Väter und Töchter - Susann Sitzler - E-Book
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Väter und Töchter E-Book

Susann Sitzler

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Beschreibung

Wie Väter ihre Töchter prägen – und umgekehrt Ob nur Erzeuger, Versorger oder emotionale Hauptperson: Das Buch misst die Möglichkeiten und auch die Leerstellen von Väter-Töchter-Beziehungen aus. Und es handelt davon, wie Väter heute versuchen, einen von der traditionellen Vaterrolle unabhängigen Weg mit ihren Töchtern zu gestalten. Jede Frau ist Tochter eines Vaters. Der Blick dieses Mannes, seine Werte und Botschaften haben Prägekraft – manchmal ein Leben lang. Sogar, wenn er nur als Erzeuger in Erscheinung getreten, von der Familie getrennt oder ganz abwesend ist. Susann Sitzler lotet in diesem Buch nicht nur die enorme Spannbreite dessen aus, was ein Vater für seine Tochter sein kann – Verbündeter, empathischer Förderer, Sparringspartner. Sie gibt auch den Erfahrungen von Männern mit Töchtern Raum. Persönliche Reflexionen und Erfahrungen aus mehreren Generationen werden verbunden mit Erkenntnissen aus Psychologie und Väterforschung. Immer öfter nehmen Väter die Chance einer bewussteren und aktiveren Beziehungsgestaltung wahr: Die allmähliche Auflösung der Geschlechterrollen öffnet neue Möglichkeiten. Im großen Kaleidoskop der Väter-und-Töchter-Erzählungen können Leserinnen und Leser ihre eigene Geschichte reflektieren.

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Seitenzahl: 396

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Susann Sitzler

Väter und Töchter

Ein Beziehungsbuch

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

ISBN 978-3-608-98220-6

E-Book ISBN978-3-608-12095-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Teil Eins

Töchter und Väter

Meine Väter

1Erster Besuch

Happy Girl

2Der erste Mann

Happy Girl

3Verehrung

Happy Girl

4Verrat

Meine Väter

5Zweiter Besuch

Väterdämmerung

6Neuland

Väterdämmerung

7Asymmetrie

Väterdämmerung

8Sparring

Meine Väter

9Dritter Besuch

Lektionen der Heldenverehrung

10Rette mich

Lektionen der Heldenverehrung

11Stark und Schwach

Lektionen der Heldenverehrung

12Nebenrollen

Meine Väter

13Vierter Besuch

Teil Zwei

Töchterväter

Leben auf dem Sockel

14Eine kleine, fremde Frau zufriedenstellen

Leben auf dem Sockel

15Bruder, Sohn, Superheld

Leben auf dem Sockel

16Vater der Prinzessin a. D.

Meine Väter

17Fünfter Besuch

Männergift

18Bewahrer

Männergift

19Zerstörer

Männergift

20Begleiter

Meine Väter

21Sechster Besuch

Adressaten

22Geisterbahn

Adressaten

23Erwachsener Vater erwachsener Tochter

Adressaten

24Laurenz

Meine Väter

25Siebter Besuch

Teil Drei

Väter verstehen

Mein Vater als Sohn

26Knecht und König

Mein Vater als Sohn

27Papas Ohren

Mein Vater als Sohn

28Ich will aber ein Pony

Meine Väter

29Achter Besuch

Welt ohne Papa

30Missbrauch und die Angst vor dem Tod des Vaters

Welt ohne Papa

31Zu früh gegangen

Welt ohne Papa

32Den Vater begraben

Meine Väter

33Neunter Besuch

Augenhöhe

34Kennen wir uns?

Augenhöhe

35Abschied vom Idol

Augenhöhe

36Stolz

Meine Väter

37Zehnter Besuch und Abschied

Literatur (Auswahl)

Dieses Buch ist – natürlich – für meinen Vater.

»Wenn ich vom voll geborenen Menschen spreche, dann spreche ich von jenem Menschen, der sich gelöst hat von der Mutter, vom Vater, von der Herde – von jenem Menschen, der gleichsam seine eigene Mutter, sein eigener Vater und sein eigenes Gesetz geworden ist.«

Erich Fromm

»Jedes Vater-Tochter-Verhältnis ist echt. Uns war klar, dass wir nicht 25 verpasste Jahre aufholen können. Aber wir sind beide sofort in Rollen verfallen. Diese Dynamiken, auch wenn man sie nur aus der Theorie kennt, sind mächtig.«

Ilona Hartmann

Teil Eins

Töchter und Väter

Meine Väter

1Erster Besuch

Mein Vater war ein großer Mann. Eins neunzig, das war zu seiner Zeit und da, wo wir lebten, ziemlich ungewöhnlich. Er wusste, dass er damit Eindruck macht, und er nutzte diesen Vorteil so oft und gut er konnte. Er ging mit langen, schweren Schritten, den Rücken etwas gebeugt, man konnte die Last auf den Schultern förmlich sehen. Es war die Last, mehr vom Leben zu wollen als die anderen um ihn herum. Mehr Adrenalin, mehr Intensität, mehr Bestätigung womöglich auch. Und auch mehr Leistung, diese erwartete er am meisten von sich selbst.

Unter seinen Freunden war er der erste, der heiratete. »Ordentliche Verhältnisse schaffen«, nannte er das und jeder wusste, dass die Formulierung ironisch, der Wunsch jedoch vollkommen ehrlich war. Mein Vater sehnte sich nach geordneten Verhältnissen. Er klammerte sich geradezu an ihnen fest, während er, kaum war er verheiratet und Vater, jeden Tag ein Stück mehr an ihnen zu scheitern begann. An den Anforderungen, die die geordneten Verhältnisse jetzt an ihn stellten. An der Zumutung, die es für ihn bedeutete, nach den Regeln anderer Leute zu spielen. Es nervte ihn unendlich, dass er einen Chef nicht spüren lassen sollte, wenn er ihn als Mensch für uninteressant und als Vorgesetzten für unfähig hielt. Dass er nach dem Abendessen zu Hause bleiben und sich mit seiner Familie beschäftigen sollte, während ihm die Unruhe gebot, mit seinen Studienfreunden durch Wirtshäuser zu ziehen. Am wohlsten fühlte er, der Bürgersohn, sich unter Rüpeln, die er übertrumpfte, wo er nur konnte. Am liebsten da, wo viele kichernde Frauen waren, die er damit nach Belieben in alle Richtungen bewegen konnte. Ganz besonders quälte ihn die wichtigste Anforderung der ordentlichen Verhältnisse, und womöglich war ausgerechnet sie doch auch das größte Versprechen daran: die Anforderung, dass er als Ehemann und Vater nun die Finger von all diesen Frauen lassen soll. Dass er so zur Ruhe kommen könnte.

Mein Vater hat mir beigebracht, dass schöne Frauen anders behandelt werden als die, die klug sind. Dass sich der Aufwand der Aufmerksamkeit für Männer seiner Art meist nur für die Schönen lohnt. Dass es in jedem Fall Männer sind, die bestimmen, zu welcher Kategorie man als Frau, auch als Tochter, gehört. Er hat mir auch beigebracht, wie man den eigenen Weg geht. Er zeigte es mir nicht durch Ermutigung, das war nicht seine Art. Im Gegenteil erwartete er von seinen Nächsten immer das, was er selbst nicht schaffte: sich anzupassen an die Erwartungen der Mehrheit und sich einzufügen in das Bild, aus dem der Durchschnitt entsteht. Doch natürlich glaubte ich ihm kein Wort. Stattdessen sah ich, wie er jeden Kampf suchte, nach jedem K. O. wieder aufstand, seine Angst vor Zurückweisung und Niederlage mit Respektlosigkeit gegenüber allem und jedem konterte und am Ende sehr häufig gewann. Gestorben ist mein Vater wie ein alter Indianer. Er zog sich für Monate ins Schweigen zurück und ging mit sich ins Gericht. Dann machte er sich auf den Weg. Er wusste, was er schuldig geblieben ist und dass die Zeit nicht mehr reicht, es zurückzuzahlen.

