Until Midnight Rain - Jessica Wedekind - E-Book

Until Midnight Rain E-Book

Jessica Wedekind

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Beschreibung

Raven Harris lebt in einem der ärmsten Viertel Englands und hat weder einen Schulabschluss noch eine glorreiche Zukunft vor sich. Doch als eines Tages ihre damalige Mitschülerin Cloé Wallace vor ihrer Tür steht und ihr genau das anbietet, kann Raven nicht ablehnen. Denn sie soll an Cloés Stelle auf eine private Universität gehen. Dort lernt Raven den egoistischen Alex kennen und hassen. Als ein traumatisches Ereignis die beiden näher zusammenbringt, hinterfragt Raven bald nicht nur ihre moralischen Grundsätze, sondern auch ihre Gefühle.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Prolog Raven
1 Cloé
2 Raven
3 Alex
4 Raven
5 Alex
6 Raven
7 Raven
8 Alex
9 Raven
10 Alex
11 Raven
12 Alex
13 Raven
14 Raven
15 Alex
16 Alex
17 Raven
18 Raven
19 Alex
20 Alex
21 Raven
22 Alex
23 Alex
24 Raven
25 Raven
26 Raven
27 Raven
28 Raven
29 Alex
30 Raven
31 Alex
32 Raven
33 Alex
34 Raven
35 Raven
36 Raven
37 Alex
38 Raven
39 Alex
40 Cloé
Epilog Alex
Danksagung

Jessica Wedekind

 

Until Midnight Rain

 

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.

 

Until Midnight Rain

Copyright

© 2024 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

Lektorat und Korrektorat: Madeleine Seifert

Umschlaggestaltung: Zeichnungen und Design von Julia Gröchel unter Verwendung von Motiven von Rawpixel

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

ISBN: 978-3-98718-194-8

Für alle, die sich immer um die anderen gesorgt, aber nie etwas zurückbekommen haben. Nicht ihr verhaltet euch falsch,

die Gesellschaft tut es.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hinweis

 

In Until Midnight Rain werden Themen wie Alkoholabhängigkeit und Missbrauch von Alkohol, Drogenmissbrauch, explizite Szenen, derbe Sprache, Angststörung, Panikattacken und der in der Vergangenheit liegende Tod eines Familienmitglieds sensibel behandelt.

 

Vorwort

 

Until Midnight Rain ist mein erster New Adult Roman. Ein absolutes Herzensprojekt, welches für immer Teil meiner selbst sein wird. Ich habe im Roman unter anderem einige Themen verarbeitet, die in meinem Leben lange Zeit eine Rolle gespielt haben. Ich möchte meine Leser daher darum bitten, im Hinterkopf zu behalten, dass die im Buch teilweise beschriebenen sensiblen Themen von jedem Menschen, der ähnliches durchlebt hat, unterschiedlich empfunden werden. Außerdem finde ich es wichtig, zu erwähnen, dass ich mich auch intensiv mit bestimmten im Buch vorkommenden Thematiken befasst habe, um diese möglichst realistisch zu verstehen und zu beschreiben. Dennoch möchte ich betonen, dass im Fokus natürlich die Geschichte von Raven und Alex steht, die auch ganz viele wunderschöne Momente beinhaltet. Die Charaktere wachsen dennoch beide über sich hinaus, müssen ihre Moral hinterfragen und erziehen sich auch gegenseitig über die Seiten hinweg. Inspiriert wurde ich teilweise auch von Songs, die ich nun für immer mit dieser Geschichte verbinden werde.

Scannt gern den QR-Code und ihr werdet direkt zur Playlist weitergeleitet:

 

 

 

Und nun wünsche ich euch wunderschöne Lesestunden, an der Brighton Private University in England, und denkt daran, das Werk dient hauptsächlich der Unterhaltung.

Prolog Raven

 

Vier Jahre zuvor

 

Die Flasche flog und kurz darauf lief etwas Nasses mein Kinn herunter. Langsam hob ich den Finger. Auf dessen Spitze glänzte mein Blut. Meine Lippe begann zu brennen und ich wusste, die Narbe, die entstehen würde, wäre nur eine von vielen. 

»Bring ihn noch einmal her und ich schwöre bei Gott, du fliegst raus.«

Vielleicht sollte ich lachen, doch der Humor war mir vergangen. Ich bezahlte seit Monaten mit Jacksons Hilfe die Miete und dieser Kerl, den meine Mutter aus einer heruntergekommenen Bar am Rande der Stadt aufgegabelt hatte, führte sich schon nach der ersten Woche wie der Mann im Haus auf. Ich würde am liebsten schreien. Würde ihm und meiner Mutter, die auf der dreckigen Couch saß und auf ihre Schuhe starrte wie ein vernachlässigtes Kind, am liebsten all die Dinge vorwerfen, die sie verbockt hatten. Wollte schreien, dass ich für Thomas sorgte. Dass ich das Geld auftrieb, um diese mickrige Wohnung überhaupt zu finanzieren. Doch es brachte nichts. Ich hatte geschrien und er hatte eine leere Bierflasche nach mir geschmissen. Meine Mutter war so voll, dass sie das Szenario kaum mitbekam.

»Verstanden?«, schrie der Kerl, den meine Mutter manchmal Joe nannte – oder war es Ben? –, weil ich noch immer schwieg.

Das warme Blut floss über meinen Hals und sickerte in den Stoff meines T-Shirts. »Ja.«

Es brauchte jedes Fünkchen Selbstkontrolle, um ihm nicht zu widersprechen, auch wenn es gegen alles ging, was mir wichtig war. Also schluckte ich meinen Stolz und dachte daran, dass meine Mutter diesen Kerl wohl bald wieder absägen und einen neuen mitbringen würde.

Er hob die Vodka-Flasche an die Lippen und nahm einen Schluck, während ich in mein angrenzendes Zimmer verschwand und die Tür hinter mir abschloss.

Atmen …

Es war der dritte Mann, den meine Mutter mit hierhergebracht hatte, und er war der Erste, der so gewalttätig war, dass ich das Gefühl hatte, es keine weitere Minute in diesen vier Wänden auszuhalten. Mein Zimmer war nicht groß, aber es gab eine Fensterbank, auf der ich mich nun niederließ, das Fenster öffnete und versuchte, mich zu beruhigen. Die kalte Nachtluft half mir ungemein und ich schloss die Augen, als ich die Regentropfen vernahm, die die Welt hoffentlich reinigten. Sie von dem Schmutz befreiten und nur den Geruch nach frischem Gras zurückließen. Ich sehnte mich danach, dass sie meine Wünsche hörten. Die Wünsche nach einem besseren Leben. Egal, wie viel ich dafür noch auf mich nehmen müsste.

 

1 Cloé

 

Meine Mutter ließ sich von dem lauten Geräusch meiner Plateau-Absätze auf dem teuren Marmorboden nicht beirren, als ich den Gang zu unserem Wohnzimmer entlangschritt, die Akten unter den Arm geklemmt.

»Mum, leg sofort die Zeitschrift weg und sieh dir das an!«, sagte ich und setzte mich ihr gegenüber auf die teure Couch. Sie sah nach oben, seufzte und legte die Vogue-Zeitschrift auf ihren neu erworbenen Tisch aus teuerster Eiche.

»Cloé, ich schwöre dir, sollte deine Störung nicht wichtig sein, werde ich dich eigenhändig erwürgen.«

Liebreizend wie eh und je, doch meine Laune konnte sie damit nicht zerstören. Da ich diese Reaktion schon so oft bekommen hatte und noch immer lebte, ignorierte ich sie einfach. »Oh, glaub mir, was ich zu sagen habe, wird dich sehr interessieren. Denn ich werde nicht auf die Brighton Private University gehen«, verkündete ich freudestrahlend und konnte dabei zusehen, wie ihr genervter Blick erst zu mir, dann zu den Akten auf meinem Arm und dann wieder zu mir schweifte.

Sie legte sich verzweifelt den Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken. »Wir haben diese Unterhaltung schon oft genug geführt. Du kennst meine Antwort«, versuchte sie mich abzuwimmeln, so wie immer.

Gerade als sie erneut zu ihrer Zeitschrift greifen wollte, warf ich ihr die Akten vor ihre mehrmals operierte Nase.

»Was, wenn ich jemand Besseren für den Job gefunden habe?« Sie verdrehte die Augen. »Ich habe keine Lust auf deine Spielchen. Die Diskussion ist beendet.«

Mir war vollkommen egal, was sie dachte oder wollte. Sie würde mir zuhören, freiwillig oder gezwungenermaßen. Ich war definitiv niemand, der Drogen verkaufen würde! Das hatte ich nicht nötig. Ich war einfach zu reich für diese Arbeit. Generell für Arbeit.

»Ihr Name ist Raven Harris. Ich habe sie in den letzten drei Monaten von Gideon überprüfen lassen und bin mit meiner Wahl mehr als zufrieden.« Gideon war ein Privatdetektiv, den ich zum Glück immer auf der Kurzwahltaste hatte, wenn ich ihn brauchte.

