6,99 €
»Willkommen zurück an der Brighton Private University! Einem Ort, der von Geld, Image und Lügen regiert wird …« Nachdem Cloé Wallace ihrer damaligen Freundin Raven das Leben gerettet hat, muss sie nun selbst die illegalen Geschäfte an der Brighton Private University weiterführen. Der Studiengang raubt ihr den letzten Nerv, ihre Vergangenheit verfolgt sie und Cloé braucht dringend Nachhilfe, um mitzuhalten. Gut, dass der charmante Schauspieler Caleb Findlay bereit ist, ihr zu helfen. Es gibt nur einen Haken: Im Gegenzug soll Cloé für die Medien seine Freundin spielen, um seinen zerstörten Ruf wieder herzustellen. Nur schlecht, wenn man als Drogendealerin plötzlich im Rampenlicht steht und beginnt, Gefühle für jemanden zu entwickeln, der ihre Mauern einreißen könnte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Jessica Wedekind
Until Late Night Snow
Until Late Night Snow
© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Ronja Waehnke
Korrektorat: Lara Gathmann und Patricia Buchwald
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter Verwendung von
Motiven von Rawpixel
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die manchmal denken,
sie verdienen keine Liebe. Jeder verdient sie.
Ihr ganz besonders.
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser, obwohl Until Late Night Snow wirklich viele wunderschöne Momente enthält, gibt es auch ein paar ernste Themen, die eine wichtige Rolle spielen. Deshalb kommt hier noch eine kleine Content-Warnung. Im Buch geht es unter anderem um folgende Dinge: Drogenmissbrauch und Verkauf dieser, Cybermobbing, derbe Sprache und explizite sexuelle Inhalte. Solltet ihr mit diesen Themen Probleme haben, seid beim Lesen bitte besonders vorsichtig.
Auch solltet ihr beachten, dass diesem Roman das Buch: »Until Midnight Rain« vorausgeht, welches einen wichtigen Grundstein für die Geschichte von Cloé legt. Lest es daher, wenn möglich, vorher. Die Liebesgeschichte ist jedoch auch ohne Vorwissen eigenständig zu verstehen.
Sieben Jahre zuvor
Ich war gerade aus der Schule gekommen und hatte den anderen voller Stolz meinen neuen Rucksack gezeigt, als meine Mutter schnell die Tür hinter mir schloss, nachdem ich die Wohnung betreten hatte.
»Schatz, pack deine Sachen. Alles. Wir verschwinden von hier.«
Verwirrt über ihre Worte, sah ich mich in der kleinen Wohnung um. Erst jetzt fiel mir auf, dass einige Kartons im Wohnzimmer standen und es plötzlich so leer wirkte. Noch leerer als sonst. Auf einmal sah man wieder die schimmeligen Flecken und die abblätternde Tapete, die meine Mutter jahrelang mit Möbeln zu verstecken versucht hatte. Sowohl die orangene Lampe, die immer auf dem kleinen Holztisch neben der Couch gestanden hatte, als auch die paar Bilder, die in billigen Rahmen an der Wand gehangen hatten, waren verschwunden.
»Ich verstehe das nicht. Wo gehen wir hin, Mum?« Wir waren noch nie irgendwo anders gewesen. Ich hatte nie meine Sachen packen müssen. Weder waren wir im Urlaub gewesen – anders als einige meiner Mitschüler – noch waren wir je umgezogen.
»Wir fahren zu einem Haus, welches viel schöner ist, als diese mickrige, heruntergekommene Wohnung, und du wirst eine neue, bessere Schule besuchen.« Sie blickte auf mich herunter und nahm mein Gesicht in ihre Hände.
»Wir ziehen zu Roberto. Er hat ein wunderschönes Grundstück und es wird uns bei ihm deutlich besser gehen als hier.«
Ich hatte Roberto bisher nur zwei Mal getroffen. Erst hatte er mir mit seiner hochgewachsenen Gestalt und dem dunklen Auftreten Angst gemacht, doch er war immer nett gewesen. Außerdem sah ich, wie glücklich er meine Mutter machte, und entschied daher, ihn zu mögen. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich auch mit zu ihm ziehen wollte!
»Aber …« Etwas verdattert sah ich mich noch einmal um. Sie konnte doch nicht einfach heute entscheiden, dass wir wegzogen. Hier war alles. Meine Freunde, meine Schule und die Wohnung, die zwar klein und nun auch etwas verwahrlost wirkte, aber immer noch unsere war.
»Cloé, mach jetzt. Du wirst das hier nicht vermissen. Vertrau mir. Alles wird sich ändern und das wird fantastisch werden.«
Appellierend blickten ihre stechend blauen Augen in meine. Es lag schon fast ein Flehen darin. Die Bitte, einfach zu tun, was sie sagte, doch das wollte ich nicht. Ich wollte nicht weg!
»Nein, ich bleibe hier.« Ich stampfte mit dem Fuß auf.
»Mach dich nicht lächerlich.« Sie ließ die Hand von meinem Gesicht fallen und schien abzuwägen, was sie als Nächstes tun sollte.
»Du kannst ja gehen. Aber ich will nicht«, legte ich nach. Natürlich meinte ich es nicht ernst, schließlich brauchte ich sie. Ich war zwölf. Doch vielleicht konnten diese Worte sie noch umstimmen.
»Mein Schatz. Es wird alles gut. Dafür habe ich gesorgt. Mach dir keine Gedanken«, versuchte sie es erneut, und ich wusste, dass sie mich genauso wenig zurücklassen, wie hierbleiben würde, also nickte ich schließlich.
Vielleicht kamen wir irgendwann zurück.
Vielleicht würde es mir da, wo wir hingingen, aber auch wirklich besser gefallen, wer wusste das schon? Ich ließ mir beim Zusammenpacken eine Menge Zeit. Denn, obwohl ich nicht besonders viel besaß, brachte ich eine gute Stunde damit zu, mein Malpapier und die paar Stifte sowie mein Kuscheltier, einen kleinen, ausgefransten Elefanten namens Ferdinand, in die Pappbox zu packen.
Als ich dann meiner Mutter dabei zusah, wie sie gemeinsam mit Roberto, welcher, wie so oft, in einen ordentlich sitzenden Anzug gekleidet war, die Kisten in ein geräumiges und luxuriös aussehendes Auto packte, kam mir noch ein Gedanke.
»Warte, ich muss noch meinen Freunden Bescheid sagen, dass ich morgen nicht zur Schule komme.«
Meine Mutter lächelte und hielt mir kurz darauf eine kleine, verpackte Box hin, welche sie gerade aus der Tasche gezogen haben musste.
»Mach das auf.«
Ich bekam nicht sonderlich oft Geschenke. Vor allem nicht, wenn weder mein Geburtstag noch Weihnachten oder andere Feiertage anstanden, weshalb ich das Päckchen nur zögernd entgegennahm.
Es war in rotem Papier eingewickelt, und als ich dieses neugierig aufriss, strahlte mir der Karton eines neuen Handys entgegen.
Es war erst ein Jahr her, dass ich mein erstes Handy – ein gebrauchtes, mit Riss im Bildschirm – bekommen hatte. Aber dieses war brandneu.
»Damit kannst du deinen Freunden schreiben und ihnen erzählen, warum du nicht mehr zur Schule kommst. Gibst du mir dein Altes?«
Ich war schon dabei, das lädierte Ding aus der Jacke zu fischen, und hielt es ihr hin.
Sie nickte lächelnd und zeigte auf die offene Autotür. »Na dann, lass uns fahren.«
Wir waren schon eine Weile unterwegs, bis der Wagen schließlich einen langen, von Laubbäumen umrahmten Weg entlangfuhr und vor der Haustür einer riesigen Villa hielt. Mir wurde die Tür geöffnet und ich trat staunend an die Seite meiner Mutter.
»Das, Cloé, ist unser neues Zuhause.«
Als ich das Haus zum ersten Mal im Ganzen betrachtete, verschlug es mir die Sprache. Ich fühlte mich, als wäre ich geradewegs in einen Barbiefilm gestolpert und man hätte mir mit wehenden Fahnen davon berichtet, dass ich nicht das arme Straßenmädchen, sondern eine verschollene Prinzessin sei. Nun stand ich vor dem pompösen Schloss, fühlte mich deplatziert und fragte mich, wann man den Schwindel bemerken würde. Wann würden sie erkennen, dass ich nicht die war, für die sie mich hielten? Wann würde man mir all das wieder wegnehmen? Denn wenn das mein neues Haus, mein neues Leben war, wer war dann ich?