Hin und wieder besuche ich nun sein Grab. In der Realität nicht oft, es ist weit weg von da, wo ich lebe, und die Pandemie hat das Reisen für lange Zeit verhindert. Doch in Gedanken bin ich häufig dort. Ich gehe meinen Vater besuchen und sitze eine Weile bei ihm. Die Urne steht in der abgezirkelten Nische einer modernistischen Urnenwand. Wie ein überdimensioniertes Regal aus Glas und Beton überragt sie seit ein paar Jahren die Kapelle des Friedhofs in seiner Heimatstadt. Sobald man dort Abteile reservieren konnte, unterschrieb mein Vater dafür. Möglichst weit oben sollte es sein. Auch wenn er es nicht kommentierte, wusste ich, dass es um den Ausblick ging. Von seinem Urnenfenster sieht man zum Stadtrand, wo die Häuser in die umgebenden Felder und einen dünnen Wald ausfransen. Ein friedlicher Blick in die Weite, während unten die Stadt liegt, in der er fast sein gesamtes Leben verbrachte und wo er seinen eigenen Vater begrub, mit dem er immer gehadert hatte.

Nun steht die Urne meines Vaters in dem gläsernen Fach und ich sitze in Gedanken auf dem Bänkchen davor. Gemeinsam schauen wir in die Ferne. Es ist gar nicht so sehr anders als früher, als er noch lebte und ich bei ihm in seinem Wohnzimmer saß. Die friedlichsten Momente waren, wenn wir einfach schweigend beieinander waren, jedes von seinen eigenen Gedanken erfüllt. In diesen Stunden fühlte ich mich auf eine Weise ruhig und wohl, die ich sonst nicht erlebte. Denn auch wenn das Reden fast immer schwierig war zwischen uns, so machte es für mich jedes Mal einen Unterschied, wenn wir beisammen waren. Ohne ihn war alles immer unbeschwerter. Doch mit ihm fühlte es sich immer irgendwie richtiger an. So war es, seit ich ein Kind war und so ist es geblieben, bis er starb.

Happy Girl

2Der erste Mann

Es war ein entzückender Anblick. Der joggende Mann im Park. Er lief in zügigem Schritt und mit entschlossenem Atem, die Turnschuhe kannten den Weg. An seiner Seite ein kleines Mädchen, das ihm so ähnlich sah, dass sie seine Tochter sein musste. Sie war vielleicht fünf Jahre alt. In bunten Gummischlappen trabte sie neben ihm her und hielt ohne Mühe sein Tempo. Im Laufen strahlte sie ihn an. »Schau mal«, schien ihr stolzer Blick zu sagen, »ich kann genauso schnell rennen wie du!« Er nickte nur kurz, auf den Lauf und seinen Atem konzentriert. Immer weiter rannten die beiden, der in sich gekehrte Vater und das kleine Mädchen in den grellbunten Schlappen mit der enormen, kindlichen Energie, die aus dem Lauf mühelos ein Spiel machte. Ich sah ihnen zu, bis ihr Weg hinter eine weit entfernte Baumgruppe abbog. Der Anblick war so bezaubernd. Und er machte mich so wütend und so traurig.

Eines der ersten Bilder, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an meinen Vater und mich denke, stammt aus meiner mittleren Kindheit. Er und ich sitzen auf einem niedrigen Mäuerchen vor einer Blumenrabatte. Wir sind dicht nebeneinander, berühren uns aber nicht. Der Oberkörper meines Vaters in dem kurzärmligen, bügelfreien Hemd ist ein wenig nach rechts gedreht, mir zugewandt. Mit einem breiten Lächeln, fast einem Grinsen, sieht er mich an. Ich bin ein Mädchen mit langen feinen Haaren und einer großen Brille. Auch ich sitze ihm zugewandt, die Beine etwas sperrig überschlagen. Der obere Fuß ist schon etwas zu breit für die feine Riemchensandale, von der ich noch weiß, wie gut mir das dunkelrot glänzende Leder gefiel. Auch mein Lächeln ist breit und reicht von Wange zu Wange, es ähnelt seinem. Kein Grinsen wie bei ihm. Aber doch ziemlich großräumig für das glatte Gesicht eines zehnjährigen Mädchens, das neuerdings einen Hang zur Damenhaftigkeit kultivierte und gelegentlich einen Stich ins Altkluge zeigte. Dabei sind ihre Augen noch die eines ganz jungen Wesens. In der Art, wie ich auf diesem Foto meinen Vater anstrahle, sieht man mein ganzes kindliches Herz.

Außer diesem Strahlen ist alles an dem Bild gestellt. Ganz genau hatte mein Vater mir gesagt, wo und wie ich mich hinsetzen soll. Fluchend hatte er an dem Selbstauslöser herumgedrückt und war dann zu dem Mäuerchen gerannt, auf das er sich ächzend fallen ließ. Kaum hatte er mir den Kopf zugedreht und seine Wangen zum Grinsen auseinandergezogen, verschoss die Kamera ihren Blitz. Ich kann mich an meine Sorge erinnern, im falschen Moment zu blinzeln und damit das Bild zu ruinieren. Was ich vergessen habe, ist die Freude, die man auf dem Bild in meinen Augen sieht. Das Strahlen muss ein reflexhaftes Spiegelbild seines Gesichtsausdrucks gewesen sein. Es zeigte sich scheinbar von ganz alleine auf meinem Gesicht. Und es sagt die ganze Wahrheit. Ich liebte und bewunderte meinen Vater und hätte alles getan, damit er mir so zugewandt blieb, wie es auf diesem Foto aussieht.

Wenn ich an meinen Vater denke, werde ich immer noch meistens traurig. Das ist schon mein ganzes Leben lang so. Die Art der Trauer hat sich allerdings gewandelt. Als ganz kleines Mädchen war ich traurig, wenn er mit mir schimpfte oder wenn er morgens zur Arbeit ging und ich ihn den ganzen Tag nicht sah. Als Jugendliche überlagerte sich die Trauer mit Wut. Über sein Unverständnis, das er zeigte, als ich meine eigenen Wege zu suchen begann. Über den Spott, mit dem er meine Frisurenexperimente ebenso aushebelte wie meine Schwärmereien für Musikgruppen und Filmschauspieler, meine erwachende Lust am Diskutieren über Geschmack und den Sinn des Lebens. Und auch meine Begründungen, warum ich manchmal schlechte Schulnoten hatte. Obwohl ich doch scheinbar so klug war. Das hatte er extra testen lassen, in einem Institut in einer anderen Stadt, zu dem wir einen weiten Weg auf der Autobahn gefahren waren. Alles, was er sagte, weckte damals in mir Zorn und auch Verzweiflung. Warum hörte er mir nicht zu? Warum zählten meine Worte für ihn nicht? Warum verstand er so wenig von mir?