»Ich kenne diesen Namen irgendwoher«, stellte meine Mutter fest und nahm eine der Akten. Ihre Augenbrauen hoben sich, während ihr blondes Haar, das meinem glich, sich über ihrer Schulter ergoss.

Ihr Interesse war geweckt und ein siegessicheres Schmunzeln breitete sich auf meinen Lippen aus.

»Wir waren damals zusammen in der Grundschule. Du kennst sie.«

Der Schock war ihr ins Gesicht geschrieben, als sie die gelbe Akte wieder schloss und die nächste zur Hand nahm. Natürlich war mir vollkommen bewusst, dass Raven nicht gerade einen überzeugenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Genau deshalb war es umso wichtiger, dass ich erklären konnte, warum ich sie wollte.

»Du willst mich verarschen, oder? Ich traue doch keiner neunzehnjährigen, asozialen Versagerin, die nicht einmal einen Schulabschluss hat!«

»Hör mir zu. Ravens Vater hat die Familie früh verlassen, was dazu führte, dass ihre Mutter, nachdem sie auch noch von dem Vater von Ravens Bruders knapp elf Jahre später verlassen wurde, Alkoholikerin wurde. Raven hat sich um ihren kleinen Bruder gekümmert und deshalb die Schule abgebrochen. Aber bis sie vierzehn Jahre alt war, waren ihre Noten perfekt. Glaub mir, sie ist definitiv nicht meine Wunschkandidatin, aber ich bin mir sicher, dass sie perfekt geeignet ist. Sie hat nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen.«

»Die Brighton ist eine der teuersten und renommiertesten Privatuniversitäten der Welt. Sie ist mit Oxford und Cambridge zu vergleichen und du schlägst mir eine Schulabbrecherin vor, die einen Durchschnitt von 5,2 auf ihrem letzten Zeugnis hatte, weil sie nicht zur Schule kam?«, fragte sie und lachte laut.

Das Geräusch war schrill und ich musste ein Lächeln unterdrücken, als ich mir einen Seehund statt ihres Gesichtes vorstellte. In diesem grauen Designerkleid, welches mit Sicherheit mehr kostete als so manche Wohnungen, gelang mir das recht gut.

Es stimmte, Brighton war unglaublich, aber ich wollte eine Auszeit nehmen, bevor ich studierte. Ich hatte mir in der Gesellschaft der Upper Class ein Leben aufgebaut und dieses hatte ich verdient zu leben. Ich war nun mal kein Typ fürs brave Lernen und Studieren. Schon die Schule war nicht mein Ding gewesen und ich wollte ganz sicher nicht an dieser Eliteuni versagen. Diese Blöße würde ich so lange herauszögern wie möglich. Meiner Mutter ging es um den Job, der – nebenbei bemerkt – illegal war, aber mir ging es um meine Zukunft. Ich wollte meine Zeit nutzen. Feiern gehen, so viele One-Night-Stands haben, dass ich mir die Zahl nicht merken konnte, und etliches Geld zum Fenster herausschmeißen. Wer würde das nicht wollen, wenn er könnte? Früher hatte ich nicht einmal gewagt, von einem Leben wie diesem zu träumen. Deshalb wollte ich es so lange festhalten, wie es mir möglich war.

»Ich gebe das nicht gern zu, aber Gideon hat einen alten Test von ihr finden können. Sie hat ein fotografisches Gedächtnis. Sie merkt sich alles, was sie einmal sieht. Die Noten sind nur so schlecht, weil sie geschwänzt hat, und ihrer Mutter war es egal. Sind wir ehrlich, Raven hat eine Zukunft mit wenig Geld, Chlamydien und einer Alkoholabhängigkeit vor sich, wenn sie ihr Leben weiter lebt wie bisher. Aber genau das ist der Grund dafür, warum sie unser Angebot annehmen wird. Sie könnte eine der teuersten Unis in ganz England besuchen. Hätte die Chance, nebenbei Geld zu verdienen, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen und für ihre Familie zu sorgen, weil ihre Mutter es nicht kann. Glaub mir, sie bräuchte nur etwas Nachhilfe und dann könnte sie auf dieser Uni mithalten.« Ich würde sie überzeugen. Da war ich mir sicher. »Ich erinnere mich gut an sie. Sie ist genial und ich hasse es wirklich, das zu sagen. Außerdem wäre es sicher nicht das erste Mal, dass sie Drogen in der Hand hat.«

»Stimmt, wenn man in dieser Gegend lebt, ist das ziemlich wahrscheinlich«, murmelte meine Mutter vor sich hin.

Ich setzte mein schönstes Lächeln auf, bevor ich zum Schlagabtausch ausholte.

»Du musst es ja wissen. Ich erinnere dich daran, dass wir aus der gleichen Gegend kommen.«

Wenn Blicke töten könnten …

»Ich habe ein Monster großgezogen. Cloé, ich habe dir oft genug gesagt, dass die Vergangenheit in unserem Leben keine Rolle mehr spielt. Wir sind hier oben. Wer da unten ist, interessiert uns nicht mehr.«

»Ich mag ein Monster sein«, sagte ich gelassen und strich mit der Handfläche über den weichen Stoff der cremefarbenen Couch, »aber wenigstens bin ich verdammt klug und heiß.«

Meine Mutter wusste, wie ungern ich jetzt bereits auf eine Uni gehen wollte und seufzte erneut. Studieren musste ich irgendwann so oder so. Vom Job abgesehen bewegte ich mich in einer Schicht in der ausnahmslos jeder studiert hatte oder gerade dabei war.

Außerdem war es nicht mein Plan, Drogen zu verticken und mir damit vielleicht alles zu ruinieren. Drogen waren das Business, was meine Mutter und damit auch mich reich gemacht hatte.

Als meine Mutter sich vor rund sieben Jahren von meinem Vater getrennt hatte, hatte sie Roberto Gilles kennengelernt, der in einige illegale Geschäfte verwickelt war. Während wir eigentlich nur mit dem Drogenhandel zu tun hatten, waren bei ihm noch ganz andere Dinge an der Tagesordnung. Neben Entführungen bis hin zu Morden und Menschenhandel. Ich hatte früh gelernt, keine Fragen zu stellen. Meine Mutter nutzte die Chance und machte daraus ein riesiges Kartell. Gleichzeitig brachte sie auch einige Modelinien unter dem Namen Wallace Luxury auf den Markt, diese waren jedoch nur ins Leben gerufen worden, um unseren plötzlichen Reichtum zu erklären. Der Unterschied zwischen uns und anderen Drogendealern war, dass unsere Leute das Zeug nicht auf der Straße bei den obdachlosen Junkies vertickten, sondern dort, wo die Leute viel Geld hatten.

Zu unseren besten Kunden gehörten neben Promis und der High Society von England auch allerhand Jugendliche, die dem Druck ihrer Eltern und der teuersten Universitäten nicht gewachsen waren. Unser Fokus lag auf Lern- und Party-Drogen, die es den überarbeiteten Studenten erlaubten, die Nacht durchzuarbeiten oder den Stress für einige Stunden zu vergessen. Auch zweckentfremdete Medikamente gehörten zu unserem Sortiment. So wurde Ritalin zum Beispiel eigentlich für die Behandlung von ADHS eingesetzt, weil es die Aufmerksamkeit steigerte und Müdigkeit vertrieb. Überarbeitete Studenten warfen es sich daher ein wie Bonbons, um Mummy und Daddy stolz zu machen.

Meine Mutter hatte natürlich den fantastischen Plan, mich an eine dieser Universitäten zu schicken und dieses Zeug zu verkaufen. Für mich kam das von der ersten Sekunde an nicht infrage.

Erstens: Ich wollte mir, wie gesagt, eine Auszeit nehmen. Und zweitens: Ich gehörte nicht zu ihrem Personal. Sie soll sich eine andere Angestellte suchen.

Es arbeiteten schließlich rund hundertfünfzig Handlanger in ganz England für uns, und da zählte ich die Verkäufer in den Modegeschäften meiner Mutter nicht mit. Sie sollte gefälligst einen von ihnen dazu zwingen!

Aber Raven war perfekt für den Job. Ich hatte sie seit Jahren schon nicht mehr gesehen und kam eigentlich nur durch Zufall auf sie. Gideon besorgte alles, was von ihr auffindbar war, und ich würde ihr die Chance bieten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

»Sie ist also praktisch intelligenter als du?«, fragte meine Mutter, nachdem sie die Akten wieder zur Seite gelegt hatte. Ich ließ eine Sekunde verstreichen.

»Ja«, gab ich über meinen Stolz hinweg zu.

»Cloé, ich vertraue dir, aber kann ich ihr auch vertrauen?« »Mum«, gab ich appellierend zurück. »Wir kennen, dank dieser Akten, jedes kleine Geheimnis aus Ravens Leben. Sollte sie Probleme machen, kann ich schnell dafür sorgen, dass wir kein Vertrauen von ihr brauchen.« Ich setzte mein unschuldigstes Lächeln auf.

»Und du denkst, sie wird gegen eine schöne Summe Geld einfach machen, was du willst?«, fragte meine Mutter und ich spürte, dass ich sie fast an dem Punkt hatte, an dem ich sie haben wollte.

