Unter dem Sternbild der Trauer - Juri Rytchëu - E-Book

Unter dem Sternbild der Trauer E-Book

Juri Rytchëu

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Beschreibung

Dicht am Polarstern glitzern im Sternbild der Trauer jene Sterne, die aus den Seelen der Toten hervorgegangen sind. Dort sieht der Schamane Analko auch seinen Sohn Atun, der ein Opfer der Umwälzungen geworden ist, die über die Bewohner der Wrangel-Insel hereingebrochen sind. Den Stoff zu diesem Roman schöpfte Juri Rytchëu aus zwei Quellen: den Erzählungen seiner Stammesgenossen und aus den Akten eines damals aufsehenerregenden Moskauer Prozesses. 1934 schlägt eine sowjetische Forschergruppe auf der Wrangel-Insel ihr Lager auf. Die Insel am Polarkreis wird zum Schauplatz des unheilvollen Zusammenpralls zweier Kulturen. Beim jungen Atun endet die Zerreißprobe zwischen den materiellen Verlockungen der eingebrochenen »Zivilisation« und dem traditionellen Leben und magischen Denken tödlich.

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Seitenzahl: 318

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Über dieses Buch

Dicht am Polarstern glitzern im Sternbild der Trauer jene Sterne, die aus den Seelen der Toten hervorgegangen sind. Dort sieht der Schamane Analko auch seinen Sohn Atun, der ein Opfer der Umwälzungen geworden ist, die über die Bewohner der Wrangel-Insel hereingebrochen sind.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Juri Rytchëu (1930–2008) wuchs als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens auf und war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zum Zeugen einer bedrohten Kultur.

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Charlotte Kossuth (*1925) war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin.

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Leonhard Kossuth (*1923) lehrte am Literaturinstitut in Leipzig und war dreißig Jahre lang Cheflektor für Sowjetliteratur in Berlin. Zudem ist er als Herausgeber, Übersetzer, Literaturkritiker und Publizist tätig.

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Juri Rytchëu

Unter dem Sternbild der Trauer

Roman

Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die russische Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel Kto ubil doktora?

Originaltitel: Kto ubil doktora?

© by Juri Rytchëu 1992

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30459-8

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Version vom 21.06.2022, 19:38h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

UNTER DEM STERNBILD DER TRAUER

Erster Teil1 – Die ersten Tage auf der Wrangel-Insel versanken in …2 – Wulfson fügte sich widersprüchlichen Anordnungen und arbeitete bald …3 – Das Herbstwetter an der Südküste der Wrangel-Insel hatte …Zweiter Teil1 – Kaum war der Doktor gegangen, hatte er die …2 – Der morgendliche Zug der Jäger von den Jarangas …3 – Analko, das Mundstück seiner großen Pfeife zwischen den …4 – Die Eskimos stiegen wie am Vortag in feierlicher …Dritter Teil1 – Am nächsten Morgen weckte das Heulen eines Schneesturms …2 – In der väterlichen Jaranga saßen die Männer am …3 – Im neuen Haus des Stationschefs roch es nach …4 – Der Vorfall mit Atuns Beute hatte sich den …Vierter Teil1 – Konstantin Dmitrijewitsch Sementschuk und seine Frau Nadeshda Indiktorowna …2 – Bei Sementschuk saßen der Biologe Wakulenko und der …3 – Sie haben Lieder gesungen«, berichtete Tajan den in …4 – Sementschuk spielte mit seiner Frau und Wakulenko Karten …5 – Die Hunde waren so elend geworden, dass sie …Fünfter Teil1 – Sag mal, Steppan«, fragte Sementschuk Starzew, »kommt es …2 – Die Siedlung befand sich etwas nördlich von Kap …3 – Den ganzen Weg zum Plateau hinauf ging Atun …4 – Warum hast du ihn denn nicht verloren?« fragte …Sechster Teil1 – Sementschuk ließ den Doktor rufen und teilte ihm …2 – Der Weg in die Somnitelnaja-Bucht führte durch hügelige …3 – Wenn von draußen nur der Wind zu hören …Siebter Teil1 – Tajan wusste, dass im Lager unter allerlei Plunder …2 – Auf Paljas Schlitten fuhr Kuzewalow von der Stationsbesatzung …3 – Aus einem vor Trockenheit krachenden Ledersack zog Analko …4 – Am vierten Januar erbot sich der ausgenüchterte Wakulenko …5 – Am siebenten Januar trafen sie mit dem Leichnam …Achter Teil1 – Auf den Tag hatten alle gewartet. Selbst der …2 – Kmo, der keinen Zutritt zu den Innenräumen der …3 – Tajan hatte den Eindruck, als würde in den …4 – Der Internationale Frauentag wurde gefeiert. Allen Frauen der …5 – Analko betrachtete lange den dünnen Eiszapfen, der sich …Neunter Teil1 – Voller Ungeduld erwarteten die Moskauer und das ganze …2 – Nach einer Pause wurde das Verlesen der Anklageschrift …3 – Der Prozess dauerte eine Woche. Die Zeitungen kommentierten …4 – Morgenlicht sickerte durch das vergitterte Fenster ganz oben …Zehnter Teil1 – Zwei Felsen auf dem Heiligen Kap riefen bei …2 – Als Analko in die Siedlung zurückkam, vernahm er …AnmerkungWorterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Juri Rytchëu

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Erster Teil

1

Die ersten Tage auf der Wrangel-Insel versanken in einem Wirrwarr, in sich widersprechenden Befehlen und ordinären Flüchen; darin überboten sich der Kapitän des Eisbrechers »Lütke«, der das Entladen zu beschleunigen suchte, um schneller die Rückfahrt antreten zu können, und Minejew, der seine Wirtschaft an den neuen Leiter der Polarstation, Sementschuk, übergab, wobei dieser erst unbesehen alles hinnahm, dann alles stückweise durchzählen wollte: Kognakflaschen, Säcke mit Zucker, Patronen, Pelzbekleidung, Rentierfelle …

Die Zimmerleute errichteten schnell zwei neue Häuser – eins war für den neuen Chef bestimmt. Die Ankömmlinge bezogen einstweilen die alten Häuser – Doktor Wulfson und seine Frau erhielten zwei kleine Räume, und das freute Nikolai Lwowitsch und Gita Borissowna so, dass sie zunächst nicht einmal daran dachten, wie sie in dieser Enge Kranke behandeln und die geplanten wissenschaftlichen Forschungen durchführen sollten.

