Vaters Land - Goran Vojnović - E-Book

Vaters Land E-Book

Goran Vojnović

4,9

Beschreibung

Unerschrockenheit, schwarzer Humor und doch große Ernsthaftigkeit prägen Goran Vojnovićs private Geschichte über die Wurzeln der Selbstzerstörung Jugoslawiens. Als Vladan Borojevic den Namen seines Vaters googelt, stößt er auf ein dunkles Geheimnis: Er findet sich als Sohn eines flüchtigen Kriegsverbrechers wieder. So bricht er auf zu einer Reise durch ein zerstörtes und von Misstrauen zerfressenes Land. Selbst im Visier von Geheimdiensten sucht er nach einem Vater, der ihn als Elfjährigen verlassen hat, getrieben von der Sehnsucht nach einer Familie und einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt.

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Seitenzahl: 415

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Goran Vojnović

Vaters Land

© Tina Deu

DER AUTOR

Goran Vojnović, geboren 1980 in Ljubljana. Studium der Regie an der Theater- und Filmhochschule Ljubljana. Enfant terrible und einer der talentiertesten Autoren seiner Generation. Sein Romanerstling Čefuri raus! hatte den Rücktritt des slowenischen Innenministers zur Folge.

Erfolgreicher Regisseur zahlreicher Filme.

Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt.

DER ÜBERSETZER

Klaus Detlef Olof, geboren 1939, aufgewachsen in Lübeck und Hildesheim, Studium der Slawistik in Hamburg und Sarajevo. Bis 2005 Lehrtätigkeit an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien. Lebt und arbeitet in Zagreb und Pula. Zahlreiche Übersetzungen aus den südslawischen Literaturen. Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzer 1991.

Goran Vojnović

Vaters Land

Roman

Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof

TransferBibliothek

FolioVerlag

TransferBibliothek CXXVII

Titel der Originalausgabe:

Jugoslavija, moja dežela

, Ljubljana: Beletrina Academic Press© der Originalausgabe: Beletrina Academic Press, 2012.

www.beletrina.com

 

 

Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.Mit weiterer freundlicher Unterstützung durch die Trubar Foundation (Trubarjev sklad pri Društvu slovenskih pisatlejev) und die Öffentliche Agentur für das Buchwesen der Republik Slowenien (Javna agencija za knjigo Republike Slovenije).

 

 

© Covermotiv: Fotolia/astrosystem

 

© Folio Verlag, Wien • Bozen 2016Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Joe RablGrafische Gestaltung: Dall’O & FreundeDruckvorstufe: Typoplus, Frangart

 

ISBN 978-3-85256-686-3

 

www.folioverlag.com

 

 

E-Book: ISBN 978-3-99037-056-8

1

Meine Kindheit endete unversehens an einem ganz gewöhnlichen Frühsommertag des Jahres 1991. Es war ein schwüler Tag, und die Erwachsenen flehten schon seit dem frühen Morgen das nachmittägliche Gewitter herab, während wir Kinder uns verwundert fragten, woher alle, die in den Kleingärten von Šijana weder Tomaten noch Zucchini zogen, mitten in der Badesaison ein Bedürfnis nach Regen verspürten. Unsere Welt war damals eben noch immer sehr verschieden von der Welt unserer Eltern, und die Erwachsenen waren für uns größtenteils Wesen von einem anderen Stern, die uns nur interessierten, wenn sie ohne Arme oder Beine waren, wenn sie ihre Haare oder Bärte bis zum Boden hinunter wachsen ließen, sich wie Indianer kleideten, tätowierte Rücken hatten oder Muskeln wie Rambo 1, 2 und 3.

