Venedig ist ein Fisch - Tiziano Scarpa - E-Book

Venedig ist ein Fisch E-Book

Tiziano Scarpa

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Beschreibung

Dass Venedig die Form eines Fisches hat, sieht jeder, der auf eine Landkarte schaut. Tiziano Scarpa lädt uns ein, diesen Wunderfisch mit allen Sinnen zu entdecken – deshalb schreibt er nicht über Venedig, sondern darüber was mit uns in Venedig passiert. Die Kapitel lauten: Füße, Beine, Herz, Gesicht, Ohren, Mund, Nase, Augen. Wir erfahren, warum man sich in Venedig unbedingt verirren sollte, weshalb die Stadt als Kulisse für Liebeserklärungen ungeeignet ist und wieso Venedigs Schönheit hochgradig gesundheitsgefährdend ist. Scarpa wirft viel vom Bildungsballast, der auf Venedig lastet, ins Meer und sorgt dafür, dass man über diesen wunderlichen Venedig-Fisch auf ganz neue Art ins Staunen gerät.

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E-Book-Ausgabe 2019

© 2019 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Feltrinelli.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Die Photos stammen mit freundlicher Genehmigung von:

A. Riedmiller/Das Fotoarchiv, G. Molinari, M. Arzt, H. Arzt, S. Lubenow, G. Oberzill, G. Berengo Gardin, T. Henning, S. Wesche, J. Junker.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142696

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2433 3

www.wagenbach.de

Venedig ist ein Fisch. Schau es dir auf einer Landkarte an. Es ähnelt einer riesigen Seezunge, die platt auf dem Grund liegt. Wieso ist dieses Wundertier die Adria hinaufgeschwommen und hat sich ausgerechnet hier verkrochen? Es hätte ja noch ein wenig umherstreifen können, um mal hier, mal da einen Abstecher zu machen, ganz nach Lust und Laune. Reisen, durch die Gegend ziehen, sich die Zeit vertreiben, so wie es das immer gern getan hat: dieses Wochenende in Dalmatien, übermorgen in Istanbul, nächsten Sommer in Zypern. Wenn es nun hier vor Anker gegangen ist, so muß es dafür einen Grund geben. Die Lachse reiben sich die Bäuche auf, wenn sie gegen den Strom schwimmen, erklimmen Wasserfälle für ihr Liebesspiel in den Bergen. Wale, Sirenen und Galionsfiguren, alle sterben sie im Sargassomeer.

Die anderen Bücher würden lächeln über das, was ich dir da erzähle. Sie berichten von der Entstehung der Stadt aus dem Nichts, dem glänzenden Aufstieg zur Handels- und Militärmacht, dem Niedergang: Märchen. So ist es nicht, glaub mir. Venedig hat es schon immer in der Form gegeben, die du siehst, oder fast. Seit Anbeginn der Zeiten schwimmt es herum; in allen Häfen hat es Station gemacht, kennt alle Flüsse, alle Quais und Molen. An seinen Schuppen blieben orientalische Perlen haften, durchsichtiger phönizischer Sand, griechische Mollusken, byzantinische Algen. Eines Tages spürte es jedoch die Last jener Splitter und Körnchen, die es so nach und nach auf der Haut angesammelt hatte; es bemerkte, welche Kruste es mit sich herumschleppte. Seine Flossen wurden zu schwer, um sich durch die Strömung zu schlängeln. Daher beschloß es, ein für alle Mal in eine der Buchten weiter oben am Mittelmeer hinaufzuschwimmen, in die ruhigste, die entlegenste, und sich dort auszuruhen.

