Venus Transit - Ann Brondhem - E-Book

Venus Transit E-Book

Ann Brondhem

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Beschreibung

Zum Glück hatte sie das fast alles schon mal gehört, vieles sogar mehrfach, ansonsten hätte sie wahrscheinlich nur Bahnhof verstanden. Aber im Grun¬de redete ich wahrscheinlich auch sowieso eher zu mir selbst und benutzte Sigi quasi als Spiegelbild. Sie war mein Alter Ego, mein älteres und weiseres Ich, geprüft im Leid, keine wirkliche Gesprächspartnerin. Am Ende all dieses Geredes stand für mich dann so eine Art von Entschluss, auch wenn ich das dort am Strand noch nicht so völlig klarhatte, da war es noch eher nur so ein Gefühl. Das Gefühl, dass ich mich innerlich eigentlich schon aus der Beziehung verabschiedet hatte und mir das auch zugestehen konnte. Doch als ich spätabends auf der Terrasse lag, halbnackt, und ins Weltall hinausblickte, erfasste mich dieser Gedanke, plötzlich und in großer Klarheit, erschreckend und befreiend. Ende Gelände! Aufbruch zu neuen Ufern!

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Seitenzahl: 448

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Ann Brondhem

Venus Transit

Erzählungen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Meine kleine Affäre

Träumende Liebe, lachender Tod

Kurz, wirklich sehr kurz

Impressum neobooks

Meine kleine Affäre

I - Der erste Zustand

Ich will Sex! Ich will Abenteuer! Ich will einen Liebhaber!

Das sind drei echt große Wünsche, vor allem, wenn du zwei kleine Kin­der hast und mit deinem Freund zusammen­lebst, der nicht der Vater deiner Kinder ist. Und außerdem gerade arbeitslos bist, langfristig unzufrieden und über­haupt chro­nisch unglücklich.

Versteht mich jemand?

Nina versteht mich. Und zwar einfach deshalb, weil sie meine beste Freundin ist. Außerdem will sie genau das gleiche wie ich. Wir haben uns in den letzten Wochen völlig heißgeredet mit dem Thema. Unsere jeweiligen Voraussetzungen sind zwar völlig unterschiedlich (sie ist seit vier Jahren praktisch durchgehend solo, während ich seit fast drei Jahren mit Henryk zusammen bin), aber egal! Sie versteht mich, und immer, wenn ich mal wieder heftig Weltschmerz habe deswegen, versucht sie, mich zu trösten und aufzumuntern. So wie heute Abend auch.

"Nicht traurig sein, Reh!", sagt Nina und tätschelt mir den Oberschenkel (Sie nennt mich Reh, seit ich ihr erzählt habe, dass das mein Spitzname gewesen ist, als ich ein Teenie war). "Bald kommt genau der richtige Typ für dich, und dann geht's sowas von ab mit euch."

"Meinst du wirklich?"

"Gaaanz bestümmt!", sagt sie, und dabei tupst sie mir mit dem Zeigefinger auf die Nasen­spitze. Wir haben beide schon ein bisschen was geraucht und definitiv viel zu viel getrunken. Nina besonders, aber ich auch, daher bin ich geneigt, ihr zu glauben.

"Das ist gut", sage ich. "Das ist sehr gut. Und jetzt gehe ich erstmal aufs Klo."

Es ist Angelinas Geburtstagsparty, sie wird "7 ½", folglich ist es eine Riesenparty, natürlich.

"Voll cool, so ein Schaltdingsbums", sagt Nina. "Du wirst heimlich 30, und keiner merkt's! Echt sowas von cool!"

Natürlich hat Angelina alle, aber auch wirklich alle Leute aus ihrem Freundeskreis eingeladen, die ganze Bande, auch solche, mit denen sie gar nicht mehr so richtig befreundet ist, insgesamt bestimmt tausend Leute. Angelina kenne ich noch aus dem Studium, wir haben heute nicht mehr groß etwas miteinander zu tun, aber dennoch kenne ich ziemlich viele von den Leuten, die heute Abend hier sind.