Einen dieser interessanten Erwachsenen zu besichtigen hatten wir uns an diesem heißen Morgen auf den Weg gemacht. Mario und Siniša konnten nämlich einfach nicht glauben, dass ich den Typ mit der roten Beule im Gesicht noch nicht gesehen hatte, von der manche behaupteten, dass sie nur ein großer Gehirntumor sei, andere hingegegen, dass es sich um Bulimie handle, eine neue Krankheit, über die man bereits im Fernsehen sprach und die angeblich, wie Siniša behauptete, den Kopf des Betreffenden langsam in eine große rote Beule verwandelte. Den Typ mit der Beule hätten bis dahin schon alle gesehen außer mir, behauptete Mario, während Siniša ein Erlebnis nach dem anderen mit ihm in der Hauptrolle aufzählte. So sei einmal auf dem Vidikovac, laut den Worten des größten Aufschneiders von Pula, eine deutsche Touristin erschrocken vor ihm zurückgeprallt und habe den ganzen Weg bis zu ihrem Hotel auf Verudela rückwärts gemacht, eine italienische Familie habe von seiner Existenz sogar die Polizei und die italienische Botschaft in Belgrad informiert. Beide, Mario wie Siniša, behaupteten, dass ich diesen Menschen unbedingt gesehen haben müsse, denn normal sei nur die eine Hälfte seines Kopfes, die andere sei aufgedunsen und rot wie eine halbierte Wassermelone oder ein Basketball.

Ich brauchte nicht lange überredet zu werden, und schon marschierten wir alle zusammen am Supermarkt vorbei Richtung Männerheim auf der anderen Seite der Dinko-Vitezić-Straße. In diesem todlangweiligen weißen rechteckigen Block lebten neben dem Typ mit der Beule größtenteils Arbeiter der Uljanik-Werft, die nach dem anstrengenden Arbeitstag in der Schiffswerft nachmittags in Ruhe vor dem Eingang saßen, an ihren Nikšićer und Sarajevoer Bieren nippten und ihre bosnischen Themen debattierten. Sie lebten, obgleich um die Ecke von unseren Blocks, in ihrer für uns fast unsichtbaren Parallelwelt, gaben sich mehr oder weniger nur miteinander ab und versammelten sich abends im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss des Männerheims, um sich den Dnevnik, die Tagesschau, die Übertragung eines Fußballspiels oder eine heimische Serie anzusehen.

Tagsüber, so erklärten mir die über alles informierten Freunde, hocke der Typ mit der Beule gewöhnlich vor dem Fernseher und verfolge vom frühen Morgen an regungslos das Programm von TV Zagreb, von den Smogovci bis zu den Dokumentarsendungen, die der legendäre Delo Hadžiselimović „ausgewählt“ hatte. Es heiße, so Siniša, dass die Mitbewohner schon einmal Geld gesammelt, ihm einen kleinen tragbaren Fernseher gekauft und den in seinem Zimmer aufgestellt hätten, dass er aber noch immer jeden Tag im Gemeinschaftsraum herumhänge, obwohl er nie mit jemandem je geredet habe. Mario sagte noch, dass der Schweißer Vaha ihm einmal angeblich alle zehn Minuten das Programm umgeschaltet habe, dass der Typ aber überhaupt nicht reagiert habe, so als ob es ihm völlig egal wäre, was er sieht.

Unter diesen Geschichtchen kamen wir vor den Eingang zum Männerheim mit großen Erwartungen, fast so großen wie damals, als wir am Vorabend der Premierenvorstellung zum Zirkuszelt beim Istra-Stadion gingen, um dort heimlich den Übungen der Zirkusartisten zuzusehen, wobei uns aber, noch bevor wir durch das hohe Gras näher geschlichen waren und ins Innere hineingeschaut hatten, ein kleines schreiendes Zigeunermädchen so erschreckt hatte, dass wir drei großen Burschen kopflos vor dem winzigen schwarzen Wesen bis ganz zum Stadion flüchteten.

Aber an jenem Tag hätten wir im Männerheim schwerlich eine Situation antreffen können, die sich von der erwarteten mehr unterschieden hätte. Anstelle des einsamen Typs mit der Beule war der Gemeinschaftsraum nämlich bis zum letzten Winkel gestopft voll und alle glotzten in die Röhre, in der, jedenfalls schien es so, die Nachrichten liefen. Die Stimmung war ähnlich der vom letzten Jahr, als die Bewohner des Männerheims nach dem zweiten Tor von Piksi in dem unvergesslichen Achtelfinale gegen Spanien von einer solchen Euphorie erfasst wurden, dass sogar die Polizei einschreiten und sie zur Ruhe bringen musste und Ramo in der Notaufnahme landete, weil er einen Stromschlag abgekriegt hatte, als er den Fernseher und die Antenne geküsst hatte.

