Teryky - Juri Rytchëu - E-Book

Teryky E-Book

Juri Rytchëu

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Beschreibung

Wenn ein Polarjäger auf einer Eisscholle abtreibt, so geht eine Sage der Tschuktschen, wird er zum Teryky, zum fellbewachsenen Ungeheuer. Kehrt er zurück, ist es die Pflicht der Menschen, ihn zu töten. So recht glaubt keiner mehr an diese Legende. Als der Robbenjäger Goigoi nach einem Wetterumsturz auf einer Eisfläche ins Meer hinaustreibt, ist seine einzige Sorge, zu seiner Geliebten, zu seiner Sippe zurückzukehren. Nach langen Wochen der Verzweiflung, des Hungers und der Kälte setzt er wieder den Fuß an Land – und sieht mit Entsetzen sein Spiegelbild in einer Pfütze. Er ist zum Teryky geworden.

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Seitenzahl: 194

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Über dieses Buch

Wenn ein Polarjäger auf einer Eisscholle abtreibt, so geht eine Sage der Tschuktschen, wird er zum Teryky, zum fellbewachsenen Ungeheuer. Kehrt er zurück, ist es die Pflicht der Menschen, ihn zu töten. So recht glaubt keiner mehr an diese Legende – bis dem Robbenjäger Goigoi dieses Schicksal am eigenen Leib widerfährt.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Juri Rytchëu (1930–2008) wuchs als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens auf und war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zum Zeugen einer bedrohten Kultur.

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Waltraud Ahrndt (1933–1999) war Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie verfasste Prosa und übertrug literarische Werke aus dem Russischen ins Deutsche.

Zur Webseite von Waltraud Ahrndt.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Juri Rytchëu

Teryky

Erzählung

Aus dem Russischen von Waltraud Ahrndt

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die russische Originalausgabe erschien 1980 im Verlag Sovetskij pisatel, Moskau.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1989 im Verlag Volk und Welt, Berlin.

Originaltitel: Teryky (1980)

© Juri Rytchëu 1980

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30456-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 21.06.2022, 20:18h

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Goigoi erklomm die von nächtlichem Neuschnee bestäubte Eisscholle und blickte zurück. Hinter dem Wall von Packeis am Ufer waren die Jarangen noch zu erkennen. Auf der weißen Ebene, die am fernen Horizont von blauzackigen Höhenzügen gesäumt war, wirkten die Behausungen wie dunkle Pünktchen zwischen Himmel und Erde. Goigoi blieb jedes Mal an dieser Stelle stehen, um einen letzten Blick auf die Siedlung zu werfen. Und jedes Mal zog sich sein Herz zusammen vor zärtlichem Mitgefühl für dieses winzige Anzeichen von Leben inmitten der weißen Ödnis. So war es im Spätherbst, wenn das Eis gerade fest genug wurde, um einen Menschen zu tragen, so war es im tiefen Winter, wenn die Sonne sich nur durch einen langen, nie verlöschenden rötlichen Streifen am kalten, trübdunklen Himmel in Erinnerung brachte. So war es auch jetzt, zur Zeit der langen sonnigen Frühlingstage, zur Zeit der Schneeschmelze. Allmählich verschwanden die Jarangen aus dem Blickfeld des Jägers und nisteten sich ein in seinem Fühlen und Denken. Auf dem langen Weg zu den Wildspuren, den kaum erkennbaren auf dem Eis des Meeres, konnte er sie erstehen lassen aus seinem Gedächtnis.

Goigoi stieg von der Eisscholle, schnallte sich die Schneeschuhe an und wandte sich zum Meer, das blau aus der Ferne leuchtete.

In jedem Frühjahr beginnt das Leben von neuem. In diesem Frühjahr hatte er eine Frau gefunden und erkannt. Es geschah auf dem vorjährigen Gras eines Tundrahügels. Ringsum lagen noch Schneewehen, kaum eingesunken, das Himmelsgewölbe war von Vogelstimmen erfüllt, und der Schnee ließ schon das Werden lebendigen, fließenden Wassers ahnen. Dies alles verschmolz mit außergewöhnlichem Entzücken, mit Seligkeit und leidenschaftlicher Zärtlichkeit für Tin-Tin, das Mädchen, das vom Fernen Berg gekommen war, wo seine Sippe Rentiere züchtete.