»Du hast immer ein Zimmer bei mir«, das betonte er wieder und wieder mit Nachdruck. Und so war es. In jeder der Wohnungen, in denen er lebte, nachdem er bei uns ausgezogen war, gab es einen Raum für mich. Als wütender Teenager wohnte ich ein paar Monate bei ihm an einer grauen Hauptstraße. »Zweck-WG« trifft die Lebensform am besten. Wir kommunizierten, wenn überhaupt, mit Zetteln. Das heißt, er schrieb mir Zettel, wenn er der Meinung war, dass ich die Küche nicht sauber genug hinterlassen oder die Waschmaschine mit meiner Wäsche nicht zeitig genug geleert hätte. Hin und wieder kochte ich etwas für uns beide. Doch er schlang das Essen immer wortlos hinunter und ich ging davon aus, dass es ihm nicht schmeckte. Trotzdem spürte ich in all den Jahren meines Lebens nie eine so umfassende Ruhe und Geborgenheit wie an dem Abend, als ich als 16-Jährige bei ihm eingezogen war und in dem für mich eingerichteten Zimmer in dem Bett lag, das er extra für mich gekauft und mit neuer Bettwäsche bezogen haben musste. Nebst einem neuen Plüsch-Pinguin, den er wohl in dieser Zeit ebenfalls für mich angeschafft hatte und der auf diesem Bett nun immer auf mich wartete. Der Pinguin spielte auf den Kosenamen an, den er seit meiner Geburt für mich hatte, und der auch in den Jahren des Streits und des Schweigens gültig blieb.

Als junge Frau sah ich meinen Vater nur sporadisch. Unsere Begegnungen waren meist kurz, und die Gespräche beschränkten sich auf Floskeln. Dann kamen die Jahre, in denen ich ihm als Erwachsene gegenübertrat. Ich tat es, indem ich ihm einen Ehemann präsentierte und später noch einen. Es waren Jahre, in denen ich mich in Sicherheit wog. Vor seinem Spott. Vor allem aber, das weiß ich heute, vor meiner Trauer. Sie war auch dann nie ganz aus unserem Verhältnis verschwunden, als ganz andere Menschen in meinem Leben wichtig waren. Darunter auch Männer, die mir freundlich und interessiert begegneten und die im Gegensatz zu ihm offenbar auch meine Qualitäten erkennen konnten, nicht nur die Mängel. Ich weiß nicht, warum mein Vater und ich uns nie verstanden haben. Warum zwischen uns stets so viel Schweigen war. Es hat nie Gewalt zwischen uns gegeben und auch keine unredlichen Übergriffe. Er war ein anspruchsvoller Mensch mit vielen Schatten, aber er war kein Bösewicht und er hat sich nie von mir abgewandt. Auch nicht, als ich es tat. Er hat sich mir bloß nie genügend zugewandt.

Und so ist diese merkwürdige Lücke entstanden zwischen ihm und mir, die sich ein Leben lang nicht überbrücken ließ. Er war der erste Mann, den ich kannte. Damit hat er, unweigerlich, einen Maßstab gesetzt. Von ihm habe ich gelernt, was Männer überhaupt sind. Dass sie sich von Mädchen, von Frauen unterscheiden. Dass sie anders aussehen, anders sprechen, anders riechen, andere Dinge tun. Sogar andere Dinge essen. Dass sie Wesen sind, die einen erschrecken können und bei denen man doch eine ganz bestimmte Art von Schutz und Geborgensein empfinden kann, das es von anderen Seiten nicht ohne weiteres gibt.

In der Psychologie wurde die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung eines Kindes – und erst recht einer Tochter – sehr lange gering bewertet. Das Augenmerk der frühen Einflüsse lag auf der Mutter als notwendigster und erster Bezugsperson. Doch in den Erzählungen unserer Welt ist die Figur des Vaters und seine Bedeutung seit jeher allgegenwärtig. Die innere Ausrichtung einer Familie in Richtung des Vaters entspricht den Erfahrungen fast aller Generationen, die heute leben. Auf jeden Fall in der Theorie. Im Alltag verliert ein Vater, den die Kinder nur selten sehen, leicht seine konkrete Wichtigkeit. Aber seine Bedeutung als Mann im Haus bleibt. »Das Bild des pater familias der römischen Antike hat sehr stark bis in die frühe Neuzeit hineingewirkt«, schreibt der Heidelberger Erziehungswissenschaftler und Soziologe Michael Matzner auf dem vom Bayerischen Institut für Frühpädagogik betriebenen Online-Portal familienhandbuch.de. »Der pater familias war als Familienoberhaupt die oberste Autorität der Familie bzw. des Hauses und vertrat die Familie nach außen. Er besaß rechtliche, wirtschaftliche, politische und soziale Vorrechte.« Das vom pater familias geführte – also »patriarchalische« – Haus »bildete das Fundament der Gesellschaft«, wie es in dem Überblicksartikel weiter heißt. »Für alle frühen und späteren Hochkulturen können wir von einem solchen Vorrang des Vaters ausgehen.«

Für meine Mutter war das Bewusstsein, dass ihr Mann das Oberhaupt ist, so selbstverständlich wie unumstößlich. Sie organisierte den Alltag und betreute die Kinder. Doch er verdiente unseren Lebensunterhalt. Wir alle trugen seinen Namen. Er war es, der uns damit zur Familie machte und legitimierte. Abendessen gab es erst, wenn er zu Hause war. So hatten es beide von ihren Eltern gelernt und diese es von den ihren. Die Spitzenposition des Vaters, wie sie noch heute in vielen Familien vorkommt oder zumindest als theoretisches Ideal gilt, ist ein Überrest dessen, was dem pater familias in der römischen Antike zustand. Zu dessen zentralen Aufgaben gehörte es, die Familie zu ernähren. Aus dieser Verantwortung ergaben sich seine Privilegien.

Als Tochter interessierte es mich nicht, wodurch die Autorität meines Vaters überhaupt gerechtfertigt war. Ich, wir alle, benötigten ihn einfach. Zum Beispiel als Oberhaupt, auf das wir in vielen kleinen Momenten unseren Blick ausrichten konnten. Ich bewunderte ihn für unzählige Fähigkeiten, die ich in ihm sah. Für die Art, wie er souverän unser Auto steuerte und sich auch durch lebhafte Gespräche nicht ablenken ließ. Wie er mit sportlichem Ehrgeiz in allen Vorhaben Abkürzungen suchte und Lösungen für scheinbar jedes Problem fand. Wie er uns, auch meine Mutter, immer wieder mit seinen Ideen überraschte. Auch im größten Zorn zweifelte ich nie an, dass er ein außergewöhnlicher Mensch war, mutiger, origineller und verwegener als alle um ihn herum.

Dass seine Stimmung die Stimmung der Familie prägt, habe ich auf diese Weise ganz selbstverständlich als richtig zu empfinden gelernt. Und auch, dass ich mit bestimmtem Verhalten in der Lage war, diese Stimmungen zu beeinflussen. Dass ich ihn wütend machen konnte natürlich. Vor allem aber, dass es mir mit bestimmten Anstrengungen gelang, ihn für einen Moment aus seinen düsteren Stimmungen herauszuheben. Etwa, wenn ich besonders pfiffig sprach, besonders hübsch aussah oder mich besonders liebevoll verhielt. Seine Reaktionen darauf waren unmittelbar und ich begann, mich auf seine Laune auszurichten. Dass es hilfreich ist, wenn ich mich auf eine Weise verhalte, bei der sich sein Gesicht aufhellt, gehört zu den frühsten Lektionen, die ich von meinen Eltern mitbekam. Dass für mich als weibliches Wesen andere Regeln gelten als für ihn als Mann. Und auch, dass es alle meine anderen Fähigkeiten boykottieren kann, wenn ich versäume oder sogar bewusst darauf verzichte, auf diese Weise einem Mann eine Freude zu sein. Später haben sich praktisch alle diese Vorstellungen gewandelt und ich bin immer weiter über die Vorgaben hinausgewachsen. Aber der Umriss davon ist geblieben. Der Vater ist der erste Mann. Er öffnet seiner Tochter die Welt.