Auf der Landkarte gleicht die Brücke, die es mit dem Festland verbindet, einer Angelschnur: es sieht aus, als hätte Venedig angebissen. Es hängt an einer doppelten Schnur: einem Stahlgleis und einem Asphaltband; doch das kam später, erst vor hundert Jahren. Wir bekamen nämlich Angst, Venedig könne es sich eines Tages anders überlegen und weiterziehen; und so haben wir es in der Lagune festgebunden, damit ihm nicht plötzlich einfiele, den Anker zu lichten und in die Ferne zu driften, und zwar für immer. Den anderen sagen wir, es sei zum Schutze Venedigs geschehen, denn nach all den Jahren vor Anker hat es das Schwimmen verlernt: es würde sofort gefangen werden, auf irgendeinem japanischen Walfangboot landen und in einem Aquarium in Disneyland gezeigt werden. In Wahrheit aber kommen wir nicht mehr ohne Venedig aus. Wir sind eifersüchtig. Auch sadistisch und grausam, wie alle, die das Liebste bei sich behalten wollen. Wir haben noch Schlimmeres getan, als es ans Festland anzubinden: wir haben es buchstäblich am Grund festgenagelt.

In einem Roman von Bohumil Hrabal gibt es ein Kind, das von Nägeln besessen ist. Es schlägt sie nur in Fußböden ein: zu Hause, im Hotel, bei Gästen. Alle Parkettböden, die ihm unter die Finger geraten, werden von morgens bis abends behämmert. Als wolle das Kind die Häuser am Boden befestigen, um sich sicherer zu fühlen. Mit Venedig ist es genauso, nur sind die Nägel nicht aus Eisen, sondern aus Holz, und sie sind riesig, zwei bis zehn Meter lang und haben einen Durchmesser von zwanzig, dreißig Zentimetern. Sie wurden in den Schlamm auf dem Meeresboden gerammt.

Die Paläste, die du siehst, die Marmorarchitektur, die Backsteinhäuser, sie alle konnte man nicht auf Wasser errichten, sie wären im Schlick versunken. Wie aber erbaut man ein solides Fundament auf Schlamm? Die Venezianer rammten -zigtausend, -zig Millionen Pfähle in den Boden. Unter der Basilica della Salute sind es mindestens hunderttausend; auch zu Füßen der Rialtobrücke, denn sie müssen dem Druck des steinernen Bogens standhalten. Die Basilica von San Marco ruht auf einem Gitter aus Eichenholz, das von einem Pfahlwerk aus Ulmenholz getragen wird. Die Stämme besorgte man sich in den Wäldern von Cadore, in den venetischen Alpen. Man brachte sie bis zur Lagune und ließ sie dazu auf den Flüssen treiben, auf dem Piave. Es sind Lärchen, Ulmen, Erlen, Eichen, Kiefern, Stieleichen. Die Serenissima war sehr umsichtig; immer hatte sie ein Auge auf dieses hölzerne Vermögen; äußerst strenge Gesetze schützten die Wälder.

Kopfüber wurden die Bäume mit einer Art Amboß, der an einem Flaschenzug hing, in den Boden gerammt. Ich habe sie noch gesehen, als Kind, habe die Lieder der Pfahlbauer gehört, die langsamen und gewichtigen Taktschläge jener in der Luft hängenden, zylinderförmigen Hämmer, die auf vertikalen Schienen hin und her glitten, langsam hinauffuhren und dann wie der Blitz herabsausten. Daß die Stämme versteinerten, bewirkte eben jener Schlamm, der sie mit seiner Schutzschicht umgeben und so verhindert hat, daß sie beim Kontakt mit Sauerstoff verfaulten. Nach Jahrhunderten im luftleeren Raum, hat sich das Holz beinahe in Stein verwandelt. Du gehst über ausgerottete, umgedrehte Bäume, spazierst über einen beispiellosen, auf dem Kopf stehenden Wald. Was die Erfindung eines mittelmäßigen Science-Fiction-Schriftstellers zu sein scheint, ist tatsächlich wahr. Ich beschreibe dir nun, was mit deinem Körper in Venedig passiert, und fange bei den Füßen an.

