Unter Strom - Petra Krumme - E-Book

Unter Strom E-Book

Petra Krumme

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Beschreibung

In ›Unter Strom‹ thematisiert Petra Krumme einen blinden Punkt vieler Debatten über den Energiewandel: die versteckten sozialen Fragen, die in den Diskussionen über die Errichtung von Windparks und neuen Stromtrassen untergehen. Wer bekommt die Anlagen letztlich vor die Nase gesetzt und wer zahlt den Preis dafür? Es sind vor allem sozial schwächer gestellte Gruppen, denen die Opfer für die ökologische Neuausrichtung der Gesellschaften aufgebürdet werden. Angesichts der politischen Lippenbekenntnisse zur Abkehr von fossilen Energien stellt sich zudem die Frage: Kann es eine Wende vielleicht ›nur‹ als »Energiewende von unten« geben? Während die amerikanische Energiedemokratie-Bewegung nach Deutschland blickt, wenn sie ihre Vorbilder benennen soll, richtet sich der Blick zurück in die USA, wenn es um die Sensibilität für diese sozialen Aspekte der Energiewende geht. Um von der amerikanischen Debatte für den deutschen Kontext lernen zu können, hat Krumme in den USA zwölf Interviews mit Initiator_innen und Aktiven geführt und deren Erkenntnisse von deutschen Repräsentant_innen der Bürgerenergiebewegung in kurzen Feedbacks kommentieren lassen. Nicht nur bei der Entscheidung für oder gegen fossile Energien, auch bei der Entscheidung für oder gegen eine lokale Energieversorgung geht es um nichts weniger als um die Frage basaler Menschenrechte. Das Fazit: Es gibt viel voneinander zu lernen und jede_r kann mit der Weltrettung direkt vor der eigenen Haustür loslegen.

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Seitenzahl: 256

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Petra Krumme

UNTER STROM

Die wachsende Energiedemokratie-Bewegung in den USA und was wir von ihr lernen können – 12 Interviews

ISBN (Print) 978-3-96317-322-6

ISBN (ePDF) 978-3-96317-874-0

ISBN (ePUB) 978-3-96317-887-0

Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover: Felix Kempf

Layout: Auf der Basis eines Entwurfs von Felix Kempf, fx68.de

Druck und Bindung: Druckhaus Sportflieger, Berlin

Die verwendeten Druckmaterialien sind ein FSC-Mix.

Printed in Germany

Das für den Druck verwendete Papier trägt das Siegel des Blauen Engels.

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Menschliche Wärme wird den Planeten kühlen.

Sailesh Rao

Wir wachen gerade als Weltgemeinschaft auf – aber es ist dieser Moment inmitten eines Albtraums, wo wir paralysiert sind und unfähig, zu handeln.

Denn die Öl- und Gaslobby hat unsere Gesetzgebungsprozesse inzwischen fest im Griff und ist so einflussreich wie nie zuvor. Deshalb ist es ist jetzt unerlässlich, dass das Lobbying ein Gegenlobbying erhält.

Brynn O’Brien

UN Forum on Business and Human Rights, November 2021

INHALT

Geleitwort von Prof. Dr. Mojib Latif

Wie kam es zu diesem Buch?

Der Kampf um eine andere Energie – eine Operation am offenen Herzen

01Was man dem Land antut, tut man den Menschen an

Tiffany Pyette

02Der CO2-Fundamentalismus ist ins Leere gelaufen

Al Weinrub

03Das meiste spielt sich ungesehen von den Bürgern ab

John Farrell

Input #1: Energiewende vor Ort gemeinschaftlich vorantreiben – gewusst wie

Janina Kosel

04Für einen fairen Prozess muss man sich bewusst Zeit nehmen

Anthony Giancatarino

05Eine sauberere Energie bedeutet eine reinere Demokratie

Denise Fairchild

06Macht nicht den gleichen Fehler wie wir und lächelt über kleine rechte Parteien

Basav Sen

07Frauen sind üblicherweise gut darin, zugleich zu führen und zu teilen

Elizabeth Yeampierre

Input #2: Betrachtungen und Impulse für eine andere Energiewende in Deutschland

Marika Kuschan

08Es war eine große Herausforderung, den Menschen Mut zu machen, für ihre Rechte einzustehen

Miya Yoshitani

09Nein, die USA sind auf keinem guten Weg

Anya Schoolman

10Kein Ort, keine Community, kein Körper darf eine Sacrifice Zone sein

Michelle Mascarenhas

11Wir müssen alle mitnehmen

Rachel Norton & Chris Woolery

12Das Energy Democracy Project

Crystal Huang

Input #3: Welche Forderungen gegenüber der Politik sind im Sinne einer schnellen Energiewende?