Zwölf Monate später stellten Siniša, Mario und ich, unter den Fußballfans des nachmittäglichen Fernsehprogramms nach dem „Melonenmann“ Ausschau haltend, überrascht fest, dass sich für SFR Jugoslawien nur noch der kleinere Teil der versammelten Mannschaft begeisterte. Die wurden inoffiziell, das sah ein Blinder, von Milo Lola Ribar kommandiert, der jeden Tag eine Kiste Bier oder zwei packte und jetzt lauter als alle brüllte, von wegen „wer gibt noch einen Scheiß“ auf Jugoslawien, wenn es letztes Jahr gegen die Ustascha aus Argentinien verloren habe, und dass es ihn im Leben nicht mehr interessiere. Neben ihm, schon unmittelbar vor dem Fernseher, stand Mali Mirso, ein Sechzehnjähriger, der ein erwachseneres Gesicht hatte als Bata Živojinović und sich auch so benahm und der jetzt alle Anwesenden auf das Ernsteste warnte, dass jetzt Schluss sei mit Sonnenbaden, Ferragosto und Feuerwerk in der Arena, aber nicht sagte, weshalb. Es waren hier, im Gemeinschaftsraum des Männerheims, noch ziemlich viele Schreihälse versammelt, deren unartikulierte Anfeuerungen uns aber unverständlich blieben, obwohl beim Anblick ihrer hochroten Gesichter klar war, dass sie alles gaben.

Direkt am Eingang, wo wir wegen des Gedränges stecken geblieben waren, stand Pulas berühmter Filmvorführer Cera. Cera ließ uns, seine „kleinen Komše“, seine kleinen Nachbarn, wie er uns nannte, umsonst zu den Abendvorstellungen im Kino Beograd. Dann war der Saal gewöhnlich leer, denn ganz Pula wusste, dass bei Cera nach acht Uhr die „Spulen durcheinanderkamen“ und er die Filme von der Mitte oder vom Ende her laufen ließ. Doch ungeachtet aller Liebe zur Biska, dem istrischen Mistelschnaps, war Cera einer der nettesten Menschen, die ich kannte, auch an diesem Tag drehte er sich, nachdem er gesehen hatte, dass keinem von uns auch nur im Geringsten klar war, was hier lief, zu uns um und erklärte uns: „Sollen die Janeze doch nach Luxemburg baden gehen, wenn sie Jugoslawien nicht mögen.“

Es war offensichtlich, dass bei Ceri die „Spulen“ heute schon erheblich früher durcheinandergekommen waren als gewöhnlich, und so sahen wir noch immer verwundert auf die von den Nachrichten hypnotisierte Menge vor uns. Alle lebten wir in der Überzeugung, dass TV Kalender eine noch interessantere Sendung als TV Dnevnik war, deshalb verstanden wir absolut Bahnhof von dem, was da geredet wurde. Siniša und Mario schlugen vor, dass wir uns verziehen sollten, und schon machten wir Anstalten zurückzumarschieren zu unserem Block, aber ich wollte ja den Typ mit der Beule sehen und machte einen Schritt nach vorn, um den Blick noch ein wenig über die Menge der immer mehr in Feuer geratenden Fernsehzuschauer wandern zu lassen. Doch anstelle des „Melonenmannes“ erblickte ich durch die Glaswand am gegenüberliegenden Ende des Raums niemand anderen als meinen Vater, der am Männerheim vorüber langsam nach Hause strebte.

Mein Vater schaute auf seinem Heimweg aus dem Dienst gewöhnlich wenigstens für ein paar Minuten bei den Heimbewohnern rein, trank ein Bier, erfuhr die Tagesneuigkeiten und kommentierte sie, meistens gemeinsam mit Mali Mirso, der sein Liebling war. Aber an diesem Tag, während Mirso auf dem Stuhl vor dem Fernseher stand und der versammelten Menge wütend zubrüllte, jetzt kämen „Zeiten, die auch die größten Idioten zur Vernunft bringen werden“, ging mein Vater in Gedanken versunken seinen Weg, ohne sich auch nur für einen Augenblick nach dem umzusehen, was sich nur wenige Meter von ihm entfernt abspielte.