Nun also waren alle drei Brüder, alle drei Bewohner der Küstensiedlung am äußersten Rande der weiten Erde, verheiratet. Die älteren – Këu und Piny – hatten schon vor einigen Jahren Familien gegründet.

Die Brüder führten das karge, schlichte Leben der Küstenjäger. Nicht immer war die Jagd erfolgreich, winters zumal, wenn der Frost das Eis gefesselt hielt und keine Rinne für die Robben ließ. Dann musste man Streifen alten Seehundsleders kochen und an den Walrossknochen der vorjährigen Beute nagen. Dass Goigoi eine Tochter vom Stamme der Rentierleute heiratete, ließ auf Unterstützung für die schwierigen Wintermonate hoffen, denn nicht zu Unrecht hieß es, bei den nomadisierenden Renzüchtern spaziere ja die Nahrung vor den Jarangen umher.

Bevor Goigoi zur Frau gefunden hatte, ging er gern aufs Meer hinaus. Heute aber, noch die Wärme der morgendlichen Nähe spürend, weibliche Weichheit mit seinem Körper erinnernd, fiel es ihm schwer, nicht länger zurückzublicken. Wie gut, dass er wenigstens in Gedanken zurückkehren konnte zu den wonnigen Morgenstunden, da der eigene Atem mit Tin-Tins Atem verschmolz, da die Körper sich leidenschaftlich begegneten! Kennen und wissen dies auch Vögel, Tiere, Steine, Flüsse, Wolken? Vielleicht ist nur dem Menschen solches Glück beschieden?

In der Erinnerung, bei der gedanklichen Berührung ist jede Stelle des geliebten Körpers erregend, jede entfacht im Herzen Glut, sodass es zärtliche Wärme ausströmt. Das Schönste jedoch sind ihre Augen. In der tiefen Schwärze glimmt verborgenes Feuer, das nur dem Auserwählten zugedacht ist. Ihr rundes Gesicht, umrahmt von schwarzen Haaren, die so straff sind wie die Bartfäden des Wals, verändert sich jeden Augenblick, wie die Oberfläche offenen Wassers unter der streichelnden Hand des Frühlingswinds. Die Augen, das Gesicht, die kleinen Fältchen, die an den Nasenflügeln manchmal erscheinen und schnell wieder vergehen, und auch die helle Stimme, wie ein Strahl klaren Wassers, der aufs Eis fällt – dies alles ist so schön, dass einem schwindlig wird, als sei man hoch aufgestiegen und schwebe über der Tundra, über den angeschwollenen, noch nicht aufgebrochenen Flüssen, dem bloßliegenden blauen Eis der endlosen Seen, über Berghängen mit sprießendem jungem Gras, über schwarzen Felsen, auf denen der Schnee niemals liegenbleibt. Man fliegt höher als Vogelschwärme, höher als die Wolken, hoch über dem zerklüfteten Eis des Ozeans in andachtsvoller Stille.

Goigoi und Tin-Tin hatten noch keine eigene Jaranga, sie bewohnten bei Bruder Piny eine Ecke im Schlafraum auf Fellen. Jeden Abend, wenn sie die Behausung aufsuchten und sich in ihre weichen Rentierpelze wickelten, zogen sie sich ganz in ihre eigene Welt zurück und vergaßen oftmals, dass in diesem engen, von Renfellen umgrenzten Raum noch zwei lebendige Menschen waren, die einander vielleicht nicht weniger liebten. Die älteren Brüder machten sich zuweilen, ohne es böse zu meinen, über den jüngsten lustig, und er errötete, obwohl er seine Verlegenheit gern verbergen wollte.