Viola Theesfeld

Anhang: Endnoten und Kurzbiografien

Geleitwort von Prof. Dr. Mojib Latif

Vor einem halben Jahrhundert, 1972, veröffentlichte der Club of Rome den Bericht Die Grenzen des Wachstums. Der Bericht war ein Weckruf, zeigte er doch, dass die Menschen dabei waren, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen, sprich die Lebensbedingungen auf der Erde dramatisch zu verschlechtern. In Die Grenzen des Wachstums heißt es: »Nichts zu tun, erhöht das Risiko eines Kollapses […]. Wenn die Weltgesellschaft wartet, bis die Belastungen und Zwänge offen zutage treten, hat sie zu lange gewartet.« Was damals vielleicht abstrakt geklungen haben mag, ist heute bittere Wahrheit. Das wohl prominenteste Beispiel dafür, dass sich die Lebensbedingungen auf dem Planeten mit einem atemberaubenden Tempo verschlechtern, ist der menschengemachte Klimawandel in Form der globalen Erwärmung. Die Auswirkungen der Erderwärmung sind unübersehbar und sie betreffen schon viele Millionen von Menschen. Zunehmende Hitzewellen, Dürreperioden, Starkniederschläge mit katastrophalen Überschwemmungen oder die immer schneller steigenden Meeresspiegel sind nur einige Beispiele, wie sehr sich das Klima schon verändert hat. Schaffen wir die Umkehr nicht, sind dramatische Folgen für die Weltwirtschaft und -sicherheit programmiert. Die Weltgesundheitsorganisation sieht den Klimawandel als die größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit.

Trotz alledem scheinen die Menschen unfähig zu sein, etwas gegen die fortschreitende globale Erwärmung zu unternehmen, zumindest, wenn man es an den weltweiten Emissionen von Kohlendioxid (CO2) misst, dem bei Weitem wichtigsten Treibhausgas. Sein Ausstoß ist allein seit 1990 um sage und schreibe ungefähr 60 Prozent gestiegen. Die Krux: Nur die weltweiten Emissionen zählen, weswegen dem Klimaproblem nicht national beizukommen ist. Der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King jr. sagte einmal, dass es »so etwas gebe, wie zu spät zu kommen«. Der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama griff dies 2015 anlässlich der Pariser Klimakonferenz auf und fügte hinzu »… und wenn es um den Klimawandel geht, ist diese Zeit schon fast gekommen«.

Die Menschen stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Zeit zum Handeln läuft ab, um doch noch eine Klimakatastrophe zu vermeiden. Die Lösung des Klimaproblems wäre denkbar einfach: Wir müssen zügig Abschied nehmen von den fossilen Energien und den Erneuerbaren Energien zum Durchbruch verhelfen. Sonnenenergie und Windkraft sind im Überfluss vorhanden, wie müssen sie nur nutzen. Die Mittel dazu hätten wir, die technischen wie auch die finanziellen. Trotzdem reagieren Politik und Wirtschaft entweder gar nicht oder viel zu langsam. Die Gründe dafür, dass wir beim Klimaschutz nicht vom Fleck kommen, wie zum Beispiel eine viel zu starke Einflussnahme der Energiekonzerne auf politische Entscheidungen oder kurzfristiges Gewinnstreben, sind bekannt. Ich fürchte, daran wird sich in naher Zukunft auch nichts ändern. Was bleibt uns also übrig?

Aurelio Peccei, einer der Mitbegründer des Club of Rome, forderte eine kulturelle Revolution, um den Herausforderungen im Zusammenhang mit dem technologischen Wandel Herr zu werden. Die Bürgerinnen und Bürger können diese Revolution herbeiführen oder zumindest unterstützen. Sie sollten das Heft in die Hand nehmen. Es gibt zahlreiche Beispiele, dass dies alles andere als aussichtslos ist. Nehmen wir den deutschen Atomausstieg; ohne den Druck von »unten« wäre der nicht möglich gewesen. Oder die deutsche Wiedervereinigung; es waren die Bürgerinnen und Bürger selbst, die die Teilung des Landes beendet haben. Nehmen wir die deutsche Energiewende. Man hat uns seitens der Energiekonzerne weismachen wollen, dass die erneuerbaren Energien nur einen Bruchteil unseres Energiebedarfs decken können. Heute sind wir schon bei gut 50 Prozent im Stromsektor. Und schließlich das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Teile des deutschen Klimaschutzgesetzes für verfassungswidrig erklärte, weil es die Rechte der jungen Menschen nicht hinreichend berücksichtigt hatte. Geklagt hatte eine Familie von der Nordseeinsel Pellworm, die wegen des rasant steigenden Meeresspiegels unterzugehen droht. David gegen Goliath. Was für eine Geschichte. Das vorliegende Buch beschreibt eindrucksvolle Beispiele aus den USA, die zeigen, was alles schon jetzt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten stattfindet. Der Wandel zum Guten hat begonnen. Jeder und jede ist aufgerufen, auf diesen Zug aufzuspringen. Alles ist möglich, wie müssen es nur wollen.

Mojib Latif, geb. 1954, ist Professor am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Er ist Meteorologe und Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zum Klimawandel.

WIE KAM ES ZU DIESEM BUCH?

Nach meinem ersten Artikel für die Süddeutsche Zeitung über die Gwich’in in Nordkanada und Alaska im Oktober 2019 war ich auf der Suche nach einem neuen Thema. Die Gwich’in kämpfen gegen Öl- und Gasbohrungen im Arctic National Wildlife Refuge, einem ihnen heiligen Gebiet, weswegen das neue Thema idealerweise ebenfalls dazu beitragen sollte, die nachteiligen Seiten der fossilen Energien zu beleuchten.