So muss mein Vater mein Leben auf zwei Ebenen beeinflusst haben. Einmal durch seine persönliche Wesensart, durch die Erfahrungen, die ich im Alltag mit seiner Originalität, seiner Unberechenbarkeit, seiner Kreativität, seinem Brüten, seiner Großzügigkeit, seinem Zorn gemacht habe. Und gleichzeitig als Inhaber einer so monumentalen wie abstrakten Autoritätsposition, in der er mir von meinem ersten Lebenstag an begegnete, auch in Momenten, in denen er gar nicht da war. Diese Autoritätsposition wäre nicht so ohne weiteres zu ersetzen gewesen.

An dem Samstagnachmittag, an dem mein Vater und ich für das Foto nebeneinander auf dem Betonmäuerchen saßen, trug ich einen Pullover aus weißem Garn. Das Kleid darüber war ganz neu und ich hatte mich sehr darauf gefreut, es zum nächsten Treffen mit ihm zum ersten Mal zu tragen. Auf dem Schwarzweißfoto erkennt man nicht das leuchtende Lila des festen Stoffs, das mir so gut gefiel. Seit der Scheidung meiner Eltern sah ich meinen Vater nur jeden zweiten Samstagnachmittag. Das Kleid fiel ihm sofort auf. »Bist du jetzt ein Happy Girl?«, sagte er, als er mir zur Begrüßung die Hand gab. Die Worte »Happy Girl« waren mit gelbem Garn in winzigen Buchstaben auf das Kleid aufgestickt, direkt über dem Herzen. Glückliches Mädchen. Die Bemerkung beschämte mich, wie so oft eine Bemerkung von ihm. Das Beschämtsein in der Gegenwart meines Vaters war mir so vertraut, dass ich es erst Jahrzehnte später überhaupt bemerkte. Und es erst Jahre später verstand. Damals war mir einfach nur unangenehm, dass er ein Gefühl benannte. Happy. Das tat man bei uns nicht. Und dann war es auch noch das falsche Gefühl. Ich war kein Happy Girl. Ich war die meiste Zeit traurig und verwirrt. Seit mein Vater vor einem Jahr ausgezogen war, war es schlimmer geworden. Doch auch dafür gab es bei uns natürlich keine Worte.

Happy Girl

3Verehrung

»Meine Kinder lieben mich abgöttisch.« Diesen Satz habe ich von ganz unterschiedlichen Männern gehört. F. sagte ihn über seine beiden Töchter, die bei ihrer Mutter lebten. Er war von ihr geschieden und wusste kaum ein gutes Wort über sie zu berichten. In der gemeinsamen Zeit mit den beiden Schulmädchen versuchte er, ihnen seinen Lebensstil und seine Weltsicht näherzubringen. Es quälte ihn, dass beides sich sehr von dem unterschied, was die Mädchen bei ihrer Mutter und deren neuem Freund täglich erlebten. F. und ich hatten uns in einem losen Verhältnis kennengelernt und schon ganz am Anfang machte er klar, dass seine Kinder immer Vorrang in seinem Leben haben würden. Auch etwa, wenn es um unsere gemeinsame Zeitplanung ging. Das war für mich in Ordnung. Mehr noch. Es nahm mich mehr für F. ein. »Er setzt die richtigen Prioritäten«, sagte ich zu einer Freundin, als ich ihr von meiner neuen Bekanntschaft erzählte. Es war für mich die erste Liebschaft mit einem Mann, der Kinder hatte, und ich beobachtete, das weiß ich heute, sehr genau, wie er mit seinen Mädchen umging und was das bei mir auslöste.

Bei M. lag die Sache etwas anders. Auch er war geschieden. Doch wir trafen uns ausschließlich fürs Amüsement. Und zwar von Anfang an auswärts. Als eines unserer ersten Treffen anstand, verbrachte seine halbwüchsige Tochter, die mit der Mutter weit entfernt wohnte, gerade die Schulferien bei ihm. Auch er sagte diesen Satz, im Ton einer neutralen Information. »Meine Tochter liebt mich abgöttisch.« Warum er dann zahlreiche Abendstunden lieber mit mir unterwegs war, anstatt sie mit der Tochter zu verbringen, die er so selten sah und die für ihn nach seinen eigenen Worten das größte Glück seines Lebens war, das fragte ich damals nur mich selbst.

Als Teenager dachte ich, dass etwas an mir falsch sei, weil es mir nicht gelang, meinem Vater meine Liebe und Verehrung offen zu zeigen. Dass ich keine gute Tochter sei, weil ich einen Widerstand dagegen spürte, ihn auch nur wissen zu lassen, dass ich ihn bewunderte. Dass es mein Fehler sei, wenn ich es nicht wagte, mich ihm auf diese Weise so vollständig zu ergeben. Wenn wir besonders heftig gestritten hatten und er mich tagelang nicht ansah, fragte ich mich, ob ich als Tochter vielleicht gar nicht das Recht hatte, die Autorität seiner Handlungen und Entscheidungen derart in Frage zu stellen. Dann fürchtete ich, dass es an mir lag, wenn er nun abweisend zu mir war. Weil ich mir zu viel herausgenommen hatte, als ich gegen ihn aufbegehrte. Alle um mich herum schienen damit weniger Probleme zu haben. Alle meine Freundinnen schienen ihre Väter ganz selbstverständlich zu bewundern und zu lieben und ihnen das auch zeigen zu können. »Das hat mein Papa ganz alleine gebaut«, erklärte meine Klassenkameradin Irene triumphierend, als ich in der Garage ihrer Eltern zum ersten Mal ein Surfbrett sah. »Und weißt du, von wo er das Rezept hat?«, fragte sie strahlend. »Das hat er in seinem Kopf!« Der Vater meiner Schulfreundin Elisa war Künstler und rief uns manchmal in sein Atelier im Dachgeschoss, um zu zeigen, woran er gerade malte. Er wirkte ein bisschen verworren, aber sehr entspannt. Elisa fand die Malerei langweilig. Aber sie war glücklich, weil er zu ihrem Geburtstag ihr Mädchenzimmer eigenhändig renoviert und in ein weiß-lila Paradies verwandelt hatte, inklusive riesigem Himmelbett und Flokatibodenbelag. Detailliert erklärte er uns, wie er einen alten Schreibtisch vom Trödler wieder und wieder mit Farbe angestrichen und abgeschliffen hatte, bis das Möbel wie Perlmutt schimmerte. Elisa erklärte es zu ihrem Lieblingsplatz. Der Vater meiner Teenagerfreundin Rosanna war beruflich sehr häufig verreist. Doch immer, wenn er da war, kochte er für die Familie und Rosanna verzichtete dann freiwillig auf Unternehmungen, um mit ihrer Familie zu Hause zu bleiben. »Mein Papa ist der beste Koch der Welt!« Meine beste Freundin Louisa diskutierte fast jeden Tag leidenschaftlich mit ihrem Vater, der sich politisch engagierte und ganz offensichtlich sehr interessiert an ihrer Meinung war. Auch mich fragte er manchmal, was ich von einer Sache hielt. Aber obwohl ich eine Meinung hatte, traute ich mich nicht, sie vor Louisa und ihrem Vater in Worte zu fassen. Die beiden wirkten so eingespielt, dass es mir die Kehle verschloss.