Füße

Venedig ist eine Schildkröte: ihr steinerner Panzer besteht aus grauen Trachytblöcken (maségni, wie die Venezianer sagen), mit denen die Straßen gepflastert sind. Die Steine stammen allesamt von außerhalb: fast alles, was man in Venedig sieht, hat Paolo Barbaro geschrieben, kommt von anderswo, wurde importiert oder erschwindelt, wenn nicht gar geraubt. Die Fläche, über die du läufst, ist glatt, auch wenn viele Steine mit einem kleinen Hammer gerädelt wurden, damit du bei Regen nicht ausrutschst.

Wohin gehst du denn? Wirf doch den Stadtplan weg! Warum willst du unbedingt wissen, wo du dich im Augenblick befindest? Einverstanden, normalerweise läßt du dich in den Städten, in den Einkaufszentren, an Autobus- oder U-Bahn-Haltestellen von Hinweisschildern an die Hand nehmen; fast immer gibt es einen Plan mit einem farbigen Punkt darauf, einen Pfeil auf der Karte, der dich lautstark darauf aufmerksam macht: »Sie sind hier.« Auch in Venedig brauchst du die Augen nur ein wenig nach oben zu richten und wirst viele gelbe Schilder sehen, mit Pfeilen, die dir sagen: du mußt hier lang gehen, laß dich nicht durcheinanderbringen, Zum Bahnhof, Nach San Marco, Zur Accademia. Laß sie links liegen, achte gar nicht darauf. Warum willst du gegen ein Labyrinth ankämpfen? Folge ihm doch einfach. Keine Sorge, die Gassen bestimmen ganz von allein deinen Weg, und nicht umgekehrt. Lerne, dich treiben zu lassen, umherzuschweifen. Laß dich in die Irre führen. Schlendere dahin.

Mach auch du »den Venezianer«. Im zweiten Weltkrieg spielte diese Redensart auf unsere Fußballmannschaft an, »den Venezianer machen«, »es wie Venedig machen«. Die Art, wie die Venezianer Fußball spielten, war nervtötend: egoistisch, immer den Fuß am Ball, viel Dribbling und wenige Pässe, eine engstirnige Spielweise. Kein Wunder: die Fußballer waren ja in einem Gewirr aus schmalen Gassen, Sträßchen, Biegungen und Engstellen aufgewachsen. Um zur Schule zu gelangen, war der sicherste Weg immer der des Bindfadens. Und so sahen sie auch weiterhin Gassen und Plätze vor sich, wenn sie in Trikots und kurzen Hosen auf den Platz gingen, und versuchten, sich aus ihrer persönlichen labyrinthischen Vorstellung zwischen Mittelfeld und Strafraum herauszuwinden.

Stell dir vor, du wärst ein rotes Blutkörperchen, das in den Venen dahintreibt: folge dem Herzschlag, laß dich von diesem unsichtbaren Herzen voranpumpen. Vielleicht bist du ja auch ein Bissen, der in den Eingeweiden transportiert wird: die Speiseröhre einer engen Gasse drückt sich mit ihren Backsteinwänden an dich, bis du beinahe zermalmt wirst, speit dich aus, läßt dich durch das Ventil einer Brücke entschlüpfen, die sich über das Wasser spannt, worauf du in einem geräumigen Magen landest, einem Platz, wo du nicht weitergehen kannst, ohne ein wenig ausgeruht zu haben; du mußt stehenbleiben, weil die Fassade einer Kirche dich zwingt, sie anzuschauen, dich im Innern chemisch verwandelt und verdaut.