Nina dagegen kennt praktisch niemanden. Ich habe sie mitgebracht, sie ist meine "plus Begleitung" von der Einladung (Henryk hat nie Bock auf Partys, und außerdem muss er sowieso arbeiten heute Nacht). Sie ist meine allerliebste "Bestie", dabei kennen wir uns noch gar nicht so lange. Wir haben uns letztes Jahr bei der Einschulung von Hannah und Leo kennengelernt und haben uns sofort befreundet, und seit einem Vierteljahr sind wir praktisch unzertrennlich.

Es ist Angelinas "7 ½ter", also gibt es viele tolle Geschenke (auffallend viele Wellness- und Kosmetik-Gutscheine, wohlgemerkt). Und die unvermeidlichen witzigen Aktionen: selbstverfasste Gedichte, eine kommentierte Diashow von ihrem Bruder ("Angela auf dem Töpfchen", ha ha ha!), Gesangseinlagen. Ihre Arbeitskolleginnen haben den Vogel abgeschossen und einen Stripper gebucht, der erst mit und dann sukzessive ohne Ami-Polizeiuniform zu It's raining men performt. Man wird schließlich nur einmal 30.

"O Gott, das ist ja sowas von peinlich!", flüstert mir Nina ins Ohr, als der Strip-Bulle nur noch einen schwarzen Lederstring anhat und mit seinem schon leicht schwabbeligen "Knackarsch" vor Angelinas Gesicht herumwackelt.

"Das, meine Liebe, sind die Rituale der feierlichen Aufnahme in die Gemeinschaft der frustrierten Ü30er. Da kennst du natürlich noch nix von, das hast du ja alles noch vor dir." Nina wird nämlich erst übernächstes Jahr 30.

"Krass", sagt sie und zieht die Nase kraus. "Ich glaub, ich werd einfach gleich 31. Wie wär das?"

"No way!", sage ich mit einem süffisanten Lächeln. "Ab 30 muss frau langsam anfangen, sich an Beschämungen jeder Art zu gewöhnen. Und dafür gibt es diese althergebrachten Rituale der Demütigung, um sie darauf vorzubereiten. Dem kann niemand entgehen."

Das Geburtstagskind trägt ihr Schicksal mit Fassung. Oder besser gesagt: Sie trägt es wie ein Mann, sie ist schon vor Mitternacht sturzbetrunken. Und wie immer im Suff hat Angelina diese leicht unerträgliche Art, stimmungsmäßig zwischen aggressiver Nervkuh und hysterischer Schmusekatze hin und her zu schwanken, was ich zumindest immer ziemlich unangenehm finde, vor allem die Schmusekatze.

Ich habe Nina heute Abend natürlich auch deshalb mitgebracht, weil solche Partys ja häufig eine Chance sind, mal ein paar neue Männer kennenzulernen, und wir alleinerziehenden Mütter benötigen jede Chance, die wir kriegen können. Und so haben wir den ganzen Abend dar­auf gewartet, dass endlich die "heißen Typen" auftauchen, deren Erscheinen ich Nina vorhergesagt hatte. War aber Fehlanzeige, ehrlicherweise wenig überraschend. Es ist nur der übliche Mob. Nina fand zwar ein paar der Typen "ansatzweise schnuckelig", aber für mich war es natürlich ganz anders. Die meisten Männer hier sind entweder Uralt-Bekannte oder "Anhänge" (Ehemänner, Dauerfreunde, Patchwork-Väter, Frischverliebte), und alle sind in festen Beziehungen, alle sind gesettelte Mitt- bis Enddreißiger plus, mit Halbglatze und Bauchansatz. Es waren also nicht unbedingt die reichen Jagdgründe voller abenteuerlustiger Single-Männer, von denen ich Nina im Vorwege gesprochen hatte. Das hatte ich einfach nicht richtig überlegt.