Kurze Zeit nach Erscheinen des Artikels war ich zu einem Brunch einer Freundin aus dem Businessmilieu eingeladen. Die hauptsächlich aus jungen Eltern und ihren kleinen Kindern bestehende Runde versammelte sich in einem eher vornehmen Viertel in Hamburg-Eilbek. Es stellte sich heraus, dass einer der Väter gerade von einer Geschäftsreise in die USA zurückgekehrt war. Er war seit vielen Jahren in der Solarbranche tätig und erzählte, dass es dort gerade einen Boom gebe, der vergleichbar sei mit den Entwicklungen in Deutschland vor zehn oder zwölf Jahren. Selbst in konservativen Bundesstaaten treffe man auf der Straße Leute, die Solarenergie gut fänden und sie für eine Zukunftstechnologie hielten. Weil es in den USA aber – wegen des großen Landes, den vielen unterschiedlichen Bundesstaaten und Regelungen – sehr kompliziert sei, gebe es gerade unheimlich viel zu verhandeln, zu regeln, neue Richtlinien zu entwerfen, Kontakte zu knüpfen und Gespräche auf verschiedensten Ebenen zu führen. Er strahlte die geschäftlichen Chancen dieser Solarzukunft geradezu aus.

Nach meinem Besuch bei den Gwich’in war ich nicht sicher, ob ich in die Begeisterung voll einsteigen konnte. Alles sah ein bisschen zu rosig aus, und ich fragte mich, wo die Nachteile lägen und wer sie zu tragen haben würde. Wie zur Bestätigung holte der junge Vater sein Handy heraus, um uns zu zeigen – inzwischen sah uns auch meine Freundin, die zum Brunch eingeladen hatte, über die Schulter –, wie visionär und mutig die Amerikaner Problemlösungen angingen. Er demonstrierte uns die naturgetreue Animation einer Idee, wie man in Zukunft Energie gewinnen und zugleich das Problem der Speicherung lösen könnte: ein riesiger Betonklotz mitten in einer Wüste, ein dreißig, fünfzig oder sogar hundert (?) Meter hoher Turm. An den Seiten hingen an Stahlseilen schwere Betonbrocken herab.

»Bei Sonne«, erklärte der Solarfachmann, »werden durch umgewandelte Solarenergie die Gewichte in die Höhe gehievt. Dort bleiben sie, bis Energie gebraucht wird, dann werden sie nach unten fallen gelassen und erzeugen Energie, die dann genutzt werden kann.« »Fantastisch«, sagte meine Freundin, und so schien es wirklich.

Mir kamen Zweifel: In welcher Wüste würden die hässlichen Türme aufgestellt, woher kämen die Rohstoffe, wie würden diese dort hingebracht, wo liefen die Leitungen lang und aus welchem Material sollten diese sein? Kurz, welche Nachteile hätte diese geniale Idee der Stromerzeugung und wer würde diese auf sich nehmen müssen? Mutmaßlich lebten die strombedürftigen Kunden, für deren Nutzen das Projekt erdacht wurde, in weit entfernten Zentren.

Ich tastete mich vor und erzählte, dass ich gerade in einem Newsletter der Organisation Carpathia, die für den Schutz Europas letzter Urwälder in den Karpaten kämpft, gelesen hatte, dass dort die letzten ungehindert fließenden Flüsse in akuter Gefahr seien. Grund dafür sind Wasserkraftwerke, die dort gebaut werden – eine grüne Energie –, die ein enormes Desaster für die Natur bedeuten werden. Wie vermutet hatte der Solarvater kein besonderes Ohr für diesen Beitrag. Es schien, als drohte ich in der Sparte »innovationsfeindliche Europäerin« zu landen.

Aber mein Interesse war geweckt – und mein neues Artikelthema geboren: Gibt es in den USA, wo anscheinend die grünen Energien einen Hype erleben wie bei uns ein Jahrzehnt zuvor, so etwas wie Bürgerenergieprojekte, vergleichbar denen in Deutschland? Communitys, die ihren eigenen Strom erzeugen à la Elektrizitätswerke Schönau?

Zum Glück stieß mein Vorschlag beim SZ-Redakteur auf offene Ohren und ich begann zu recherchieren. Es war eine selbstgewählte Herausforderung. Ich würde mit verschiedenen Amerikanern Interviews in Englisch am Telefon führen müssen, in einem Milieu, mit dem ich möglicherweise überhaupt keine oder kaum Überschneidungen hatte. Und wenn ich ehrlich war, wusste ich auch von den Energie-Gemeinschaften hierzulande und der deutschen Energiewende so gut wie nichts.

Was ich bei der Recherche zunächst über die Energiewende in Deutschland und dann über die Entwicklungen in den USA herausfand, ließ mich bass erstaunt zurück. Es war nicht nur so, dass es in den USA tatsächlich, wie in Deutschland, Bürgerenergieprojekte gibt. Sondern es zeichnete sich ab, dass es eine sehr junge, aber wachsende Bewegung ist, die mit verschiedenen Bewegungen der letzten Jahre Überschneidungen hat. Zu diesen gehören Occupy Wall Street, Black Lives Matter und Standing Rock, aber auch Teile der Bürgerrechtsbewegung. Es sind oft Communitys, die – anders als in Deutschland – aufgrund von Herkunft, Hautfarbe oder Wohlstandslevel eher zu marginalisierten Bevölkerungsgruppen gehören. Aber nicht nur. Genau wie hierzulande gibt es auch nicht-prekäre Mittelschichtshaushalte – in der Regel weiß –, die sich schlicht für Solardächer einsetzen.