Hauptsache, sie waren endlich die aufreibende Nachbarschaft von Konstantin Dmitrijewitsch Sementschuk und seiner Gattin Nadeshda Indiktorowna los, die bereits im Zug Moskau-Wladiwostok verlangt hatte, mit »Genossin Vorgesetzte« angeredet zu werden.

Vorbei war der aufregende Winter 1934, da die Schiffbrüchigen von der »Tscheljuskin« aus der Tschuktschen-See nördlich von Kap Wankarem gerettet wurden. Über hundert Personen, darunter Frauen und sogar ein Neugeborenes, hatten in der Polarnacht auf einer driftenden Eisscholle ausgeharrt.

Das Land empfing die von der »Tscheljuskin« Heimgekehrten wie Helden, und in diesem freudigen Tohuwabohu wurde eine neue Expedition auf die Wrangel-Insel vorbereitet.

Doktor Wulfson und seine Frau hatten sich auf eine Zeitungsanzeige des Arktischen Instituts hin beworben. Ihrem neuen Vorgesetzten begegneten Doktor Wulfson und seine Frau das erste Mal vor dem Arbeitszimmer des inzwischen berühmt gewordenen Polarforschers Otto Juljewitsch Schmidt.

»Ich muss dringend zum Volkskommissar Jagoda!« erklärte Sementschuk geschäftig. »Wir sehen uns im Zug. Die Medikamente und die sonstige medizinische Ausrüstung sind bereits verladen.«

»Wie denn das?« sagte Wulfson verwundert. »Am Ende fehlt ein Medikament oder ein Gerät, das wir in der Polarstation unbedingt benötigen?«

Obwohl er das ruhig und sogar ein wenig bittend sagte, entgegnete Sementschuk gereizt: »Dann hätten Sie noch länger fürs Packen gebraucht! Zum Glück war der Biologe Wakulenko da … Ich musste ihn beauftragen, sich um die medizinische Ausrüstung zu kümmern, obwohl er dafür eigentlich nicht verantwortlich ist.«

Der raue Vorgesetztenton machte Eindruck – der Doktor blinzelte betreten, und seine Frau erklärte: »Wir mussten den Sohn unterbringen … Verstehen Sie uns recht: Es ist nicht so leicht, sich von ihm für ganze drei Jahre zu trennen. Sie wissen doch – und wenn es zehnmal Verwandte sind, trotzdem …«

Im Zug brachte Sementschuk den Doktor und dessen Frau in seinem Abteil unter. Nadeshda Indiktorowna versuchte es zu verhindern, sie hätte die Nachbarschaft des offensichtlich an ihr interessierten jungen Biologen Wakulenko vorgezogen, doch ihr Mann sagte unerwartet streng: »Es muss sein!«

Schon der erste Anblick des Doktors und seiner Frau hatte in ihm ein sonderbares Gefühl geweckt: Diese beiden Intellektuellen, zweifellos kultiviert und feinfühlig, würden von nun an ihm unterstellt sein, denn die Partei, die Regierung und Otto Juljewitsch Schmidt höchstpersönlich hatten ihn zu ihrem Vorgesetzten bestimmt.

Während der ersten Reisetage gewann Sementschuk – so schien es ihm jedenfalls – die gebührende Achtung aller Expeditionsteilnehmer, und dazu trug nicht unwesentlich bei, dass er immer wieder seine Begegnung mit dem allmächtigen Volkskommissar Jagoda erwähnte.

Meistens saßen sie bis spät in die Nacht im Speisewagen und tranken Bier.

Wenn jemand ins Abteil des Chefs kam, gingen der Doktor und seine Frau schnell hinaus. Sie standen lieber im Gang am Fenster, und das ärgerte Sementschuk. Wollten sie mit ihm und Nadeshda Indiktorowna nichts zu tun haben? Empfanden Widerwillen? Verachteten sie sogar insgeheim? Im Abteil zogen sie es auch noch vor zu lesen, antworteten zerstreut auf Fragen, wichen offensichtlich einer Unterhaltung aus.

»Warum gehen Sie dauernd raus?« fragte Sementschuk sie einmal.

»Im Abteil ist es doch schon so eng«, bemerkte Nikolai Lwowitsch.

»In der Polarstation wird es noch enger«, sagte Sementschuk. »Wir müssen uns ans Kollektiv gewöhnen. Sie aber sondern sich ab und erwecken den Eindruck, als machten Sie das absichtlich, als wären Sie etwas Besonderes …«

»Gott bewahre!« versuchte Wulfson zu protestieren. »Etwas Besonderes? Im Gegenteil!«

»Wir haben das Gefühl, dass man sich uns gegenüber irgendwie anders verhält«, mischte sich Gita Borissowna ein. »Man geht uns geradezu aus dem Weg.«

»Vielleicht sind Sie selber schuld? Tun Sie nicht selber alles, um einen engeren Umgang mit den übrigen Expeditionsteilnehmern zu vermeiden? Natürlich sind nicht alle so gebildet wie Sie, aber es sind auch Hochschulabsolventen darunter, wissenschaftliche Mitarbeiter …«

»Zum Beispiel Wakulenko«, erklärte Sementschuks Frau. »Er ist Wissenschaftler, Biologe. Die Biologie aber ist die Lehre von allen lebenden Organismen des Planeten, darunter auch vom Menschen. Sie, Doktor, wissen als Arzt natürlich viel über den menschlichen Organismus, Wakulenko aber sind die Organismen aller Tiere der Erde vertraut, und er schickt sich an, auch die Tiere der Arktis zu erforschen.«

Sementschuk hörte einigermaßen verwundert, was seine Frau von sich gab – schon die wenigen Tage ihrer Bekanntschaft mit Wakulenko hatten Spuren hinterlassen … Wenn das so weiterginge …

An dem Abend blieben der Doktor und seine Frau zum Tee im Abteil. Wakulenko hatten sie den besten Platz überlassen – am Fenster, gegenüber Nadeshda Indiktorowna, die dort in ihrem orientalischen Morgenrock thronte.