Ich lachte in mich hinein. »Mutter, wir leben in einer Welt, die von Geld regiert wird. Alles hat seinen Preis und jeder ist käuflich. Das hast du mir beigebracht.«

Sie musterte mich mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Na gut, dann lad sie bitte ein. Ich will mit ihr reden.«

Jackpot.

Ich nickte hastig und spürte das erste Mal seit Langem, wie Hoffnung in mir wuchs doch noch einen Ausweg aus dem Plan meiner Mutter zu finden. Dass mir diese Hoffnung gerade Raven Harris verschaffte, war jedoch mehr oder weniger ein Wunder. Wir waren mal Freunde gewesen, aber nachdem meine Mutter und ich vor sieben Jahren aus der Gegend weggezogen waren und endlich genug Geld hatten, um auf stabilen Beinen zu stehen, hatte Raven nicht mehr auf meine Nachrichten reagiert. Als zwei Monate lang Funkstille geherrscht hatte, war schließlich die Nachricht gefolgt, dass ich aufhören solle, sie zu kontaktieren und ihr mein neu gewonnenes Leben unter die Nase zu reiben, wenn ich sie schon zurückließe. Wahrscheinlich war es Neid.

Wie ironisch, dass ich sie nun doch rausholte.

Ich sammelte die Akten zusammen und nahm sie wieder an mich. Meine Mutter hatte sich schon längst wieder ihrer Zeitschrift gewidmet und beachtete mich nicht mehr. Also ging ich wieder den Flur entlang und die große Treppe, an deren Absatz ein Klavier stand, in unserer Eingangshalle nach oben. Es war klischeehaft, aber elegant. Auf der entgegengesetzten Seite des Treppengeländers befanden sich bodentiefe Fenster, die den gesamten Raum erhellten. Ich liebte auch den riesigen vergoldeten Kronleuchter, der an der viel zu hohen Decke hing. Er gab mir das Gefühl, die Adlige aus einem Film zu sein. Genau wie unsere restliche Einrichtung. Auch wenn ich meine Mutter manchmal nicht ausstehen konnte, musste ich zugeben, dass wir den gleichen Geschmack teilten.

Die Wände waren weiß und wurden nur durch ein paar wunderschöne Gemälde aus dem überwiegenden Zeitalter der Romantik und des Biedermeiers geschmückt. Gerade die Bilder von Sophie Anderson hatten es ihr angetan. Doch da diese überwiegend Frauen und Kinder malte, erschienen mir ihre Gemälde im Besitz einer Drogendealerin ziemlich fehl am Platz.

Die einzige Farbe, die sich sonst noch im Haus wiederfand, war Gold. Ob die Türgriffe, das Geländer, Wanduhren oder der Kronleuchter – alles musste glänzen.

Ich liebte es.

In meinem Zimmer angekommen, löste ich meine Haare aus dem Zopfgummi und nahm meinen Laptop zur Hand. Jetzt, da ich schon beinahe die Zustimmung meiner Mutter hatte, sollte ich mich noch etwas intensiver mit Raven beschäftigen. Sie hatte meine Aufmerksamkeit eigentlich nach so einer Nummer nicht verdient. Aber die Arbeit machte sich eben nicht immer von allein.

Ich ließ mich auf dem mit rotem Samt bezogenen Sessel in der Ecke meines Raumes nieder. So hatte ich das beste Licht, welches durch die Fenster fiel. Kurz erlaubte ich mir, auch einen Blick nach draußen hinter das Grundstück zu werfen. Unser Haus lag abgelegen von der Stadt und von meinem Zimmer blickte man erst auf einen weitläufigen Garten mit frisch gemähtem englischem Rasen, einem riesigen Pool und einer Buchsbaumhecke, hinter der sich riesige unangerührte Wiesen und Hügel erstreckten. Vor knapp einem Jahr hatte meine Mutter außerdem eine Loungeecke mit Bar und Miniküche neben den Pool bauen lassen. Wir saßen dort jedoch nur selten. Es war mehr etwas, das eine Villa wie diese dringend brauchte, weil man eine gewisse Ausstattung in unseren Kreisen erwartete, und weniger etwas, das wir wirklich wegen dessen Nutzen wollten.

Mein Blick kehrte zurück zum Laptop. Dann öffnete ich Instagram und gab ihren Namen in die Suchleiste ein. Als ich ihren Account gefunden hatte, war ich wenig überrascht. Sie hatte knapp zwanzig Beiträge.

Während sich auf meinem Account überwiegend Bilder von meinen Trips, Reisen und Designerartikeln fanden, waren bei ihr vor allem Selfies und Bilder von Partys sowie die Präsentation ihres absolut unglamourösen Lifestyles Thema. Ich klickte auf ein Spiegel-Selfie, was sie wohl im Badezimmer irgendeiner abgeranzten Bar gemacht hatte. Zumindest ließen das dreckige Waschbecken und die Rockband-Sticker, die am Spiegel klebten, das vermuten.

Im Großen und Ganzen war sie sogar sehr hübsch. Raven hatte glatte schwarze Haare, die ihr bis über den Rücken reichten, außerdem braune Augen, und sie war eher zierlich. Auf den meisten ihrer Bilder trug sie eine Jeansjacke über einem schwarzen Top, kombiniert mit einer Skinny-Jeans. Sie würde sicherlich gut in den Kreisen der Reichen und Schönen ankommen, würde man sie etwas den dort verlangten Ansprüchen anpassen. Zu schade war es, dass sie in eine Familie hinein geboren worden war, die aus jämmerlichen Verlierern bestand. Fast drei volle Stunden verschwendete ich damit, sie auf den bekanntesten sozialen Medien zu stalken.

Ich war immer gern vorbereitet. Informationen ermöglichten es mir, die Leute zu erpressen und immer zu bekommen, was ich haben wollte.

Zudem war es mir herzlich egal, ob mich Leute leiden konnten oder nicht. Es stimmte eben, was die Menschen sagten: Geld veränderte einen.

Nachdem ich erst einmal genug über sie in Erfahrung gebracht hatte, klappte ich meinen Laptop wieder zu und ließ ihn aufs angrenzende Himmelbett des lichtdurchfluteten Zimmers fallen. Dann öffnete ich meinen Kleiderschrank. Es wurde Zeit, Raven einen kleinen Besuch abzustatten.

Meine weiße Chanel-Bluse und den schwarzen Rock behielt ich an. Jedoch entschied ich mich dazu, mir auch noch einen Mantel überzuziehen. Schließlich neigte sich der Sommer Anfang September dem Ende entgegen, auch wenn es hier und da noch warme Tage gab. Zuletzt schnappte ich mir meine schwarze Birkin und verließ daraufhin wieder mein Zimmer.

»Ich gehe jetzt los«, verkündete ich meiner Mutter, die ihre Sitzposition von vorhin kaum verändert hatte.

Ich informierte sie selten darüber, dass ich wegging. Unsere Mutter-Tochter-Beziehung war, seit sie Roberto kennengelernt hatte, nicht mehr dieselbe. Das Leben, so wie ich es gekannt hatte, hatte eine 360-Grad-Wendung hingelegt und das war nicht immer einfach. Dass mich der Reichtum und die Zugehörigkeit zur Elite Englands zu einer arroganten Bitch machten, war mir natürlich auch klar. Ich hatte jedoch so viel Zeit damit verschwendet, immer perfekt sein zu wollen, dass es mir egal war. Entweder man mochte mich, oder man tat es eben nicht. Ganz einfach.

Meine Mutter hatte am Anfang immer versucht, mich in die Form der höflichen und niedlichen Tochter zu stecken, aber das ließ ich mir nicht mehr gefallen. Sie zog ihr Ding durch und ich meins und sollte ich es schaffen, dass Raven meinen Job übernahm, dann hatte ich endlich die ultimative Freiheit, nach der ich mich schon so lange sehnte.

Draußen war es etwas kälter, als ich angenommen hatte, weshalb ich meinen Mantel schloss, mir die blonden Curtain Bangs aus dem Gesicht strich und schnell zu einem unserer Autos spazierte.

Der Hof war gepflastert, so machte ich mir die Boots nicht dreckig, und obwohl wir genug Platz dafür hätten, standen unsere Autos nicht hier, sondern in einer unterirdischen Garage. Ich hatte bereits Bescheid gegeben, welches Auto vorfahren sollte.

Kurzerhand stieg ich also auf die Rückbank des schwarzen Mercedes-AMG und stellte meine Tasche neben mich.

Ich wollte nicht zu viel Aufsehen erregen, weshalb ich mich gegen den Rolls-Royce entschieden hatte.

»Wohin soll die Reise gehen?«, fragte mein Fahrer.

»Ich sage es wirklich ungern. Aber bring mich zu dem hässlichsten Fleckchen Erde, was ich je kennenlernen musste.«

Er wusste genau, von welchem Stadtviertel ich sprach. Und ich wusste, was ich wollte – und ich würde es bekommen.

 

 

2 Raven

 

Zuerst dachte ich, es wäre das Hämmern in meinem Kopf, doch ich bemerkte relativ schnell, dass es eigentlich an der Tür klopfte.