Ich versuchte mich durch die Menge zu drängeln und ihn vor dem Eingang des Blocks gegenüber abzufangen, aber ich musste rasch erkennen, dass ich, wenn ich mich durch die Schreier drängelte, die mit den Händen fuchtelten, nur mein Glück herausforderte und mir ganz nebenbei eine „Arbeiterohrfeige“ einfangen konnte. Deshalb drehte ich um und beschloss, meinen Vater vor dem Supermarkt abzufangen. Soviel ich sehen konnte, schleppte er sich ungewöhnlich langsam dahin, und es bestand kein übertriebener Grund zu der Befürchtung, dass er mir entkommen könnte.

Sein Blick war leer wie der eines Blinden, und als ich vor dem Geschäft stand und beobachtete, wie er näher kam, sah es so aus, als würde er auch an mir vorübergehen, so wie er an der Menge im Männerheim vorübergegangen war. „Vorüber wie an einem türkischen Friedhof“, hätte Tante Enisa dazu gesagt. Aber er blieb doch stehen und umarmte mich mit aller Kraft, dass ich kaum Luft kriegte und unter seiner Uniform seinen gemeißelten Soldatenbauch spürte, den er so gern im flachen Wasser der Gortan-Bucht umherstapfend zur Schau stellte. Meine Mutter und ich neckten ihn deshalb, und er versuchte uns seine Geschichte vom Temperaturunterschied zwischen Wasser und Luft zu verkaufen und davon, dass es nicht gesund sei, gleich ins Meer zu springen. Mein Vater trank nie im Dienst und oftmals hatte ich ihn sagen hören, dass lediglich in Jugoslawien während der Arbeitszeit mehr getrunken werde als nach der Arbeit und dass das den Staat einmal ins allzu frühe Grab bringen werde, aber jetzt, da er mich mit seinen starken Armen so fest an sich drückte, dachte ich allen Ernstes, dass er betrunken wäre.

Endlich ließ er mich los, aber nur, um mich im nächsten Augenblick noch stärker am Arm zu packen und zu sich zu ziehen und mich dann seltsam anzusehen und nach langem Starren, weshalb ich schon dachte, er sei vielleicht nicht ganz bei sich, zu fragen, ob ich mit ihm auf dem Markt einen He-Man kaufen wolle.

Etwas war ganz böse durcheinandergeraten. Die Plastikfiguren der Helden meines geliebten Zeichentrickfilms waren mein liebstes Spielzeug, aber die hatte meine Mutter streng verboten, weil ich zu Hause schon drei hatte, He-Man, Skeletor und Teela, und ihr das mehr als genug erschien. Sie behauptete, dass die Figuren zu teuer seien und dass ich ohnehin nicht mit ihnen spielte, weil ich dafür schon zu alt sei. Sie sagte auch, dass ich sie nur deshalb kaufte, weil ich verwöhnt sei, und sah dabei auf ganz besondere Weise meinen Vater an, der so tat, als hätte er keine Ahnung, worum es ging.

*

Zum Markt gingen wir schweigend, und mein Vater blieb diesmal nicht alle paar Meter stehen, um rasch jemanden zu begrüßen, was gewöhnlich damit endete, dass ich den Beutel mit den Lebensmitteln vom Markt nach Hause trug, während er bis zum späten Abend „einen auf die Schnelle“ mit Vlatko oder Mate trank. Und dann am Abend betrunken meine Mutter umarmte, die sich ihm beleidigt zu entziehen suchte und unablässig wiederholte, dass er sich den nächsten Monat nur mit seinen Saufkumpanen in den Armen liegen werde. An diesem Tag ging er gesenkten Hauptes durch Pula und hatte unterwegs für Bekannte kaum ein Kopfnicken übrig, zu meiner großen Überraschung wollte er auch nicht an der Ruine beim Nikola-Tesla-Park haltmachen, wo wir fast schon rituell die barfüßigen „Pubertätlinge“ zählten, die immer mehr wurden im staubigen Hof eines Hauses, an dem schon zwei Jahre hindurch ein riesiges Graffito prangte: „KOSOVO REPUBLIKA – ISTRA KONTINENT“.