"Sorry Maus, aber die Typen hier heute Abend kann man sich höchstens schönsaufen", sage ich. "Obwohl, so viel Alkohol gibt's gar nicht auf der Welt, schätz ich."

"Wer weiß, vielleicht ja doch." Sie gießt uns neuen Prosecco ein.

"Wie dem auch sei, solche Partys im Freundeskreis bringen es einfach nicht. Das ist im Prinzip das gleiche, als würdest du deinen eigenen Freund anbaggern."

"So einen wie meinen Ex", sagt Nina. "Öarr, grusel!"

"Ja, genau. Und sowas will ich nun definitiv nicht. Da hätte ich ja auch gleich zuhause bleiben können."

"Na, so'ne Pleite", sagt Nina fröhlich. "Und ich hab mir extra mein Huren-Kleid angezogen." Sie hatte das dunkellila Minikleid an, das ihr so wahnsinnig gut steht.

"Ziemlich kurz", sage ich grinsend und tätschle ihr den Oberschenkel.

"Arschkurz, würd ich sagen." Nina lacht.

"Und diese Strümpfe dazu sind einfach echt der Hammer. Was ist das überhaupt für eine geile Farbe? Ist das Gold?"

"Nö. Semmf."

"Semmf."

"Ja genau. Sempf."

"Sempf!"

"Sempfff!"

"Trotzdem geil!", sage ich. "Ein richtiger Komplementärkontrast."

"Aber sowas von", sagt Nina und guckt mich an mit ihrem Schlafzimmerblick. "So wie du!"

"Ist das eigentlich Strümpfe oder Strumpfhose?", frage ich und lasse meine Hand kurz unter den Saum ihres Kleides flutschen.

"Tja, so'n Pech aber auch!", sagt sie und grinst frech. "Leider Strumpfhose. Enttäuscht?"

"Nö. Nur ein bisschen. Vielleicht."

"Du weißt das wenigstens zu schätzen, so 'ne tolle Farbkombination", sagt Nina. "Jungs wollen immer nur schwarze Strapse."

"Ich finde ja, das hört sich immer so an wie so'n Doppelname: Frau Schwarze-Strapse."

"Ja genau. Frau Pastorin Elisabeth Schwarze-Strapse."

"Und dein Parfum, was ist das?", frage ich und beschnüffele sie aus der Nähe.

"Morisot."

"Echt? Das ist Morisot? Mann, bei dir riecht das so toll, wie Liebesperlen und Lippenstifte. Bei mir riecht das einfach immer nur nach Seife. So wie die meisten Parfums."

Der einzige halbwegs annehmbare Single auf der Party heute Abend ist dann ausgerechnet mein alter Freund Frederik. Er sieht gut aus, und wenn er will, kann er wahnsinnig witzig sein. Nina fand ihn offenbar auch gleich ziemlich nett, jedenfalls hat sie sich recht lange mit ihm unterhalten, und die beiden haben sich offensichtlich gut miteinander amüsiert. Aber Frederik ist nun mal stockschwul, da beißt die Maus keinen Faden ab. "Ich steh auf Schwänze", sagt er immer. Und das stimmt einfach auch, er ist nicht das allerkleinste bisschen bi, oder dass er vielleicht auch nur gelegentlich mal zweigleisig fahren würde, wie das ja viele machen. Wir zwei spinnen ja auch immer so ein bisschen herum, Nina und ich, dass es doch wahrscheinlich das Beste wäre, wenn wir beide uns zusammentun würden, als Liebespaar. Das hatten wir ja auch eigentlich schon praktisch von Anfang an immer so als running gag.

"Geil wär's ja irgendwie schon", meint Nina. "Und die Grundvoraussetzung ist auch gegeben."

"Liebeeee!"

"Ja! Genau! Liebeee!", sagt sie und gibt mir einen fetten Schmatzer mitten auf den Mund. "Obwohl ich natürlich ehrlich gesagt eigentlich auch viel zu sehr auf Schwänze stehe, da geht's mir ganz genauso wie dem Frederik, du."