Sie hieß Tin-Tin. So nennt man das durchsichtige Süßwassereis, das tönende, spröde, das unter der grellen Frühlingssonne in allen Farben spielt. Es war der schönste Name, den Goigoi je gehört hatte.

Vor der Heirat war Goigois Leben geradlinig verlaufen wie der Flug des Pfeiles vom gespannten Bogen. Nur manchmal in der Frühe, wenn das Bewusstsein sich löste aus schläfrigem Vergessen voller vager Träume und undeutlicher Stimmen, fühlte er, dass hinter dem Schleier, der Traum und Wirklichkeit trennt, etwas geheimnisvoll Schönes zurückblieb. Doch es schmolz wie eine leichte Wolke und hinterließ ein Gefühl seltsamen Unbefriedigtseins, eine körperliche Spannung, die lange anhielt und mitunter geradezu schmerzte. Trotzdem wurde Goigoi jedes Mal überm Erwachen so froh, als wäre er neu geboren und das ganze Leben läge vor ihm.

Abends, zum Umfallen müde, dachte er bereits an den neuen Morgen, ans neue Erwachen. Alles erfreute Goigoi – der Tagesanbruch, wenn sich die Sonnenstrahlen durch den schmalen roten Himmelsstreifen drängten und das Schweigen der riesigen Weite sich mit dem unhörbaren feierlichen Lied des aufkommenden Tages füllte, der weiche Moosboden der Tundra im Sommer, der elastisch unter den Füßen federte, als erwidere er die menschliche Berührung, das Murmeln eines Baches, das Plätschern der Wellen, der erste weiche weiße Schnee, der der Haut mit seiner Kühle noch schmeichelte, der winterliche Schneesturm, der zum Kräftemessen herauszufordern schien, das Krachen des Eises auf dem Fluß, wenn es unter dem Druck anschwellenden Wassers barst …

Auch die Tiere und die Vögel erfreuten Goigoi, sie alle, wie sie durch die Tundra liefen, sprangen, trabten, wie sie sich tummelten im Wasser der Flüsse, der Seen und der Meere.

An Winterabenden, wenn das Feuer, das in einem flachen Steinschälchen über einem Büschelchen Moos flackerte, am Erlöschen war, drang aus der hintersten Schlafecke die Stimme des älteren Bruders, sie erzählte von den Ursprüngen des Küstenvolkes der Robbenjäger, von der Entstehung der Rentierzüchterstämme, von Tapferkeit und echtem Mannesmut, vom Manne als dem Ernährer und Bewahrer des Menschengeschlechts.

In diesen nächtlichen Erzählungen sprachen Tiere und Vögel mit menschlicher Stimme, und es erwies sich, dass viele von ihnen Menschen waren, die aus vielfältigen Gründen eine andere Gestalt angenommen hatten.

An einem stürmischen Winterabend vernahm Goigoi die erschütternde Legende von den Teryky, jenen verwandelten Menschen, die zu behaarten Ungeheuern geworden waren. Die Geschichte strotzte von grausigen Einzelheiten, und Goigoi mühte sich, sie wieder zu vergessen, damit er morgens mit dem frohen, reinen Gefühl ungetrübter Lebensfrische erwachen konnte. Später freilich, auf der Jagd, als er mit der Harpune das scheue Wild beschlich, stieg plötzlich aus der Tiefe seines Bewusstseins die grausige Erzählung auf, und für einen Augenblick verwandelte sich der Seehund auf dem Eis in etwas Menschenähnliches. Besonders grausig und erschütternd war es, als Goigoi den Blick des Tieres auffing.

Seit Tin-Tin da war, traten all diese Ängste und Wirrnisse zurück hinter andere Gefühle, die völlig Tin-Tin galten sowie der bevorstehenden Jagd und der darauf folgenden frohen Heimkehr, da die Liebste vor der Wohnstatt wartete.