Sementschuk hatte es sich neben seiner Frau bequem gemacht, und zu seiner anderen Seite, unmittelbar an der Tür, saß Doktor Wulfson. Gita Borissowna hockte neben Wakulenko, ihr war sichtlich unangenehm, dass der Biologe, der nach einem Glas Kognak am Abend aufgelebt war, laut redete und weit ausholend gestikulierte.

»Mir schwebt vor, auf der Wrangel-Insel vor allem das Walross zu studieren. Meines Wissens fühlt sich dieses erstaunliche Tier bei dem rauen Klima im eisigen Wasser wohl. Es hat Lungen, atmet freie Luft, kann sich aber stundenlang unter Wasser aufhalten. Behaart ist das Walross nicht, wie ich herausgefunden habe, und doch friert es nicht, das Vieh! Ist das nicht interessant? Vielleicht hat es Besonderheiten, die dem Menschen nützen würden? Wenn es gelingen würde, sie vom Walross auf den Menschen zu übertragen, könnte man unsereins gegen Kälte, gegen raues Klima unempfindlich machen!«

»Und so einen neuen Menschen schaffen!« ergänzte Sementschuk triumphierend. »Im Licht der Aufgaben, die uns die Partei und Stalin persönlich bei der Erschließung des nördlichen Seewegs gestellt haben … Geben Sie zu, Nikolai Lwowitsch, das ist eine grandiose Aufgabe! Und da müssen wir Genossen Wakulenko auf jegliche Weise unterstützen.«

Wulfson brummte etwas vor sich hin, aber da begann unerwartet Gita Borissowna zu reden. »Einverstanden, Wege zu finden, wie sich der Mensch dem rauen Klima anpassen kann, ist nicht nur für die Wissenschaft notwendig und wichtig, sondern auch für unser heutiges Anliegen, wie Konstantin Dmitrijewitsch richtig bemerkt hat. Warum aber müssen wir dafür das Walross studieren, wenn es doch Menschen gibt, die sich in der Kälte schon akklimatisiert, es verstanden haben, ihr Leben sozusagen an der Grenze der bewohnbaren Welt einzurichten?«

»Wen haben Sie im Auge, Gita Borissowna?« fragte Wakulenko neugierig.

»Die Eskimos«, erwiderte Gita Borissowna. »Die Einheimischen, die sich in Jahrhunderten an Kälte und Schnee gewöhnt haben …«

»Die Eskimos zählen nicht!« erkärte Wakulenko bestimmt. »Das sind rückständige Wesen, und es wird nicht so bald gelingen, sie aufs Niveau eines zivilisierten Menschen zu heben. Wie die letzten Wilden huldigen sie dem Schamanismus, sie essen alles roh, kleiden sich in Tierhäute und leben unter unhygienischen Bedingungen. Waschen sich jahrelang nicht, vielleicht sogar lebenslang! Können Sie sich das vorstellen, Nadeshda Indiktorowna?«

Sementschuks Frau rümpfte die Nase und zog eine Grimasse. »Ich stell mir mal vor, wie die riechen!«

»Was soll denn das!« rief Wulfson. »Werten Sie die Eskimos vielleicht geringer als Walrosse?«

»Und seiʼs nur darum, weil die Walrosse sich ihr Leben lang waschen«, entgegnete Wakulenko lächelnd. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Walrosse die reinlichsten von allen Meeressäugern sind. Wenn das Meeresufer schmutzig ist, kommen sie ganz bestimmt nicht aus dem Wasser. Sie ernähren sich nur von Mollusken, wozu sie mit ihren mächtigen Hauern den Meeresboden aufpflügen. Daher riecht ihr Fleisch auch nicht nach Fisch wie beispielsweise Seehundfleisch.«

»Ich habe gehört, Walrossfleisch ist die Hauptnahrung der Eskimos«, bemerkte Sementschuk.

»Gar nicht dumm von ihnen.« Wakulenko grinste.

»Aber, Genosse Wakulenko!« sagte Sementschuk streng. »Wie immer ihre eigene Meinung und ihr persönliches Verhältnis zu den Eskimos sein mögen, Sie müssen sie behutsam und taktisch klug behandeln, so wie es die von Lenin und Stalin begründete nationale Politik verlangt.«

»Und ob!« Wakulenko seufzte demonstrativ. »Wir alle müssen unserer Politik folgen.«

Als der Biologe das Abteil verließ, um auf dem Gang zu rauchen, konnte Wulfson nicht länger an sich halten. »Wakulenko vertritt offen rassistische Ansichten! Einen Eskimo, ein menschliches Wesen, wertet er niedriger als ein Tier. Wie kann denn so ein Wissenschaftler auf der Polarstation mit Einheimischen zusammenarbeiten?«

Sementschuk fand an den Äußerungen des Biologen nichts Beunruhigendes. Eingeborene sind nun mal Eingeborene, da kann man nichts machen. Als Objektverwalter an der sowjetischen Botschaft in Teheran hatte er sich sogar hoch stehenden Persern überlegen gefühlt. Was zählten da die Eskimos? Dabei hatten gutinformierte Kollegen behauptet, das Schrifttum und die Kultur der Perser seien noch älter als die der Slawen … Das war bei den Persern, hier jedoch ging es um Eskimos …

»Der Biologe Wakulenko«, sprach Sementschuk kühl, »wird sich mit dem Studium der Tier- und Pflanzenwelt befassen. Sie sehen doch, dass ihn die Eskimos nicht interessieren.«

»Wir werden aber von ihnen umgeben sein, er wird zwangsläufig mit ihnen zu tun haben«, sagte Wulfson, noch immer erregt.