"Ist bei mir ganz genauso" sage ich.

"Und wir von daher das mit dem heißen Lesbensex wohl noch ein bisschen werden verschieben müssen."

"Ja. Aufs nächste Leben wahrscheinlich."

"Ja, so wird's wahrscheinlich kommen, so traurig wie das ist."

Jetzt ist es schon hyperspät, schon nach 3, die meisten Gäste sind schon nach Hause gegangen, und die Gastgeberin liegt bereits komatös zu Bette, allein. Auch geile 7 ½jährige müssen heute ohne Ficken ins Bett. Früher haben wir Angelina immer die Flaschensammlerin genannt, weil sie auf Partys häufig die betrunkenen Typen abschleppte, die am Ende übriggeblieben waren. Nun, inzwischen musste sie wie wir alle dem Alter Tribut zollen. Aber keine Sorge, es geht ihr gut. In der Küche plündern ein paar Unentwegte die Reste vom Büffet und betreiben umweltverträgliche Alkoholentsorgung.

Nina und ich lümmeln im Wohnzimmer auf Angelinas schwarzem Ledersofa. Nina hat ihr linkes Bein über mein rechtes gelegt, wir trinken und quatschen, und hin und wieder knutschen wir ein bisschen. Nina ist einfach eine super Küsserin. Und inzwischen sind wir so echte Wiederholungstäterinnen, was das Knutschen angeht. Das passiert in der letzten Zeit praktisch jedes Mal, wenn wir zu viel getrunken und/oder ein bisschen gekifft haben, also eigentlich jedes Mal, wenn wir zusammen irgendwo hingehen. Das fing nach Weihnachten an beziehungsweise auf der Silvester-Party in Merles WG, da war unser erster Kuss, unser erster richtiger Kuss. Zum ersten Mal richtig geknutscht, mit Zunge.

Weihnachten war richtig scheiße gewesen letztes Jahr. Henryk und ich hatten eine Krise vom allerfeinsten, die sich durch die ganzen Weihnachtstage zog, einen ziemlich bösartigen Streit, wo ich an mehr als einem Punkt dachte: Also entweder trenne ich mich jetzt sofort von ihm oder ich muss ihn leider töten. Henryk ist normalerweise ein ganz Lieber, Stiller, und meistens ist er ganz charmant mit den Mädchen. Aber manchmal hat er so richtige Durchraster, wo er die Kinder dann plötzlich rüde anherrscht, sehr laut wird und vulgär. Die Kleinen haben dann richtig Angst vor ihm und ich auch. Wahrscheinlich waren das jene Momente, wo ihm so richtig klar wurde, dass er sich um die Bastard-Kinder eines anderen Mannes kümmern musste. Trotzdem konnte und wollte ich ihm das nicht länger durchgehen lassen.

"Ach Scheiß auf heiße Typen!", sagt Nina. "Vielleicht sollten wir doch was miteinander anfangen, wir beide." Sie legt ihre Hand auf meinen Busen, leckt mein Ohr und sagt mit tiefer Stimme: "Na, macht dich das geil, meine Kleine?", während sie gleichzeitig ein Selfie von uns macht. "Oho, wer ist denn diese geile Superschlampe, die es sich hier gerade im Ohr besorgen lässt?", sagt Nina und zeigt mir das Foto. "Ist so'n richtiges Aftersex-Selfie, oder?"

Hammer, ich seh echt aus wie völlig durchgeknutscht! Und auf jeden Fall sturzbetrunken!

"Das schick ich Henryk, damit er weiß, was seine kleine Schlampe von Freundin so treibt, wenn er beim Nachtdienst ist." Das meint sie natürlich nicht ernst (hoffentlich!). Und sie wird auch nichts mit mir anfangen, sie ist zu hundert Prozent hetero.

"Das sind doch alles falsche Versprechungen", sage ich, "Du bist zu 100 Prozent hetero, genauso wie ich."