„Pubertätlinge“ hatten mein Vater und ich die Zigeunerkinder genannt, weil die am Ende der langen Mole der Badeanstalt Valkane jeden Tag massenhaft in kurzärmligen Hemden badeten, so wie Jovans Sohn Milan, ein dürrer Hänfling, der auf diese Weise, wie mir meine Mutter erklärte, vor den Mitschülerinnen schamhaft seine allzu augenfälligen Rippen verbarg.

Was die Zigeunerkinder in Valkane unter ihren Hemden verbargen, habe ich nie herausgefunden, hat mich aber auch nicht übertrieben interessiert. Mein Vater liebte die Zigeuner auf seine Weise und erzählte gern, dass er selber einer von ihnen sei. Vor allem wenn er bei Stanežić den geliebten Pleterje-Sliwowitz genossen hatte, erklärte er mit feierlichem Ernst, dass ihn, noch nicht größer als ein Laib Brot, seine Zigeunereltern, die außer ihm noch achtzehn andere Zigeunerkinder gehabt hätten, irgendwo vergessen hätten. Erst im Angesicht der Not hätten ihn ein freundlicher serbischer Onkel und eine noch freundlichere ungarische Tante adoptiert, die dann aber leider allzu früh verstorben seien und ihn als noch kleinen Jungen der Jugoslawischen Volksarmee hinterlassen hätten. Die Leute hörten meinem fröhlich aufschneidenden Vater immer voller Interesse zu und wussten nie so recht, ob er ihnen leidtun sollte oder ob sie ihn vielleicht um eine derartige Lebensgeschichte beneiden sollten.

Aber egal, ob meinen Vater einst wirklich Zirkuszigeuner vergessen hatten oder er sich alles zusammen nur ausgedacht hatte, um die traurige Geschichte von dem Waisenkind, das von Hauptmännern und Generälen erzogen worden war, auszuschmücken, Tatsache war, dass ich auch deshalb so oft an die He-Man-Figuren kam, weil der Zigeuner Maki sie verkaufte. Mit ihm konnte mein Vater endlos lange feilschen, selbst bis zu einer halben Stunde konnte er den Preis einer Figur von acht auf vier Dinar drücken, um ihm am Ende, wenn sich Maki mit der Niederlage abgefunden hatte und nur noch der Ordnung halber polterte, dass vier Dinar nichts anderes als das Ende für ehrliche Verkäufer von Schmuggelware bedeuteten, einen Zehner in die Hand zu drücken, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen und im Weitergehen zu sagen, dass er einen so ehrlichen Zigeuner sein Lebtag noch nicht gesehen habe.

An diesem Tag gab es kein Feilschen. Mein Vater drückte Maki wortlos das Geld in die Hand, und während ich Makis sonstigen bunten Ramsch nur mit dem Blick streifte, war er schon im Gedränge des Marktes verschwunden. In diesem Moment machte ich mir zum ersten Mal Sorgen um meinen Vater und begann mich fast in Panik durch die Menge zu drängen. Ich hatte plötzlich Angst, dass mein Vater in Gedanken auf die Straße treten könnte, ohne nach links und rechts zu sehen, und dass ihn ein wild gewordener italienischer Tourist oder ein betrunkener Opa auf seiner Vespa überfahren könnte. Mit meiner neuen Plastikfigur rannte ich deshalb immer nervöser den Markt rauf und runter und verrannte mich dabei in Damen in blumengemusterten Kleidern, aber mein Vater blieb spurlos verschwunden. Für einen Moment schoss es mir, dass er vergessen haben könnte, dass wir zusammen gekommen waren, und dass er einfach zum Mittagessen nach Hause gegangen war, als ich endlich sah, wie er vor dem Eingang zum Supermarkt stand und verwirrt um sich blickte. Ich wollte schon zu ihm laufen, als jemand die Hand auf meine Schulter legte und mich zurückhielt. Ich drehte mich um und sah Maki, der mich mit seinen großen schwarzen Augen besorgt fixierte: „Viel komisch, Brüderchen, dein Alter heute. Wenn er bloß nicht auch die Prekomanda gekriegt hat, ha?“

Nie zuvor hatte ich das Wort „Prekomanda“ gehört und ich hatte keinen Schimmer, was es bedeutete. Ich war elf Jahre alt und träumte nur davon, dass sich Mario diesen Sommer das Boot seines Vaters ausleihen könne und wir drei allein nach Fratarski otok, unserer Badeinsel, fahren würden.