»Mum!«, schrie ich verschlafen von meinem Bett aus. Es klopfte noch einmal.

»Mum!«, schrie ich dieses Mal noch lauter.

Als es ein drittes Mal klopfte und mir in den Sinn kam, dass meine Mutter vermutlich überhaupt nicht da war, quälte ich mich selbst aus dem Bett.

Ich stöhnte genervt auf, als ich merkte, dass ich nur in Unterwäsche geschlafen hatte, obwohl ich wahrscheinlich schon darüber froh sein sollte.

Es war bereits mehr als nur einmal vorgekommen, dass ich nach einer Party nackt oder in meiner Badewanne aufgewacht war. Ich wusste zwar, warum ich mich ab und zu ausgezogen hatte, aber die Badewanne war mir nach wie vor ein Rätsel.

Mein Blick wanderte zu einer Jogginghose, die über meinem Schreibtischstuhl hing, und zu einem auf dem Boden liegenden T-Shirt. Ich nahm mir die graue Hose und zog sie über, dann hob ich das olivgrüne Shirt auf, aber ließ es im selben Moment angeekelt wieder fallen. Wessen Kotze auch immer darauf verteilt war – es war nicht meine!

Genervt ging ich zum Kleiderschrank, dem die Tür fehlte, und zog mir ein anderes Oberteil über, bevor ich zur Haustür ging.

Als ich sie öffnete, sagte ich das, was ich jedem Fremden vor meiner Tür sagte.

»Meine Mum ist nicht da und wenn wir dir Geld schulden, dann sorry, aber wir haben keins. Du bekommst keinen Cent.«

Ich wollte die Tür bereits wieder schließen, als sich ein Fuß, der in einem schwarzen Overknee-Stiefel steckte, in den Spalt drängte.

»Ich bin weder wegen deiner Mum noch wegen eures Geldes hier. Ich will mit dir sprechen«, sagte eine engelsgleiche, ruhige Stimme.

So eine Antwort hörte ich jedoch selten. Die blonde Frau war ungefähr in meinem Alter und erst jetzt sah ich sie wirklich an. Ihr Gesicht und die Stimme kamen mir bekannt vor, aber mein Verstand war noch zu müde, um sie einzuordnen. Außerdem war sie – mit dieser Kleidung – ganz sicher zum ersten Mal in dieser Gegend. Eigentlich war es schon fast ein Wunder, dass ihr bisher niemand ihren teuren schwarzen Mantel oder ihre Tasche geklaut hatte. Ihre Haut war absolut rein und ihr Haar sah aus, als wäre sie gerade aus einer Shampoo-Werbung gefallen.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du hier falsch bist«, gab ich ihr zu verstehen. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie solle sich verpissen und aufhören, meine Zeit zu verschwenden. So machte ich es zumindest mit jedem Spinner, der hier auftauchte und versuchte, uns von den Zeugen Jehovas oder dem Eintritt in die Kirche zu überzeugen. Als gäbe es für irgendjemanden in diesem Drecksloch hier noch Hoffnung.

»Nein, das bin ich nicht. Mein Name ist Cloé Wallace und deiner ist Raven Harris. Wir sind damals zusammen zur Schule gegangen«, erklärte sie.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Cloé Wallace, die Bitch, der ich erst vertraut hatte und die dann nichts Wichtigeres zu tun hatte, als sich für was Besseres zu halten, obwohl wir aus der gleichen Gosse kamen. Beim letzten Mal, als ich sie zu Gesicht bekommen hatte, waren wir zwölf Jahre alt gewesen. Das hier war nicht mehr das Mädchen von damals. Was auch immer sie wollte – sie würde es nach den Ereignissen von damals nicht von mir bekommen.

Kommentarlos schlug ich ihr die Tür vor der Nase zu. So einen Mantel hätte sie sich früher nie leisten können. Scheinbar hatte ihre Familie das Geld von damals nach wie vor oder sie hatte sich einen Sugardaddy gesucht. Bei diesem Gedanken verzog ich das Gesicht und konnte den Ekel nur schwer unterdrücken.

Es klopfte erneut an der Tür und ich hörte ihre nun deutlich genervte Stimme von der anderen Seite. Zugegeben, die Haustüren waren in dieser Wohnanlage ein Witz. Es reichte ein kräftiger Tritt und sie standen offen. Das hatte ich vor etwa zwei Jahren herausgefunden, als ich nach einer langen Nacht hier angekommen war und festgestellt hatte, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte.

Die inzwischen Ex-Freunde meiner Mutter hatten es bereits vorher gewusst.

»Jetzt hör mir wenigstens zu! Ich versuche, dein erbärmliches Leben besser zu machen!«

Ah, wenigstens ließ sie sich erst gar nicht auf geheuchelte Freundlichkeit herab. Natürlich interessierte mich, was sie wollte. Schließlich hatte ich sie seit Jahren nicht gesehen. Und auch wenn ich keinen Zeitdruck hatte, gab ich ihr exakt zehn Minuten, um loszuwerden, was sie zu sagen hatte.

Ich öffnete die Tür wieder und ging zur abgeranzten Couch, die mitten im Raum stand und so viele Flecke hatte, dass ich mich an die Farbe, die sie eigentlich besaß, nicht im Geringsten erinnerte.

Ist es Pudding? Ist es Soße? Ah, nein, es ist eingetrocknetes Blut.

Ich forderte sie nicht auf, hereinzukommen – dass ich die Tür offen gelassen hatte, war Einladung genug.

Cloé zog sich den Ärmel ihres Mantels über die Hand, damit sie die Türklinke beim Schließen der Haustür nicht berührte. Ich verdrehte die Augen. Früher hatte sie sich im selben Dreck gesuhlt wie jeder andere hier auch, aber auf einmal war sie sich zu fein dafür?

Ihre Absätze machten auf dem Teppichboden keine Geräusche, als sie sich mit ihren angewidert verzogenen aufgespritzten Lippen und zusammengekniffenen, runden blauen Augen auf den Sessel vor mir sinken ließ.

»Also … wie geht es dir?« Sie war zurück zum engelsgleichen Tonfall gewechselt.

Nun, wo fange ich da an? Meine Mutter ist schon wieder verschwunden. Ich habe keinen Job. Mein Freund ist ein Arschloch. Ich soll auf meinen kleinen Bruder aufpassen, während ich gleichzeitig die leeren Alkoholflaschen meiner Mutter, wenn sie denn da ist, wegräumen soll. Und mein Leben ist die reinste Müllhalde.

Doch natürlich erzählte ich ihr das nicht. Eher fror die Hölle zu, als dass sich Cloé Wallace ernsthaft für meinen Gemütszustand interessierte. Also antwortete ich nur mit: »Gut. Was willst du?«

Im Gegensatz zu ihr hatte ich es nicht nötig, Interesse vorzuheucheln, und sparte mir die Gegenfrage.

Sie setzte ein falsches Lächeln auf. »Nun ja, ich wollte nett sein, aber das kann ich mir wohl sparen. Und weil ich nicht vorhabe, mich länger hier drin aufzuhalten, komme ich zum Punkt.«

Ich nickte. »Das ist wohl die beste Idee, die du je hattest.« Ich hasste dieses Mädchen und machte kein Geheimnis daraus.

Cloé log unentwegt, doch ich liebte gnadenlose Ehrlichkeit, denn diese hielt mich von falschen Schlangen und Menschen fern, die mit ihr nicht umgehen konnten. So war das in meiner Welt. Die schönsten Lügen wollte ich nicht hören, denn die bittersten Wahrheiten kamen sowieso ans Licht. Also besser früh als spät.

»Nun, ich habe ein Angebot für dich, welches dich nicht nur hier rausholt, sondern dir auch eine Zukunft verschafft.« Sie klimperte bei diesen Worten mit ihren angeklebten Wimpern und lehnte sich ein Stück nach vorn.

Ich lachte. »Gott, ich brauche deine Hilfe nicht, wenn man das überhaupt so nennen kann. Ich meine, wie verzweifelt musst du sein, um gerade mich aufzusuchen? Hast du keine Leute, die du wofür auch immer bezahlen kannst? Oder bist du nur hier, um mir mal wieder vor Augen zu führen, wie viel besser du angeblich bist?«

Sie ließ sich seufzend zurück in den Sessel fallen, stand jedoch sofort erschrocken auf, als sie den braunen Fleck bemerkte, der an der Seite der Lehne prangte. Cloé verzog angeekelt das Gesicht, bevor sie sich wieder fing und ihren arroganten Ausdruck aufsetzte. Ich stand ebenfalls auf, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein, auch wenn sie ein paar Zentimeter kleiner war als ich. Selbst mit Absatz. Cloé sah mehr als nur deplatziert in meiner Wohnung aus. Als hätte man Anna Wintour auf einem zwielichtigen Hinterhof abgeladen.

»Okay, hör zu. Mir reicht es hier. Ich habe versucht, jemand anderen zu finden. Glaub mir, du warst sicher nicht meine erste Wahl, klar?«

Jetzt sprachen wir die gleiche Sprache. Ich betrachtete gelassen ihren Wutausbruch und lehnte mich innerlich entspannt zurück.