Auf der Gesichtshaut und am Geruch erspürte Goigoi die Nähe des offenen Wassers. Es lag vor ihm, hinter dem steil abfallenden Rand des Küsteneises: lebendig, grün, tief und geheimnisvoll. Eine ganz andere Welt ist das, erstaunlich verschieden von der des Festlands. Das menschliche Auge erblickt nur, was an der Oberfläche liegt, der Gedanke dringt kaum bis in eine Tiefe, die die Sonnenstrahlen noch erreichen, und darunter ist Finsternis, bevölkert von rätselhaften Lebewesen, die es an Bizarrheit mit Geschöpfen aus Zaubermärchen aufnehmen.

Das Reich der Meerestiefen war dem Menschen schon immer feindlich und rätselhaft. Ein Küstenjäger, dem Wasser ausgeliefert, wurde hilflos, als hätten fremde, unbekannte Mächte von ihm Besitz ergriffen. Die weisen Alten behaupteten: So ist es und nicht anders. Wer sich in den Fängen des nassen Elements befand, hoffte nicht mehr auf Befreiung, er ergab sich in sein Schicksal. Er wusste, keiner würde ihn retten.

Das Meer glitzerte unter der Sonne und warf Lichtflecke auf niedrig fliegende Vogelschwärme. Je näher der Jäger kam, desto deutlicher spürte er den gewaltigen Atem des Ozeans. Vom offenen Wasser wehte ihm mit frischem Duft die Erinnerung an den vorjährigen Sommer zu, als die Wellen lange Schlingen von Seetang ans Ufer warfen.

Goigoi betrat das hohe Eisufer. Das Wasser hob und senkte sich, als atme eine riesige, bis zum Horizont sich erstreckende Brust, und mit dem Wasser wiegten sich Vögel, Eisschollenbrocken und Walrosse, die auf Eisschollen lagen. Hin und wieder tauchten Seehunde und Ringelrobben auf, doch sie blieben, vor dem Jäger scheuend, der Küste fern.

Die Sonne stand frühlingshaft hoch. Nur wo Himmel und Wasser einander berührten, schwammen Wolken, vielleicht auch Eisschollen. Die Luft war unbewegt, trotzdem herrschte keine Stille – Vögel kreischten, Eisschollen knirschten, das Wasser plätscherte, Walrosse schnaubten. Alles ringsum lebte, freute sich des Erwachens vom Winterschlaf, der wiederkehrenden Wärme.

Goigoi setzte sich auf ein Eisinselchen.

Nachdem ihr Mann gegangen war, stand Tin-Tin lange vor der Jaranga und blickte dem sich entfernenden Jäger nach. Goigoi wurde immer kleiner, sie sah ihn noch zwischen Eisblöcken auftauchen, dann blieb er lange Zeit hinter gehäuften Schollen verborgen und erschien wieder vor dem Hintergrund des blanken Himmels als deutlich sichtbarer Punkt. Obwohl er einen Kapuzenpelz aus gebleichtem Jungrobbenfell trug, hob sich dieser vom Eis und vom schmelzenden Schnee ab. Nun erklomm Goigoi eine hohe Eisscholle. Dort stand er lange, und Tin-Tin schien es, er schaue aus der Ferne zu ihr. Ihr Herz, das schon zur Ruhe gekommen war, geriet erneut in Aufruhr, das Blut stieg ihr zu Kopfe und trübte ihren Blick.

Und alles, was gerade erst im warmen, fellverkleideten Schlafgemach geschehen war, brachte sich deutlich in Erinnerung, sodass eine riesige Welle von Glück und Zärtlichkeit sie traf. Dies kam so stark und unerwartet, dass Tin-Tin wankte, es verschlug ihr den Atem, und sie hielt sich kaum aufrecht, schnell griff sie nach dem Lederriemen, an dem der Stein hing, der das Dach der Jaranga sicherte. Als sie wieder klar sehen konnte, stand Goigoi schon nicht mehr auf der Eisscholle. Hatte ihn die eisige Weite geschluckt, oder hatte er sich aufgelöst im Weiß der eisigen Unendlichkeit wie ein Stückchen weißen Schnees, das ins Wasser fällt? Tin-Tin ging in die Jaranga zurück, nahm die Ledereimer und stieg zum Meereseis hinab. In den Schmelzwasserpfützen spiegelten sich der blaue Himmel und die Sonne. Bevor sie Wasser schöpfte, betrachtete sie lange ihr Spiegelbild, erinnerte Goigois Gesicht und hielt in Gedanken Zwiesprache mit ihm. Niemals sprach man alles laut aus, was das übervolle Herz bewegte, denn das wäre lästerlich gewesen. Die vielfältigen Götter, die das Himmelsgewölbe bevölkerten, die in Bergen, Steinen, Gräsern und Blumen sich bargen, sie alle beobachteten wachsam der Menschen Verhalten und waren bereit, ein zufälliges Versagen zu bestrafen.

