Unter Tränen fragend - Peter Handke - E-Book

Unter Tränen fragend E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Vorsichtig schauend, tastend, sich der Dinge erst vergewissernd, unternimmt Peter Handke es, über zwei Jugoslawien-Durchquerungen während des Krieges zu sprechen. Sein Text, dessen beide Teile jeweils unmittelbar nach den Reisen entstanden sind, zeigt ihn als genauen Beobachter, als einen poetischen Beschwörer der kleinen Ereignisse, als Mitleidenden mit den Menschen an den Orten des Geschehens.

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Seitenzahl: 104

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Peter Handke

Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999

Suhrkamp Verlag

Dieses Buch entspricht fast unverändert meinen nachträglichen Aufzeichnungen von zwei Aufenthalten im bekriegten Jugoslawien. Beim Korrekturlesen (im Dezember 1999) habe ich höchstens vereinzelte Wörter gestrichen oder hinzugesetzt oder geändert; nirgends einen ganzen Satz. Natürlich war ich versucht, ein halbes Jahr nach dem Kriegsende, ein paar Anmerkungen anzufügen; habe das aber bleiben lassen, bis auf die Fußnote S. 193. Und aus diesem und jenem Punkt wurde ein Fragezeichen.

P. ‌H.

1. Karwochenreise nach Jugoslawien, vom Dienstag, dem 31. März 1999, bis Freitag, dem 3. April 1999

Am Vorabend der Abreise mit einem befreundeten jugoslawischen Ehepaar in einer Brasserie von Versailles; die zwölfjährige Tochter geht in eine französische Schule: gleich nach dem ersten Tag des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien hat die ganze Klasse sich mit ihrer Mitschülerin solidarisiert und einen Protestbrief an den französischen Staatspräsidenten geschickt; inzwischen, fünf Tage nach dem Beginn der immer massiveren Raketen- und Bombenangriffe, werden im TV fast nur noch albanische Flüchtlinge gezeigt, es heißt fast nur noch, statt »Krieg gegen Jugoslawien«, »Krieg im Kosovo«, und die Mitschüler des jugoslawischen Kindes fangen an sich ihres Protestes gegen den Krieg zu schämen. Der jugoslawische Vater: möchte hier im westlichen Europa bleiben, hier könne er besser für seine Sache kämpfen; die jugoslawische Mutter: möchte heim nach Jugoslawien, einmal weil ihr Sohn in Belgrad lebt, und einfach nur so.

Am folgenden Tag (Dienstag, 31. März) im Flughafen Roissy beim Einstieg für Budapest vertraute, in dieser Umgebung zugleich befremdliche Gesichter: fast die ganze Mannschaft der jugoslawischen Botschaft in Paris, der Botschafter irgendwo in der eher kleinen Schar — sie alle verlassen Frankreich; einige sind schon an den Vortagen gefahren; ein einziger Mann bleibt zurück, für die Konsularangelegenheiten; er hat die anderen noch begleitet und steht jetzt schon halb abseits und im Hintergrund: Jovan K., Serbe aus dem ländlichen Kosovo, Bauernsohn, gelernter Richter, dann eher wider Willen Diplomat, erst in Belgrad, zuletzt in P., seine Frau wollte ihm nicht über die Kosovogrenze folgen, blieb mit Familie dort; nun wird er hier allein die gesamte jugoslawische Botschaft hüten; sehr schmaler, ziemlich großer Mann mit einem Hüftleiden; sehr dunkle glänzende mandelförmige Augen der byzantinischen Freskenleute von Ohrid, Dečani, Peč, und eine wie von Geburt gebrochene, dabei tragende, nichts wollende, dabei beharrliche Stimme.