»Keine Sorge, Doktor.« Sementschuk änderte den Ton. »Wenn nötig, kann man auf Wakulenko auch auf andere Weise einwirken. Vergessen Sie nicht, die grundlegende Politik, die Ausrichtung des Lebens auf der Polarstation werde ich bestimmen, entsprechend den Vollmachten, die ich von Schmidt und dem Volkskommissar, Genossen Jagoda, erhalten habe.«

2

Wulfson fügte sich widersprüchlichen Anordnungen und arbeitete bald als Lastträger, bald als Gehilfe der Zimmerleute, trieb die Schweine in den für sie vorgesehenen Verschlag und verjagte die wütenden Eskimohunde, die sich mit der Anwesenheit dieser sonderbaren, rosigen, nackthäutigen, stumpfnasigen, widerlich grunzenden Vierbeiner auf der Insel nicht anfreunden konnten.

Trotzdem fand Wulfson Zeit für den Umgang mit Eskimos. Einige kamen von selbst, um Bekanntschaft zu schließen, und nannten ihre Namen. Obwohl für ihn zunächst alle gleich aussahen, lernte der Doktor sofort, unter der Menge Atun zu unterscheiden, einen hochgeschossenen, sehnigen jungen Mann mit für einen Eskimo ungewöhnlichem Kraushaar. Seine Haut war offensichtlich noch dunkler als die seiner dunkelhäutigen Stammesgenossen, sein Äußeres hatte insgesamt etwas Negroides. Eine solche Verwandtschaft war durchaus möglich. Die Eskimosiedlungen auf der Tschuktschen-Halbinsel bekamen oft Besuch von amerikanischen Walfang- und Seeschiffen, und deren Besatzung bestand nicht immer nur aus Weißen. Der junge Mann hatte seine Haare mit einem Riemen zusammengebunden, den über seiner Stirn eine blaue Glasperle schmückte.

Atun gehörte zur Familie des Schamanen Analko und galt nicht nur als sein Sohn, sondern auch als Erbe seiner Zauberkraft. Im Verhalten seiner Landsleute ihm gegenüber spürte man – kaum wahrnehmbar – Verehrung, obwohl der Bursche noch blutjung war.

Solange der Eisbrecher zu entladen, Häuser zu bauen und Ausrüstungsgegenstände, Lebensmittel, Baumaterialien hin und her zu schleppen waren, gehorchten die Eskimos ergeben und, wieʼs schien, sogar fröhlich den Befehlen des neuen Chefs der Polarstation und gaben zu erkennen, dass sie gar nicht daran dachten, sich in die Angelegenheiten des weißen Mannes einzumischen.

Mehrere Säcke mit Zucker lagen an einer feuchten Stelle und waren bei der Flut von Salzwasser durchtränkt worden.

Vorwurfsvoll fragte Wulfson Apar den Mann der reizenden Nanechak: »Habt ihr nicht gewusst, dass das Wasser bis hierher steigt?«

»Doch. Wir haben es dem neuen Chef gesagt.«

»Und er?«

»Hat böse gesagt, er wisse es besser als wir. Und hat uns dahin geschickt …«

»Wohin?« fragte Wulfson.

Beredt zeigte Apar zwischen die Beine. »Das ist der erste Vorgesetzte, der so mit uns spricht«, fuhr er nachsichtig lächelnd fort. »Deshalb machen wir schweigend, was er befiehlt. Wir wollen ihn nicht verärgern. Tajan hätte er gestern fast geschlagen.«

Tajan galt als Angestellter der Polarstation, sprach recht gut russisch und wohnte sogar in einem Holzhaus.

Wulfson hörte Apars zögernde, ruhige Rede und wurde von brennender Scham erfasst. Unverzüglich suchte er Karbowski auf, der noch auf dem Eisbrecher zum Parteiorganisator bestimmt worden war, und informierte ihn vom Gespräch mit dem Eskimo.

»Was ist schon dabei?« sagte Karbowski mit einer hilflosen Geste. »Na schön, hat er ihn dahin geschickt, wo der Schwanz hinzeigt. Geht er mit uns nicht genauso um? Oho! Und ob! Uns schickt er noch ganz woandershin!«

»Aber das geht doch nicht!« rief Wulfson. »Die Eskimos sind an solche Dinge nicht gewöhnt!«

»Dann müssen sie sich dran gewöhnen!« folgerte der Parteiorganisator ungerührt.

Solange noch der Eisbrecher auf Reede lag und fieberhaft Material und Vorräte an Land geschafft wurden, nahm sich Sementschuk noch einigermaßen zusammen; doch kaum hatte sich die Dampfwolke vom Abschiedssignal des davonfahrenden Schiffes verflüchtigt, erfüllte sein Gebrüll die Küste. Von Sementschuk angesteckt, schrien auch die anderen Expeditionsteilnehmer einander an, und so setzte sich dieser Umgangston von Sementschuk über den Parteiorganisator Karbowski, den Biologen Wakulenko bis zum Funker und zum Koch fort. Am weitesten unten stand die einheimische Bevölkerung, und der ganze Schwall von Anranzern, Kommandos und Forderungen schlug gleich einer Sturzsee im Meer über ihnen zusammen, versetzte die einen in Erstaunen und Ratlosigkeit, andere aber in Schrecken.