Heute
Ich war mir nicht sicher, was schlimmer war. Der Fakt, dass ich bald ein aufgezwungenes Studium begann, weil ich einem Mädchen das Leben gerettet hatte, oder so zu tun, als könnte ich meine Gesprächspartnerin leiden. Auch wenn meine Hände von der Kälte schon fast taub waren, versuchte ich, sie an der Teetasse etwas zu wärmen und meine Gedanken wieder zu Romina gleiten zu lassen.
»Ich kann echt nicht glauben, dass du auch endlich mal anfängst, etwas aus deinem Leben zu machen«, sagte sie mit der Zigarette im Mundwinkel, während sie mein schwarzes Chanel Feuerzeug betätigte und die Kippe anzündete.
Sie blies den Rauch aus und schob es mir über den kleinen, runden Tisch zu.
Heather biss von ihrem Croissant ab und stimmte nickend zu. »Also, versteh mich und Romina nicht falsch, du hast einiges gemacht in der letzten Zeit. Aber ich finde es einfach schön, dass wir dann alle studieren.« Es war anstrengend, sie durch die Schmatzgeräusche hinweg zu verstehen. Ich unterdrückte nur mit Mühe ein Augenrollen.
»Also, wie kommst du ausgerechnet auf Brighton? Du hättest dich auch an der NYU bewerben können. Vielleicht wären wir dann zusammen hingegangen«, sprach Romina weiter, als hätte Heather nie etwas gesagt, und strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht, welche sich durch den Wind, der hier im Dezember in Paris herrschte, verfangen hatte. »Ich wäre mir zwar nicht sicher, ob Jura dein Gebiet ist, aber ich meine, man hätte es ja ausprobieren können.«
Liebreizend wie immer. Auch wenn dieses Gespräch nicht unbedingt die Richtung einschlug, die ich mir gewünscht hatte, musste ich es führen, ohne Schwäche zu zeigen. Wenn Romina mitbekam, dass ich nicht zu hundert Prozent hinter Brighton und meiner Entscheidung stand, würde sie sich wie ein glitschiger Blutegel festbeißen und nicht mehr loslassen, bis ich meine Entscheidung verwarf und mein Leben, nein, meine gesamte Existenz infrage stellte. Bevor ich antworten konnte, kam Heather mir glücklicherweise zuvor.
»Ja, das hätte mich so gefreut. Wir drei zusammen in Vorlesungen oder auf Semesterpartys. Das wäre grandios geworden.« Heathers Augen glitzerten bei dem Gedanken. Ich wusste, dass sie es ernst meinte. Heather war wie ein kleiner Hundewelpe, den man vor der bösen Welt beschützen wollte.
Ich musste Romina nicht ansehen, um zu wissen, dass sie nur halb so viel von dem Gedanken hielt.
»Leider muss ich sagen, dass mir Brighton deutlich exklusiver erscheint. Wisst ihr, es bietet nicht nur einen perfekten Bildungsweg, sondern auch die Möglichkeit, weitere großartige Kontakte in England zu knüpfen. Zumal die Auswahl der Studenten so sorgfältig getätigt wird, dass es nicht nur aufs Geld ankommt. Außerdem war auch meine Mutter sehr vom Studienprogramm überzeugt. Wir haben es gemeinsam entschieden«, erklärte ich und nahm einen Schluck von meinem dampfenden grünen Tee, dessen herber Geschmack sich augenblicklich auf meiner Zunge ausbreitete. Ich mochte ihn nicht einmal besonders, doch angeblich war er sehr gesund, also runter damit.
Dass es eigentlich meine Mutter war, die mich zwang, nach Brighton zu gehen, weil ich es ihr versprochen hatte, um einem Mädchen das Leben zu retten, mussten die beiden nicht wissen. Gerade Romina musste mir abkaufen, dass Brighton besser war als die New York University. Grundsätzlich war sie das theoretisch auch. Alles, was ich gesagt hatte, stimmte. Das Einzige, was nicht ganz ins Bild passte, war, dass ich Bildung und Kontakte nie freiwillig über anständige Partys und ein Leben in New York City stellen würde. Normalerweise.
Während für die beiden schon lange klar gewesen war, dass sie zum kommenden Semester nach New York gingen, hatte ich eigentlich vorgehabt, noch mindestens ein halbes Jahr lang meine Freiheit zu leben. Aber durch die Ereignisse der letzten Monate war es zu einer 360-Grad-Wendung meines Lebens gekommen.
Da sich die Mädels vor meinem Abschied noch einmal treffen wollten und beide zusammen gerade noch Urlaub in Paris machten, war ich von England aus rübergeflogen.
Obwohl es mitten im Winter war, gab es hier, anders als zu Hause, noch keinen Schnee. Zumindest heute nicht. Es schien sogar die Sonne, weshalb wir uns in dem Café einen kleinen Tisch draußen gesucht hatten, um zu frühstücken. Kalt war es dennoch.
Von hier hatte man einen direkten Blick auf die Seine und den Eiffelturm, welcher mich bei jedem Besuch dazu brachte, mich erneut in die Stadt zu verlieben. Egal, wie oft ich ihn schon auf Fotos oder in echt gesehen hatte, jedes Mal war ich aufs Neue fasziniert von diesem riesigen Metallturm in der Mitte der Stadt.
Heather zog den cremefarbenen Schal um ihren Hals etwas enger und trank noch einen Schluck aus ihrer Tasse, bevor sie zustimmte. »Ja, das ist natürlich zu verstehen. Ich finde es großartig, dass du dich jetzt so auf dein Studium konzentrieren möchtest. Brighton klingt wie der richtige Ort für dich.« Sie hatte die roten, glatten Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und trug weiße Perlenohrringe, die ihre bereits blasse Haut, mit den vielen Sommersprossen gerade jetzt im Winter noch heller erscheinen ließ. Sie war das perfekte Beispiel für eine wohlhabende Millionenerbin, die sich selbst nie wirklich mit etwas auseinandersetzen musste. Sie war nicht dumm, doch etwas naiv. Glaubte immer an das Gute im Menschen und hatte noch nicht gelernt, dass die Welt dort draußen grausam sein konnte.
Statt in einer dreckigen Siedlung, bestehend aus Beton und darin verbauten Sozialwohnungen, war sie in einer riesigen Penthouse-Wohnung über der Londoner Innenstadt groß geworden. Sie war nie zu dem Klang von Polizeisirenen und streitenden Pärchen in Wohnungen über oder neben ihr eingeschlafen. Hatte das Fenster öffnen können, ohne Angst zu haben, dass jemand einen Feuerwerkskörper hineinwarf, weil er es als witzig empfand.
Romina stieß ihr leicht mit dem Ellenbogen in die Seite. Sie wusste, dass ich es sah, doch es war ihr schlichtweg egal. Ihr Charakter war nicht nur von Grund auf anders als Heathers, sondern sie könnten sich vom Antlitz ebenso nicht deutlicher unterscheiden. Wenn Heather der weiße Schwan war, war Romina der schwarze. Sonnengeküsste Haut, braunes Haar und unendlich dunkle Augen, welche durch den Eyeliner und ihre perfekt getuschten Wimpern noch eleganter und länger wirkten. Dass sie einem in die Seele blicken konnten, ließ Romina gemischt mit ihrem Charakter wie eine Schlange erscheinen. Wunderschön anzusehen, aber toxisch. Ab und zu sogar tödlich.
Manchmal fragte ich mich, wie diese Gruppe schon so lange Zeit bestehen konnte. Denn während Heather wirklich nett, immer positiv und eine echte Freundin war, hatte Romina nur mit ihr zu tun, weil Heathers Familie noch mehr Geld hatte und ihr Vater im Parlament des Vereinten Königreichs saß.