»Neben weltlichen Funktionen genoß der pater familias aufgrund seiner Priesterfunktion auch eine sakrale Verehrung«, schreibt der Soziologe Michael Matzner in seinem Überblicksartikel für familienhandbuch.de. »Man kann ihn als König, Richter und Priester der Familie sehen.« Lange waren Literatur, Populär- und Kunstgeschichte an so vielen Stellen bevölkert von Töchtern, die ihre Väter pauschal anbeten, dass diejenigen, die auch Zwiespalt formulierten, zunächst in den Ruch des unglücklichen Einzelfalls zu geraten drohten. »O mein Papa war eine wunderbare Clown/O mein Papa war eine grosse Kinstler/Hoch auf die Seil, wie war er herrlich anzuschau’n/O mein Papa war eine schöne Mann«, heißt es in dem Chanson von 1939, das in den 1950er-Jahren, von Lilli Palmer gesungen, zum Evergreen wurde. »Wenn mein Vater seinem Handwerk nachging, blieben die Schulkinder gern vor der Werkstatt stehen«, schrieb die Schriftstellerin Marieluise Fleißer 1950 in einem autobiographischen Text namens »Kinderland«. »Dann sahen sie meinen Vater mit dem langen Lederschurz wie einen König dastehn und dem weiß gehitzten Eisen zwischen Hammer und Amboss den Gehorsam aufzwingen.« Die Journalistin Erika Mann widmete einen großen Teil ihres Lebens als Nachlassverwalterin dem Werk ihres Vaters Thomas Mann. Als Oberhaupt einer künstlerisch hochbegabten und erfolgreichen Familie wurde Thomas Mann zur Ikone. Seine Lieblingstochter Erika polierte sie zum Hochglanz. Noch mit über 60 sprach sie von ihm in der Öffentlichkeit als »Zauberer«, seinem Familienspitznamen aus ihren Jugendtagen.

In den 1950er-Jahren entwickelte der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan den Begriff des »nom-du-père«, der Name-des-Vaters. Damit ist eine abstrakte, übergeordnete Autorität gemeint, die verinnerlicht wird und das eigene Fühlen und Handeln beeinflusst – eine männliche Autorität, auf die sich ein Individuum bezieht. Eine Autorität, die sich an die reale Rolle des Familienvaters als Oberhaupt anlehnt. Dadurch entsteht eine symbolische Ordnung, die nach Lacans Sicht die einzelnen Mitglieder und damit ein gesamtes System stabilisiert. Gäbe es dazu eine Formel, lautete sie vielleicht so: Indem ich mich diesem Vater unterordne, kenne ich meinen Platz. Indem ich meinen Platz kenne, weiß ich, wer ich bin. Und auch, was ich bin. In der traditionellen Familie erschien diese Ordnung als Naturgesetz. Auch eine erwachsene Frau ist darin dem Mann nachgeordnet. Das »ihm zugeschriebene Pflichtgefühl des liebenden Vaters« sollte der antike pater familias »in Form von Milde und Fürsorge mit der ihm zugleich zugeschriebenen väterlichen Gewalt in Form von Strenge und Zucht in seiner Person als Vater miteinander vereinen«, wie es in dem Überblicksartikel von Michael Matzner heißt. Alle großen Weltreligionen fordern Respekt und Verehrung der Eltern durch die Kinder. Fast immer in Form strengen Gehorsams. Der Vater scheint in dieser traditionellen Sicht gar keine andere Existenzmöglichkeit zu haben als die des Alleinherrschers, der die komplette Verantwortung trägt und darum vergöttert werden muss.

»Im Vergleich zu ihren eigenen Vätern hat sich das Selbstverständnis der heutigen Väter stark gewandelt«, hieß es im Väterreport, den das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018 vorlegte, noch bevor der große Lockdown im Frühling 2020 eine Veränderung der Verhältnisse nachhaltig zu beschleunigen begann. »Rund 70 Prozent sagen, dass sie sich mehr an der Erziehung und Betreuung der Kinder beteiligen als die Väter ihrer Elterngeneration.« Die International Labor Organization (ILO), die zu den Vereinten Nationen gehört und damit beauftragt ist, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte zu fördern, sehe in der neu gelebten, aktiven Vaterschaft »eine der wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen des 21. Jahrhunderts«, heißt es in dem Report weiter. Mehr als die Hälfte der heutigen Väter mit Kindern unter sechs Jahren »würde gerne mindestens die Hälfte der Kinderbetreuung übernehmen«, wird angegeben. Das könnte bedeuten, dass junge Väter angefangen haben, sich aus einer traditionellen Norm zu lösen und nach einer Variante von Vaterschaft suchen, die ihren Bedürfnissen mehr entspricht. 76 Prozent der jungen Männer in Deutschland wünschen sich dem Bundesministerium zufolge zudem eine Partnerin, »die selbst für den eigenen Lebensunterhalt sorgt«, heißt es im Väterreport weiter. Das Selbstverständnis der neuen Väter enthalte nämlich auch, »dass sie sich nicht mehr vorstellen können, die Rolle des alleinigen oder hauptsächlichen Familienernährers zu übernehmen«.

2012 war eine vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) in Wiesbaden in Auftrag gegebene repräsentative Studie zum Thema »Familienleitbilder« veröffentlicht worden. Dafür hatten Forscher in Deutschland lebende Männer und Frauen zwischen 20 und 39 Jahren nach ihren Vorstellungen von Familienleben befragt. »In der empirischen Analyse der Daten ergeben sich zum Teil sehr gegensätzliche Befunde zu persönlichen und zu gesellschaftlichen Leitbildern«, heißt es in den Anmerkungen zu der Untersuchung. »So stimmen beispielsweise der Aussage ›Ein Mann muss seine Familie allein ernähren können‹ nur 28,9 % persönlich zu; allerdings nehmen 75,4 % wahr, dass die Allgemeinheit bzw. die Mehrheit der Menschen in Deutschland dieser Aussage zustimmen würde.« Eine Norm kann umso erdrückender werden, je weniger klar man sieht, wer sie eigentlich formuliert. Die Erwartungen, die auf der althergebrachten Vaterrolle lasten, schienen für viele heutige Väter schon vor der Corona-Pandemie nicht mehr zu passen. Womöglich sind sie nicht nur zu übermächtig, sondern gleichzeitig auch zu abstrakt.