Alle Versuche Wulfsons, die Eskimos vor den Grobheiten nicht nur des Leiters, sondern auch der ihm nacheifernden Untergebenen zu bewahren, blieben erfolglos. Dafür spürte er, dass die Kameraden ihm mit Ironie begegneten. Die Eskimos aber …

Eines frühen Morgens klopfte es an der Tür des Doktors. In aller Eile angezogen, erblickte er im halbdunklen Flur einen Eskimo. In dem großen, lächelnden Mann, der eine helle Kamlejka, einen Kapuzenumhang mit Bauchtasche, trug, erkannte er nicht sogleich Tajan. Wulfson war daran gewöhnt, ihn in einer schmutzigen Wattejacke zu sehen oder in einem von Kohlenstaub bedeckten Überwurf, der aus einem Sack gefertigt war.

»Da, ein Geschenk«, murmelte Tajan schüchtern und reichte dem Doktor ein blutiges Paket. Er erklärte, das sei Robbenleber, eine Delikatesse. Und in der Tat war die Leber, von Gita Borissowna gebraten, außergewöhnlich schmackhaft, zudem ergab sie ein ganzes Abendessen.

Einige Tage darauf fragte Wulfson Tajan und Atun, die er nie im Speiseraum sah, warum sie nicht zum gemeinsamen Essen kämen.

»Neuer Chef hat gesagt, ihr bekommt Kaltverpflegung, kein Platz in Essraum. Früher sind wir gegangen, Kaltverpflegung war für Familie … Wir waren oft im Speiseraum Tee trinken. Neuer Chef sagt – nein!«

In der Mittagspause nahm der Doktor Tajan dennoch mit.

Der Gemeinschaftstisch war lang wie das Zimmer und mit einer karierten Wachstuchdecke bedeckt. Große Schüsseln waren gehäuft voll dick geschnittenem Weißbrot, auf Tellern lagen leuchtend gelbe Butterstücke.

Alle, die den Speiseraum betraten, musterten verwundert und neugierig Tajan, der vor Verlegenheit laut schniefte und sich mit dem Ärmel die verschwitzte Stirn wischte.

Da erschien Sementschuk im Essraum. Sein Stuhl stand am Kopfende des Tisches, am Fenster. Schweigend warf er Tajan einen drohenden Blick zu. Der erhob sich und flüsterte dem Doktor zu: »Ich muss dringend raus …«

»Und das Mittagessen?«

»Ich esse zu Hause. Mein Frau hat Walrossfleisch gekocht.« In der Hast ungeschickt mit den Gummistiefeln gegen Stuhlbeine stoßend, rannte Tajan hinaus.

Gespannte Stille verbreitete sich im Speiseraum, unterbrochen nur vom Klirren des Geschirrs in der Küche, wo hinter der offenen Durchreiche der Koch Krochin werkte.

»Ich warne Sie!« sagte Sementschuk laut. »Ohne meine Genehmigung kommen keine Unbefugte in den Speiseraum!«

»Tajan ist doch kein Unbefugter«, wandte Wulfson ein. »Er ist Angestellter der Polarstation, Mitglied unseres Kollektivs.«

»Erstens habe ich seine Anstellung bei der Station noch nicht bestätigt«, fuhr Sementschuk ebenso laut fort. »Zweitens bekommt er eine Ration, und drittens, je weniger Eingeborene unseren Speiseraum betreten, desto besser. Sie werden mir doch zustimmen, Doktor, dass es nicht jedem angenehm ist, während des Essens neben einem Eskimo zu sitzen, der nach wer weiß was riecht!«

»Auch Ungeziefer können sie haben«, mischte sich Wakulenko ein. »Und wenn wir uns das zuziehen, wird es unter den hiesigen Bedingungen sehr schwer sein, es wieder loszuwerden.«

»Genossen!« Wulfson musterte die am Tisch Sitzenden. Viele senkten betreten die Augen auf ihren Teller. »Das sind doch unsere Sowjetmenschen!«

»Beruhigen Sie sich, Doktor«, rief Sementschuk. »Keine Hysterie! Mit den Eingeborenen muss man auch umgehen können. Mir wurde dringend geraten, sie besser auf Distanz zu halten … Damit sie wissen, wo ihr Platz ist. Vergessen Sie nicht, es sind zurückgebliebene Leute. Viele hören auf die Schamanen, glauben allerlei Unsinn, beten zu Götzen.«

»Unsere Aufgabe ist doch aber«, sagte der Doktor, »sie auf unser Niveau zu heben, kulturell zu fördern.«

»Wenn sie erst genügend entwickelt sind, können sie meinetwegen jeden Tag hierherkommen«, bemerkte Sementschuk.

»Ich habe eine Alte gesehen«, sagte der Funker hüstelnd. »Die hat in unserer Müllgrube gestochert und irgendwelche Sachen in eine Blechdose gesteckt.«

»Und ein Junge hier hat offenbar die Krätze«, ergänzte ein anderer.

»Freunde!« rief der Doktor. »Sie sind im Unrecht! Ganz und gar! Wenn die Alte die Müllgrube durchsucht, müssen wir klären, warum sie das macht. Vielleicht hat sie einfach nichts zu essen. Und den Jungen müssen wir behandeln! Das ist unsere Pflicht!«

»Wir haben viele Pflichten«, sagte Sementschuk. »Vor allem müssen wir unsere wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aufgaben erfüllen, alles andere aber, darunter die Erziehung der hiesigen Bevölkerung, ist zweitrangig – Freizeitbeschäftigung. Sie, Nikolai Lwowitsch, müssen schon begreifen, dass Ihre erste Pflicht ist, den Anordnungen Ihres Vorgesetzten, meinen Anordnungen, nachzukommen. Das gilt auch für die anderen.