Im Flug der Stapel der europäischen Kriegszeitungen; der Massenandrang der Kosovobewohner an die albanischen, mazedonischen und montenegrinischen (= jugoslawischen) Grenzen heißt hier und da noch »Exodus« und noch nicht »Vertreibung« oder »Deportation«; Hauptschlagzeile von London bis Madrid: die »Ermordung« zweier kosovo-albanischer Führer durch »die Serben«, »bestätigt« durch den NATO-Sprecher in Brüssel, Mr. J. ‌S.; großes Photo des einen Ermordeten, eines Dichters, auf der ersten Seite der Süddeutschen Zeitung, usw., samt ausführlichen Würdigungen der beiden Opfer; einzig im französischen Figaro dazu die kleine Anmerkung, der Dichter sei aber zugleich mit seiner Todesmeldung noch beim Besteigen eines Busses in Priština gesehen worden. (Ein paar Tage später, noch kleiner, hinten in den Zeitungen, die Rücknahmen der Todesmeldungen; einer der beiden Totgesagten dazu auf einer »Pressekonferenz in London«, »voll Humor«: »Ich habe der Meldung von meinem Tod selber geglaubt!«). Im spanischen El País der Kommentar des dortigen Schriftstellers V. ‌M. ‌F. zu den Protesten und Demonstrationen der in der spanischen Liga spielenden jugoslawischen Fußballer gegen den NATO-Krieg (welchen der Glossist »inevitable« findet): »Untolerierbar, daß eine Gruppe verwöhnter Bengel, deren einziges Zeichen von Identität darin besteht, geschickt eine Kugel zu treffen, alle Medien auf sich zieht, auch, erschwerend, die Nachrichtenjournalisten der television pública, um faschistische Meetings zu geben … Der Spieler Mijatović, den ich bisher eher von seinen berühmten Liebschaften kannte als von seinen goles, sagte einen bemerkenswerten Satz: ›Kosovo ist unser.‹ Gestern sah ich ihn umwickelt von seiner Genozidschleife Ellbogen an Ellbogen marschieren mit den Führern der Extremen Linken … Dazu paßt, daß diese militarisierte Escadron — ich wußte nicht, daß es im spanischen Fußball eine so große serbische Infiltración gab — entweder mit einem schwarzen Armband kämpft oder sich weigert zu spielen. Da sie Millionenbeträge verdienen …« El País: Es war einmal eine Zeitung. In Le Monde der Hauptkommentar auf der ersten Seite zu den mit Kriegsausbruch aus Jugoslawien ausgewiesenen (inzwischen wieder zurückgeladenen) Journalisten der Kriegsländer, mit dem Leitmotiv: »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.« D. ‌h.: die westlichen Journalisten als die Bewahrer der Wahrheit; weiteres Leitmotiv, entlehnt vom Kommentator aus einer »chinesischen Fabel«: wenn der Weise mit dem Stock auf einen Gegenstand zeige, blicke der Narr, statt auf den Gegenstand, auf den Stock. Dazu Gedanke des Zeitungsleser-Narren: was aber, wenn das Zeigen auf eine Weise geschieht, daß der Zuschauer oder Leser, ob Narr oder nicht, gar nicht anders kann, als mehr auf den fuchtelnden, sausenden, klopfenden, gestikulierenden, zuschlagenden Stock zu schauen als auf das, was er zu zeigen vorgibt? Und zweiter Gedanke, meinerseits: solche Ausweisung war Torheit, »typisch serbisch-jugoslawisch«: — sie hätte schon viel früher geschehen sollen, vor vielen Jahren schon —, aber jetzt, mit dem Weltkrieg gegen das Land, hätten die Journalisten, im Gegenteil, zurückgerufen werden sollen, oder andere Journalisten hätten kommen sollen, ganz andere — aber wo sind sie? und wann werden die kommen und sehen und berichten ohne Gefuchtel? am St. Nimmerleinstag? — Kurze Klarheit über den Alpen; tief unten das »Steinerne Meer« zwischen Salzburg und Berchtesgaden, ein lückenlos weißes menschenloses Tibet; in der Times »The night sky in April«: »Mars reaches —1.6 magnitude, much the brightest object in the eastern sky, as it moves westwards against the stars from Libra back into Virgo«. Europa, Europa?

Anflug auf Budapest, vom Westen über die Stadt, niedrig. Gibt es hier denn keine Friedhöfe? dachte ich. Und da war einer, unweit der Landebahn, groß wie ein Weizenfeld in Kansas oder in Illinois.

Nur fremde Gesichter unter den dichtgedrängt Wartenden in der funkelwestgeldneuen Halle des ungarischen Flughafens. Unter diesen fremden Gesichtern aber dann einige, die, obwohl mir unbekannt und im Abstand bleibend, merkwürdig nah erschienen — weit weg und zugleich in Großaufnahme: Serben oder Jugoslawen, die, so erfuhr ich von dem einen oder andern unter ihnen, aus Novi Sad, Belgrad, Niš, Priština usw. gekommen waren, um ihre aus Westeuropa zurückkehrenden Angehörigen oder Freunde abzuholen.