Die erste und einzige Route, die ich dir empfehlen möchte, hat einen Namen. Sie heißt: Zufall. Untertitel: Ohne Ziel. Venedig ist klein, du darfst dich also ruhig verlaufen, denn weit kommst du sowieso nicht. Schlimmstenfalls gelangst du an den Rand und hast die Lagune vor dir. In diesem Labyrinth gibt es keinen Minotaurus, kein Monster, das seinen Opfern auflauert, um sie zu verspeisen. Eine amerikanische Freundin von mir kam zum ersten Mal in einer Winternacht nach Venedig. Sie fand ihr Hotel nicht und wanderte immer ängstlicher durch die verlassene Stadt, die Adresse ganz unnötig auf einem Zettel notiert. Je mehr Minuten vergingen, um so sicherer war sie, gleich vergewaltigt zu werden. Sie konnte es nicht fassen, daß sie seit drei Stunden in einer fremden Stadt war und noch niemand sie angegriffen und ihr die Koffer zu klauen versucht hatte. Es war nämlich eine junge Frau aus Los Angeles! Auf Taschendiebe mußt du vor allem um die Piazza San Marco achten, und auf den überfüllten Bootsanlegestellen. Wenn du dich nicht mehr auskennst, triffst du bestimmt einen Venezianer, der dir freundlich zeigen wird, wie du wieder zurückfindest. Wenn du überhaupt wieder zurückfinden willst.

Sichverirren ist der einzige Ort, den anzusteuern sich lohnt.

Du kannst beruhigt überall hingehen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es gibt keine verrufenen Viertel, oder zumindest nicht mehr: nur der ein oder andere unbelehrbare rotgesichtige Betrunkene könnte dir lästig werden. Übrigens, mache dich gleich mit den Bezeichnungen in Venedig vertraut; du solltest sie nicht Viertel nennen, sondern sestiere, Sechstel, denn die Viertel der Altstadt sind nicht vier, sondern sechs: sie bilden je ein Sechstel Venedigs, nicht ein Viertel wie die vier Häusergruppen in jenen Städten, die an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsstraßen entstanden sind, in den vier von einem Straßenkreuz durchschnittenen Erdschollen. Venedigs sestieri heißen Santa Croce, Cannaregio, Dorsoduro, San Polo, San Marco, Castello. Die Hausnummern an den Türstöcken fangen nicht in jeder Gasse bei eins an, sondern werden im ganzen sestiere durchgezählt. Das sestier de Castello gelangt bei der Rekordziffer 6828 an, bei der Fondamenta Dandolo, zu Füßen des Ponte Rosso. Auf der anderen Brückenseite, am Ende der Calle delle Erbe, endet das sestier de Canaregio bei Nummer 6426.

Die Pflastersteine sind hintereinandergereiht, in langen, unterteilten Linien. Sie geben die Richtung der Gassen an, unterstreichen ihren Fluchtpunkt. Bestimmt haben die Stadtplaner sie speziell für Kinder entworfen, die darauf laufen, ohne je auf die Trennlinien zu treten. »Die Linie nicht überschreiten!« sagte Salvador Dalì, als er das Kompositionsprinzip seiner Malerei erläuterte, die so reaktionär in der Form und so verrückt im Gehalt ihrer Vision ist. In Venedig Kind zu sein, bedeutet das vielleicht, sich daran zu gewöhnen, die Linie nicht zu überschreiten, die Umrisse der Formen zu respektieren, um dafür ihren Gehalt auf den Kopf zu stellen? Tun venezianische Füße so, als würden sie den status quo achten, um ihn im Grunde wie Visionäre zu entstellen? Haben wir verzückte Zehen, überspannte Fersen? Sieh nur, was für ein surreales Delirium, was für ein absurdes Traumgebilde wir da auf die Beine gestellt haben, indem wir eine Milliarde gleichförmiger, absolut rechtwinkliger Quader aneinandersetzten! Jeder maségno ist ein Emblem, symbolisiert im Kleinen ganz Venedig, jene ins eigene Profil eingelassene Stadt, unerbittlich von Wasser umrahmt, ohne Möglichkeit, sich auszubreiten, sich selbst zu überwinden, verrückt geworden vor lauter Grübelei und Introspektion. Sieh nur, auf Schritt und Tritt stößt du auf eine Kirche. Eine augenscheinlich bigotte, im theologischen Sinne sogar anarchistische Stadt mit einem Überschuß an Heiligen und Scheinheiligen, Adeptin einer Religion, die explodiert, verstreut, vollkommen aus den Fugen geraten ist. Jeder maségno