»Aber ich brauche jemanden wie dich, der an einer Universität nicht auffällt und die meisten meiner Mitarbeiter sind über vierzig oder ich vertraue ihnen nicht! Also …«

Ich unterbrach sie. »Du vertraust mir?«, fragte ich mit zusammengezogenen Brauen und ließ die Frage, was sie mit der Universität meinte, außen vor.

»Gott! Natürlich nicht!«, stellte sie, schockiert von diesem Gedanken, klar. »Aber bei dir kann ich mir sicher sein, dass du nur so viel weißt, wie du wissen sollst und unser Verhältnis rein auf meiner Grundlage zu dieser Sache basiert.« Sie stand noch immer in dem kleinen, schlecht beleuchteten Raum, den wir unser Wohnzimmer nannten und begann nun auf und ab zu laufen, wobei sie weitersprach. »Ich möchte, dass du an meiner Stelle auf die Brighton Private University – kurz BPU – gehst und dort studierst. Du wirst keine Kosten haben, weil wir alles übernehmen, und hast die Chance, deinen Abschluss an einer der teuersten und renommiertesten Privatuniversitäten Englands zu machen und deine Familie dabei aus dem Dreck zu holen. Na, wie klingt das?«

»Nein.« Ich gab die Antwort, ohne nachzudenken.

»Nein?«, wiederholte sie und ich genoss die Unsicherheit, die sich nun vermutlich in ihr breitmachte.

Ich dachte eine Sekunde lang über ihre verwirrenden Worte nach und wiederholte mich dann. »Nein.«

In ihren sonst eisigen Augen brannte plötzlich ein wuterfülltes Feuer. »Ich biete dir die Möglichkeit, diese verbitterte, nutzlose und ekelhafte Gegend zu verlassen, dein Leben in den Griff zu bekommen und Geld zu verdienen, und du sagst Nein?«

»Ganz genau. Du bietest mir diese Dinge nicht an, weil du plötzlich deine Moral und die Freude daran, Menschen zu helfen, gefunden hast, sondern aus reinem Eigennutz. Ich weiß nicht, was dein kleines blondiertes Köpfchen wirklich will, aber wenn jemand versucht, dich so aufdringlich von etwas zu überzeugen, ist es nicht gut für dich. Also, wo ist der Haken?«

Sie schwieg einen Moment, um davon abzulenken, dass ich sie durchschaut hatte, doch dann setzte sie erneut ihr Lächeln auf und kam vor mir zum Stehen.

»Nun, du hast recht. Es ist nur eine kleine Aufgabe, die du für uns erfüllen musst, du verdienst jedoch gleichzeitig Geld dabei. Du fragst dich sicher, wie wir zu Geld gekommen sind und das, was ich dir jetzt verrate, wirst du keiner Menschenseele erzählen, hast du mich verstanden? Sonst wird der kleine … wie heißt er gleich? Thomas? Ja, das war es. Sonst wird der kleine Thomas bald ganz allein mit seiner Mutter sein und das wollen wir doch nicht.« Ihr gespieltes Mitleid hätte ich ihr am liebsten aus dem Gesicht geschlagen.

Sie hatte soeben eine Grenze überschritten. Niemand zog meinen kleinen Bruder in diese Sache mit rein.

Ich ging näher auf sie zu, kam nur Zentimeter vor ihr zum Stehen und funkelte sie an. »Du wirst ihn nicht in diese Scheiße mit reinziehen, hast du das verstanden? Ich kann dir auch drohen. Vielleicht hast du vergessen, wie es in diesen Stadtvierteln zugeht, aber es wäre ein Wunder, wenn du heute unverletzt in dein Auto steigen könntest. Außerdem kenne ich dein Geheimnis! Ich kann die Version von dir zerstören, an die scheinbar jeder deiner neuen Freunde glaubt. Ich möchte wetten, niemand weiß, dass die feine und plötzlich reiche Cloé Wallace eigentlich aus dem Drecksloch der Stadt kommt. Und es ist egal, wie viel Chanel-Parfüm du auf deine Tausend-Pfund-Jacke sprühst, du wirst immer so sein wie ich.«

Sie schaffte es nicht, den Kommentar zu schlucken, der ihr auf der Zunge lag, und erwiderte zynisch: »Wir sind nicht, wer wir waren, Raven. Wir sind, wer wir sind! Also hör auf, mich auf die gleiche Stufe zu setzen wie dich.«

Die Ader an ihrem zarten blassen Hals trat hervor.

»Du hast Angst, oder? Davor, je wieder hier zu landen, meine ich. So viel Angst.« Langsam machte es mir wirklich Spaß.

Ich hatte sie getroffen, und das wusste ich nicht nur durch den Glanz, der in ihre Augen trat, der jedoch sofort wieder verschwand. »Ich bitte dich, Raven.«

Vergessen war der Spaß. Gott, sie musste wirklich verzweifelt sein. »Komm zum Punkt!«, forderte ich schroff und ging zurück zur Couch.

»Fein! Du sollst dort unsere Drogen verkaufen. Es sind überwiegend Lerndrogen oder Medikamente, die die Studenten wachhalten, und Partydrogen, die sie nehmen, um abzuschalten oder zu feiern. Eine genaue Liste lasse ich dir zukommen, sobald du eingewilligt hast.«

Ich musste zugeben, dass mich der Grund für ihren plötzlichen Reichtum nicht sonderlich überraschte. Drogen waren in diesem Viertel nichts Seltenes. Doch dass sie mich darum bat, diesen Job zu machen, obwohl sie von meinen Problemen wusste …

Seit meine Mutter alkoholabhängig war, waren unsere Umstände und unsere Beziehung nicht sonderlich gut. Scheiße, beides war katastrophal!

Ich fühlte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als ich daran dachte. Sie hatte unser Leben zerstört – oder zumindest das, was davon noch übrig war. Auch wenn es sich bei ihrer Abhängigkeit um Alkohol, also eine legale Droge handelte, wollte ich etwas Ähnliches niemandem verkaufen.

»Nein. Ich deale nicht mit Drogen, vergiss es.«

Sie schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln und ließ sich wieder auf den Sessel mir gegenüber sinken. »Oh, Raven, ich verstehe dich.«

Nein, tat sie nicht.

»Aber denk nur darüber nach, was du mit dem Geld erreichen könntest. Der Punkt ist, wenn du es nicht tust, tut es jemand anderes. Ich habe mich über dich informiert und weiß alles. Das mit der Überdosis deiner Mutter vor einem Jahr muss grauenhaft gewesen sein. Dass dein Leben kurz nach der Geburt deines Bruders so den Bach runterging ebenfalls. Aber das Zeug, was hier in der Gegend im Umlauf ist, verkaufen wir nicht. Außerdem dealst du nur an reiche, verwöhnte Studenten, die alles in den Arsch geschoben bekamen, seit sie klein waren. Die können sich ohne Probleme einen Entzug nach dem anderen leisten und werfen dir das Geld dafür praktisch vor die Füße, weil es für sie keinen Wert hat. Für diese Leute – das obere ein Prozent – die auf euch spucken, sind es nur Papierscheine, die sie gegen etwas Spaß tauschen. Wenn jemand von ihnen abhängig wird, dann passiert gar nichts. Sie treiben keine Familie in den Ruin. Sie sind nicht wie die Leute hier, die irgendwie reingerutscht sind und nun alles verlieren, weil sie sich nichts mehr leisten können.«

Ich zuckte bei ihren Worten zusammen und blickte zu Boden, doch erwiderte nichts.

»Das Harmloseste, was wir verkaufen, ist Marihuana und es geht weiter mit LSD, Ritalin, Kokain und Speed. Selten auch Fentanyl. Mehr ist es nicht. Du reichst es praktisch nur durch und verdienst dabei selbst. Es liegt an dir, wie viel du verkaufst und wie viel demnach für dich selbst übrig bleibt. Wir gestatten dir sieben Prozent Provision bei jedem Verkauf und du kannst selbst entscheiden, ob jemand genug hatte. Mach ein Monopol daraus und verdiene genug Geld, um deine Familie hier rauszuholen! Ich biete dir diese einmalige Chance und alles, was du dafür tun musst, ist, deine Moralvorstellung etwas anzupassen. Es ist kein Witz, wenn ich sage, dass du hierdurch reich werden kannst. Denk darüber nach. Eine schöne Entzugsklinik für deine Mum. Ein hübsches, sauberes Zuhause für deinen Bruder und ein gut bezahlter Job sowie ein eigentlich unerreichbarer Bachelorabschluss für dich … Ich kenne deine IQ-Tests. Ich weiß, dass du gelangweilt und unterfordert warst und glaube, dass du das Studium schaffen kannst.«

Sie war definitiv verzweifelt. Doch das sagte ich nicht. Eigentlich sagte ich gar nichts. Ich hasste es, aber ihr Angebot war wirklich nicht so schlecht. Auch wenn mir alles noch wie ein Witz vorkam und ich unsicher war, ob nicht gleich jemand mit einer versteckten Kamera hinter dem Sessel hervorsprang, dachte ich über das Angebot nach. Ich könnte Thomas endlich das geben, was er verdiente, und wir wären nicht mehr auf meine Mutter angewiesen, die ich seit Tagen schon wieder nicht gesehen hatte. »Ich habe die Schule abgebrochen, wie soll mich eine Universität annehmen?«, fragte ich und blickte ihr wieder ins Gesicht, das sich sofort aufhellte, als ich Interesse zeigte.