Disziplin ist das Wichtigste auf unserer Polarstation. So lautet eine Anweisung des Volkskommissars für Inneres, Genossen Jagoda.«

Mit unverhohlener Verwunderung, in die sich Fassungslosigkeit mischte, betrachtete Wulfson Sementschuk. Als der Vorgesetzte seinem Blick begegnete, sagte er schon ein wenig nachgiebiger: »Auf die Erziehung der einheimischen Bevölkerung kommen wir noch zurück, sobald alle Häuser stehen, alles Material untergebracht ist und die wissenschaftliche Arbeit begonnen hat … Einstweilen aber haben die Eingeborenen ohne besonderen Grund und ohne meine Erlaubnis keinen Zutritt zum Speiseraum.«

3

Das Herbstwetter an der Südküste der Wrangel-Insel hatte seine Eigenheiten.

Als sich Wulfson am Morgen von seiner Lagerstatt – einigen Rentierfellen und einem Laken über leeren Zigarettenkisten – erhoben hatte, schaute er aus dem Fenster: Klarer Himmel breitete sich über die ganze Küste, und unzählige Eisschollen funkelten im Sonnenlicht. So ein Wetter am Morgen machte gute Laune, vertrieb alle finsteren Gedanken. Nachdem der Doktor sich gewaschen und rasiert hatte, trat er vors Haus, um zum Frühstück in den Speiseraum zu gehen, blieb jedoch erstaunt stehen: Statt des strahlenden, blendenden Sonnenscheins empfing ihn perlender Glanz. Alles war von einem irgendwoher aufgekommenen Nebel überzogen, aus dem feiner, augenblicklich wieder tauender Schnee rieselte.

Neben dem kleinen Badehaus wäre er fast gegen den hochgeschossenen und finsteren Atun geprallt, der von einem unweit vorbeifließenden Bach zwei Eimer Wasser brachte.

»Guten Morgen, Atun!« grüßte der Doktor.

»Gut Morgen«, erwiderte Atun.

»Ist denn heute Badetag?«

»Chef hat befohlen heizen«, antwortete Atun.

Er stellte die Eimer ab. Wulfson griff in die Tasche und holte Zigaretten heraus.

Er gab Atun zu rauchen und fragte: »Woher kommt der Nebel?«

»Von morgen«, erwiderte Atun. »Morgen ist Winter, morgen Schneesturm, morgen kalt. Daher Nebel, keine Jagd. Keine Jagd – schlecht.«

Atun überragte den Doktor wie ein dunkler Fels. Er war offensichtlich negroider Abstammung. Das müsste man aufklären …

»Leben Tschuktschen auf der Insel? Oder nur Eskimos?

»Tschuktschen sind Apar, Jetuwgi …«

»Und du selbst?«

»Ich bin Eskimo«, entgegnete Atun, ohne den Grund für dieses lebhafte Interesse an seiner Person zu ahnen. »Früher wir lebten in Kiwak, bei der Prowidenija-Bucht. Dort ist schön …«

»Und dein Vater ist auch Eskimo?«

»Natürlich«, antwortete Atun. »Er ist Jäger. Jäger von Bär, ein wenig Doktor wie du …«

»Schamane?«

»Ja, Schamane«, entgegnete Atun, nahm schnell die Eimer und verschwand im Badehaus.

Als der Doktor den Speiseraum erreichte, hatte sich der Nebel aufgelöst, lag das Meer mit den schwimmenden Eisschollen wieder offen vor Augen. Von Tag zu Tag wurden es mehr, und der Bach, von dem Atun gerade noch Wasser geholt hatte, überzog sich morgens mit knirschendem, durchsichtigem Eis.

»Heute arbeiten wir bis Mittag, dann ist Freizeit und wird gebadet«, verkündete Sementschuk beim Frühstück.

Alle lebten sichtlich auf, und Wakulenko fragte: »Gibt es auch Wein?«

»Jeder erhält zweihundert Gramm Sprit und eine Flasche Wein«, antwortete Sementschuk und fügte schief lächelnd hinzu: »Den Wein müssen wir vor Kälteanbruch austrinken – unser heizbares Lager ist zu klein.«

»Wir werden unser Bestes tun!« rief der Parteiorganisator Karbowski erfreut.

An dem Tag arbeiteten die Männer der Polarstation wie nie zuvor, sie trieben sich und die Kameraden zur Eile, scherzten und lachten, und Wulfson freute sich mit allen über die neue Stimmung, denn er hoffte, dass die Leute, wenn sie einander erst besser kannten, weicher, rücksichtsvoller und hilfsbereiter sein würden. Schließlich waren die meisten voll Besorgnis und heimlicher Angst in diese raue, unbekannte Gegend gefahren. Was machte es aber schon, dass die Polarnacht mit Schneestürmen nahte und es etliche Monate kein Sonnenlicht geben würde? Sie hatten eine warme Unterkunft, sogar ein Badehaus und so viel Proviant, wie sie selbst in den vereinbarten drei Jahren nicht würden aufessen können. Kurz, vieles erwies sich als gar nicht so schrecklich, wie es ihnen von fern, aus ihren warmen Lebensräumen, erschienen war. Wulfson hatte sogar den Eindruck, als habe sich auch Sementschuk etwas verändert, obwohl nicht unbedingt zum Besseren; aber das unerwartete Bad und die Ausgabe von Alkohol war doch ein Beweis echter Fürsorge.

Sie wuschen sich in mehreren Schichten. Tajan und Apar wurden beordert, Atun zu helfen. Auch zu dritt hatten sie Mühe, schnell genug Wasser aus dem Bach herbeizuschleppen – nur gut, dass das Badehaus in weiser Voraussicht fast unmittelbar am Ufer des Süßwasserlaufs errichtet worden war. Die verwegensten Männer stürzten sich, nachdem sie sich mit den vom Festland mitgebrachten Birkenruten tüchtig ausgepeitscht hatten, zur Belustigung der verwundert zuschauenden Eskimos splitterfasernackt und mit wildem Geschrei ins eisige Wasser des Bachs, kehrten dann aber schnell wieder in den glühenden Schlund des Schwitzbades zurück.