Dabei, wie verlangte es Tin-Tin danach, diese Worte auszusprechen! Auszusprechen, dass es nichts Wonnigeres gab als seine Berührung, als die Wärme seines männlichen Körpers, seiner schimmernden Haut, die sich weich an die eigene schmiegte, auszusprechen, dass kein Laut schöner war als sein stoßweiser Atem im Moment inniger Vereinigung, kein Anblick angenehmer, als unentwegt in seine Augen mit den glühenden Pünktchen in der bodenlosen Schwärze der Pupillen zu schauen, die runden, noch kindlich geformten Wangen zu betrachten, die vollen Lippen, weich wie überreife Torfbeeren, die dunklen Härchen in der tiefen Mulde zwischen Oberlippe und Nase, die von schwarzem Haar gerahmte Stirn …

Nachdem sie zur Genüge stille Zwiesprache mit ihrem Mann gehalten hatte, schöpfte Tin-Tin Wasser in die Ledereimer, trank selbst vom kühlen Nass, das in die Zähne schnitt, und kehrte zur Jaranga zurück, wo unterdessen Piny und seine Frau erwacht waren. Als jüngste Frau in der großen Familie musste Tin-Tin die schwersten Arbeiten im Haushalt verrichten, doch war ihr dies keine Last, denn sie stammte ja aus der Tundra, aus einem Rentierzüchterlager, wo den Frauen weit härtere Pflichten oblagen: die Nomadenbehausung ab- und aufbauen, Feuerholz sammeln, dabei oft mühsam lange Ranken der Kriechbirke unterm Schnee freilegen, jeden Tag den schweren Fellteppich auf dem Schnee ausklopfen …

Hier, in der Wohnstatt an der Küste, glommen auf der Feuerstelle Teile von Bäumen, die weit entfernt von diesem kalten Ufer gewachsen und vergangen waren; die Herbststürme hatten sie an Land geworfen.

Im kühleren Teil der Jaranga, im Tschottagin, bereitete Tin-Tin das Frühstück, dabei sang sie leise:

Du schmolzest in eisiger Weite,

so wie ein Funke erlischt,

Aber die Wärme blieb dennoch in mir.

Von dannen aufs Meer flog der Taucher,

Nahrung zu suchen der Brut,

Aber sein Nest blieb im Felsen zurück.

Warm ist mein Atem,

mit dem ich das Feuer entfache,

Und du kommst wieder nach Haus.

So auch die Vögel: In schwärmenden Scharen,

mit tönenden Schreien,

Kehren sie heim zu den Nestern …

Der Fellvorhang bewegte sich, hervor lugte Pinys zottiger Kopf. Er lauschte der Stimme der jungen Frau. Wie schön sie sang! Das macht des Singens echte Schönheit aus, wenn Worte und Melodie miteinander verschmelzen. Wovon sang sie denn? Von Vögeln? Wovon sonst sollte sie singen in dieser Frühlingszeit, da alles froh ist?