Als meine Eltern einander 1960 mit 21 Jahren heirateten, ging die Entscheidungsgewalt über meine Mutter per Gesetz an meinen Vater über. Noch Jahre später musste sie seine schriftliche Erlaubnis vorlegen, damit sie für ein paar Stunden pro Woche in einem Büro aushelfen konnte. Mein Vater war in dieser Hinsicht fortschrittlich. Selbstverständlich durfte sie arbeiten, wenn ihr das ein Bedürfnis war. Ihr eigener Vater wäre da weniger zugänglich gewesen. In seiner ländlichen Welt gehörte eine Frau zu den Kindern, in die Küche und allenfalls noch in den Stall. Dieser Großvater war ein strenger, schweigsamer Mensch, dessen stumpfes Brüten alle drei seiner Töchter ebenso fürchteten wie seinen gelegentlichen Jähzorn. Ganz selbstverständlich wurden die Kinder so erzogen, dass sie ebenso wie die Mutter jederzeit darauf achteten, dass der Vater sich nicht mehr als nötig aufregen muss. Was zuverlässig dennoch immer geschah, wenn sich etwas nicht genau so vollzog, wie er es sich vorgestellt hatte. Verehrt haben sie ihn wohl nicht. Aber sie haben ihn gefürchtet. Und sie haben seine Regeln befolgt. Das Leben mit meinem Vater in der Stadt eröffnete meiner Mutter danach die Tür zu einem viel fröhlicheren, freieren Dasein. Bevor sie Eltern wurden, feierten beide viele Feste und waren sehr verliebt. Natürlich wollte meine Mutter auch diesen Mann so wenig wie möglich verärgern. Er lag ihr sehr am Herzen und sie gab sich Mühe, ihm eine gute Ehefrau zu sein. Und auch als sie zweifache Mutter war, machte sie sich noch jeden Tag schön für ihn. Und hielt uns an, darauf zu achten, dass er sich auch über uns auf keinen Fall aufregen muss. Sogar dann, wenn er gar nicht da war.

Im ZEIT Magazin schreibt der Journalist Tillmann Prüfer seit 2018 über das Leben mit seinen vier Töchtern. »Die Zeiten, als Töchter selbstverständlich Papa-Kinder waren, sind vorbei«, heißt es in einem Text aus dem ersten Jahr seiner Kolumne. »Früher waren die Mütter viel zu Hause und sorgten für die Familie. Die Mutter zog die Kinder an, die Mutter wusch sie, die Mutter bekochte sie. Der Vater hingegen verbrachte die meiste Zeit bei der Arbeit und tauchte nur auf, um die Kinder ins Bett zu bringen. Väter waren mythische Wesen. Man konnte allerlei großartige Eigenschaften in sie hineinphantasieren – die Mütter hingegen waren sehr real.«

Als ich ganz frisch auf der Welt war, wurde meine Mutter schwer krank und musste eine Weile im Krankenhaus bleiben. In dieser Zeit waren mein Vater und meine große Schwester allein für mich zuständig. »Ich habe alles gemacht, außer dich zu stillen«, sagte er immer über diese Zeit. Er war stolz, dass er die Pflichten der Kinderpflege übernommen hatte, neben seinem anspruchsvollen Arbeitstag, der ihn bis zum Abend in Beschlag nahm. Dass er dazu bereit war, zu einer Zeit, wo respektable Männer noch längst nicht alle mit einem Kinderwagen auf der Straße gesehen werden wollten und es manchem Familienvater gar nicht in den Sinn gekommen wäre, einen Säugling zu waschen und ihm die Windeln zu wechseln. Womöglich ging er davon aus, dass allein dadurch eine besondere Bindung zwischen uns entstanden sein müsste. Dass ich ihm schon dafür zur Dankbarkeit verpflichtet sei. Vielleicht war er frustriert, weil er merkte, dass ihn all die neuen, erfüllten Pflichten an mir trotzdem nicht zu einem anderen Mann machten, zu einem, der aus vollem Herzen Freude an der Alltäglichkeit des Daseins empfinden konnte.

Tillmann Prüfer ist 1974 geboren. Der Kolumnist gehört der Generation an, die die Vaterrolle konkret zu verändern beginnt. »Meine Frau und ich arbeiten beide gleich viel. Ich meine sogar, meine Frau hat oft mehr zu tun als ich«, schrieb er 2018. »Also ziehe ich die Kinder an, koche und helfe bei den Hausaufgaben, bringe die Kinder irgendwohin und hole sie wieder ab. Als Vater bin ich sehr real. Ich denke, grundsätzlich ist es für Mädchen gut, realistische Ansichten über Männer zu haben.« In Zeiten von Homeoffice, Lockdownangst und Alltagsverlangsamung haben sich viele Veränderungen im Familienalltag auf breiterer Ebene durchzusetzen begonnen. Ob dadurch die Verehrung von Vätern als zu vergötternde aber oft abwesende Alleskönner – und die daraus entstehenden, übermenschlichen Erwartungen an sie – irgendwann vollständig aus dem emotionalen Repertoire von Töchtern verschwinden? Gut möglich, dass es die ersten Antworten darauf schon in wenigen Jahren gibt.

Happy Girl

4Verrat

Als Neunjährige hatte ich erst nach ein paar Wochen bemerkt, dass mein Vater nicht mehr bei uns wohnte. Schon vorher war er nur noch selten zu Hause gewesen. Oft kam er erst spätabends, wenn ich schon schlief. Meine Mutter war schon vor einer Weile wortkarg und reizbar geworden, doch ich erkannte zwischen beidem keinen Zusammenhang. Es gab auch niemand eine Erklärung ab. Darum machten wir einfach weiter wie bisher. Auch wenn wir in einer normalen Mietwohnung an einer Hauptstraße wohnten und nicht reich waren, aßen wir abends warm, mit weißer Tischdecke, Stoffservietten und Silberbesteck. So war es mein Vater aus seinem Elternhaus gewöhnt und so wollte er es auch in seiner Familie von jeher gehalten haben. Obwohl sein Platz beim Abendessen nun meistens leer blieb, wurde der Tisch weiterhin von mir und meiner Schwester liebevoll für alle gedeckt. Niemand von uns schien zu wissen, was wir sonst tun sollten.

»Vaterentbehrung« heißt das Wort, das der Berliner Neurologe, Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Horst Petri 1999 in seinem Buch Das Drama der Vaterentbehrung prägte. Es lehnt sich an den Begriff der »Mutterentbehrung« aus der Psychoanalyse an. Vaterentbehrung bezeichnet einen tief in die Persönlichkeitsentwicklung eingreifenden Mangel, wenn ein Kind keine oder keine ausreichende oder verlässliche Bindung zu seinem Vater aufbauen kann. Und zwar egal, ob dieser tot, ständig im Büro, durch seelische oder körperliche Krankheit nicht ausreichend verfügbar oder durch Trennung der Eltern abhandengekommen ist. »Anthropologisch gilt es heute als gesichert, dass es ein großes Bedürfnis von Kindern gibt, sich in der Dreier-Konstellation mit Vater und Mutter zu entwickeln« sagte Petri 2010 in einen Interview mit der Zeitschrift Geo Wissen.

Ich kann mich nicht genau erinnern, was in mir vorging, als mein Vater gar nicht mehr nach Hause kam. Ein paar Wochen, nachdem ich es bemerkt hatte, war ein Brief von ihm für mich in der Post. Er lebe jetzt in einer anderen Stadt, eine Stunde von uns entfernt, stand darin in seiner flüchtigen Handschrift. Dass das für mich nichts ändere, hatte er auch geschrieben. »Ich bin noch immer dein Vater«, las ich die Worte aus seiner dichten, tiefschwarzen Tinte. Doch das stimmte nicht. Er war immer noch mein Vater, das ja. Aber geändert hatte sich alles. Ich war bloß noch zu klein, um zu erkennen, woraus dieses Alles besteht.