In Anbetracht der Energiewende in Deutschland und des Nachweises, den sie erbrachte – nämlich wie schnell ein Ausbau der Erneuerbaren möglich ist, wenn Bürger selbst aktiv werden und von der Politik unterstützt werden – und der nachfolgenden Entwicklungen in den USA ist der David-Goliath-Plot der Story eigentlich so unglaublich, dass er wie ein Paukenschlag in die Welt dröhnen müsste. Die Diskussion um die Energie und die Antwort auf die bange Frage, ob die weltumspannende Realisierung einer Energiewende hin zur dezentralen, demokratisch organisierten Bürgerenergie möglich ist, scheinen absolut essenziell für die Zukunft des Planeten.

Warum weiß man in Deutschland so wenig darüber, was hierzulande wundersam geschafft wurde – zusammen mit den Dänen? Warum wissen die Amerikaner es zum Teil besser, was jenseits des Atlantiks gut gelang – aber bleiben und kämpfen für sich, ungesehen vom Rest der Welt? Warum wurden, bei aller Dringlichkeit des Klimawandels, die Fortschritte in Deutschland klammheimlich verloren gegeben, sodass im Jahr 2021 der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch im Vergleich zum Vorjahr sogar um 4,6 Prozent gesunken war? Und warum gab es keinen lauten Aufschrei darüber, dass die Energiewende von unten (vor der veränderten politischen Situation im Februar 2022) massiv ausgebremst worden war? Im ersten Halbjahr 2022 war der Anteil dann wieder auf 51 Prozent geklettert.

Dieses Buch will der von mir wahrgenommenen Stille etwas entgegensetzen. Die Interviews, die ich führte und von denen man naturgemäß immer nur einen kleinen Ausschnitt in Artikeln aufnehmen kann, waren zu inspirierend, um in der Schublade zu verschwinden. So entschied ich mich, sie abzutippen und als Band herauszubringen – eine Sammlung verschiedener Stimmen, verweisend auf viele, viele weitere, die voller Inspiration wären und noch mehr Fenster öffnen würden. Vielleicht helfen sie uns, dranzubleiben, und anderen, sich auf den Weg zu machen.

DER KAMPF UM EINE ANDERE ENERGIE – EINE OPERATION AM OFFENEN HERZEN

Der CO2-Gehalt in der Erdatmosphäre steigt: Noch nie lag er so hoch wie heute. Anhand von Eiskernmessungen, die Aufschluss über die letzte Million Jahre geben, lässt sich die CO2-Konzentration für Eiszeiten auf 180 ppm (parts per million), für die warmen Interglazialzeiten auf 280 ppm festlegen. So hoch wie jetzt – 419,25 ppm (Stand 7.1.2023) – lag der Wert noch nie, er liegt etwa 50 Prozent über dem Interglazialnormal unserer Zeit.1

Peter Wadhams, einer der weltweit erfahrensten Polar- und Meereisforscher, beschreibt in seinem jüngsten Buch Abschied vom Eis – Ein Weckruf aus der Arktis den Zusammenhang zwischen steigendem CO2-Gehalt und steigenden globalen Temperaturen. Das Erschreckende: Auch wenn der CO2-Wert immer neue Rekorde bricht, ist die globale Temperatur noch gar nicht da, wo sie aufgrund des aktuellen CO2-Gehalts sein müsste. Sie müsste 3,9 Grad höher sein. Sie ist dies wahrscheinlich deshalb noch nicht, weil die Ozeane den Planeten noch kühlen, die umwälzenden Wassermassen die Wärme aufnehmen – so lange, bis sie durchwärmt sind und den Temperaturanstieg nicht mehr ausgleichen können. Ein Detail, von dem man selten liest.

Um sich vorstellen zu können, was die steigenden Temperaturen, von der Arktis ausgehend, für die Erde bedeuten, beschreibt Wadhams in seinem Buch die physikalischen Rückkopplungen, die das Schmelzen des arktischen Meereises verursacht und die das Klima weltweit verändern. Beim Lesen läuft es einem eiskalt den Rücken herunter. Er nennt neun Rückkopplungseffekte, darunter die Eis-Albedo-Rückkopplung und die Rückkopplung durch Rückgang der Schneegrenze in arktischen Küstenregionen sowie durch Ablagerung von Ruß – je weniger weiße Fläche, desto weniger Sonnenenergie wird zurückgeworfen und desto schneller erwärmen sich Eisfläche, Wasser und Land. Bei der Wasserdampfrückkopplung erzeugt jedes zusätzliche Grad Temperatur 7 Prozent mehr Wasserdampfgehalt in der Luft, und je mehr Wasserdampf, desto mehr Strahlungsenergie bleibt in Erdnähe – was wiederum zu höheren Temperaturen führt. Dazu wird die Meereisschmelze durch schmelzende Eisschilde und den Meeresspiegelanstieg weiter beschleunigt. Der dramatischste Rückkopplungseffekt ist die Freisetzung von Methan durch das massenhafte Tauen des Permafrostbodens. Diese sich gegenseitig verstärkenden Effekte sorgen mittels einer »Todesspirale« für immer weniger arktisches Meereis. Die Arktis könnte aufhören, als Motor der Meeresströmungen weltweit zu funktionieren. Nichts müsste also wichtiger sein, als das Ansteigen des CO2-Gehalts in der Atmosphäre zu verhindern, das zu dieser Todesspirale führt.