»Lass das unsere Sorge sein. Du bekommst einen hübsch überarbeiteten Lebenslauf und ein kleines Umstyling. Wenn wir mit dir fertig sind, wird nichts mehr an die alte Raven erinnern.«

Ich wusste nicht, ob ich das wollte. Weder das Umstyling oder das Dealen noch von meiner Familie und meinen Freunden getrennt zu sein.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, setzte sie nach: »Denk in Ruhe darüber nach. Es würde dein Leben verändern und wahrscheinlich ist es deine einzige Chance. Aber ich brauche in spätestens achtundvierzig Stunden eine Auskunft von dir.«

Sie begab sich zur Tür und wühlte in ihrer Tasche herum.

Ich trat neben sie und öffnete bereits die Haustür, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich ging.

»Hier.« Sie reichte mir eine Visitenkarte, auf deren Vorderseite ihr Gesicht gedruckt war.

Was sonst. Auf der Rückseite fanden sich ihre E-Mail-Adresse sowie Telefonnummer.

Entweder hatte sie offensichtlich nicht begriffen, dass Visitenkarten für wichtige Leute waren oder sie hatte eine extrem verzerrte Selbstwahrnehmung. Ich ging von Letzterem aus.

Dann warf sie mir ein letztes Mal ihr falsches Lächeln zu und verschwand durch die Tür.

Ich schloss sie und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Diese Sache musste ich erst mal sacken lassen. Dieser Deal war doch verrückt. Das konnte sie unmöglich ernst meinen.

Mein Blick glitt durchs dunkle Wohnzimmer. Die Plissees der beiden Fenster neben der Tür waren heruntergelassen und ließen nur wenig Tageslicht eindringen. Die Luft fühlte sich mehr als stickig an. Trotzdem atmete ich so gut durch, wie es mir möglich war.

Ein Klopfen ließ mich zusammenzucken.

Genervt öffnete ich und bereitete mich innerlich schon darauf vor, Alice in ihr Wunderland zu schicken, wenn sie nicht bald verschwand. Doch es war nicht Cloé, die mir entgegensah.

»Wer war das denn?«, fragte Jackson, lehnte sich an den Türrahmen, von dem bereits die weiße Farbe abblätterte, und zündete sich eine Zigarette an.

»Unwichtig, hat nur jemanden gesucht«, log ich. Ich erzählte ihm viel, aber von dieser verrückten Sache musste er nichts wissen. Auch wenn ich bereits seit ein paar Jahren mit ihm zusammen war, hatte er es mit Verschwiegenheit oder Treue nie sonderlich gehabt.

»Hm, kommst du mit zu den anderen? Jasper zeigt gerade die Videos von gestern Abend und die sind zu lustig, um sie nicht zu sehen.« Seine schmalen Lippen verzogen sich um die Zigarette zu einem Grinsen.

Ich war zwar nicht besonders scharf darauf, zu sehen, was mein betrunkenes Ich wieder mal angestellt hatte, aber die andere Option war, hier herumzusitzen und sich den Kopf zu zerbrechen.

»Ja, bin sofort da. Ich ziehe mich nur noch um.«

 

Als ich in neuen Klamotten nach draußen auf den offenen Flur trat, der die Wohnungen miteinander verband, und nach meiner Gruppe Ausschau hielt, sah ich noch einmal auf mein Handy. Ich hatte noch eine Stunde, bis ich Thomas von der Schule holen musste.

Ich kümmerte mich hauptsächlich um ihn, da unsere Mutter der Meinung war, ab und zu für mehrere Tage zu verschwinden und irgendwann wieder vor der Haustür zu stehen. Ich hasste es. Vor allem hasste ich, dass ich sie trotzdem liebte und sie immer wieder reinließ.

Jackson und die anderen hatten sich diesmal für einen Platz an der Treppe entschieden. Lyra saß auf dem weißen Metallgeländer und hielt das Handy von Jasper, der neben ihr stand und sich ebenfalls eine Zigarette anzündete. Immer wenn ich meine Freunde betrachtete, wurde mir schmerzlich bewusst, wie gut sie ohne mich zurechtkamen. Ich hatte mich damals mit eingemischt und war praktisch nur wegen meiner Beziehung zu Jackson aufgenommen worden. Ich wollte damals unbedingt dabei sein. Sie waren beliebt und ich wusste, dass ich mich entweder von ihnen fertigmachen oder mich anschließen konnte. ›Wenn du sie nicht besiegen kannst, schließ dich an‹.

Außerdem war ich davon ausgegangen, Jackson wirklich geliebt zu haben, doch mittlerweile zweifelte ich daran. Ich war angezogen worden von den vielen Tattoos, die er nicht nur auf den Armen und dem Oberkörper hatte, sondern auch zwei kleinere im Gesicht, der Bad-Boy-Attitüde, dem Schlitz in der Augenbraue und dem sportlichen Körperbau. Aber jetzt war er nur noch eine Gewohnheit. Ich mochte ihn. Mochte den Sex und die Gewissheit, dass er mir den Rücken freihielt. Aber als ich ihn vor einem Jahr knutschend mit einer Tussi auf der Frauentoilette eines ekelhaften Clubs gesehen hatte, war mir klar geworden, dass wenn ich ihn lieben würde, mich dieses Bild mehr verletzt hätte. Ich hatte ihn nur zurückgenommen, weil ich sonst niemanden hatte und auch nur unter der Bedingung eines ärztlichen Attestes, welches bestätigte, dass er sich keine sexuell übertragbaren Krankheiten eingefangen hatte.

»Raven, sieh dir das an!«, sagte Lyra lachend und ließ mich mit aufs Handy sehen. Das Bild war wie erwartet so peinlich, dass ich am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Jackson – gestern Abend betrunken auf dem Tresen der Bar – wie er mir Whisky-Shots aus dem Bauchnabel saugte. Das Schlimmste war, dass ich mich erinnern konnte. In Momenten wie diesen fragte ich mich, warum mich Alkohol trotz meiner Mutter nie abgeschreckt hatte und ob ich irgendwann wie sie enden würde. Ich hatte angefangen, selbst eher unkritisch mit Alkohol umzugehen, als mich meine Freunde auf Partys dazu überredet hatten.

Damals, bis Dave – Thomas Dad – uns verlassen hatte, weil er kein Kind wollte, war meine Kindheit recht normal gewesen. Es waren immer meine Mutter und ich, doch als Thomas auf der Welt und wir zu dritt waren, begann meine Mutter zu trinken und stürzte uns in den Ruin. Doch der Punkt war, dass ich jedes Mal, wenn ich mitten in der Nacht angetrunken in den Spiegel im Badezimmer irgendeiner Partylocation sah, ich nicht in mein, sondern ihr Gesicht blickte. Ich sah meine Mutter vor mir und trank mehr, um das Bild wieder zu vergessen, welches mir solche Angst machte. Ich schüttelte den Gedanken ab.

»Danke, aber das will ich nicht sehen«, sagte ich und blickte zu Jasper auf, welcher das Handy wieder entgegennahm. Wenn er und Jackson so nebeneinanderstanden, sahen sie beinahe aus wie Brüder. Beide hatten kurze braune Haare, eine scharfe Kieferkontur und waren fast gleich groß. Im Gegensatz zu Jackson hatte Jasper jedoch graue Augen, war etwas schlaksiger und nicht tätowiert. Nur Lyra stach aus der Gruppe wirklich hervor, die sich jeden Monat die Haare in einer anderen knalligen Farbe färbte und Klamotten trug, mit denen sie sich auch einer Punk-Band anschließen konnte. Seit Kurzem war ihr Haar neon-rot. Mit ihrer Stupsnase, dem Muttermal über der Lippe und dem passenden roten Lidschatten sah sie damit sogar sehr niedlich aus.

»Okay, ich zeige dir ein anderes«, sagte Jasper und hielt mir erneut das Display vor die Nase.

Ich mochte meine Freunde, aber hielt sie, meine Familie und jeden anderen stets auf Abstand. Ich wollte nicht, dass das mein Leben blieb.

Vielleicht wäre es gar nicht so eine dumme Idee, etwas aus meinem Leben zu machen. Ansonsten würde ich Woche für Woche irgendwelche Bilder von den immer gleichen Partys ansehen. Langsam wurde mir der Gedanke, das Angebot anzunehmen, ganz sympathisch.

Ich wollte nicht hier enden. Wollte nicht wie meine Mutter werden, nach Jahren immer noch in einer heruntergekommenen Wohnung leben und die gleichen Fehler machen. Aber das würde ich, wenn ich hierblieb. Aber konnte ich Thomas zurücklassen? Eins war klar. Ich könnte hier bei ihm bleiben, dann würde sich jedoch nichts ändern. Er musste eine Zukunft haben und auch wenn es nicht schön klang, konnte Geld diese ermöglichen.