Das durchblickte Heather jedoch nicht. Sie hielt uns einfach für ihre besten Freundinnen. Ab und zu tat sie mir leid. Ich hätte ihr schon oft gern gesagt, dass Romina, und leider auch ich, nicht wirklich mit ihr Zeit verbrachten, weil sie ein toller Mensch war, sondern weil wir unsere Vorteile daraus zogen. Mögen tat ich sie dennoch. Romina drückte die Zigarette aus, spießte mit der Gabel ein Stück Banane auf und steckte es sich in den rot geschminkten Mund, bevor sie antwortete: »Meine Eltern haben sich schon vor Jahren von der Idee verabschiedet, dass ich das tun würde, was sie verlangen, oder mich mit ihnen einigen würde. Viel Spaß auf der Spießer-Uni. Aber da bin ich schon mal froh, dass du überhaupt studierst. Ich meine, irgendetwas muss man ja vorzuweisen haben.« Sie lehnte sich zurück und atmete im Rahmen einer Kunstpause durch. Auf alle anderen Punkte meiner Antwort ging sie nicht ein. »Aber warum studierst du eigentlich Wirtschafts- und Rechtswissenschaften? Ich dachte, du sollst mit in die Modefirma deiner Familie einsteigen. Als Designerin oder liege ich falsch?«
»Bitte, in das Mode-Business komme ich so oder so rein. Ich will die Firma aber vielleicht irgendwann leiten und da kommt mir dieser Studiengang sehr zu Hilfe. Du weißt doch selbst, dass ich nicht für einen Angestelltenplatz gemacht bin. Ich möchte etwas führen. Verantwortung übernehmen.«
Ich liebte es, dass ich die intelligente, aalglatte und manipulative Romina wenigstens damit an der Nase herumführen konnte. Ich würde vermutlich niemals eine Firma leiten. In der High Society war meine Mutter vor allem für ihre Modelinien und unser Label Wallace Luxury bekannt. Nur die wenigsten wussten, dass wir zu einem der größten Kartelle Englands gehörten und siebzig Prozent unserer Einnahmen aus dem Drogenhandel kamen.
Das Lustige war, dass Romina, die unzählige Kontakte hatte und zu einer der angesehensten Familien in den höchsten Kreisen gehörte, ausgerechnet mit mir befreundet war, weil sie mich für ebenbürtig hielt.
Wenn sie wüsste …
Ja, ich hatte Geld, sogar mehr, als sie vermutete, und ja, von außen sah ich aus wie sie, bewegte mich so elegant und gerade wie die, die von altem Geld abstammten, doch es dürfte niemals jemand hinter die Fassade schauen, die ich mit jahrelangem Training aufgebaut hatte. Ich durfte nicht auffallen. Musste mit dem Strom der Reichen und Schönen verschmelzen. Würde Romina je die Wahrheit erfahren, würde sie mich vernichten.
Meine Maske saß so fest, als hätte man sie mit Bolzen festgeschraubt und zusätzlich verschweißt. Niemand sollte je auf den Gedanken kommen, dass ich nicht zu den Reichsten der Reichen und Erfolgreichsten durch ein hart erarbeitetes Modelabel gehörte.
»Nun ja, mal sehen, wie du dich machst. Ich habe eigentlich immer gedacht, dass du dieser Art von Anspruch … sagen wir, aus dem Weg gehst. Ich verstehe ja, warum. Du zeichnest gut, hast einen fantastischen Geschmack und alles, aber ich weiß einfach nicht, ob so ein Studium in diesem Bereich das Richtige für dich ist.« Romina legte einen mitfühlenden Hundeblick auf. Würde man sie nicht kennen, könnte man fast denken, sie sagte es tatsächlich, weil ihr etwas an mir lag, doch das war leider nicht der Grund. Ich sollte nur keine Konkurrentin werden.
»Du denkst, ich bin zu dumm dafür?«, fragte ich misstrauisch, um sie aus der Reserve zu locken. Wir beide wussten, dass unsere Freundschaft nicht auf gegenseitiger Sympathie, sondern dem eigenen Nutzen basierte, auch wenn sie mir deutlich mehr brachte als umgekehrt. Nur durch unsere Verbindung stellte niemand infrage, woher ich kam, wer ich war oder ob mein Platz gerechtfertigt war. Sie stand oben in der Nahrungskette, aber das bedeutete nicht, dass ich mir alles gefallen ließ.
»Dumm ist nicht das richtige Wort. Du bist schlau, Cloé, sonst säßen wir hier nicht zusammen, nur denke ich, dass deine Talente in anderen Bereichen liegen.« Das Lächeln, welches nun auf ihren roten, vollen Lippen erschien, machte es auch nicht wirklich besser.
»Wir werden ja sehen, wie es läuft.«
Ich nickte nur und trank dann den letzten Schluck Tee aus.
Wir hatten gezahlt und verbrachten die restlichen Stunden bis zu unserer Rückreise – für mich nach England, für die beiden nach New York – mit einkaufen. In dieser Sache nahmen wir uns alle nichts. Geld ausgeben, Tausende Euro, Pfund und Dollar in Klamottenläden und Designerstores lassen, zur Maniküre gehen und das Haar neu stylen. So verstanden wir uns ganz wunderbar. Ein nahezu perfekter Tag. Nur die Erinnerung daran, dass mein Rückflug unmittelbar mit der Tatsache verknüpft war, dass ich in wenigen Tagen tatsächlich Studentin wurde und mir all diese Dinge dann sonst wo hinstecken konnte, ließ mich schlucken.
An der Brighton Private University gab es keine Einkaufsmeile oder Nagelstudios. Nein, da gab es Meer, eine Bibliothek, einen kleinen Einkaufsladen für Lebensmittel und natürlich die Universität selbst. Das war alles. Bis man tatsächlich in die Stadt kam, musste man erst eine ganze Weile fahren.
Ich schluckte den Kloß herunter, der fest in meinem Hals saß, und griff nach der schwarzen Prada Clutch, die den höchsten Preis hatte. Eigentlich zierte es sich nicht, selbst nach der Tasche zu greifen, sie wurde einem gereicht, doch das war mir gerade ziemlich gleich.
»Die hier nehme ich.« Der Verkäufer nickte und nahm die Tasche für mich mit zum Tresen, um sie zu verpacken.
Wenn meine Mutter mich schon zwang, an die BPU zu gehen, um an Ravens Stelle Drogen unter die Studenten zu bringen, dann würde ich wenigstens jetzt noch ein letztes Mal dafür sorgen, dass die Kreditkarte glühte.
Der Rückflug verlief ohne große Probleme. Ich hatte mich von Romina und Heather verabschiedet und ihnen versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten.
Kurz darauf fuhr der Rolls-Royce, der mich am privaten Flugplatz abgeholt hatte, über den gepflasterten Weg, der rechts und links mit Bäumen verziert war, zu unserem Anwesen.
Ich liebte alles, wofür diese riesige Villa stand. Die weiße, mit Stuck verzierte Fassade und die riesigen, teilweise bodentiefen Fenster waren die perfekte Vereinigung zwischen altem Barockstil und der Moderne. Dieses Anwesen stand für Geld, ein Entfliehen der Armut, die mich und meine Mutter jahrelang zurückgehalten hatte. Es war das Zeichen, dass man nicht so enden musste, wie das Leben die Karten verteilt hatte. Es spielte keine Rolle, wo man startete, wenn man mit dem arbeitet, was man hatte, sondern wo die Reise hinging, und unsere hatte zu Reichtum geführt. Auch wenn es zugegebenermaßen meine Mutter gewesen war, die all das für mich ermöglicht hatte. Und auch wenn ich grundsätzlich nicht so gut auf sie zu sprechen war, musste ich Mum dafür wirklich danken. Sie hatte für unser Leben alles riskiert und gewonnen. Hatte sich von Roberto in ein illegales Geschäft verwickeln lassen und balancierte seitdem jeden Tag auf Messers Schneide.
Der Wagen war hinter dem Springbrunnen, direkt vor dem Eingang, stehen geblieben und der Fahrer stieg aus, um mir kurze Zeit später die Tür zu öffnen. Ich bedankte mich und sah zu, wie der Wagen ums Haus herum weiterfuhr, um zur Tiefgarage zu gelangen.
Schon als ich den Schlüssel im Schloss drehte, bereute ich es. Die Absätze meiner High Heels kündigten mein Erscheinen bereits im gesamten Haus an, als ich die ersten Treppenstufen nahm, um so schnell wie möglich unbemerkt in meinem Zimmer zu verschwinden. Leider scheiterte mein Vorhaben.
»Cloé. Gut, dass du da bist. Ich wollte noch einmal mit dir sprechen«, hallte die Stimme meiner Mutter durch die Eingangshalle. Am liebsten hätte ich sie einfach ignoriert. Das war wahrscheinlich die einzige gute Sache, die Studieren mit sich bringen würde: die Distanz, die es zwischen mich und meine Mutter brachte. Diese Frau hatte den letzten Rest meines Vertrauens verloren, als ich vor Kurzem erfahren hatte, dass sie mich jahrelang belogen hatte.
Dennoch drehte ich mich auf dem Absatz um und stieg die Treppen wieder nach unten. Das Augenrollen verkniff ich mir, denn ihre Instinkte spürten einen genervten Gesichtsausdruck sofort.