2

KOSOVO REPUBLIKA – ISTRA KONTINENT!

Ich hatte keine Ahnung, woher gute sechzehn Jahre später plötzlich dieses längst vergessene Pulaner Graffito kam, aber es schien, als würden die Buchstaben im Rhythmus meines immer wilder klopfenden Herzens zittern. Die Bilder, Gesichter und Orte, die ich einst tief unter der Oberfläche des Bewusstseins vergraben hatte, blitzten jetzt vor meinen Augen auf wie in einem verrückten MTV-Video. Mein früheres Leben kehrte in Form einer Halluzination zurück, und ich hatte das Gefühl, mich in einem wahnsinnig gewordenen Karussell zu befinden, das mich jeden Moment unwiederbringlich hinaus in eine Welt werfen würde, von der ich überzeugt gewesen war, dass es mir vor Langem schon gelungen sei, sie aus der Erinnerung zu löschen. Mein aufgewühltes Unterbewusstsein brach hervor, und gegen meinen Willen überließ ich mich ihm immer mehr. Die dicken schwarzen Buchstaben auf den weißen Mauern von Pula blinkten immer stärker, und es schien, als wollten sie im nächsten Augenblick auffliegen, zusammen mit den Steinquadern, die sie einst geziert hatten.

K-O-S-O-V-O-R-E-P-U-B-L-I-K-A-I-S-T-R-A-K-O-N-T-I-N-E-N-T!

Ich setzte mich in meine zwanzig Jahre alte Rostschüssel, die ich in der Garage neben dem Heizwerk in Moste geparkt hatte. Ich hätte zu Enes fahren müssen, meinem fast legalen Automechaniker und Ex-Mitglied der Gruppe VIS-Saneri, damit dieser berufsmäßige Traumtänzer aus Donji Vakuf meinen müden Straßengaul für die erste längere Fahrt nach vielen Jahren herrichtete, aber stattdessen starrte ich regungslos an die Garagenwand, auf der meine Halluzinationen tanzten. Ich versuchte mein linkes Bein ins Auto zu zwängen und auf die weiche japanische Kupplung zu treten, aber das Bein, als gehörte es jemand anderem, klebte am Betonboden der Garage und interessierte sich nicht im Geringsten dafür, dass Enes’ beliebig gleitende Arbeitszeit vermutlich am Auslaufen war. Für einen Augenblick fürchtete ich sogar, dass es mir nie mehr gelingen werde, mich aus diesem Hirn-Körper-Winterschlaf herauszureißen.

Wer weiß, wann ich zuletzt an die Dinko-Vitezić-Straße in Pula gedacht hatte, an die weißen Offiziers-Blocks und an meine dortige Kindheit vor dem Sommer des Jahres 1991. Ich hatte all das einst in der Erde verscharrt, ohne Grabstein, ohne Kreuz, ohne Kerzen, ohne Trauerrede, ohne Trauerzug, und war ohne Blick zurück weit wegmarschiert, überzeugt, dass diese vergessene Welt nie mehr zum Leben erwachen würde. Und jetzt auferstand sie Stück für Stück unversehrt aus den Tiefen der Erinnerung und paralysierte mich in meiner eigenen Garage. Schon mehr als zwanzig Minuten unbeweglich, versuchte ich vergeblich in den Zustand klinisch-psychischer Lethargie zurückzufinden, in den mir so teuren Gleichmut, der mich all die Jahre vor dem Einbruch unbeherrschbarer Gefühle bewahrt hatte. Aber ich konnte mich keinen Millimeter bewegen. Mein bis vor Kurzem verstorbener Vater hatte mich fast sechzehn Jahre nach seinem Tod so unbarmherzig mit seiner Unsterblichkeit aus dem Hinterhalt überfallen, dass ich fast physisch spüren konnte, wie in mir das Gefühl des Grauens zunahm und mich mit seinem gewaltigen Gewicht zu Boden drückte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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