Ich warf einen Blick auf Lyra, während ich verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte. Die Dinge mussten sich ändern.

Also musste ich gehen.

 

 

3 Alex

 

»Ich erwarte Glanzleistungen. Haben wir uns verstanden?«

Natürlich tust du das, alter Mann, dachte ich genervt und unterdrückte ein Augenrollen. Mein Vater schob mir die Papiere über den Glastisch zu und sprach weiter, während sich meine Hand immer mehr um das Messer krampfte, welches für das Abendbrot bereits eingedeckt worden war. Meine Ohren hatten abgeschaltet. Statt ihm zuzuhören, stellte ich mir vor, wie einfach es wäre, das Messer nach ihm zu werfen.

Würde ich treffen? Mit Sicherheit. Schließlich saß er mir gegenüber.

Um wenigstens interessiert zu wirken, starrte ich auf seine trockenen und spröden Lippen, die sich immer noch bewegten. Ich hasste diesen Mann. Er unterhielt sich nur mit mir, wenn es entweder um die Firma ging oder darum, dass ich etwas falsch gemacht hatte oder noch machen könnte. Aber dieser Hass beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich war mit diesem Mann und meiner Mutter allein und nur noch hier, weil ich durch mein Blut mit ihnen verbunden war.

Auch wenn ich endlich dadurch von ihnen wegkam, hatte ich keine Lust auf diese Uni. Mir war egal, wie teuer Brighton war, welche ›Persönlichkeiten‹ ich dort angeblich treffen konnte oder wie früh ich dann schon in die Firma einsteigen würde. Ich wollte bei diesen Gedanken am liebsten schreien und gegen eine Wand schlagen.

Genau genommen könnte ich es sogar tun. Ich konnte eigentlich tun und lassen, was ich wollte, aber eben nur, wenn es nicht den Weg für mich in die Firma beeinträchtigte. Ich war mittlerweile zwanzig Jahre alt und musste nur noch ein paar Monate überstehen, bis ich auf das Geld in meinen Treuhandfonds zugreifen konnte. Es dürften mittlerweile fast dreiundzwanzig Millionen sein. Verdammt, dann würde ich wirklich tun, was ich wollte.

»Hörst du mir zu, Alexander?«, fragte mein Vater und die aufgeladene Spannung fühlte ich im gesamten Speiseraum.

Ich verengte die Augenbrauen und setzte meinen nachdenklichen Blick auf. »Natürlich. Ich habe nur gerade überlegt, ob ich die Zeit hier nicht besser nutzen sollte, um die Hefter zu den Vorlesungen durchzusehen und mich darauf vorzubereiten.«

Mein Vater richtete seinen kalten Blick auf die Papiere, die er mir eben zugeschoben hatte, und nickte schließlich.

»Fein. Nach dem Essen wirst du das in deinem Zimmer tun. Ich denke, du hast verstanden, wie wichtig dieses Studium ist. Und ich schwöre bei Gott, wenn du dich noch einmal darüber beschwerst, dass du dich nicht in der Verfassung dafür fühlst, wird es Konsequenzen haben. Dieses ganze Aufmerksamkeitsgetue ist jetzt vorbei.«

Seine Worte verletzten mich nicht mehr. Sie prallten ab. Umso genauer man ein Gesicht betrachtete, desto stärker wurde einem bewusst, wie hässlich manche Menschen waren. Sein Gesicht war bereits von Falten und Altersmalen gezeichnet. Was in Anbetracht dessen, dass er vor Kurzem fünfundsechzig Jahre alt geworden war, nicht ungewöhnlich war. Mit fünfundvierzig hatte er sich eine zwanzig Jahre jüngere Frau gesucht und endlich seine Erben bekommen. Mich und …

Ich wollte sie nicht in meinem Kopf haben. Sonst würde meine bereits schlechte Laune noch weiter in den Keller gehen. Nicht, dass es irgendwen interessieren würde. Schließlich war es schon nicht beachtet worden, als ich nach ihrem Tod gesagt hatte, dass es mir nicht gut ging.

Meine Mutter hatte selbst so viel geweint, dass ich es ihr nicht gesagt hatte, und mein Vater, dem ich es erzählt hatte, war ein kalter Mistkerl. Ich litt. In seinen Augen wollte ich jedoch nur Aufmerksamkeit. Er zeigte keine Emotionen. Als wäre sie nicht seine Tochter gewesen. Als hätte er niemanden verloren. So lange ich noch funktionierte, war doch alles gut. Vielleicht eine seiner Verdrängungstaktiken, die ich nicht verstand. Ich hatte das Gefühl, dass keiner wusste, wie es mir seitdem ging. Alle sagten zwar, sie wüssten, wie ich mich fühlte. Das ganze Internet war damals mit mitfühlenden Tweets und Schlagzeilen voll gewesen, aber am Ende ignorierten sie es doch, um ihre kleine, perfekte Welt nicht kaputtzumachen. Also beschloss ich, nichts mehr zu sagen. Es musste niemand wissen, wie taub sich mein Inneres anfühlte. Dadurch verstand ich, warum die meisten ihren Mund hielten.

»Na, ist er gut vorbereitet?«, erkundigte sich meine Mutter, die nun ebenfalls zum Essen das riesige neumodische Zimmer betrat. Vor zwei Jahren hatte mein Vater eine riesige Penthousewohnung im Herzen Londons gekauft, in welche wir gezogen waren. So wie der Rest der Wohnung war auch die Küche mit offenem Speisezimmer kalt und modern gestaltet. Weiße Wände ohne Bilder, Glasfenster ohne Gardinen und Schiebetüren, die auf den Balkon führten, um die Skyline zu überblicken.

Unser privater Koch hatte das Essen bereits in Schalen abgefüllt auf dem Tisch platziert und diesen passend eingedeckt, bevor er sich vor ein paar Minuten verabschiedet hatte.

Meine Mutter zog die Schiebetür hinter dem Tisch auf, um frische Luft in die Wohnung zu lassen. Sie hatte die dunkelblonden Haare, die ich von ihr geerbt hatte, mit einer Klemme zusammengebunden und trug neben einer Jeans einen weiten Pullover. Er sah zwar aus, als hätte sie ihn aus einer Fundkiste geklaut, doch das Louis-Vuitton-Logo an der Ecke zeigte, wie teuer er gewesen war. Früher hatte sie noch Make-up getragen und immer ausgesehen wie aus dem Ei gepellt. Jetzt machte sie sich nur noch die Arbeit, wenn wir zu öffentlichen Anlässen eingeladen waren oder schon wieder irgendein Fernsehsender vorbeikam, um eine Reportage über unsere Firma zu drehen.

Mein Vater hatte sie von seinem Vater übernommen. Seit Generationen stellten wir Spirituosen her und waren vor allem für unseren Whisky bekannt. Mittlerweile waren aber auch unser Vodka und der Gin sehr beliebt. Seit ich dreizehn war, schluckte ich die Getränke, ohne eine Miene zu verziehen.

War das gesund? Mit Sicherheit nicht.

»Wir sind gerade noch einmal alles durchgegangen und ich denke, es wird schon klappen«, sagte mein Vater und lehnte sich zurück.

Mein Blick fiel dabei auf die Weste, die er über dem Hemd trug. Er hatte, im Gegensatz zu meiner Mutter, in der letzten Zeit so an Gewicht zugenommen, dass ich Angst hatte, die Knöpfe könnten von dem Kleidungsstück abplatzen und mich wie Wurfgeschosse erblinden lassen, wenn ich sie ins Auge bekäme.

Meine Mutter ließ sich neben mich auf den Stuhl fallen. »Das klingt doch gut. Bist du schon aufgeregt? Vielleicht findest du neue Freunde, wäre das nicht schön?«

Gott. Verstand diese Frau, dass es hier um mein Studium und keine verdammte Einschulung ging?

»Ja, bestimmt«, sagte ich und setzte ein Lächeln auf. Sie hatte schon mit meinem Vater die Arschkarte gezogen, da musste sich ihr Sohn nicht auch noch wie ein Arschloch aufführen.

Sie strich mir mit der Hand über den Hinterkopf und warf mir einen traurigen Blick zu. »Ach, das Haus wird so leer sein, wenn du dort bist.«

»Keine Sorge, die Bediensteten verschwinden ja nicht«, sagte ich und zwinkerte ihr zu.

Gut, vielleicht konnte ich das Arschloch doch nicht ganz abstellen.

Bevor sie etwas erwidern konnte, schaufelte mein Vater sich bereits ein paar Scheiben des Schweinebratens auf den Teller und damit war das Gespräch vorerst beendet.

 

 

Etwa eine Stunde später fand ich mich über die Papiere gebeugt in meinem Zimmer wieder. Ich stellte erst jetzt fest, dass sich unter den Aufzeichnungen für die einzelnen Module, die ich belegen würde, auch ein Campus-Plan und der ausgearbeitete Vorlesungsplan befanden. Zum Glück musste ich den Scheiß nicht selbst ausarbeiten.