Auf der entgegengesetzten Seite der Treppen befanden sich große Fenster, die den gesamten Raum mit Tageslicht nur so fluteten und durch Portraits von Sophie Anderson unterbrochen wurden. Die einzige Farbe, die sich neben Weiß und den Gemälden sonst noch im Haus wiederfand, war Gold. Ob die Türgriffe, das Geländer, Wanduhren oder der Kronleuchter, alles musste elegant und teuer aussehen. Nichts durfte mehr an die schimmelige Zweiraumwohnung erinnern, der wir vor Jahren entflohen waren.
Ich lief am Klavier vorbei durch den Eingangsbereich, der mit den Säulen neben der Tür und dem hellen, luxuriösen Ambiente genauso gut in ein Museum führen könnte, bis zum angrenzenden Wohnzimmer.
»Du hast gerufen?«, fragte ich und ließ mich meiner Mutter gegenüber auf die cremefarbene Couch fallen. Diese saß mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen auf einem der zwei gleichfarbigen Sessel und legte ihre Zeitung so schwungvoll auf dem runden Tisch in der Mitte ab, dass ich ihre Wut förmlich daraus hören konnte. Es knisterte Feuer im Kamin, auf dessen Sims einige Bilder von mir und meiner Mutter standen. Die Regale waren mit alten Büchern und Skulpturen versehen und daneben befand sich eine Tür zum Esszimmer.
»Na sieh einer an, wer sich auch mal wieder blicken lässt. Übermorgen geht es für dich nach Brighton und bisher hast du kaum ein Wort darüber verloren. Außerdem hast du mir über deinen dreitägigen Kurzurlaub nach Paris ebenso wenig Bescheid gegeben. Ich habe lediglich durch die ganzen Abzüge auf deiner Kreditkarte gewusst, dass du nicht gekidnappt wurdest.« Sie sprach die Worte mit einem zynischen Ausdruck um den Mund aus.
»Du denkst also nicht, dass Kidnapper mich entführen und meine Karte ausnutzen würden?«, provozierte ich sie ein wenig und überschlug die Beine.
»Kriminelle kaufen für gewöhnlich nicht bei Prada und Versace ein, sobald sie eine Geisel haben.«
Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Du musst es ja wissen.«
Jetzt war sie diejenige, die die Augen verdrehte, auch wenn es durch die gelifteten Augenlider etwas eigenartig aussah.
»Zum Glück bist du wieder da und kannst dich nun endlich mit der Vorbereitung fürs Studium befassen. Vorhin war ich noch der Überzeugung, du seist davor geflohen.« Ihre Haltung schüchterte mich ein, doch ich bemühte mich, es mir nicht anmerken zu lassen.
Dennoch antwortete ich ehrlich, während ich begann, an meinem Ring herumzuspielen. »Am liebsten wäre ich geflohen, die Sorge ist durchaus berechtigt.«
Sie warf mir aus den blauen Augen, die meinen glichen, einen ermahnenden Blick zu. »Denk daran, dass du das wolltest. Ich war mit Ravens Arbeit zufrieden. Du bist diejenige, die sie rausgehauen und sich ach so aufopferungsvoll freiwillig gemeldet hat. Leb mit den Konsequenzen deiner Taten.«
Meine Stimmung rauschte noch mehr in den Keller und ich musste unweigerlich daran denken, dass meine Mutter und Romina sehr ähnliche Charakterzüge aufwiesen. Das Schlimmste war, dass sie recht hatte. Hätte mir vorher jemand gesagt, welche Konsequenzen es für mich haben würde, einmal das Richtige zu tun, hätte ich es wahrscheinlich gelassen. Den Rest meines entspannten Jahres hatte ich für eine Person aufgegeben: Raven Harris. Die letzten sechs Monate waren beinahe perfekt für mich gelaufen. Ich hatte praktisch frei. Vier Wochen auf Mykonos, zwei Reisen nach New York, eine Gala in Paris … Aber ausgerechnet in dieser Zeit hatte ich mein Herz entdeckt und Raven mehr oder weniger das Leben gerettet.
Meine Mutter wusste ganz genau, dass ich dagegen nichts einwenden konnte, und sprach daher unbeirrt weiter. »Egal, jetzt bist du ja da. Lass uns zum Studium kommen.«
Anders als bei anderen Müttern, die übers College reden wollten, ging es bei ihr nicht um einen schönen Abschied oder Ratschläge dazu, wie ich am besten abschnitt. Es ging ums Geschäft. Drogen.
Nicht die, die mir angedreht werden könnten, sondern die, die ich verkaufen würde.
Genau das war nämlich die Sache gewesen, vor der ich mich verzweifelt versucht hatte, zu drücken. Vor einem halben Jahr hatte ich Raven – die mal meine beste Freundin gewesen war, bis meine Mutter uns, gegenseitig im Namen der anderen, eine Nachricht gesendet hatte, die unsere Freundschaft zerstört hatte – in gewisser Weise engagiert, um diesen Job zu machen. Unser Wiedersehen fiel in dem Glauben, wir hätten uns gegenseitig früher diese Nachrichten geschrieben, eher unglücklich aus. Erst hatte sie den Job gut gemacht, doch dann verliebte sie sich, wollte aussteigen und wurde vom Handlanger meiner Mutter beinahe umgebracht. Ich hatte sie letztlich aus dem Deal entlassen und mich ab nächstem Semester für den Drogenverkauf angeboten. Ansonsten wäre meine Mutter sie früher oder später losgeworden, und das konnte ich nicht zulassen. So kam sie raus und ich hatte den Salat.
»Ich weiß doch alles, also was soll es da noch zu besprechen geben?«, fragte ich kühl und zog die Brauen nach oben.
Meine Mutter strich sich über die von Botox starre Stirn.
»Cloé, ich vertraue dir in dieser Sache zwar, dennoch muss ich sichergehen, dass du dir auch wirklich alle Preise und unser Sortiment gemerkt hast.«
Sie bemerkte nicht, wie widersprüchlich ihr Gerede von Vertrauen war. Also sollte sie mich doch überprüfen, wenn es ihren Seelenfrieden wiederherstellte. Im Gegensatz zu Raven war ich nicht im Besitz eines fotografischen Gedächtnisses und musste alles tatsächlich auswendig lernen. Doch das war nicht mein erster Tag in diesem Business und ich wusste sehr viel mehr, als meine Mutter mir zutraute. Also ratterte ich die Liste herunter. »Marihuana, LSD, Ritalin, Kokain und Speed. Zufrieden?« Auch die Codes, die wir im Chat für jede Droge verwendeten, sagte ich ihr an.
Wir verkauften in der Regel nichts an Junkies oder gewöhnliche Menschen.
Unser Kundenstamm waren die Reichen. Die, die sich bei Treffen mit Freundinnen über teure Entzugskliniken austauschten, so als ginge es um einen Luxusurlaub.
Die, die nicht auf der Straße landeten und ihrer Sucht zum Opfer fielen. Außerdem ließen wir die Finger von Dingen wie Heroin oder Drogen, die in der Schädlichkeitsskala die ersten Plätze belegten. Was jedoch keineswegs bedeutet, dass unsere Ware ungefährlich wäre. Es ging bei uns um Party- oder Lerndrogen, die zwar nicht unbedingt besser, aber wenigstens in Maßen ein kleines Stück ungefährlicher waren. Ich wollte sie nicht rechtfertigen, aber musste zugeben, dass ich der festen Überzeugung war, dass die junge, aber erwachsene Elite der Gesellschaft intelligent genug war, um selbst zu wissen, was sie einwerfen wollten und was nicht. Eine Universität, gerade Brighton, an der es von reichen Studenten nur so wimmelte, war der perfekte Ort dafür. Die meisten wollten Mummy und Daddy stolz machen, setzten sich selbst unter Druck, Bestleistungen zu bringen. Sie würden sich in der Regel so oder so etwas besorgen, um allem gerecht zu werden und ab und zu bei Partys abzuschalten. Wir waren mit einem Dealer direkt an der Uni somit die Ersten, die Geld verdienten. Das rechtfertigte unser Handeln moralisch nicht, aber all der Luxus ließ die Seele eines jeden irgendwann grau werden. Vor allem, wenn man die Seite hinter dem Regenbogen kannte und sich vor ihr fürchtete.