»Rund zwei Drittel der CO2-Emissionen stammen aus Energieproduktion und -verbrauch, sie liegen somit all unseren Bemühungen zugrunde, den Klimawandel zu bekämpfen«, so eine Studie der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien (IRENA).2 Das heißt: Die Energieproduktion und der Energieverbrauch sollten schleunigst CO2-ärmer werden. Deshalb der Ruf nach einer schnellen Wende zu erneuerbaren, CO2-neutralen Energien.

Die Realität scheitert an diesem Anspruch krachend: Laut IRENA nimmt der Anteil erneuerbarer Energien zwar weltweit zu – aber nicht in der nötigen Geschwindigkeit. Um bis 2030 die Emissionen zu halbieren, was der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) fordert, um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen, müsste der jährliche Zuwachs an erneuerbaren Energien weltweit dreimal so schnell stattfinden wie momentan. Allein die Menge an Photovoltaik-Anlagen müsste sich versiebenfachen.3 Es geht überhaupt nicht schnell genug voran. Und sogar noch schlimmer: Der Energiesektor, der nach wie vor global gesehen zu drei Vierteln aus fossiler Energie (Öl, Gas und Kohle) besteht, setzt weiterhin massiv auf diese Formen der Energiegewinnung. Das Statistikportal Ibisworld gibt trotz aller Diskussionen um den Klimaschutz für die Jahre 2017 bis 2022 »ein globales durchschnittliches Wachstum des Öl- und Gassektors um 12,3 Prozent« an. Ähnlich beziffert der Oil and Gas Global Market Report 2022 das Wachstum des globalen Öl- und Gasmarktes zwischen 2021 und 2022 auf knapp zwölf Prozent.4

Wie viel Verlass ist also auf Vertreter des konventionellen Energiesektors, wenn sie sich als Vorkämpfer für grüne Energien und Experten für die Energiewende präsentieren?

Ein unfassbares Beispiel aus der deutschen Energieindustrie, das schon oft zitiert wurde, aber immer noch nicht bekannt genug ist: Im Jahr 1993, als die Herstellung und Installation von Solar- und Windanlagen noch konkurrenzlos teuer waren, gab es eine Anzeige der großen deutschen Versorgungsunternehmen, darunter RWE, in der es hieß: »Sonne, Wasser oder Wind können auch langfristig nicht mehr als 4 % unseres Strombedarfs decken.« Es war als Warnung gedacht, nur nicht auf die Möglichkeiten alternativer Energien zu hoffen.

Doch bereits in den 1970er-Jahren hatte vor allem in Deutschland und in Dänemark eine Entwicklung eingesetzt, die weltweit den Lauf der Dinge entscheidend beeinflussen sollte: Bürger, die sich gegen den Bau konventioneller Kraftwerke stemmten, sorgten dafür, dass die ersten Energiecommunitys entstanden – selbstgestaltete, unabhängig organisierte Energieerzeugung und -verteilung vor Ort. Durch zähes, langatmiges und Parteien übergreifendes Zusammenarbeiten einiger weniger hartnäckiger Politiker und unter Ausnutzung günstiger Momente, in denen die Aufmerksamkeit der Politik auf anderen Dingen lag, sowie durch die unermüdliche Arbeit einzelner Bürger und ihrer Vereine wurden in Deutschland 1991 das Stromeinspeisungsgesetz und 2000 das erste Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) verabschiedet. Bürger, die selbst erzeugte Energie ins Stromnetz einspeisten, bekamen dafür ab nun eine garantierte Vergütung.

Infolgedessen wuchs der Anteil erneuerbarer Energien am deutschen Strom schneller, als alle Analysten, Experten, Unternehmer und Politiker erwartet hatten: bis 2010 auf 17 Prozent, bis 2014 auf 27 Prozent, 2019 auf 42 Prozent und 2020 auf 45 Prozent, bei der Nettostromerzeugung sogar auf 50 Prozent. Damit wurden viele EEG-Zielsetzungen übertroffen und man musste nachträglich die anvisierten Prozentmarken erhöhen – ein unglaubliches, nie da gewesenes Szenario. Durch die angeschobenen Entwicklungen wurde mehr entwickelt und produziert und die Preise fielen – und zwar weltweit. Die deutsche und dänische Bürgerenergie gab der Entwicklung grüner Energien weltweit einen Boost, ohne den der Stand heute ein anderer wäre – ein Faktum, das hierzulande weitgehend unbekannt ist. Viele Energiegenossenschaften und viele kleine Unternehmen schafften einen schnelleren Wandel, als jemals für möglich gehalten worden war.