Mein Handy klingelte und befreite mich aus diesem Albtraum an Lernstoff … nur um mich in den nächsten zu katapultieren. Mein Display zeigte den Namen Maya an. Ich wollte kotzen.

Diese Frau war nicht ganz klar im Kopf. Sie war durchaus sehr hübsch, doch dass glich ihre Verrücktheit kein Stück aus. Wir hatten uns auf einer Gala kennengelernt und eine Weile unterhalten. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den vierten Gin Tonic intus und zielte nur darauf ab, sie flachzulegen. Das Einzige, was ich mir von diesem Gespräch gemerkt hatte, war die Tatsache, dass ihre Familie wohl irgendwas mit Teebeuteln herstellte. Es interessierte mich nicht. Ich hatte sie flachgelegt, die Sache war beendet.

Doch seit diesem Zeitpunkt vor zwei Monaten ließ sie mich nicht mehr in Ruhe. Sie schrieb mir Nachrichten, die ich ignorierte, was dazu führte, dass sie noch mehr schrieb. Ich verstand Frauen beim besten Willen nicht. Ich wusste zwar, dass ich relativ gut aussah, aber dass sie sich einmal sogar nur für eine schnelle Nummer hinter einer Ecke bei einem von meinem Vater organisierten Familientreffen angeboten hatte, war zu viel gewesen. Ich meinte dabei nicht den Fakt, dass sie sich mir an den Hals geworfen hatte, sondern den, dass ich ablehnte, weil ich weder Lust noch ein Kondom hatte und ihre Reaktion darauf der folgende Satz war: »Ist mir egal. Stell dir ein Kind von uns vor. Wäre das nicht traumhaft?« Daraufhin hatte ich das starke Bedürfnis gehabt, in die Arktis zu ziehen.

Ich ließ den Blick vom Display zu den Papieren und dann zur Balkontür schweifen. Es war bereits dunkel geworden, doch die umliegenden Hochhäuser waren so hell beleuchtet, dass man kilometerweit sehen konnte.

Ich könnte einfach vom Balkon springen, um Maya zu entgehen, entschied mich aber doch dagegen. Es gäbe wohl keinen Ort auf der Welt, an dem ich mich vor dieser Frau verstecken könnte. Unglaublich, dass das Handy immer noch klingelte.

Ich atmete tief durch und hob schließlich ab.

»Was?« Mein Tonfall klang beabsichtigt kalt und unfreundlich. Doch daran störte sie sich natürlich nicht weiter.

»Hey, Baby. Ich freue mich so, deine Stimme zu hören.« Natürlich tat sie das. Ich hatte ihr schon zehnmal erklärt, dass ich nicht ihr Baby war, aber hatte es schließlich aufgegeben.

»Was?«, wiederholte ich mich.

»Meine Mutter hat mit deiner telefoniert und die hat dabei zufällig erwähnt, dass du auf die BPU gehen wirst.«

Ihre Stimme hörte sich an, als hätte ihr jemand einige Sekunden vor dem Anruf einen Liter Honig den Rachen runter geschüttet. Doch sie täuschte nicht darüber hinweg, dass mir die Richtung, in die dieses Gespräch lief, ganz und gar nicht gefiel.

»Ja, und?« Ich hatte Angst vor der Antwort.

»Zufälligerweise gehe ich da auch hin!« Sie schrie ins Telefon. »Ist das nicht großartig? Wir werden so viel Zeit zusammen verbringen.«

Wo war der Komet, der die Welt auslöschte, wenn man ihn brauchte? Als Nora bei dem Unfall verstarb, hatte es mich damals aus der Bahn geworfen. Ich musste ein Schuljahr wiederholen, weil ich einfach nicht hingegangen war. Deshalb war ich ein Jahr älter als diejenigen, die direkt nach dem Schulabschluss studierten. Maya war neunzehn und fiel damit in meinen Jahrgang. Nach ein paar Sekunden, die ich benötigte, um mich zu beruhigen, sprach ich kontrolliert und unterdrückte die Wut. »Ist das wirklich ein Zufall, Maya?«

Sie zögerte eine Sekunde. »Nein, also ich meine … Ich wusste ja, dass du dahin willst, und ich fand die Uni auch gut. Also hat mein Vater eine großzügige Summe gespendet und jetzt wollen sie mich auch aufnehmen. Übrigens ist es so heiß, wie du meinen Namen sagst. Kannst du es noch mal tun?«

Die Frau raubte mir die letzten Nerven. Für eine Sekunde überlegte ich tatsächlich, ob ich ihr darauf eine Antwort geben sollte, doch legte schließlich einfach auf. Es tat mir leid für sie, vor allem, weil sie mich tatsächlich zu mögen schien. Doch ich hatte keine Energie für so was. Ich hatte keine Kraft, um meine Zeit mit einer Frau zu verbringen, die mich bedrängte und alles guthieß, was ich tat. Maya war eine Jasagerin, wie sie im Buche stand. Ich wollte Ehrlichkeit. Ich wollte jemanden, der mich nicht anlog, um mir besser zu gefallen.

Auch wenn Maya nicht nur an mein Geld oder durch mich in die Medien wollte, war das schon mit unzähligen Frauen vorgefallen. Einmal hatte ich eine Frau für zwei Wochen gedatet, die ich echt gemocht hatte. Dann fand ich das Geld aus meinem Portemonnaie in ihrer Tasche wieder. Sie hatte es abgestritten und schließlich gesagt, ich bräuchte die paar Tausend Pfund doch überhaupt nicht. Ich hatte sie rausgeschmissen und nie wieder von ihr gehört.

So sehr ich mein Geld liebte, hasste ich es ab und zu auch.

Eine Nachricht blinkte auf. Ich entsperrte den Bildschirm und sah einen Text von Maya.

 

Maya: Hey, sorry, ich wollte dich nicht überrumpeln.

Können wir noch mal telefonieren?

 

Bloß nicht.

Ich war nicht gläubig, aber betete trotzdem dafür, dass sie mir nicht weiter auf die Nerven ging.

Noch eine Woche, bevor ich an diese Uni musste. Noch eine Woche, in der ich dieser Verrückten aus dem Weg gehen konnte.

Ich legte mein Handy zur Seite und rieb mir mit den Handflächen übers Gesicht. Ich hasste es. Meinen Vater dafür, dass er so ein verdammtes Arschloch war. Meine Mutter, weil sie nie etwas unternommen hatte, um mich oder meine Schwester zu schützen.

Ich hasste mich, weil ich sie nicht beschützt hatte und ich hasste diese Uni. Diese Erwartungen. Dieses Leben, welches nie auf meine Wünsche ausgelegt war.

Die Luft in diesem Raum wurde zu stickig. Auch wenn mein Zimmer größer war als die meisten Wohnungen, fühlte ich mich eingesperrt. Eins stand fest: Ich musste hier raus. Und wenn ich es schaffte, Maya auf Abstand zu halten, war es vielleicht doch keine schlechte Idee, diesen Ort zu verlassen.

 

 

4 Raven

 

Ich hatte mich entschieden.

Ich hatte mich in dem Moment entschieden, als Thomas mich gefragt hatte, ob er bei einem guten Freund übernachten könne. Zuerst hatte ich abgelehnt, in der Hoffnung, unsere Mutter würde sich sehen lassen, doch als ich Abendbrot machen wollte und der Kühlschrank genauso leer wie mein Portemonnaie war, wurde mir klar, dass ich es tun musste. Thomas musste eine Zukunft haben. Ich hätte mir zwar Geld von Jackson leihen können, doch er wusste, dass ich es nie zurückzahlen konnte und ließ sich die Schulden gern anders begleichen.

Also hatte ich einige Dinge zurechtgerückt, mich um Kopf und Kragen geredet und eine Möglichkeit organisiert, Thomas unterzubringen, solange ich an der Uni war. Dann hatte ich seine Sachen gepackt und nun standen wir vor der Haustür des Freundes.

Thomas wollte klingeln, was mich aus meinen Gedanken riss.

»Nein, warte«, sagte ich und lächelte meinen Bruder traurig an, der die Hand wieder sinken ließ. Er ahnte es noch nicht, aber ich würde ihn erst in einer Weile wiedersehen. Ich wuschelte ihm mit der Hand durch die hellbraunen Haare und hob dann sein Kinn an.

»Bist du traurig?«, fragte er verwirrt. »Ich bin doch nur eine Nacht weg.« Ich schüttelte den Kopf und hockte mich hin, um ihn ansehen zu können. »Pass auf. Du musst mir jetzt ganz genau zuhören. Wenn morgen die Schule zu Ende ist, wirst du nicht nach Hause kommen. Du wirst zu Lyra gehen, okay? Sie wird eine Weile auf dich aufpassen und sich gut um dich kümmern. Du darfst es keinem sagen, aber ich habe die Chance, uns aus dieser Gegend herauszuholen und dafür zu sorgen, dass unser Kühlschrank immer voll ist. Aber dafür muss ich für eine Weile weg.«