Sie nickte langsam und dann erschien ein schmales Lächeln. »Fein. Dann will ich dich gar nicht weiter aufhalten. Du hast gepackt? Hast deinen Semesterplan und die Dokumente, die in deinem Zimmer über Wochen verteilt lagen, geordnet? Einen Tag nach deiner Anreise geht es los und ich hoffe sehr, dass alles problemfrei funktioniert. Sonst bekomme nicht nur ich, sondern auch du große Probleme.«
Ich nickte und setzte ein Lächeln auf. »Keine Sorge, es wird bestimmt alles ganz fantastisch.«
Wenn er noch ein einziges Mal mit dem Kugelschreiber klickte, würde ich ihm das Ding ins Auge rammen. Eigentlich war Ian Torres einer meiner besten Freunde, aber gerade befeuerte er mit jedem weiteren Klick-Geräusch meine Aggressionen. Seit zwei Stunden saßen wir nun an dem großen Küchentisch in meinem Londoner Apartment und waren keinen Schritt weitergekommen.
»Wie wäre es mit Geldspenden?«, fragte meine Mutter, die neben mir saß und ihren ersten Satz seit knapp dreißig Minuten in den Raum warf.
»Nein, das ist einmal eine kleine Meldung, die dann wieder untergeht und ihn definitiv nicht hier rausbringt«, nahm Ian ihr die Illusion.
Ich hatte genaugenommen in den letzten zwölf Monaten satte hunderttausend Pfund an verschiedene Organisationen gespendet. Nicht, dass es mir um die Presse ging, aber darüber hatte niemand berichtet. Skandale verkauften sich deutlich besser auf Titelblättern als die Promispenden der Woche. Ja, es gab durchaus Menschen, die sich eine Zeitung zulegen würden, weil ich auf dem Bild ein Hundebaby aus dem Tierheim, an das ich gespendet hatte, in den Armen hielt. Das war jedoch eine kleinere Zielgruppe als die fleischhungrigen Aasgeier, die ihr Leben mit Klatsch und Drama anderer füllten.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, sein Image wieder aufzupolieren, oder nicht? Das Gericht hat entschieden, dass er es nicht war. Die Sache sollte überhaupt kein Thema mehr sein. Es ist über ein Jahr her! Die Leute kennen ihn doch«, diskutierte mein Vater weiter.
Ich atmete tief durch. Wir drehten uns im Kreis und waren schon unzählige Male an diesem Punkt gewesen. »Erzähl das den Leuten da draußen«, gab ich zurück und kaute dann weiter gedankenverloren auf meinem Pfefferminzkaugummi, der schon seit einer halben Stunde keinen Geschmack mehr hatte.
Ich hielt eine spontane Krisensitzung mit meinem innersten Kreis ab. Auch mein Agent Armin – ein Mitte dreißigjähriger Geschäftsmann, welcher mich damals entdeckt und nach ganz oben katapultiert hatte – sollte eigentlich anwesend sein. Da diese Sitzung jedoch spontan war, hatte er leider bereits einen Termin mit einem anderen Klienten. Trotzdem sollte ich ihm die Ergebnisse mitteilen.
Nachdem ich heute Morgen mit einer netten Nachricht in meinem Postfach aufgewacht war, die mir datiert den Tod androhte und mich als Frauenschläger betitelte, war mir klar, dass es so nicht weitergehen würde. Ich konnte mir durchaus nettere Guten Morgen Grüße vorstellen, doch meine Ex-Freundin hatte dafür gesorgt, dass diese ausfielen.
Ich hatte niemals eine Frau geschlagen oder ihr auch nur irgendetwas angedroht, und dies war eine vor Gericht geklärte Tatsache. Es waren Anschuldigungen, welche ich mit wasserdichtem Alibi und handfesten Beweisen widerlegt hatte. Doch leider verbreitete sich die Nachricht meiner bewiesenen Unschuld nicht so schnell und einprägsam, wie das vorausgegangene Gerücht.
»Was, wenn Lisa ein Statement abgibt und wir vielleicht eine Kampagne gegen häusliche Gewalt starten? Die Sache hat sich doch geklärt. Sie hat ja sogar zugegeben, dass du es nicht warst, sondern der Kerl, mit dem sie eine Affäre hatte«, versuchte mein Vater es erneut. Er hatte sich das dunkelbraune Haar nach hinten gegelt und fuhr sich mit der Hand immer wieder über den Dreitagebart, während er das leere Blatt vor ihm, welches für Ideen gedacht war, musterte. Ich fühlte mich wie in der sechsten Klasse bei den Streitschlichtern.
Ian setzte einen wenig begeisterten Gesichtsausdruck auf, presste die Lippen zusammen und legte den Kugelschreiber zur Seite. Endlich.
Gerade als er etwas sagen wollte, ergriff stattdessen ich das Wort. »Lisa hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Das weißt du doch. Sie hat verständlicherweise zu viel Angst, um sich in der Gesellschaft dem zu stellen, was ihr passiert ist. Auch wenn der Kerl, der ihr das angetan hat, im Knast sitzt. Sie wird das nicht ändern. Ich verstehe ja, dass sie diese Entscheidung getroffen hat und ich ihr am Ende nicht die Schuld geben kann –«
Meine Mutter unterbrach mich harsch. »Nein, den Punkt hatten wir bereits, Caleb. Du wirst sie nicht verteidigen. Wir können die Situation vielleicht aus ihrer Sicht sehen, aber dich vor den Laster zu stoßen, war trotzdem falsch! Sie verdient dein Mitgefühl nicht.« Meine Mutter war eigentlich die sanfteste und liebenswürdigste Person, die ich kannte. Doch wenn es um diese Angelegenheit ging, kam die Löwenmutter heraus. Obwohl ich mit einundzwanzig Jahren alt genug war.
Doch irgendwie wusste ich auch, dass sie recht hatte, aber obwohl Lisa in gewisser Weise an der Situation Schuld trug, hasste ich sie nicht. Sie hatte Angst gehabt, und wurde von diesem Typen erpresst. Ich war ein Kollateralschaden, den sie mehr oder weniger in Kauf genommen hatte. Wir alle machten Fehler, doch dieser hatte meine Karriere beinahe zerstört. Einige Menschen behaupteten heute noch, ich hätte die Beweise gefälscht und den Richter bestochen. Ich wusste nicht, wie ich auf solche offensichtlich falschen Aussagen und Behauptungen reagieren sollte.
Jedoch wurde nun auch Lisa ziemlich sicher mit Nachrichten überschwemmt, die ihr unterstellten, eine Lügnerin und Hochstaplerin zu sein. Dass wir diese Beleidigungen und Drohungen nach wie vor, oder besser gesagt, schon wieder erhielten, obwohl der Skandal bereits über ein Jahr zurücklag, war einem Zeitungsartikel der British Traveller zu verdanken, die den Fall noch einmal neu aufrollten und hinterfragten, um ihre Seiten zu füllen. Damals wurden noch keine Realityshows aus Gerichtsprozessen gemacht, weshalb es nicht so viele Aufnahmen aus dem Prozess gab. Das regte natürlich zur Spekulation an.
»Das wird so aber nicht weitergehen! Mein Sohn wird bedroht und ihm werden furchtbare Dinge geschrieben. Wenn wir keine Lösung finden, werde ich damit zur Polizei gehen.« Am liebsten hätte ich meine Mutter kurz in den Arm genommen. Mich beschlich das Gefühl, dass die Situation sie mehr mitnahm als mich. Das war verständlich. Keine Mutter der Welt wollte so etwas für ihr Kind.
»Das wird nichts bringen. Du kannst keine tausend Leute anzeigen und außerdem bin ich eine Person des öffentlichen Lebens, und egal, wie unfair und falsch es ist, die Leute denken, sie könnten mir alles an den Kopf werfen.« Kommentare wie: Damit muss man als Promi eben klarkommen, oder: Er hat sich doch dafür entschieden und liest die Nachrichten bestimmt sowieso nicht, waren kaum noch zum Aushalten.
Meine Mutter strich sich verunsichert eine braune Locke aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, und betrachtete mich aus dunklen Augen mit einem mitfühlenden Blick.
Sie nahm den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Möchte jemand noch einen?«
Ian reichte ihr seine Tasse, ich schüttelte den Kopf und mein Vater erhob sich ebenfalls, um meine Mutter in die Küche zu begleiten. Ian gehörte eigentlich so gut wie zur Familie. Er war bereits an meiner Seite, bevor der Skandal aufkam, und unterstützte mich seitdem noch stärker. Wir hatten uns damals in der Schule kennengelernt. Während ich in die Schauspielrichtung gegangen war, hatte er ein eigenes Restaurant in der Londoner Innenstadt eröffnet. Wenn er nicht gerade an der Bar oder in der Küche stand, trieb er sich für gewöhnlich, wenn ich da war, hier herum.
Ich warf einen Blick zu Sushi, dem Australian Shepherd meiner Eltern, doch dieser legte nur den Kopf schief und betrachtete mich aus hellblauen, runden Augen. Sobald meine Eltern aus der Tür waren, beugte sich Ian näher zu mir.