"Na, aber sowas von", sagt sie und leckt wieder an meinem Ohr. "Hetero. Aber sei dir nicht zu sicher, Sweetie."

"Naja. Man kann halt nie wissen", sage ich und mache ein vielsagendes Gesicht.

Kann man ja wirklich nicht! Nina zum Beispiel weiß echt praktisch fast alles von mir, aber sie weiß nicht, dass ich mich in letzter Zeit schon manchmal gefragt habe, ob ich nicht tatsächlich ein bisschen in sie verknallt bin. Ich finde sie wirklich megaheiß. Einfach so ooh, wow! The body. Und so geht es ja wahrscheinlich den meisten Leuten im Umgang mit ihr. Wenn wir zusammen in der Sauna sind, muss ich immer ein bisschen schmunzeln bei dem Gedanken, dass alle Leute in der Sauna jetzt wahrscheinlich lieber schnell woandershin gucken und nicht zu Nina, so nach dem Motto: Bloß schnell an was andres denken. Pinguine und Eisberge oder so. Und nicht nur die Männer.

Insofern ist es ja vielleicht doch nicht alles bloß Show, wenn wir miteinander knutschen. Trotzdem wird es wohl dabei bleiben, sie ist schließlich meine beste Freundin. Meine allerbeste Freundin. Und wahrscheinlich hätte ich ja auch ohnehin keine Chance bei ihr. Nina ist 100 Prozent hetero. Und ich - bin 200 Prozent hetero. Echt sowas von. Und meine Sexfantasien haben eigentlich auch alle immer etwas mit Schwänzen zu tun.

Angelinas Geburtstagsparty ist zugleich unser Abschiedsabend. Nina fliegt übermorgen mit Leo und ihrer Mama für zwei Wochen nach Gomera. Die Mama hat da ein Haus. Nina hat sowieso ziemlich Glück mit ihrer Mama, denn sie hängt sich immer voll rein, was ihr Enkelkind angeht, und verbringt viel Zeit mit Leo und kümmert sich. Nina ist kreuzfroh deswegen, sie ist ja richtig alleinerziehend, im Unterschied zu mir, der Vater von Leo kümmert sich null (Da habe ich echt mehr Glück, mein Ex-Mann und Kindsvater kümmert sich ziemlich verlässlich um unsere beiden Töchter. Und mein Freund auch). Ninas Mama springt ziemlich oft in die Bresche: Babysitten, Wochenenden, Ferienreisen usw. Meine Mama ist der Totalausfall, was diese Dinge angeht. Henryks Mama ist da schon präsenter. Oder die Mama von Karsten. Von daher beschränkt sich der Kontakt zu meinen Eltern auf Weihnachten und Geburtstage, mehr oder weniger. Und ich käme nicht einmal im Traum auf die Idee, mit Mama in Urlaub zu fahren.

"Ah, ich beneide dich voll!", sage ich. "Ich hätte auch sowas von Bock auf Kanaren. Gerade jetzt, wo's hier wieder so scheiße kalt ist."

"Hähihä, gibt echt Schlimmeres", meint Nina. "Als wir letztes Jahr auf Gomera waren, hatte ich da eine richtige Affäre. Also richtig mit Liebe, nicht nur so seelenlosen Sex wie sonst immer." Nina leckt sich die Lippen. "Eine ziemlich geile Affäre, wenn du's genau wissen willst, aber mit Seele."

Der Couchtisch vor uns diente als Gabentisch, alles war voll mit ausgepackten Geschenken, zerrissenem Geschenkpapier, Glückwunschkarten. Und dazu leere Flaschen, abgestellte und umgeworfene Gläser, Aschenbecher, Konfetti, Chips- und Würmchen-Krümel. In der Mitte thronte der riesige Blumenstrauß, den ihre KollegInnen ihr geschenkt hatten (der Stripper war nur die dekorative Dreingabe).

Neben der Vase lag eine DVD, die Angelina geschenkt gekriegt hatte: "Lovelace" mit Amanda Seyfried in der Titelrolle. Ich hatte den Film im Kino verpasst, wenn er überhaupt je dort gelaufen ist.