»Die lokale Verwurzelung, der hohe Grad an Mitbestimmung und Transparenz sowie die enge Ausrichtung an den Bedürfnissen der Mitglieder verbessern erheblich die Akzeptanz für die Energiewende«, so der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V (DGRV) in einem Positionspapier. »Die Menschen sind viel eher bereit, ein Windrad oder eine Biogasanlage im eigenen Heimatort zu akzeptieren, wenn sie selbst daran beteiligt sind und die Wertschöpfung in der Region bleibt.«5

Hermann Scheer, SPD-Politiker und ein Vorkämpfer für die Energiewende, sagte im Jahr 2000 im Bundestag, dass Deutschland die Kosten der Energiewende – nämlich diesen ersten umlagefinanzierten Entwicklungsanschub, die garantierte Einspeisevergütung durch die Vorrangstellung der ins Stromnetz eingespeisten grünen Energie, den die Erneuerbaren brauchten, um erschwinglicher zu werden –, auf sich genommen hätte, weil das Land es sich leisten konnte. Dies sei ein Beitrag zur globalen Energiewende, nicht zuletzt für Länder des Südens, im Wissen, selbst Mitverursacher des Klimawandels zu sein und zur Lösung mit beitragen zu müssen.6

Die Windenergie deckte 2020 27 Prozent des deutschen Stroms – mehr als die Braun- und Steinkohlewerke zusammen. Doch da hört die Erfolgsstory auf: »Der Windenergieausbau in Deutschland erreichte vor der Einführung des Ausschreibungsmodells 2017 jährlich Spitzenwerte«, so das Portal strom-report.de. Mehr Bürokratie, Zubau-Beschränkungen und komplizierte Bewerbungsverfahren führen seither dazu, dass der Zubau dramatisch zurückgeht. Die Neuinstallationen sanken 2021 um 74 Prozent gegenüber 2017. Bisher ist keine Trendwende in Sicht. Das von der Politik anvisierte Ausbauziel für Windräder bis 2030, eine Verdopplung der Anlagen, gestaltet sich als schwierig.7

Die Solarenergie stieg im Jahr 2022 auf inzwischen 16 Prozent des deutschen Strombedarfs und erfüllte damit als einzige erneuerbare Energieform die vorgegebenen Ausbauziele.8 Der Ausbau war ab 2013 gesunken und erst ab 2018 wieder gestiegen, ohne all die Jahre auf die Zubau-Raten von vor 2013 zurückzukehren – das gelang erst wieder im Jahr 2022. Der Anteil erneuerbarer Energien an der öffentlichen Nettostromerzeugung stieg von 45,6 Prozent im Jahr 2021 auf 49,6 Prozent 2022.

Man kann es nicht laut genug und oft genug sagen: In Deutschland ist der Ausbau der erneuerbaren Energien nach dem ersten Boom lange Zeit ins Stocken geraten – und nimmt viel zu langsam wieder Fahrt auf.

Dabei beschloss die Europäische Union im Dezember 2018 sogar eine Erneuerbare-Energien-Richtlinie, die Bürgerenergie in ganz Europa stärken soll. Die Vision ist eine Energieunion, »in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen, die Verantwortung für die Energiewende übernehmen, neue Technologien zur Senkung ihrer Energiekosten nutzen und aktiv am Markt teilnehmen«. Es geht hier also um jene Bürgerenergie, die den schwerfälligen, ausbremsenden Prognosen der Energieindustrie ein Schnippchen schlug und ein Grüne-Energien-Wunder vollbrachte. Laut Bündnis Bürgerenergie e.V. eröffnet die Richtlinie der Bevölkerung unter anderem die Möglichkeit, regional erzeugte erneuerbare Energie auch regional zu nutzen – und zwar ohne große finanzielle Belastungen und bürokratische Hürden.

Die Große Koalition hatte bis zum 30. Juni 2021 Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Doch sie blieb untätig und setzte die Richtlinie nicht um, weshalb die EU im Mai 2022 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitete.9 Doch auch die seit Herbst 2021 regierende Ampel-Koalition hat die Richtlinie in ihrem ersten Regierungsjahr nur unvollständig umgesetzt. Zwar gibt es in der aktuellen Fassung des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG 2023) nun eine Definition von Bürgerenergiegesellschaften, die den Anforderungen der EU-Richtlinie Rechnung trägt und ihnen die Möglichkeit einräumt, ohne Teilnahme an einer Ausschreibung Windprojekte bis 18 Megawatt und Solarprojekte bis 6 Megawatt umzusetzen. Energy Sharing ist im deutschen Recht jedoch weiterhin nicht vorgesehen, obwohl die Regierung dieses Ziel explizit in den Koalitionsvertrag aufgenommen hatte. Energy Sharing beschreibt das Recht der Mitglieder von Bürgerenergiegesellschaften, den gemeinsam erzeugten Strom auch gemeinsam zu nutzen. Auch lose Zusammenschlüsse gemeinsam handelnder Eigenversorgerinnen und Eigenversorger sind weiterhin im deutschen Recht nicht vorgesehen.

Im Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. sind 847 deutsche Energie-Gemeinschaften mit etwa 220 000 Mitgliedern registriert, aber die Entwicklung stagniert: 700 von ihnen entstanden bis 2013, im Jahr 2020 sind nur 13 neue hinzugekommen.10 Die Autoren Arne Jungjohann und Craig Morris beschreiben in ihrem Buch über die deutsche Energiewende den andauernden Kampf. »Zu bestimmten Zeiten gab es Fortschritte durch einen Ruck nach vorn, nur um wieder für Jahre steckenzubleiben, während die Befürworter gegen einen Rückschlag ankämpften. Es gab nie einen Masterplan, und heute gibt es immer noch keinen. Und der Gegenwind ist real.«11

Man sagt: Alles, was in Amerika passiert, passiert zehn bis zwanzig Jahre später bei uns. Diesmal scheint es umgekehrt zu sein, bei vielen Energie-Communitys in den USA gelten die Ereignisse in Deutschland als Vorbild. Während der Genossenschaftsboom in Deutschland Gegenwind erfährt und erlahmt, gewann in den letzten Jahren eine neue Idee und – damit verbunden – ein neuer Begriff in den USA an Bedeutung und Bekanntheit: energy democracy – Energiedemokratie.