»Wie wäre es mit einer PR-Beziehung?«, warf er in den Raum und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich. »Beim letzten Mal meinte Armin, dass er die Idee nicht schlecht findet. So etwas gibt es zu PR-Zwecken immer mal.«
Ich stöhnte vor Frustration auf und ließ mich in den Stuhl sinken. Nicht schon wieder dieser Vorschlag!
»Hör zu, die Menschen müssen dich als guten Freund erleben. Als Person, die so etwas nicht tut, und vor allem muss die Gerüchteküche wieder ordentlich mit guter Presse angeheizt werden. Der Skandal muss mit einem ähnlichen Thema – deiner neuen Freundin – ersetzt werden. Und ganz ehrlich, mir gehen langsam die Ideen aus.«
Natürlich wollte ich das, aber wollte ich auch der ganzen Welt etwas vorspielen und eine Frau bezahlen müssen, damit sie Zeit mit mir verbrachte? Ich musste nichts sagen. Ian kannte meine Meinung zu diesem Thema, wir hatten schon einmal darüber gesprochen. Ans Aufgeben dachte er dennoch nicht.
»Das wäre eine Win-win-Situation. Da draußen sind viele junge Schauspielerinnen, die davon profitieren würden, mit jemandem wie dir auszugehen. Du bist bekannt in der Szene, und auch wenn die Jobangebote in der Film- und Fernsehlandschaft wegen des Skandals schon wieder sehr mager ausfallen, bist du dennoch unter den begehrtesten Junggesellen unter dreißig.«
Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. »Gott, aus welchem Magazin hast du das denn wieder?«
»Glaube, das stand ebenfalls in der British Traveller«, gab er grinsend zurück.
Das Schlimme war, dass er ja sogar recht hatte. Als vor einigen Jahren die Serie Dynasty Island erschien, wurde ich kurzzeitig der beliebteste Newcomer der Welt und hatte von einem auf den anderen Tag Hunderttausende und bald Millionen neue Follower.
Die Serie endete im letzten Jahr nach vier Staffeln. Angeblich hatte es nichts mit dem Skandal um mich zu tun, aber ich wusste, dass es die Entscheidung, die beliebte Serie enden zu lassen, dennoch unterstützt hatte.
Ich hatte damals einen jungen, arroganten Millionen-Erben gespielt, der sich in einem Liebesdreieck mit den anderen Hauptdarstellerinnen wiederfand. Es war nicht meine erste Rolle gewesen. Ganz im Gegenteil.
Meine Eltern produzierten Kameras für Hollywood-Filme. Ich war schon als Kleinkind mit der Branche aufgewachsen und hatte nicht nur einmal als Testobjekt fungiert, um zu sehen, wie gut eine neue Kamera fokussieren, zoomen und das Licht einfangen konnte. Dennoch war die Serie, in der eine reiche Familie eine Insel kaufte und schließlich feststellte, dass dort seit der Anstellung der Protagonistin eigenartige Dinge vor sich gingen, mein Durchbruch gewesen.
»Was hältst du davon?«, fragte Ian, überzeugt von seiner Idee.
Am liebsten hätte ich das Gespräch für beendet erklärt, doch irgendeine Lösung mussten wir finden.
»Ich weiß nicht. Ich stecke mitten im Studium. Morgen beginnt das zweite Semester, und es erscheint mir irgendwie nicht richtig, mich jetzt in eine falsche Beziehung zu stürzen, um irgendwie zu erreichen, neue Rollen an Land zu ziehen. Vielleicht sollte ich eine Pause einlegen. Während des Studiums habe ich sowieso keine Zeit, etwas Neues anzufangen. Lassen wir ein paar Wochen ins Land ziehen. Das wird sich alles schon irgendwie lösen.« Mein Versuch war unbeholfen. Das Verheerendste, was jemandem in dieser Branche passieren konnte, war, von der Bildfläche zu verschwinden. Es war klar gewesen, dass ich momentan keine Zeit für Hauptrollen haben würde, doch Nebenrollen und Musikvideodrehs waren eigentlich schon eingeplant gewesen. Schlecht nur, wenn die Angebote ausblieben.
Ian betrachtete mich mit unergründlicher Miene, bevor er sich schließlich mit den Händen übers Gesicht fuhr, sich streckte und aufstand, um wortlos an mir vorbei zur Balkontür zu gehen.
Er war nur ein Jahr älter als ich, nahm dieses Thema jedoch so ernst, als würde es ihn selbst betreffen. Das führte dazu, dass er sich ebenso gut mit Armin verstand. Diesen hatte ich vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung kennengelernt und mit ihm ein gutes Gespräch geführt. Kurz darauf übernahm er als mein Agent und verschaffte mir die Rolle zum Durchbruch. Dass wir uns nicht nur auf professioneller, sondern auch privater Ebene gut verstanden, machte die Sache noch besser. Auch wenn wir uns bemühten, einen professionellen Umgang miteinander zu pflegen, hatte ich dennoch immer das Gefühl, dass er mir auch um meinetwegen helfen wollte. Nicht nur, weil er Geld daran verdiente, sondern, weil es ihm wichtig war, dass es uns beiden gut ging.
Ian betrachtete durch die Glasscheibe die Skyline von London und fuhr sich noch einmal mit der Hand durch die dunkelblonden Haare, bevor er sich umdrehte und seine grauen Augen wieder auf mich richtete.
»Ok, verstehe schon, du willst nicht. Also war diese zweistündige Sitzung genaugenommen sinnlos?«
Schuldgefühle machte sich in meinem Innersten breit. »Tut mir leid, vielleicht war es etwas übertrieben, wegen der Nachricht Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen.«
»Nein, das war es nicht. Du bekommst gerade mal wieder keine Jobs. Caleb, das ist ein riesiges Problem«, warf mein Vater ein, der nun gefolgt von meiner Mutter in den Raum trat und die dampfende Tasse Kaffee vor Ian abstellte. »Wir finden eine Lösung und unterstützen dich dabei. Konzentriere dich auf die Uni, alles andere ergibt sich. Wir müssen jetzt los ins Studio und uns die neue Alpha X3 Wonder Kamera ansehen. Es muss wohl noch was an der Steuerung gemacht werden.«
Ich nickte nur, bedankte mich und umarmte die beiden zum Abschied. »Ich wünsche dir viel Erfolg im zweiten Semester, Caleb. Melde dich bitte, wenn du angekommen bist und ob alles funktioniert hat.« Ich schenkte meiner Mutter ein Lächeln. »Mache ich. Grüßt das Team von mir.« Sie nickte und warf sich den schwarzen Mantel über, bevor sie Sushi rief und ihn an die Leine nahm. »Bis bald Ian.«
Dieser nickte ihnen zur Verabschiedung kurz zu. Als sie die Wohnung verlassen hatten, drehte ich den Kopf wieder zu ihm. Er war ebenfalls verschwunden.
Ich fand Ian auf der Dachterrasse, sein liebster Ort hier, neben der Kaffeemaschine, rauchend und in die Ferne blickend. Er liebte den Ausblick über die Stadt.
Ich zog meine Schuhe an, die neben der Balkontür standen, und trat über den knirschenden Schnee zu ihm nach draußen. Sofort schlug mir die beißende Kälte entgegen. »Worüber denkst du nach?«
»Darüber, dass du ein Vollidiot bist«, gab er zurück, sah jedoch nicht auf.
»Kaum sind meine Eltern weg, wirst du frech«, zog ich ihn auf. Mit nichts anderem hatte ich gerechnet.
»Denk darüber nach. Ich weiß, du bist ein guter Kerl und hast wahrscheinlich echt keine Lust auf eine PR-Aktion, aber ich will nicht ständig in dem Wissen leben, dass du jeden Morgen mit Morddrohungen aufwachen musst. Das kann nicht so weitergehen. Wenn du einen besseren Einfall hast, als die Sache einfach auszusitzen, dann teile ihn mir bitte mit. Ich bin durchaus kompromissbereit.«
Ich nickte nur und trat ans Geländer. Grundsätzlich hatte er recht. Aber irgendein x-beliebiges Mädchen, an dem ich kein echtes Interesse hatte, mit meinen Problemen zu konfrontieren, konnte doch nicht die Lösung sein. Vielleicht war es auch falsch gewesen, Ian alles zu erzählen. Ich schätzte ihn und auch seine Freundschaft sehr, doch es musste noch eine andere Möglichkeit geben. Außerdem wollte ich es vielleicht nicht zugeben, doch die Sache mit Lisa hatte mich damals mitgenommen. Erst, dass sie mich betrogen hatte. Dann zu erfahren, dass der Typ auch gewalttätig ihr gegenüber geworden war, und natürlich die falsche Unterstellung, ich wäre es gewesen. Nur weil dieser Kerl sie erpresst hatte und dachte, man könnte mir mit einem solchen Vorwurf Geld aus der Tasche ziehen. Ich hatte mich monatelang gefragt, was ich falsch gemacht hatte. Ob unsere Beziehung für sie nicht gut gewesen war. Als ich sie nach der Verhandlung bei unserem letzten Treffen gefragt hatte, meinte sie lediglich, ich sei zu nett und langweilig, außerdem wollte sie sich nach unserem Streit damals ablenken, doch nun wüsste sie mich zu schätzen. Dafür war es jedoch zu spät.