"Ich finde ja immer, sie sieht dir ein bisschen ähnlich", sagte ich und hielt Nina die DVD vor die Nase. "Amanda Seyfried."

"Hast du schon mal gesagt", sagte Nina. "Aber find ich nicht. Außerdem ist sie da dunkelhaarig, in dem Film."

"Naja, eigentlich ist sie ja auch blond. Aber ihr habt beide diese großen blauen Augen. Wie so totale Unschuldsengel."

Nina lachte. "Findest du, ich hab solche extremen Kulleraugen wie sie?"

"Ja, schon. Und ihr habt beide diese reizenden Grübchen, wenn ihr lächelt." (Und außerdem schöne volle Lippen. Einen richtigen Kussmund, wie auf barocken Marienbildern. Milchweiße Haut und rosige Wangen, klug geschminkt. Wie Milch und Blut. So wie Schneewittchen, nur nicht in Ebenholz, sondern in blond.)

"Find ich nicht", sagte Nina.

Ich griff nach einem Buch, das auf dem Tisch lag, und blätterte darin.

"Was'n das?", fragte Nina und zündete sich noch eine Zigarette an. Eigentlich sollte ja nur auf dem Balkon geraucht werden, aber weil es so kalt war, hatte Angelina rauchen freigegeben.

"Noch eins von Angelinas Geschenken, schätz ich. Schon so leicht eingesaut mit Prosecco. Äh!"

"Nee, ich mein den Titel."

"Schoßgebete", sagte ich und hielt ihr das Buch hin.

"Ah, Scheiße! Ich fand Feuchtgebiete schon so", sagte sie und steckte sich den Finger in den Hals, als wollte sie kotzen. "Ich mein, das ist doch rundrum nur ekelhaft."

"Aber Nymphomaniac jetzt zum Beispiel fandest du doch ganz gut neulich. Und das war doch auch ziemlich ekelhaft."

"Naja, das ist doch ganz etwas anderes. Das kannst du nicht miteinander vergleichen."

"Ah, ich fand das eigentlich ganz gut, das Buch damals. Den Film fand ich dann so naja, aber ich mein, wie willst du sowas auch verfilmen?"

"Ach komm, Reh, das war doch echt so richtig Schrott! Da kann ich mich doch echt noch eher für diese ganze Mädchen-SM-Abteilung erwärmen, was weiß ich. Sowas wie Devot jetzt oder sowas. Kleine geile Internats-Tussis, die sich den Po versohlen lassen. So Hanni und Nanni für Große. Au, au, ja, schlag mich! Fester, ja, du geile Schlampe! Au, au, au!", quiekte sie und wand sich dabei total geil auf dem Sofa hin und her, so dass ihr Kleid endgültig ganz nach oben rutschte.

"Ich kann deine Unterhose sehen", sagte ich.

"Das gehört so", sagte sie und zog ihr Kleid wieder ein bisschen herunter. "Ich wollte die nur mal kurz vorführen. Die ist nämlich neu. Hübsch, nä?" Sie ließ ihr Höschen noch mal kurz blitzen.

"Ziemlich hübsch", sagte ich.

"Und alles für null Euro", sagte Nina grinsend.

"Du warst wieder Spezial-Shoppen."

"Yep!"

Nina Unschuldsengel klaut wie ein Rabe. Sie besitzt eine ganze Kollektion geklauter Klamotten. Und Bücher. Und Sonnenbrillen. Und Kosmetikartikel. Und was weiß ich noch alles. Als wir das erste Mal zusammen shoppen waren, wusste ich das noch nicht. Ich war natürlich begeistert, als sie mir hinterher all die Sachen zeigte, die sie geklaut hatte. Ich kam mir aber auch ein bisschen dämlich vor, weil ich in der Situation überhaupt nichts davon mitgekriegt hatte.

"Wie machst du das bloß?"

"Betriebsgeheimnis." Sie grinste breit, sie freute sich diebisch über ihren Coup.