Die Folgen jeder Vaterentbehrung wiegen darum so schwer, weil es nicht nur um eine reale Person geht, die dem Kind in wichtigen Phasen seiner Persönlichkeitsentwicklung fehlt, sondern immer auch um einen Funktionsträger im Familiengefüge. Um eine Position in einer Ordnung, die wir seit Menschengedenken als Norm etabliert haben. Das gilt nicht nur für Kinder. Viele erwachsene Frauen, auch Mütter, fühlen sich unvollständig, wenn sie keinen Partner an ihrer Seite haben. »Die Vaterentbehrung ist letztlich mehr als nur die Abwesenheit eines Mannes«, formuliert es Horst Petri. »Sie ist oft ein Symptom für das Scheitern eines ganzen Systems: der Familie.« Die Familie ist der Boden, auf dem ein Kind in den ersten beiden Jahrzehnten seines Daseins steht. Fängt er an zu wackeln oder stürzt sogar ein, dann verliert das Kind ein Stück Vertrauen in die Verlässlichkeit der Welt. Auch wenn es das zunächst nicht erkennt, weil es keine Vergleichserfahrungen hat, hinterlässt dieses Erleben Spuren. Oft solche, die für viele Jahre unsichtbar bleiben, auch für das Kind selbst. Nicht immer wird es dadurch später unsicher oder unglücklich. Aber die Gefahr dafür ist erhöht.

In ihrem Buch Die verletzte Tochter, das 2015 erschien, beschäftigt sich die Berliner Autorin Jeannette Hagen mit ihrer Entbehrung des Vaters. Dieser hatte sie nie kennenlernen wollen und verweigerte den Kontakt auch, als Hagen ihn als Erwachsene um ein Treffen bat. »Frauen, die Vaterentbehrung erlebt haben, sind häufig geprägt durch mangelndes Selbstbewusstsein und davon, dass sie sehr oft kein Gefühl für ihre Selbstwirksamkeit haben«, sagte Hagen 2015 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. »Sie verstehen nicht, was sie an- und ausrichten können und tragen ihren Schmerz in die nächste Generation weiter.« Hagen nennt zwei unterschiedliche Verhaltensmuster, die bei betroffenen Töchtern im Extremfall entstehen können. Entweder sie entwickeln sich zu hartgesottenen Amazonen, die ihre Gefühle verpanzern und gar keine Schwäche mehr zulassen. Oder sie werden zum »kleinen, sich ewig vor der Verantwortung drückenden Mädchen«, wie Hagen es formuliert. »Die Frau, die nur nach dem passenden Mann sucht, der ihrem Vater ähnelt oder sie rettet.« Sie selbst, berichtet sie, habe lange zur zweiten Kategorie gehört.

Töchter brauchen ihren Vater, um ihn verehren zu können. So kann man, sehr verkürzt, eine Grundannahme der Psychoanalyse zusammenfassen. Verehren müssen sie ihn, um ein Gegengewicht zu einer übergroßen Nähe zur Mutter auszugleichen, die durch die biologische Verbindung während Schwangerschaft sowie die traditionelle Fürsorgerolle im Säuglingsalter entstanden ist. Die sogenannte »Triade« aus Vater, Mutter und Kind steht im Zentrum der Familientherapie. Ein Spannungsfeld, in dem sich drei Individuen immer wieder neu zueinander ausbalancieren und in dem ein Kind im besten Fall ein stabiles Selbstbild entwickeln kann. Zu einem Teil kann ein leiblicher Vater durch eine Vaterfigur, etwa einen neuen Partner der Mutter, ersetzt werden, wenn dieser eine stabile Bindung ermöglicht. Aber das ist nicht dasselbe. Biologisch hat jeder Mensch nur einen Vater. Dieser stützt die Identität in vielfacher Weise. Wenn er nicht da ist, wird seine Anwesenheit häufig durch seine Abwesenheit ersetzt. Wenn er nicht oder nicht ausreichend zu einer Beziehung mit dem Kind beitragen kann oder will – auch wenn er daran, etwa von der Mutter, gehindert wird – versucht das Kind meist, das Fehlende in irgendeiner Form zu ergänzen. Häufig mit Mitteln wie Phantasien oder Überidealisierungen, die dafür nicht gut geeignet sind. Bevor es irgendwann womöglich anfängt, Ersatzväter zu suchen. Ohne konkrete Erfahrung, wie man sich mit einem verlässlichen Vater wirklich fühlt.

Bei Mädchen kann diese Dynamik die Entwicklungsvorgänge im Körper beeinflussen. 2011 veröffentlichten amerikanische Forscher von der University of California in Berkeley eine Studie, die den Zusammenhang von Abwesenheit des Vaters und dem Einsetzen der Pubertät bei Mädchen untersuchte. Dafür wurden 444 Mädchen zwischen sechs und acht Jahren, die ohne Vater aufwuchsen, sowie deren Mütter nach dem Stand der körperlichen Entwicklung der Mädchen befragt. Es zeigte sich, dass diese Mädchen signifikant früher in die Pubertät kamen als Mädchen, deren Vater im selben Haushalt lebte. Schon frühere Studien hatten ergeben, dass bei Mädchen, die in vaterlosen Haushalten aufwachsen, die Periode ungefähr doppelt so oft vor dem 12. Lebensjahr einsetzt wie bei Mädchen, deren Vater in der Familie anwesend ist. Warum das so ist, konnten die Forscher nicht sagen. Ältere Untersuchungen, auf die sich die Studie bezieht, erkannten in verfrühter Geschlechtsreife ein Anpassungsverhalten, wie es im Lauf der Evolution das Überleben begünstigte. Mädchen, die »für das Überleben ungünstige Bedingungen (z. B. unsichere und nicht-unterstützende Familienbeziehungen) erfahren«, schlussfolgerte eine Untersuchung von 1991, passen sich an, »indem sie früher geschlechtsreif wurden«. Die Gründung einer eigenen Familie ermöglicht ihnen, zumindest theoretisch, den widrigen Umständen der Herkunftsfamilie so bald wie möglich zu entkommen. Mit der Hoffnung, in einer neuen, selbstgegründeten Familie mehr Sicherheit zu finden.

Die Abwesenheit eines verlässlichen Vaters kann sich auch an einem – oft verborgenen – Ort der Seele niederschlagen. Und zwar in einer Weise, die man manchmal selbst nicht erkennt. In meinem Leben gab es viele Situationen, in denen ich mich auf ungute Weise zufrieden fühlte, wenn ich bei einem Mann, der eine kleine Tochter hatte, Vorrang bekam. Wenn er Zeit lieber mit mir statt mit ihr verbrachte oder es mir jedenfalls so vorkam. Das konnte ein Berufskollege sein, der abends länger als geplant in einer Teamarbeit mit mir blieb oder sich vielleicht noch zu einem Getränk zum Feierabend überreden ließ, obwohl er zu Hause erwartet wurde. Der eine gemeinsame Arbeitsreise länger anlegte, als es ursprünglich mit der Familie abgesprochen war. Wenn es mir dann noch gelang, ihn für mich als Frau zu interessieren, fühlte ich mich für eine Weile ruhiger als sonst. Es dauerte, bis ich die Ursachen dieser verdrehten Gefühlslage zu verstehen begann. Bis ich sah, dass sie mit der emotionalen Unerreichbarkeit meines Vaters zusammenhing. Dass ich in diesen Momenten wieder zu dem kleinen Mädchen wurde, das ich mit ihm gewesen war und das sich von ihm um gemeinsame Zeit, um Nähe, um eine Verbindung betrogen sah.