»Ich überlege es mir.«
Nun nickte er und drückte dann seine Zigarette im Aschenbecher aus, der auf dem für den Winter abgedeckten Tisch stand.
»Vielleicht findest du ja selbst jemanden an der Uni. Dort wimmelt es doch nur so von Reichen und Promis, oder?«
»Ja, das definitiv. Aber was außer meiner Gesellschaft sollte ich ihr dafür anbieten? Nicht jeder ist auf Berühmtheit aus.«
»Geld. Wer braucht das bitte nicht? Oder du fragst eben, was sie haben will. Du schaffst das schon.«
Da war ich mir nicht so sicher.
»Du hast es doch selbst gesagt, jeder dort hat so viel Kohle, dass es ihnen zum Arsch wieder rauskommt. Die brauchen mein Geld nicht.«
»Dir fällt bestimmt was ein. Zur Not gibt es immer noch die Möglichkeit, sich eine aufsteigende Schauspielerin zu suchen, die den Push gebrauchen kann. Dann habt ihr beide was davon.«
Wir drehten uns schon wieder im Kreis.
»Mal sehen. Lassen wir uns einfach überraschen.«
Da der Himmel klar war und keine Wolke darin hing, erkannte man in der Ferne die modernen Hochhäuser, gemischt mit den alten Kulturdenkmälern. Unser Haus lag in einem Außenring der Stadt, trotzdem konnte man einige Sehenswürdigkeiten und Parks problemlos ausmachen. Auch der laute Verkehr und die Lichtverschmutzung in der Nacht blieb einem hier nicht erspart.
Das mochte ich an Brighton. Dort war es ruhig, abgelegen und man hatte das Meer praktisch vor der Nase. Das erste Semester hatte mir gutgetan. Ich konnte diese gesamte, erschaffene, mediale Welt hinter mir lassen und ein Student sein. Natürlich hatten mich Mitstudierende erkannt, aber dort waren alle wichtig. Jeder hatte Geld, jeder war jemand, den man irgendwoher kannte, was mich nur zu einem von vielen machte. Das war genau der Grund gewesen, warum ich mich für die Brighton Private University entschieden hatte.
Ich freute mich darauf, endlich zurückzukehren. Zurück in diese kleine, geschützte Welt am Meer, wo das Internet oft zu schlecht war, um neue Nachrichten im Social-Media-Postfach zu empfangen.
Meinem besten Freund Alex und seine Freundin Raven hatte ich in der Winterpause kaum zu Gesicht bekommen. Die zwei hatten viel unternommen, nur ab und zu hatten wir telefoniert oder geschrieben.
»Ich muss dann los«, murmelte ich vor mich hin.
Als hätte Ian meine Worte nicht gehört oder sie schlicht und ergreifend ignoriert, sprach er weiter. »Ich hoffe nur, du bekommst die Einladung zur Premiere von Idas erstem Kinofilm. Armin meinte ja letztes Mal, viele sind schon rausgegangen, aber bei dir ist das Postfach noch leer.«
Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß, Ian, danke für die Erinnerung. Es ist noch ein Stück bis dahin. Vielleicht kommt noch was. Aber vielleicht solltest du dich lieber darauf fokussieren, dass dein Restaurant läuft, als dir darüber Gedanken zu machen«, versuchte ich die Dinge positiv zu sehen und das Thema zu wechseln. Was blieb mir anderes übrig?
»Das Rive Droite läuft fantastisch. Mach dir da mal keine Sorgen.«
Ich nickte, doch der Gedanke an Idas Premiere ließ mich nicht los. Wahrscheinlich hatten die Produzenten meinem ehemaligen Co-Star davon abgeraten, mich einzuladen. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass es keinen Stich in der Brust hinterließ, aber manche Dinge konnte man nun mal nicht ändern und eine Einladung weniger bedeutete nicht direkt das Ende der Welt. Mein Atem formte kleine Wolken in der Luft und die Kälte kroch mir Stück für Stück in die Knochen.
»Lass uns wieder reingehen und hör endlich auf zu rauchen. Dieser Scheiß macht krank.«
Ian war nach dem Gespräch wieder gefahren, um das Abendgeschäft vorzubereiten. Als sich die Dunkelheit langsam über die Stadt senkte, schloss ich gerade den Reißverschluss meines Koffers. Das Meiste war direkt in meinem Campuszimmer geblieben, nur die wichtigsten Gegenstände und Kleidungsstücke hatte ich über die Semesterferien mitgenommen.
Morgen begann das neue Semester, und während am gestrigen Tag bereits die Meisten angereist waren, genoss ich bei meinem Eintreffen später hoffentlich den Frieden von leeren Gängen und einer ruhigen Nacht. Auch wenn ich zugab, dass diese alte Universität mit den Ölgemälden in Goldrahmen und den Wandteppichen mir jedes Mal, wenn ich in der Nacht durch diese Gänge ging, eine Gänsehaut bescherte.
Ich warf mir die Jacke über, nahm mein Gepäck und begab mich auf den Flur, bevor ich mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage fuhr.
Dort öffnete ich meinen weißen Tesla, lud alles ein und fuhr schließlich zurück nach Brighton, wo ich hoffentlich meine Ruhe wiederfand.
Am Morgen des nächsten Tages wollte ich einfach nur in den Satinlaken meines riesigen Himmelbetts liegen bleiben. Der Gedanke, jetzt aufzustehen und tatsächlich als Studentin an die Brighton Private University zu gehen, brachte mich dazu, all meine guten Vorsätze über Bord werfen und doch einfach still und heimlich nach Australien fliehen zu wollen, um ein Leben lang Schafe zu scheren. Vielleicht würde ich einen einsamen, gutaussehenden und netten Schäfer finden. Oder ich wickelte einen Millionär um den Finger, löste mich damit aus den Fesseln meiner Mutter und blieb ein Leben lang Hausfrau.
Ich verwarf die Gedanken recht schnell wieder. Jede Kämpferin für Feminismus und Emanzipation würde sich für meine Gedanken schämen. Mir war bewusst, dass ich meinen Zugang zu Bildung – vor allem eine so teure und exklusive – unbedingt nutzen sollte.
Stöhnend raffte ich mich auf, schob die Schlafmaske nach oben und genoss das letzte Mal das Gefühl, in einem Bett aufzuwachen, welches den Wert eines Neuwagens besaß. Ich hatte Ravens Campuszimmer gesehen, und da jedes Zimmer nahezu identisch aussah, bedeutete das, dass ich auch meines gesehen hatte. Ja, ich würde meine Satinbettwäsche dringend mitnehmen müssen, wenn ich überleben wollte. Ich schwang die Beine aus dem Bett, richtete mich vollständig auf und ging auf den Kleiderschrank in der Ecke des Raumes zu, der direkt neben dem mit rotem Samt überzogenen Sessel stand. Es hing wie zu erwarten nur ein Outfit darin, weil ich den Rest bereits gestern zusammengepackt hatte und natürlich alles mitnahm. Zwar gab es an der Universität eine Schuluniform, doch was war mit den Abenden nach den Vorlesungen? Den Partynächten zum Beispiel. Wenn ich alles mitnahm, war ich wenigstens auf jede Situation vorbereitet. Außerdem musste ich dann nicht hierher zurückkehren, um irgendetwas zu holen. Wenn ich schon rausgeschmissen wurde, dann wenigstens richtig. Nachdem ich mich mit Rock und enganliegendem weißem Oberteil bekleidet hatte, stopfte ich auch noch eine schwarze, dünne Strumpfhose, die innen hautfarben gefüttert war, und schwarze Mary-Jane-Schuhe in meinen Koffer, die die Universitätsuniform vervollständigten. Es war kalt, und ich ging davon aus, dass die Universität nicht ausreichend beheizt war, hatte aber keine Lust, zitternd in der Vorlesung zu sitzen.