"Das will ich auch können, das musst du mir unbedingt zeigen!"

"Nee Maus, lieber nicht, für dich ist das nix." Womit sie wahrscheinlich recht hatte, ich hatte noch nie, wirklich noch nie in meinem Leben etwas geklaut. "Mir wurde das sozusagen in die Wiege gelegt, meine Mama klaut, seit ich denken kann. Ist was Politisches. Mama sagt immer, früher wär Klauen pillepalle gewesen, aber inzwischen ist es echt schwierig geworden. Und es wird auch immer schwieriger, jedenfalls in den meisten Läden. Es sei denn, die Umstände sind günstig. Bei P&P zum Beispiel gab's eine Zeit lang diese süße Verkäuferin, mit der ich mich so'n bisschen angefreundet hatte. Und die half mir praktisch dabei. Sie entfernte sogar die Pieper aus den Sachen, die ich mit zur Anprobe nahm."

"Geil!"

"Und alles, was ich dafür tun musste, war, sie dabei zugucken zu lassen, wie ich mich auszog."

"Krass!"

"Geil, oder?"

"Und das hast du gemacht? Im Ernst?"

"Klar! Ist doch nichts dabei."

"Krass! Ich fass es nicht. Du hast für sie gestrippt, sozusagen!"

"Ja." Nina grinste über alle vier Backen. "Und wieder angezogen."

"Und sie? Warum hat sie das gemacht?"

"Keine Ahnung, ich glaub, sie stand einfach auf mich", sagte Nina und strich mit beiden Händen an ihrem Körper entlang. "Es war so 'ne Art Symbiose, kannst du sagen. Geben und Nehmen." Sie lachte ein bisschen dreckig. "Aber leider arbeitet die nicht mehr da."

Seitdem war ich immer etwas angespannt, wenn wir zusammen shoppen waren, weil ich ja nie wusste, wann sie wieder zuschlägt.

"Wo wir gerade vom Klauen reden", sagte Nina. "Hast du eigentlich mitgekriegt, dass Cordi erwischt worden ist, als sie ein Buch geklaut hat?"

"Cordi? Nee."

"Ja. Die brave Cordi. Und jetzt rate welches!"

"Shades of Grey?", sagte ich.

"Genau. Ganz genau." Nina konnte sich ausschütten vor Lachen. "Aber vielleicht gehört sich beim Klauen erwischen lassen bei Shades of Grey ja auch mit dazu, so, uh, ja, schlag mich, bestraf mich, ich hab's verdient, weil ich so eine kleine, gierige Diebin bin, du geiler Ladendetektiv!" Ninas Kleid rutschte wieder hoch, und sie zog es wieder herunter.

"Das hier kommt jetzt auch bald als Film", sagte ich und schwenkte das Schoßgebete-Buch.

"Ja, klar. Und danach gibt's das wahrscheinlich als Musical."

"Das kommt dann als nächstes." Wir mussten beide lachen.

Nina schnappte mir das Buch aus der Hand und blätterte kurz darin. "So ein Schrott! Ich bin völlig frei," las sie, "mir ist nichts peinlich, die Geilheit auf zwei Beinen."

"Das klingt doch gut! Also ich kann da voll mitgehen."

Nina meinte dann OK, Geilheit auf zwei Beinen, das hätte was. "Aber ein guter Satz macht noch kein gutes Buch, find ich." Womit sie natürlich auch recht hatte.

"Jetzt gucken wir doch mal, wer sowas schenkt", sagte Nina und zog die Postkarte heraus, die in dem Buch steckte. "Ich wette: Mach's dir nett damit, Kind! Alles Liebe Deine Mutti."

Es war eine von diesen schwarz-weiß Kunstpostkarten, das Foto vom Oberkörper einer nackten Frau. Helmut Newton oder so.