Zlatko, mich antupfend von hinten, schon abseits der Wartenden, seine müden, ungewöhnlich stillen Augen — sein Land bekriegt; er war durchgefahren von Salzburg bis Budapest. Mit ihm zum Auto, meinen Rucksack, nun über zwanzig Jahre alt und allmählich einreißend, zu den zwei großen Dieselkanistern in den Kofferraum geladen; dieser, anders als bei unseren früheren Jugoslawienreisen, eher leer — Zlatko hatte seinen üblichen Riesenkoffer voll mit feingebügelten Hemden und Metallknopfanzügen zuhause gelassen. (Wir wechselten während der folgenden vier Tage wie auf Verabredung kaum das Gewand.)

Fahrt am Spätnachmittag südwärts durch das Puszta-Ungarn, zum Großteil auf teerneuer Autobahn. Wenig Verkehr, fast nur ungarische Kennzeichen. Ab und zu Blicke in den diesigen, zunächst noch fahlsonnigen Himmel: Ungarn war gerade erst der NATO beigetreten, und deren Bomber konnten den Luftraum hier zum Anflug benutzen. Dann Eintrübung und leichter Regen: verminderte Gefahr!? Auf der, etwa zehn Kilometer vor der jugoslawischen Grenze, fast unbefahrenen Autobahn nach Szeged ein rotviolett leuchtendes Häufchen: ein überfahrener Fasan; Zlatko wollte ihn mitnehmen zum Braten, jenseits der Grenze; wer wußte, wie es dort mit dem Essen wäre?

In Horgoš, der Grenzstation, die Abenddämmerung. Kein Verkehr; nichts als ein paar wartende Laster an einer Ausweichstelle, wie unbemannt (dann doch die durchweg stummen Silhouetten der Fahrer in den Kabinen). Vertraute Grenze, mehr noch für Zlatko als für mich: seit 20 Jahren war das die Heimfahrtstrecke nach Porodin, dem Dorf seiner Eltern, bei der Velika Morava. Aber diesmal fanden wir den richtigen Übergang nicht; herabgelassene Schranken da wie dort. Endlich eine Stelle mit einem ungarischen Grenzer in seinem Häuschen. Seine Frage: wohin? Antwort: Subotica, Novi Sad … Der Grenzer: Aber hier geht es nicht nach Jugoslawien, sondern nach Rumänien! Hatten wir uns so verirrt? Auch Zlatko, vielleicht fünfzigmal hier durchgekommen, war verwirrt, fast verstört. Dann das Lachen des Grenzers: er hatte sich einen Spaß mit uns erlaubt — natürlich war das der Übergang nach Jugoslawien, »Bomber!« sagte er, weiterlachend.