Unwillkürlich regte sich in Piny ein Gefühl des Neides auf seinen Bruder, doch er verscheuchte es schnell, wie man einen unwillkommen auftauchenden Hund verscheucht. Gemeine Gedanken! Und doch … Wie rasch welkt eines Weibes Körper. Einst hatte seine Frau Ajana ganz ebenso ausgesehen wie diese Zugezogene aus der Tundra, jetzt aber fehlte ihr schon das Feuer, das beide des Nachts nicht schlafen ließ. Noch kürzlich hatte Piny dies nicht bemerkt – bis in der Jaranga Tin-Tin erschien. Das heiße Liebesfeuer, das in der engen Behausung loderte, nur einen Handgriff weit entfernt, entzündete sein ruhig gewordenes Herz und traf auf Stellen, die noch lebendig waren und fähig, von zärtlicher Berührung entflammt zu werden. Allerdings nicht durch die Berührung Ajanas, die niemals schwanger wurde, ungeachtet der ausdauernden Bemühungen ihres Gatten. Ihre Brüste hatten die frühere Form verloren, sie waren schlaff geworden und faltig wie bei einem Walross. Bei ihr fühlte man sich geborgen, das war schon alles. Goigoi aber bei Tin-Tin …

Piny sah Tin-Tin lange und freundlich an. Sie erwiderte seinen Blick mit einem stillen Lächeln und unterbrach ihren Gesang.

Seit sie gekommen war, herrschten Frohsinn und Helligkeit in der kinderlosen Jaranga. Ihre klingende Stimme verdrängte alle trockenen, heiseren Töne, auf einmal wollte jeder klar reden, jeder räusperte sich, bevor er etwas sagte.

»Sing nur, Tin-Tin«, sagte Piny. »Deine Stimme erfreut auch mir das Herz.«

Tin-Tin begann wieder vor sich hinzusummen, doch war es jetzt schon ein Lied für alle, in ihm schwang nicht mehr jenes süße Geheimnis wie im vorigen.

Der Schnee vergeht, das Vorjahrsgras entblößend,

Das bald die grünen Triebe übersprießen …

Ein Mäuslein bahnt sich seinen Weg und gräbt

Sich neue Wohnstatt neben hohem Stängel …

Ein buntes Blümchen lächelt der Morgensonne zu.

Eine singende Frau ist von ganz eigenem Reiz. Der Klang des Liedes verändert sie, macht sie größer und ranker. Und selbst wenn sie dann schweigt, lebt in ihr lange noch das Lied, verheißt Zärtlichkeit, innige Umarmung, Weichheit, die sanft stimmt und zugleich das Bedürfnis weckt, Zärtlichkeit zu erwidern …

Piny verließ die Jaranga, betrachtete gewohnheitsmäßig aufmerksam den Himmel, den Horizont, die fernen Höhenzüge, warf einen Blick zum Meer, wohin Goigoi diesen Morgen gegangen war. Ein leichter Wind wehte von der Tundra her, er brachte eine Ahnung von der Wärme des nahenden Sommers, von frostfreier Erde mit weichem grünem Gras und leuchtenden Blumen.

Äußerlich gab es keinerlei Anzeichen für einen Wetterumschlag, einen Windwechsel. Doch der erfahrene Piny wusste, wie launisch und trügerisch dieses Frühlingswetter voller Sonnenglanz war. Da ging mancherlei vor im Innern der Natur, die von äußeren Mächten beherrscht ward: Unsichtbares, Unerwartetes, Unvorhersehbares.

Da ziehen die Vogelschwärme – Taucher, Kormorane, Enten, Gänse, Schwäne, Kraniche und sonstiges geflügeltes Kleingetier. Sie haben es eilig, die sonnenwarmen Felsen zu erreichen und die heimeligen Bülten an den Seen in der Tundra, um dort ihre Eier abzulegen und den ganzen Sommer geduldig auf das Ausschlüpfen und Heranwachsen ihrer Nachkommenschaft zu warten. Füchse und Wölfe graben Höhlen für ihre Jungen.

Die Rentiere haben schon geworfen, nun weiden sie auf schneefreien Stellen, rupfen zwischen Steingeröll frische Hälmchen und die zarten bläulichen Büschel der Rentierflechte.

Auch die Meeresbewohner richten sich zu dieser Zeit auf die Geburt ihrer Jungen ein: Ringelrobben und Seehunde, Walrosse, Wale und Eisbären.