Dampfdurchglüht und gewaschen, zog Wulfson frische Wäsche an, steckte die bloßen Füße in große Gummistiefel, warf sich eine Zeltplane um die Schultern und trat aus dem Vorraum des Bades, um frische Luft zu schöpfen. Auf leeren Metallfässern ruhten Tajan und Apar, die Wasserträger, aus. Atun arbeitete im Feuerungsraum, sorgte für die nötige Hitze.

»Möge dir der Dampf gut tun!« sagte Tajan.

»Danke! Danke!« entgegnete Wulfson gerührt. Von einem Eskimo hatte er eine so typisch russische Wendung nicht erwartet.

Vom morgendlichen Nebel war längst keine Spur mehr zu sehen, die Sonne schien wieder, auf dem Meer glitzerten die Eisschollen, und es gleißten die ewigen Gletscher, die Schneehänge der Inselberge … Die durchsichtige, eiskalte Luft war von einem Flimmern erfüllt, als hingen da noch Reste farbigen Flitters von einem gewaltigen Fest.

»Waschen Sie sich eigentlich im Schwitzbad?« fragte Wulfson.

»Natürlich!« antwortete Tajan und setzte betrübt hinzu: »Aber Chef hat gesagt: Heute kein Bad für Eskimo. Nur für Leute von Polarstation.«

»Aber Sie gehören doch dazu.«

»Nein, ich bin Eskimo«, antwortete Tajan. »Bei der Arbeit – Polarstation, nach Arbeit, im Badehaus – Eskimo.«

»Na, ich rede mit dem Chef«, versprach der Doktor und ging Sementschuk suchen.

Im Speisezimmer schwadronierte am gedeckten Tisch der schon tüchtig beschwipste Wakulenko. Ihm gegenüber saß Sementschuk und hörte gleichmütig zu. »Für die Eskimos gibt es heute kein Schwitzbad!« entgegnete Sementschuk schroff, nachdem er den Doktor angehört hatte. »Jetzt badet unsere dritte Schicht, und dann sind die Frauen dran!«

»Aber wenigstens nach den Frauen …«

»Doktor Wulfson«, sagte Sementschuk mit starrem Blick. Er hatte offensichtlich getrunken. »Nach den Frauen wird sich meine Gattin Nadeshda Indiktorowna waschen!«

»Deinen Eskimos schadet das gar nichts!« sagte Wakulenko. »Die haben sich doch Jahrhunderte nicht gewaschen! Stellen Sie sich vor, Nikolai Lwowitsch, wie viele seit Christi Geburt vergangen sind!«

»Es gibt auch noch hygienische Gründe!« Sementschuk hob den Finger. »Ich kann die Gesundheit meiner Leute nicht riskieren. Vielleicht haben die Eskimos ansteckende Krankheiten?«

»Oder Ungeziefer!« ergänzte Wakulenko, von Erinnerungen angeregt, und schlug friedfertig vor: »Trinken wir lieber, Doktor, dann vergessen Sie wenigstens für einen Augenblick Ihre Wilden.«

Wulfson setzte sich neben Wakulenko. Er ergriff ein Glas mit verdünntem Sprit und nahm einen kleinen Schluck, der ihm sofort den Atem verschlug.

»Ans Sprittrinken muss man sich gewöhnen«, sagte Wakulenko ernst. »Sowie es schneit, bringe ich dir bei, reinen, unverdünnten Sprit zu schlucken und ein Stück Schnee dazu zu essen.« Er lachte laut und trunken.

Allmählich füllte sich der Speiseraum mit den aus dem Bad kommenden sauberen, gut gelaunten Leuten. Sie tranken Sprit und Wein, aßen etwas dazu, unterhielten sich laut, urteilten über die Insel, die Einheimischen, das Wetter. Auch der ortsansässige Russe Steppan Starzew war gekommen, der eine Eskimofrau geheiratet hatte.

»Stjopa«, Wakulenko neigte sich zu Starzew, einem kleinen, aber offenbar kräftigen Mann mit schlauen Äuglein im runden, ausdruckslosen Gesicht, »stimmt es, dass die Eskimofrauen da … du weißt schon, wo, keine Haare haben?«

Steppan Starzew murmelte betreten etwas Unverständliches, doch das stachelte Wakulenko nur an. Der Biologe bestand darauf, forderte, dass Starzew ihm seine Erfahrungen in den Liebesbeziehungen zu Eskimofrauen mitteilte, und nur, weil jetzt die Frauen der Expedition, die auch das Dampfbad genossen hatten, in den Speiseraum traten, sah er sich gezwungen, das Thema zu wechseln.

Jetzt wandte er sich Wulfson zu. »Sag mal, du Beschützer der Eskimos, warum beantworten die Juden gern eine Frage mit einer Gegenfrage?«

»Das ist eine alte Anekdote.« Wulfson bemühte sich, gleichmütig zu bleiben. »Aber Sie, Wakulenko, sollten sich jetzt lieber hinlegen.«

»Nein!« Der Biologe hieb mit der Faust auf den Tisch. »Ich weiß, wann ich mich hinlegen muss. Du, Judenfresse, untersteh dich, mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe!«

»Wakulenko!« schrie Sementschuk ihn warnend an. »Hören Sie sofort mit dem Antisemitismus auf!«

»Ha!« lachte Wakulenko. »Na schön, tritt nur für ihn ein. Aber ich sag dir: Gut wird das nicht enden.« Wakulenko erhob sich und verließ den Speiseraum. Er war gar nicht so betrunken.

Die andern feierten weiter. Der Funker brachte ein Koffergrammophon, und sie begannen zu tanzen. Alkohol floß in Strömen, der Rausch lähmte nicht nur die Zungen, sondern auch die Beine. Die Tanzenden fielen gegeneinander, Frauen kreischten, die Männer genierten sich nicht mehr vor ihnen und fluchten unflätig.

Einige gingen ins Freie, brüllten dort weiter und rissen Zoten, jemand versuchte zu singen, stimmte bald dieses, bald jenes Lied an, kam aber nie über die ersten Worte hinaus.