Die jugoslawische Grenzstelle einige Meter weiter; wenn andere Autos außer dem unsern, so nur, spärlichst, aus dem nahen Subotica. An jenem Abend noch mehr Grenzpolizisten als Soldaten (bei der Rückfahrt am Karfreitag das Verhältnis umgekehrt). Zoll zahlen für den eingeführten Treibstoff hinten in den Kanistern!? Ungeklärte Frage. Die folgende Ablösemannschaft für die Nacht sollte das klären — die momentane hatte ihre Amtsgeräte schon eingepackt. In der Wartezeit Bezahlung der Einreisegebühr. Dann Sitzen in der Grenzgaststätte. Ich fast überrascht, daß man dort zu essen bestellen konnte. Ein paar Vereinzelte im Gastraum, alle schweigend, an den sauber gedeckten Tischen beim Fernsehen. Die Nachrichten — an der Grenzstelle Horgoš beginnt die Vojvodina mit ihrer großen ungarischen Minderheit — zuerst auf ungarisch, dann erst auf serbisch. Das gebombte Pančsevo, das gebombte Priština, das gebombte Kragujevac (wo im Zweiten Weltkrieg die Deutschen, als Vergeltung für Partisanenangriffe, die große Massenerschießung der halbwüchsigen Schüler veranstaltet hatten). Dann im TV das, was im westlichen Sprachgebrauch allenthalben »Propaganda« heißt: Soldaten, abwechselnd mit Volkstänzern; Flüsse, Berge, Ebenen, Schlote, Kähne, und dazu das immergleiche, nahezu sanfte jugoslawisch-patriotische Lied, und das mindestens stündlich wiederholt, alle die folgenden Tage lang. Und erstmals da mein Gedanke, es gebe eine Art der »Propaganda«, die nichts Gemachtes oder gar Bezwecktes sei, vielmehr auch etwas Naturgewachsenes sein könne, als »Propaganda« wahrnehmbar allein durch Verbreitetwerden, Propagiertwerden. Vorstellung: dieses Land sieht sich von einer unbezwingbaren Übermacht bedroht, umzingelt, eingekesselt — und was tut es? Es zieht sein ältestes und feiertäglichstes Gewand an, und warum nicht seine schönste Volkstracht?, und es tanzt seine ältesten und traditionellsten Tänze. Es singt. Es zeigt und erzählt, so bedroht, die friedlichsten und unschuldigsten der Bilder von sich selbst — auch wenn diese sonst oft lügen, jetzt, im Not- und Bedrängnisfall, lügen sie einmal nicht —, es weist hin auf die, welche es, das Land, schützen werden (wenn sie dazu imstande sind …), die Soldaten, es zeigt seine Flagge, seine Landesfarben, vor dem wie freien weiten bomberlosen Himmel. (Auch in John Fords Die Früchte des Zorns tanzen die allseits von Feinden umzingelten Aussiedler ihren vielleicht unter anderen Umständen lächerlichen und längst obsoleten Reigentanz.) Ja, Propaganda. Solche Propaganda: ja — für einmal ja! Und selbst die dazu wiederholte Propaganda-Formel von der »faschistischen Aggression der NATO«: für einmal ja zu solcher Formel. Propaganda-Wahrheiten also statt Propaganda-Lügen? Nein. Solche Art Propaganda, in solcher Periode, in solcher Lage des Landes (Jugoslavija), als eine Bild-, Wort- und Tonfolge jenseits von Lügen und Wahrheiten (die in diesem Fall wieder nichts als Schauseiten von Lügen sein könnten) — eben als etwas (fast) rein Natur- und Notgewachsenes, das gar nicht erst in eine besondere Form, Propaganda-Form, gebracht, sondern einfach bloß landesweit ausgestrahlt zu werden braucht. Eine Weise der Propaganda ohne Tatsachen-Vortäuschung: die weggelassenen Tatsachen oder Wahrheiten denkt sich ohnehin jeder Zuschauer und Zuhörer, ein jeder nach seiner Art, hinzu. Dagegen die Propaganda der westlichen Kriegsgroßmächte und der mit ihnen, zum grausigen Staunen, wie geschmiert zusammenspielenden Medien: ein Trommelfeuer aus sogenannten Informationen, wofür, mitsamt den ins Auge springenden, die Augen anspringenden paar Wahrheiten (dazu s. ‌o.) noch einmal das verbrauchte Wort »Propaganda-Lügen« auffrischbar wird. Auf der Seite der Ohnmachts-Macht demnach Propaganda ohne jede Information, auf der Seite der Supermächte Propaganda im Gewand der Superinformation, oder eher als eine Art Parallelbeschuß mit Wörtern und Bildern, die »Information« bloß vortäuschen, aber umso besser, in jeder Hinsicht, verkaufen. (Was machen die westlichen Medien nur mit ihren riesigen Zusatzeinnahmen durch ihren Mit-Krieg gegen Jugoslawien? »Massaker«, »Konzentrationslager«, »Genozid«, »ethnische Säuberung«, »Massenvergewaltigung«, »Soldateska«, »Schlächter«, »proserbisch«, und dazu die Großaufnahmen von »Händen an Stacheldraht« (auch ohne Stacheln) »Träne an Wimper«, »Greisin mit brechenden Augen«. Die Bilder gleichen einander, die seinerzeit aus Bosnien jetzt denen von der mazedonischen, albanischen, montenegrinischen Grenze? Nein, die Bild-Einstellungen, die Bild-Winkel, die Bilder-Machschemata gleichen einander. Was sind das für Wahrheiten, die vor allem aus Großaufnahmen und Zuschlag-Wörtern bestehen?

Rückkehr von der Gaststätte zur Grenzerbude, zum Bezahlen des Zolls für die Treibstoffeinfuhr (40 Liter). Chef der Ablösemannschaft: »Nichts bezahlen« — erster Vorteil dessen, der Pro- oder Philoserbe ist, oder, wie es im Land selber heißt, »prijatelj srpskega naroda«, Freund des serbischen Volkes. Und mit dieser letzteren Propaganda-Formel kann ich sogar einmal einverstanden sein. O Sprache. »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit«? Nein, die Sprache. O Sprache.