Dass ich mich aus diesem zerstörerischen Gefühlsnetz befreit hatte, bemerkte ich mit meinem Bekannten M. Einmal verließen wir ein Etablissement erst im Morgengrauen. Zum ersten Mal seit Stunden schaute er auf sein Handy. »Oh. 17 Nachrichten von meinem Kind«. Erst Textnachrichten in immer kürzerer Folge, dann hatte seine halbwüchsige Tochter angefangen, auf seine Mailbox zu sprechen. »Papa, alles in Ordnung mit dir …???!!!???«, hieß einer der panischen Texte, die er in leicht ratlosem Ton vorlas. Offenbar hatte ihre Verabredung sie im Stich gelassen und sie saß den ganzen Abend allein in der Wohnung ihres Vaters in der für sie fremden Stadt. Kurz nach drei in der Früh rief er sie an. »Bin gleich zu Hause, konnte nicht ans Telefon«, sagte er. Am anderen Ende hörte ich ihre Stimme. Sie schien nicht wütend oder aufgebracht zu sein, bloß unendlich erleichtert, dass er sich gemeldet hatte, dass ihm nichts zugestoßen war. Dass er sich nicht einfach in Luft aufgelöst und sie allein zurückgelassen hatte. Innerhalb von Sekunden schlug meine Stimmung um. Hatte ich davor die Zeit mit ihm genossen, wurde er mir nun auf einmal suspekt. Wie kann man sich von einem Wesen nach eigenen Worten abgöttisch lieben lassen und gleichzeitig keinerlei Rücksicht auf dessen Bedürfnisse nehmen? In der verzweifelt nach ihm rufenden Tochter von M. sah ich nun keine Rivalin um seine Aufmerksamkeit mehr. Viel mehr erkannte ich mich selbst. So einem Mann wollte ich nicht mehr vertrauen. Das wurde mir in der Sekunde klar und ich wusste, dass keine weiteren Treffen mit ihm folgen würden.

Es gibt noch eine andere, komplexere, zerstörerischere Art der Vaterentbehrung. Sie kommt zustande, wenn ein Vater sich an seiner Tochter sexuell vergeht. Es ist die schlimmste Form des Verrats innerhalb einer Familie. In einer Expertise für das Deutsche Jugendinstitut in München fasste der Entwicklungspsychologe Peter Zimmermann von der Bergischen Universität Wuppertal 2010 den aktuellen Stand der Forschung über die Auswirkungen von sexualisierter Gewalt in der Familie zusammen. Durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit ist »das Risiko sexueller Viktimisierung erwachsener Frauen durch Männer fast vierfach und für Männer durch Männer 2 ½-fach« erhöht, heißt es darin. Eine Frau, die als Mädchen sexuelle Gewalt durch einen Mann in der Familie erlebt hat, wird mit fast vierfacher Wahrscheinlichkeit als erwachsene Frau wieder sexuelle Gewalt durch einen Mann erleben. Man kann auch sagen: Sie ist Opfer eines Mannes geworden und verlernt nicht mehr ohne weiteres, Opfer von Männern zu sein.

In seiner Expertise bezieht sich der Forscher unter anderem auf eine amerikanische Untersuchung aus dem Jahr 2000, die die emotionalen Folgen von sexueller Gewalt durch eine Vaterfigur – gemeint sind Vater, Onkel oder Großvater – untersuchte. »Missbrauchte Mädchen erreichen geringere Werte in Emotionsverständnismaßen, mehr emotionale Labilität bzw. negative Emotionen und mehr emotionale Dysregulation als gleichaltrige nicht-missbrauchte Mädchen«, heißt es darin. »Außerdem zeigte sich, dass missbrauchte Mädchen, vor allem vor ihrem Vater oder der Vaterfigur mehr ihren Ärger unterdrücken.« Das bedeutet, Mädchen, deren Vater sich an ihnen vergeht, verpassen auch die ziemlich wichtige Lektion, gegenüber unerwünschten körperlichen Begehrlichkeiten eine klare Grenze zu setzen. Sie lernen nicht, Nein zu sagen. Stattdessen lernen sie zu glauben, dass ihr Nein sowieso nicht gelten würde. Oder dass es bedrohliche Nachteile bringt.

Ein Vater, so scheint es, hat zwei unterschiedliche, zentrale Aufgaben im Leben seiner Kinder. Eine reale und eine abstrakte. Als Vater aus Fleisch und Blut muss er erreichbar und zugewandt sein. Dadurch bekommt ein Kind die Gewissheit, dass ihm ein Platz in der Welt zusteht. Für Mädchen kommt noch eine zusätzliche spezifische Erfahrung dazu, die am stärksten vom Vater ermöglicht wird: Er gibt das erste und wichtigste Beispiel dafür, dass man dem anderen Geschlecht vertrauen kann. Dass Männer verlässliche, zu einer Beziehung geeignete, bei Bedarf beschützende Menschen sein können, die man mögen, bewundern, gegebenenfalls liebhaben kann. Mit denen man reden und auf die man sich verlassen kann. Zur Partnerschaft geeignete Gegenstücke, die einen, jedenfalls im heterosexuellen Erleben, später bereichern können und nach denen man, wenn der Wunsch danach einsetzt, getrost und selbstsicher auf die Suche gehen kann.

Kann ein realer Vater diese Grundlage nicht bieten, droht seine abstrakte Bedeutung in den Vordergrund zu treten. Dann gewinnt das Bild des Übervaters an Gewicht, ohne den eine Ordnung nicht stabil genug bleibt. Die idealisierten Vorstellungen davon, wie es wäre, einen solchen Mann im Leben zu haben, bekommt zu viel Kraft. Denn solche Bilder sind fast immer verzerrt und werfen auch ein verzerrtes Selbstbild auf die Tochter zurück. Im schlimmsten Fall, wenn der Vater ganz fehlt und nicht durch eine andere Vaterfigur ersetzt werden kann, entsteht eine Leerstelle, die seinen Umriss hat. Dann nimmt diese Leerstelle einen größeren und prägenderen Raum ein, als es ein realer Mensch je könnte. Ein Drama der Seele ist es, dass man als Tochter manchmal gerade mit dieser Leerstelle eine Beziehung zu führen versucht.

Meine Väter

5Zweiter Besuch

Die guten Erinnerungen an meinen Vater kommen bruchstückhaft. Und nie, wenn ich mich um sie bemühe. Nur die schmerzhaften Gedanken rufe ich ohne Mühe ab. Sie tauchen auf, sobald ich an ihn denke. Die steinerne Frustration, wenn er mit nackten Füßen auf dem Küchenboden auf der Stelle trat und mich so informierte, dass der Boden klebt. Und zwar, weil ich ihn seiner Meinung nach nicht sauber genug aufgewischt hatte. Die darunter liegende Drohung, dass ich, wenn ich Unordnung verbreite, nicht länger bei ihm wohnen bleiben kann. Sein Toben, dass ich zu nichts nütze sei, wenn, wie meine Freundin sagte, »ein Mikrogramm« Spinat in der Spüle verblieben war, nachdem ich Geschirr gewaschen hatte. Sein spöttischer Blick, mit dem er mich an der Wohnungstür musterte, und die immer wiederkehrende Frage: »Wann wirst du endlich normal?« Die brennende Beschämung, viele Jahre früher, als ich, mit sieben oder acht, vor dem Schaufenster des neueröffneten Ballettshops in unserer Stadt stehen blieb und sehnsüchtig das Trikot mit Tüllborte ansah. Seit ein paar Monaten ging ich zum Ballett und mein Geburtstag stand bevor. Darum wagte ich zu sagen, dass ich mir so ein Trikot wünsche. Wie er dann »Dann würde ich an deiner Stelle noch mehr essen« antwortete und ungerührt weiterging.