Gita Borissowna forderte ihren Mann auf, nach Hause zu gehen, doch Doktor Wulfson war der einzige, der noch mehr oder minder nüchtern war, und hielt es für seine Pflicht, aufzupassen, dass kein Unglück geschah, dass es keine Schlägerei gab oder jemand, gottbewahre, in den Bach oder ins Meer stürzte …

Die Sonne war hinter dem endlosen Eis untergegangen, und die hohen Eisberge warfen lange blaue Schatten. Ebensolche Schatten warfen die vielen Eskimos, die wortlos zusahen, wie sich die neue Besatzung der Polarstation vergnügte. Wulfson erkannte in der Menge Apar, dessen Frau Nanechak, ihren Sohn Grigori, die alte Inkali, den Jäger Utojuk, Jetuwgi … Sie wechselten Blicke und tauschten leise Bemerkungen aus. Da stellte sich Doktor Wulfson für einen Augenblick vor, er stünde an ihrer Stelle: Schwerlich hatten sie schon einmal so sehr vom Schnaps verdrehte Leute gesehen … Als Beobachter empfanden sie wohl eher teilnahmsloses Interesse als Mitgefühl oder brennende Neugier, was ein betrunkener Zweibeiner alles anstellen kann. Scham ergriff den Doktor, und er beeilte sich, diesen durchdringenden, forschenden schwarzen Augen zu entkommen.

Der Doktor ging zum Badehaus. Aus dem Schornstein stieg noch immer eine Rauchfahne – der Backsteinofen wurde geheizt. Er warf einen Blick auf die Feuerung, betrat den Vorraum und erkannte im feuchten Dämmer Atun, der verstohlen, aber wie gebannt durch einen Türspalt in den Waschraum lugte.

Vom heimlichen Anblick gefesselt, bemerkte der Eskimo den eintretenden Doktor nicht. Aus dem Waschraum drangen das Stöhnen und die Aufschreie einer Frau sowie das trunkene Gemurmel eines Mannes. Wulfson erkannte die Stimme von Nadeshda Indiktorowna, die Männerstimme aber gehörte zweifellos dem Biologen Wakulenko. Im ersten Moment wollte der Doktor in den Waschraum stürzen, um die Gattin seines Vorgesetzten vor Zudringlichkeiten zu schützen; doch dann begriff er alles und machte kehrt, um zu gehen. Da bemerkte ihn Atun. Die Augen des Eskimos leuchteten so vor Lüsternheit, dass der Doktor erschrak. Hastig verließ er das Badehaus und rannte geradewegs auf sein Haus zu.

Zweiter Teil

1

Kaum war der Doktor gegangen, hatte er die von der warmen Feuchte verquollene Tür zugeschlagen, stieß Nadeshda Indiktorowna den schlaff und knochenlos gewordenen Körper Wakulenkos von sich. Der Biologe murmelte betreten: »Der Wodka, der Wodka hat mich schlapp gemacht …«, wankte aus dem Waschraum, an Atun vorbei, der von dem Erblickten verblüfft, aber gespannt war wie die Sehne einer alten Eskimo-Armbrust, und humpelte davon, schlingernd und über die eigenen Beine stolpernd.

Atun stand in der Tür und konnte den Blick nicht von dem im dampferfüllten, dunstigen Halbdunkel riesig wirkenden weißen Frauenkörper wenden. Nadeshda Indiktorowna schimpfte weinerlich, schluchzte sogar, und der junge Eskimo spürte, wie es diese riesige heiße Masse nach derber, aufwühlender männlicher Liebkosung verlangte. Als die Frau des Chefs Atuns flammenden Blick bemerkte, fuhr sie sonderbar zusammen, als habe sich in ihr jäh eine unsichtbare glühheiße Saite gespannt, und winkte ihn mit einem weißen Finger herbei. Und nun geschah, was Atun sich später in allen Einzelheiten bewusst zu machen suchte, wobei er jeden Augenblick des überirdischen Genusses erneut erlebte. Er entsann sich nicht, wie er nackt auf den nach parfümierter Seife duftenden weißen Körper der Frau gekommen war. Doch wie sie ihn gebissen und gekniffen hatte, erschien ihm nun als Gipfelpunkt einer nie zuvor empfundenen Seligkeit. Dabei hatte Atun durchaus schon gewusst, was eine Frau ist. Seit seiner Kindheit war ihm Tagjus Tochter Aina zur Ehepartnerin bestimmt. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten zuerst Mann und Frau gespielt und später einander auch erkannt. In diesem Winter sollte Aina für immer in Analkos Jaranga ziehen, sie war schon dabei, ihren Polog zu nähen, einen Fellvorhang, der die Familienschlafstatt umgibt.

So etwas hätte sich Atun mit seiner ganzen Schamanen-Vorstellungskraft nicht ausmalen können. Für eine Weile hatte er wohl sogar das Bewusstsein verloren, denn als er auf der feuchten, glitschigen Bank des rasch erkaltenden Schwitzbades wieder zu sich kam, war er allein. Der Ofen war erloschen, zur halb offenen Tür herein zog die bittere Kälte der nahen Eisfelder. Von süßer Müdigkeit befallen, zog Atun sich an und ging ins Freie.

In der Siedlung, über der Rodgers-Bucht, unter den hellen, klaren arktischen Sternbildern herrschte friedliche Stille. Sie breitete sich über die abseits stehenden Häuser der Polarstation, über die Jarangas der Eskimos, die schwarzen Kohlenhaufen am Ufer, die noch nicht an ihren Bestimmungsort gebrachten Güter, die Baumaterialien, den Kutter, die Holzschaluppen und die mit Walrosshäuten bespannten Eskimoboote. Selbst der vereiste Bach war unter der Schwere der Polarstille verstummt.

Warum kommt die Stille mit der Dunkelheit? – Der Gedanke blitzte auf und erlosch.