Nur der Mensch bringt zu jeder beliebigen Zeit Kinder zur Welt. Dies kam Piny auf einmal seltsam vor, und er achtete, nachdenklich, wie er war, nicht auf die Wolke, die über dem Uferhügel hing.

Während des Frühstücks kreisten seine Gedanken um die bevorstehende Tagesarbeit. Zusammen mit seinem Bruder wollte er das Lederboot vom hohen Gestell nehmen, es zum Meeresufer tragen und dort mit schwerem Frühjahrsschnee umhüllen. Wenn der Schnee unter der zunehmenden Sonneneinstrahlung ein wenig taut, wird das Leder feucht und weich und gewinnt seine frühere Elastizität und Spannung wieder.

Später sollte den Göttern geopfert werden, den Beschützern und Helfern bei der Küstenjagd, und vor allem der Großen Urmutter, jener Frau, die mit dem Wal Rëu das Menschengeschlecht gezeugt hatte.

Jedes Mal beim Zelebrieren dieses alten Kults, der in die verschwommenen Fernen des Ursprungs menschlicher Existenz zurückreichte, gedachten die Küstenbewohner der Legende über ihre Herkunft, über jene ferne Zeit, da die Wale als echte Brüder der Menschen verehrt wurden und nicht als Nahrung erlegt werden durften. Nachhall der Vergangenheit war neben diesen Opferungen im Frühling auch das Große Fest des Wals, das jedes Mal gefeiert wurde, wenn die Boote nach erfolgreicher Jagd den riesigen Körper eines Meerestieres an Land brachten. Frühjahrs machte ein einzelner Jäger so reiche Beute, dass die anderen nicht aufs Eis hinaus mussten. Die Lagerstätten für Fleisch und Fett waren voll, und der Mensch ging oftmals ans offene Wasser, nur um seine Jagdleidenschaft zu stillen.

In der Wohnsiedlung gab es viel zu tun: Die Jäger rüsteten zur sommerlichen Walrossjagd, die Frauen nähten wasserfeste Stiefel und wasserdichte Umhänge aus Walrossdarm, auch richteten sie die Sommerbehausung her, welche die warme winterliche ablöste.

Arbeit gab es für alle. Nur die Schlittenhunde sonnten sich träge auf schneefreien Flecken – vorüber war für sie die harte Zeit, vorüber das Fahren mit dem Polarschlitten durch den Schnee, nur selten würden sie im Sommer eingespannt werden, wenn eine schwere Last durch die feuchte Tundra zu bringen war …

Piny löste die von Frost und Winterstürmen hart gegerbten Riemen, mit denen das Boot befestigt war, und dabei hörte er, wie aus der Jaranga abermals das liebliche Lied erklang, Locklied, Sehnsuchtslied, Lied des Gedenkens an den Gatten, der zur Frühlingsjagd ausgezogen war:

Du schmolzest in eisiger Weite,

so wie ein Funke erlischt,

Aber die Wärme blieb dennoch in mir.

Von dannen aufs Meer flog der Taucher,

Nahrung zu suchen der Brut,

Aber sein Nest blieb im Felsen zurück.

Warm ist mein Atem,

mit dem ich das Feuer entfache,

Und du kommst wieder nach Haus.

So auch die Vögel: In schwärmenden Scharen,

mit tönenden Schreien,

Kehren sie heim zu den Nestern …

Vom ständigen Blick auf das Wasser, das unter greller Sonne glitzerte, ermüdeten die Augen bald, und Goigoi schaute zum blauen Himmel auf, um ihnen Erholung zu gönnen.

Hin und wieder vergaß der Jäger alle Vorsicht und veränderte seine Lage, wandte den Körper einem Vogelschwarm nach, der zum fernen blauen Ufer hin flog. Er sah den großen Hügel bei der Siedlung, darüber eine leichte Wolke. Und sofort waren all seine Gedanken wieder in der Jaranga, bei Tin-Tin …

Es war schwer, danach erneut die Aufmerksamkeit zu spannen und den Blick auf die endlose Weite des Meeres zu richten.