manchmal, wenn Reden nichts mehr half, habe ich die Reformpädagogik mit ihrem Selbstbestimmungsrecht des Kindes Reformpädagogik sein lassen und bestimmt: »Jetzt geht es in den Wald!« Ich tat es ohne schlechtes Gewissen, denn ich wusste: Sobald Zoe erst mal raus aus der Stadt war, würde die Natur mit all ihrem Zauber und ihren Überraschungen sie wieder in ihren Bann ziehen.

Günter war Chemiker. Er verstand die oft unsichtbaren Abläufe in der Natur und konnte sie plastisch und nachvollziehbar beschreiben. Ich lernte viel und hatte viel Spaß, wenn er mir im Wald erklärte, was die Welt im Inneren zusammenhält. Ich weiß, dass Günter damals mehr über die Natur wusste, als ich je wissen würde. Trotzdem habe ich mich bemüht, für Zoe der Mensch zu sein, der Günter für mich war. Der Mensch, der einem die Natur, soweit er es kann, erklärt und näherbringt und das Ganze mit jeder Menge Spaß und Lust auf mehr.

»Wenn ich durch die Natur wandere, habe ich oft das Gefühl, tiefer in meine Existenz zu rutschen.«

Bewahrung

Ich war einmal unterwegs in Assam, im Norden Indiens, am Fuße des Himalayas. Ich saß mit Vaivav, einem jungen Travelguide, der sich »Green Tourism« auf die Fahnen geschrieben hatte, in einer nachlässig zusammengezimmerten Bretterbude. Wir warteten auf die Fähre, die uns nach Majuli, eine der größten Flussinseln der Welt im gewaltigen bis zu zehn Kilometer breiten Brahmaputra-Strom bringen sollte. Als der Kellner den heißen und unglaublich süßen Chai brachte, fegte er mit einer Bewegung seines angewinkelten Unterarms die leeren Plastikbecher vom Tisch, die zu ihren Kollegen auf den Boden fielen. Ich musste über seine lässige Nonchalance und über die in Indien weitverbreitete Achtlosigkeit in Bezug auf Verschmutzung des unmittelbaren persönlichen Umfelds lachen. Pragmatismus in einem Land ohne funktionierende Müllentsorgung. Der eigene Körper wird gepflegt wie ein Tempel, der ihn umgebende Raum oft nicht.

Nach drei Chais war die abenteuerlich überladene Fähre endlich zum Ablegen bereit. Wir stellten uns an die Reling und noch bevor wir 30 Meter vom Ufer entfernt waren, kam ein Chai-Wala, einer der in Indien allgegenwärtigen Teeverkäufer. Aus riesigen verbeulten, blechernen Teekesseln für umgerechnet wenige Cents servieren sie köstlichen aus Wasser, Milch, Schwarzem Tee, Zucker, Kardamom und anderen Gewürzen aufgebrühten Tee. Jeden Tag Millionen von belebenden Kalorienbomben in kleinen Plastikbechern. Während er vom Chai nippte, erzählte Vaivav mir begeistert von der unberührten Natur in Arunachal Pradesh im äußersten Norden Indiens, wo wir in zehn Tagen sein würden. Während er mir mit leuchtenden Augen seine Vision, mehr Reisende für verantwortungsvollen Ökotourismus zu begeistern, erklärte, schmiss er seinen mittlerweile leeren Teebecher achtlos über Bord. Ich blinzelte. Hatte ich das gerade tatsächlich gesehen? Hatte der Ökotourismus-Guide gerade vor seinem Kunden einen Plastikbecher in den vielen Indern heiligen Fluss geworfen? »Hast du das gerade wirklich gemacht?«, fragte ich Vaivav. »Was?« »Deinen Plastikbecher in den Fluss geworden.« »Ja. Warum?«, fragte er völlig arglos. »Findest du es nicht ironisch, Müll in den Fluss zu werfen, während du über Ökotourismus sprichst?«, fragte ich fasziniert. »Aber was hätte ich denn mit dem Becher machen sollen?«, fragte mein Reiseführer scheinbar ohne das geringste Schuldbewusstsein. »Ihn mit auf die Insel nehmen und dort entsorgen«, war mein naheliegender Vorschlag. Er lachte. »Dann hätten die Leute ihn dort in den Fluss geworfen.« Ich verstand das Dilemma. Das Problem fand auf einer höheren Ebene statt. Trotzdem: Ich fand (und finde) es falsch, dass jemand (vor allem ein Ökotourismus-Guide) Müll in einen Fluss schmeißt. Selbst wenn wir das Gefühl haben, dass unser Beitrag in einem größeren System verschwindend gering ist, sollte dies kein Alibi für Resignation sein. Wenn weiterhin alle Menschen ihren Müll in den Fluss werfen, entsteht kein Handlungsdruck, endlich eine nachhaltigere Form der Entsorgung zu etablieren. Einer musste anfangen, einer musste mit gutem Beispiel vorangehen. Warum nicht Vaivav, warum nicht ich, warum nicht jeder von uns? Fängt nicht jeder Wandel mit der eigenen Geisteshaltung, der eigenen Selbstkultivierung an?

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich ein paar Jahre später in Peru. Nach einer anstrengenden Trekkingtour auf dem Huayhuash-Trail war ich mit einem von einem Außenbordmotor angetriebenen Kahn, der im peruanischen Dschungel das Transportmittel für Mann und Maus ist, auf dem Weg zur sagenumwobenen Inka-Ruinenstadt Machu Picchu unterwegs. Unser Boot glitt durch das warme Wasser des Urubambas, und ich schaute durch den scheinbar undurchdringlichen und so intakt wirkenden Dschungel, von dem ich wusste, dass in ihm einige der größten Kokain-Plantagen der Welt versteckt sind. Da bekam ich mit, dass die anderen Passagiere ihre leeren Bierdosen und Chipstüten einfach in den unter uns hinweggleitenden Fluss warfen.