Als ich durch die Tür ging, auf der stand »Gibt es ein ›Elektrizitätswerke Schönau‹ American Style?«, hätte ich nicht gedacht, am Ende bei einer Tür wieder herauszukommen, auf der »Sturm aufs Kapitol« steht – der 6. Januar 2021, an dem weiße Nationalisten in das Kapitol in Washington eindrangen mit der Begründung, man hätte ihnen den Wahlsieg gestohlen. Aber so ist es: Viele wichtige Stimmen dieser jungen Bewegung haben ihre Wurzeln in der Environmental-Justice-Bewegung, die 1991 in Washington im Rahmen des internationalen First National People of Color Environmental Leadership Summit entstand. Dort wurden 17 Prinzipien niedergeschrieben, die sich der strukturellen Benachteiligung von indigenen und PoC-Gemeinden, Einwanderercommunitys oder Nachbarschaften mit niedrigen Einkommen entgegenstemmen, die überproportional von den negativen Auswirkungen der konventionellen Energiewirtschaft betroffen sind. Energiedemokratie ist für viele nur ein Teil eines breiter angelegten Kampfes für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine inklusive, demokratischere Gesellschaft.12

Viele dieser Communitys werden also noch aus einer ganz anderen, viel benachteiligteren Position heraus aktiv als die deutschen, mehrheitlich zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehörenden Erneuerbare-Energien-Gemeinschaften. Marginalisiert und oft seit Generationen an Leib und Leben vom vorherrschenden Energiesystem betroffen, legen sie einen Finger in die global schwelende Wunde. Sie zeigen auf, wie – größtenteils ungesehen, ungehört und totgeschwiegen – die Kehrseite dieser Wirtschaft aussieht und dass sie eine Ausformung des institutionellen Rassismus der westlichen Gesellschaften ist, wo Menschen mit anderer Hautfarbe, Herkunft oder Kultur und arme Menschen mehrheitlich die Kosten der gut situierten weißen Mehrheitsgesellschaft tragen und strukturell ausgegrenzt werden.

Dies macht die Bewegung in heutiger Zeit so bedeutsam: Wenn »100 % erneuerbare Energien« bedeutet, dass riesige Stromtrassen Energie von Mega-Solar- und Windfeldern in weit entfernte Gebiete transportieren, dass die Kontrolle darüber, wo diese Felder und Trassen gebaut werden und wer davon profitiert, in der Hand derjenigen bleibt, die bisher die konventionellen Energieformen kontrollieren, wenn diese Stromerzeugung wieder auf Landstrichen sein wird, wo eigentlich Indigene leben, und wenn die Unzulänglichkeiten dieser neuen Energie – wie eine hohe Störanfälligkeit durch Klimaextreme – wieder vulnerable Gruppen trifft, die in den USA sehr oft nicht weiß sind, dann scheint hinter der Forderung nach »100 % erneuerbare Energien« die kalte, monströse und unmenschliche Fratze des Rassismus auf. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Energiedemokratie-Bewegung gerade darum kämpft, zu entstehen und zu wachsen. 73 Milliarden Dollar an Investitionen fließen in den USA in nächster Zeit in diese mächtige Infrastruktur mit Tausenden Meilen an Stromkabeln.13

Und wie sieht es in Deutschland in dieser Hinsicht aus? Eine Kurzstudie der Heinrich Böll Stiftung aus dem November 2021 konstatiert: »Im Kontrast zu diesen gesellschaftlich getragenen Entwicklungen [in den USA] findet die Auseinandersetzung mit Umweltgerechtigkeit in Europa vornehmlich in der Wissenschaft statt.« Auch hier leben marginalisierte Bevölkerungsgruppen proportional häufiger in der Nähe industriell verschmutzter, gesundheitsgefährdender Orte. Der Schwerpunkt der Forschung liege aber auf Einkommensunterschieden, der Aspekt der Hautfarbe, des »Umweltrassismus«, finde in europäischen Studien kaum Beachtung.14 Die vorliegenden Daten weisen aber darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger als Weiße in der Nähe von industriellen Umweltrisiken leben. Je höher der Ausländeranteil einer Nachbarschaft, desto höher die Wahrscheinlichkeit der Nähe zu toxischen Stoffen. Und was nach dem Genozid an den Sinti und Roma im Dritten Reich besonders in Deutschland erschrecken sollte: Ein Bericht des European Environmental Bureau zeigt auf, dass Sinti und Rom häufig in Gegenden verdrängt werden, die mit Giften belastet sind, und gleichzeitig von wichtigen Gütern und Dienstleistungen wie Trinkwasserversorgung oder Abfallentsorgung ausgeschlossen werden.15 Eine der Lektionen aus den USA wäre es, diese Communitys hinsichtlich einer lokalen regenerativen Energieversorgung die erste Stelle einnehmen zu lassen.