Beim Frühstück schwiegen sowohl meine Mutter als auch ich. Das Unausgesprochene hing wie eine Nebelwolke über unseren Köpfen. Der Tisch war reichlich mit frischer Bäckerware, jeder Marmelade, die man finden konnte, Obstplatten sowie Baked Beans, Speck und Spiegeleiern gedeckt. Doch bis auf ein paar Apfelspalten hatte ich das Gefühl, egal, wonach ich griff, es bliebe mir wahrscheinlich in der Kehle stecken. Ich hasste die gemeinsamen Essen, die, wenn Roberto nicht da war, meist schweigend und erdrückend verliefen. Meine Mutter bestand dennoch jeden Morgen auf gemeinsames Frühstück, wenn ich zu Hause war.
»Nun, Cloé …«, begann sie und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie weitersprach. »Zu studieren ist wichtig. Vor allem in unseren Kreisen. Die Mutter von Romina hat mich schon gefragt, was du später mal mit deinem Leben anfangen willst, und es war ziemlich peinlich, als ich keine Antwort darauf hatte. Ich habe dir eine Chance erarbeitet. Nutze sie.« Die anfängliche Wehmütigkeit, mein Zuhause zu verlassen, verpuffte. Vielleicht würde ich dieses Haus doch nicht so sehr vermissen. Der Gedanke, der mich davon abhielt, einfach aufzustehen und zu gehen, war schlichtweg, dass es nach diesem Frühstück, kein Weiteres geben würde.
Romina war natürlich Musterstudentin. Jura in New York und das bis jetzt nur mit Top-Leistungen. Meine Brust schnürte sich immer enger zu. Unsere Mütter kannten sich von verschiedenen Fashionshows, die meine Mutter besuchte, um das Modelabel, welches sie damals zur Geldwäsche unserer Drogeneinnahmen gegründet hatte, nach außen glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Mittlerweile hatte sich Wallace Luxury jedoch auch so einen großen Namen gemacht.
Als ich nichts erwiderte, sondern stattdessen konzentriert auf dem Apfelstück herumkaute, setzte sie erneut an.
»Ich bin stolz auf dich, dass du diesen Schritt gehst.«
Zwar klangen die Worte ganz nett, doch, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen, war uns beiden klar. Ich zweifelte daran, ob meine Mutter jemals so etwas wie Stolz empfunden hatte. Doch so wie es in der Oberschicht üblich war, setzte ich ein Lächeln auf. Was sollte ich auch anderes noch sagen? »Danke, Mum, das bedeutet mir viel.« Lüge. »Ich bin schon ganz gespannt darauf, endlich etwas aus meinem Leben zu machen …« Und von dir wegzukommen, beendete ich den Satz in Gedanken.
Ihr Lächeln war genauso falsch wie mein eigenes. Wann waren wir zu diesen Leuten geworden? Wann war die Mutter, die sich damals ein Bein ausgerissen hatte, um mir ein lebenswertes Leben zu schenken und uns beide über die Runden zu bringen, zu jemandem so kaltem und glattpolierten geworden? Ich kannte die Frau, die mir gegenübersaß, nicht mehr. Ganz egal, ob sie mir damals Geschichten erzählt hatte, damit ich einschlafen konnte, oder ob ich manchmal die Augen schloss und mir heimlich wünschte, dass wir statt des Geldes, das uns zusammenhielt, doch wieder eine echte Verbindung hatten. Jedoch wünschte ich es mir nicht zu laut, denn so traurig es klang, ich wusste auch nicht mehr, wer ich ohne das Geld und diesen Lifestyle eigentlich war. In allem, was passiert war, hatte ich mich verloren und bis heute beschlich mich das Gefühl, mich nie wieder gefunden zu haben.
»Und Cloé?« Sie stellte die Tasse ab, in der höchstwahrscheinlich schwarzer Kaffee vor sich hinvegetierte.
Ich hob den Blick.
»Denk daran, dass jeder falsche Schritt, jedes Wort, alles, was du tust, mit uns im Zusammenhang steht. Ich lege große Verantwortung in deine Hände. Sorg nicht dafür, dass diese Dynastie fällt, weil du den falschen Leuten vertraust.«
Mein Magen verkrampfte sich. Sie vertraute mir nicht. Ging davon aus, dass ich tatsächlich alles gegen die Wand fahren würde. Ich war weder dumm noch unvorsichtig. Ich konnte das hier und das würde ich ihr auch beweisen.
Ich gab mein Bestes, um ihr perfektes Kind zu bleiben, aber es war nie genug und es gab dunkle Zeiten, in denen ich darum gekämpft hatte, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hatte ihr jahrelang alles recht machen wollen, bis ich zu dem Entschluss gekommen war, dass sie mir wohl nie voll und ganz vertrauen würde.
Ich atmete so tief durch wie möglich und setzte die Maske auf, die ich einzig und allein für meine Mutter geschaffen hatte.
»Du irrst dich in mir, und das werde ich dir beweisen. Denn ich kann deutlich mehr, als du mir zutraust!«
Ich schob den Stuhl zurück, erhob mich, um das Esszimmer zu verlassen.
»Das werden wir sehen.« Ihre eiskalte Stimme lief mir wie feuchter Teer den Rücken hinab.
Ich wollte weitergehen. Ein großer Teil von mir wollte diese bittere Pille schlucken und über ihre Worte drüberstehen. Aber ich war Cloé Wallace, und mir sagte niemand, was ich zu tun und zu lassen hatte, also drehte ich mich noch einmal um. »Weißt du was, Mum? Ich habe keine Ahnung, wo auf dem Weg hierher du deine Seele verloren hast, aber ich werde mir nicht noch ein einziges Mal von dir anhören, wie ich zu sein habe. Erspare mir deine Manipulation und lass mich endlich leben«, zischte ich. Das musste als Abschied genügen. Es würde definitiv keine Umarmung und zu Tränen rührende Worte geben. Es gab nichts Weiteres zu sagen. Das schien meine Mutter ähnlich zu sehen, denn sie hielt mich nicht auf. Lediglich ihr entgeisterter Blick bohrte sich in meinen und ich spürte ihn auch noch zwischen meinen Schulterblättern, nachdem ich ihr den Rücken zugedreht hatte. Ich verschwendete keine Zeit, wollte diesen toxischen Ort, der mich regelrecht auffraß, hinter mir lassen, weshalb ich knappe zehn Minuten später bereits mit den letzten Taschen nach draußen ging. Im Eingangsbereich griff ich mir noch meinen Mantel und verschwand.
Barney hatte meine acht Koffer – ja, es waren viele, obwohl das meiste schon in Brighton war – bereits in den Rolls-Royce geladen und unterhielt sich noch mit einem unserer Fahrer. Die kühle Dezemberluft wehte mir durchs Haar und meine Finger wurden klamm. Das Gespräch verstummte und Barney verabschiedete sich, bevor der Blick des Mitte-vierzigjährigen, blauäugigen Fahrers auf mich fiel.
»Können wir los, Ms. Wallace?«
Ich nickte. Dieser Mann war einer der wenigen, die ich mochte. Er war höflich, machte seinen Job und wusste, wann man einfach den Mund hielt. »Meine Koffer und die Taschen sind alle da, also worauf warten wir, Mr. Farrelson?«
Er nickte und öffnete mir die Tür zu der hinteren Sitzbank, die mit luxuriösem, schwarzem Leder ausgekleidet war. Dann begann die Fahrt ins Ungewisse. Auch wenn ich es eilig gehabt hatte, das Grundstück wieder zu verlassen, blickte ich nun doch mit leichten Bauchschmerzen zurück, als der Wagen aus dem Tor fuhr und die Villa hinter uns immer kleiner wurde. Dieser Ort war so viel für mich gewesen. Erst der Befreiungsschlag, später das Gefängnis, welches emotionale Ketten um mich geschlungen hatte. Auch wenn es sich am Anfang wie meine Rettung, als zu schön, um wahr zu sein, angefühlt hatte, musste ich akzeptieren, dass diese Zeiten vorbei waren. Dass ich nicht wieder in das Loch aus Armut fallen würde, nur weil ich diesem Ort endlich den Rücken kehrte.
Wir waren knapp zwei Stunden unterwegs, bis wir die Einfahrt durch das dunkle Metalltor erreichten. Jedes Mal gab diese Universität einem das Gefühl, man würde in eine andere Zeit katapultiert werden.
Brighton lag etwa achtzig Kilometer südlich von London und war für die historische Architektur sowie seine Strände bekannt. Man konnte von der Uni aus auf die Kreideklippen blicken und hörte das seichte Branden der Wellen.