Doch zurück in die USA.

Im Westen Nordamerikas wüteten die letzten beiden Sommer wieder Brände, schlimmer als je zuvor. Wissenschaftler sprechen inzwischen von einer Megadürre – einer Jahrtausenddürre, von der sich die Natur allenfalls über einen langen Zeitraum erholen kann. Viele Wissenschaftler – auch der zu Beginn des Kapitels erwähnte Polarforscher Peter Wadhams –, ganz zu schweigen von den vielen Stimmen aus der europäischen Politik und Wirtschaft, beginnen, trotz nach wie vor nicht vorhandener Endlager, trotz der dystopischen Gefahren für Mensch und Umwelt, trotz der Unfälle, trotz der horrenden wahren Kosten, die jahrzehntelang auf den Steuerzahler umgelegt wurden, und der Tatsache, dass der Uranabbau vornehmlich in Gebieten stattfindet, in denen indigene Völker leben, für einen Rückgriff auf Kernkraft zu plädieren. Obwohl gerade Kernkraft durch ihre extrem hohe Unflexibilität dem Ausbau Erneuerbarer geradezu konträr entgegensteht und ihn entsprechend stark ausbremsen würde. Neben Kernkraft werden technologische Eingriffe in die Natur zur Senkung von CO2 immer salonfähiger, ihre Notwendigkeit ist fast schon gesellschaftlicher Konsens.

Ein führender kalifornischer Energiedemokratie-Aktivist beantwortete meine Frage, wie er zu Eingriffen in die Natur, dem Geoengineering, als Lösung des CO2-Problems stehe, so: »Der Gedanke, dass es eine technologische Lösung des Problems gibt, dient den Interessen derer, die für das Problem verantwortlich sind. Wie Einstein sagte: Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Er sprach über Geoengineering.«

Das Zitat der humanistischen Psychologin Ruth Cohn scheint wie gemünzt auf das Thema der Bemühungen um eine faire Energiegewinnung und -wirtschaft: »Wir haben keine Zeit, deshalb lasst uns langsam vorgehen.« Wenn schon Bürgerenergie-Initiativen in Deutschland die grüne Energie auf der ganzen Welt anschieben konnten, welche langfristigen und globalen Auswirkungen werden die lokalen Energieinitiativen in den USA haben?

Wo in den USA gibt es Energiegemeinschaften? Wie sehen sie aus? Welche Herausforderungen haben sie? Die Interviews in diesem Buch, die im Rahmen meiner Artikelrecherche für die Süddeutsche Zeitung entstanden, sind eine Reise durch ein Land im Aufbruch. Sie stellen eine nicht-repräsentative Auswahl an Stimmen der Energiedemokratie-Bewegung in den USA dar. Eine Auswahl, die im Rahmen eines solchen Buches unvollständig bleiben muss. Sie sind ein Kaleidoskop verschiedener und teils sehr alter Klänge aus der Neuen Welt. Das Buch will einen Einblick geben in ein Amerika, das man so vielleicht noch nicht kennt.

Dabei soll nichts idealisiert werden: Keine Bewegung ist eine konfliktfreie Zone, und lokale Communitys sind keine homogen denkenden und synchron handelnden Gebilde. Das Buch erfüllt auch nicht die Ansprüche einer wissenschaftlichen Analyse. Aber vielleicht kann es Interesse wecken und zu wissenschaftlicher Forschung oder persönlichem Engagement und Vernetzung anregen.

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WAS MAN DEM LAND ANTUT, TUT MAN DEN MENSCHEN AN

TIFFANY PYETTE

Kentucky – das sind Berge und Felder, Wälder, Flüsse und Seen. Im Osten liegt die Gebirgskette der Appalachen, der Westen ist von flachen Ebenen geprägt, wie es für den Mittleren Westen typisch ist. Beide Teile sind aber auch stark von der Kohleindustrie geprägt. Im Ranking der kohleproduzierenden Bundesstaaten war Kentucky schon immer auf Platz eins oder Platz zwei.

Wenn Kohle zur Stromerzeugung verbrannt wird, gelangen krebs- und asthmaerregende Gifte wie Quecksilber, Kadmium und Arsen in Luft und Grundwasser. Die Verschmutzung des Grundwassers durch Kohlekraftwerke ist massiv: Bei mehr als neun von zehn Kohlekraftwerken in 39 Bundesstaaten, die Daten erheben, überschreiten die Kontaminierungen für die Gesundheit unbedenkliche Werte. In Kentucky wurden zehn dieser vergifteten Kohleasche-Areale gefunden.16

Zudem entstehen bei der Verbrennung fossiler Rohstoffe Schwefeldioxid und Stickoxide, die sauren Regen hervorrufen und Gewässer und Böden versauern. In Flüssen und Seen verschwinden die Fischpopulationen. Aus der Erde werden Mineralien wie Kalzium und Magnesium herausgewaschen, was das Pflanzenwachstum einschränkt, manche Baumarten verschwinden. Die Zusammensetzung der Böden sind das Ergebnis von jahrtausendelanger Verwitterung, und die Folgen sauren Regens sind nicht kurzfristig reversibel, sondern beeinflussen die Natur über einen langen Zeitraum bis zu Hunderten von Jahren.