"Hammer", sagte Nina, "so richtige Mega-Möpse! So, jetzt wollen wir doch mal sehen: Liebste Angelina, ganz ganz herzlichen Glückwunsch zum 30.", las sie vor. "Bla bla bla, nimm's nicht so schwer. Es gibt auch ein Leben danach. Alles Liebe, dein Tobias. Wer war jetzt noch mal gleich Tobias? Ist das ihr Beischläfer?" Nina machte Anführungsstriche mit den Zeigefingern. "Der Typ, von dem sie sich bespringen lässt?" Nochmal Anführungszeichen (Ich hatte ihr im Vorwege ein bisschen was über Angelina und ihr kompliziertes Beziehungs- und Sex-Leben erzählt. Und diese Ausdrücke waren jetzt echt so O-Ton Angelina).

"Keine Ahnung", sagte ich. "Ihr momentaner Lover heißt eigentlich Robert, soweit ich weiß, aber der war heute Abend gar nicht da, komischerweise. Ah, ich weiß, ich weiß! Tobias war dieser Typ, dieser ältere."

"Keine Ahnung."

"Groß, dunkelhaarig. Doch! Der, der nur ganz kurz da war vorhin, da wo auch der Stripper da war."

"Jesus, erinnere mich nicht daran!"

"Das ist, glaub ich, auch einer aus ihrer Firma", sagte ich. "Schon n büschen was älter, aber..."

"Der will ihr bestimmt an die Wäsche!"

"Meinst du?"

"Na klar, ich mein, warum schenkt der ihr sonst ein Buch, in dem es darum geht, dass eine junge Frau Sex mit einem alten Knacker hat? Kotz! Erst wird man 30 und dann muss man auch noch mit Opa ins Bett." Nina zog die Nase kraus. "Gehört das auch mit zum Dreißigsein, dass man es mit alten Knackern treiben muss?"

"Klar, das ist sozusagen obligatorisch. Liegt in der Natur der Sache, kannste sagen.".

"Öarr!"

"Ich find das nicht so schlimm, ehrlich gesagt. Schließlich, ich war verheiratet mit einem alten Knacker, wenn du so willst."

"Stimmt, das hatt ich vergessen. Du bist ja auch ein bisschen nekromantisch veranlagt."

Zu behaupten, dass Karsten ein alter Knacker war, als wir uns kennenlernten, ist wahrscheinlich übertrieben. Doch der Alters- und Erfahrungsunterschied zwischen uns war erheblich. Ich war gerade mal 19, und er war schon 36, siebzehn Jahre älter. Damals fand ich das wild. Es schmeichelte meiner Eitelkeit, dass dieser gutaussehende und erfahrene Mann so dermaßen auf mich abfuhr. Plötzlich war ich erwachsen oder fühlte mich so.

Ich bin schon nach zwei Monaten bei ihm eingezogen, in seine Junggesellenwohnung. Die ersten fünf Jahre unserer Beziehung waren nur Party. Zu der Zeit studierte ich noch, mehr oder weniger, hatte also auch mehr oder weniger keine festgefügte Tagesstruktur. Arbeiten musste ich nicht, ich bekam Geld von meinen Eltern, und Karsten war/ist ziemlich wohlhabend und großzügig. Sein Job erlaubte es ihm, freizunehmen, wann er wollte. Und er war entschlossen, mir alles zu bieten, was ich wollte. Wir fuhren oder flogen durch die Weltgeschichte. Wir machten Ferien auf den Malediven und in Canada. Flogen für ein verlängertes Wochenende nach New York oder nach Dubai.

Ich war so crazy damals. Als ich Karsten kennenlernte, dachte ich, ich hätte das große Los gezogen. Ich war blutjung und völlig unerfahren. Ich war ja praktisch noch Jungfrau, als ich mit ihm zusammenkam. Karsten war erst der zweite Mann überhaupt, mit dem ich richtig Sex hatte. Mit ihm habe ich sozusagen meine Sexualität entdeckt oder mich selbst als sexuelles Wesen. Karsten hat mich damals regelrecht dazu abgerichtet, im Bett die "Bestimmerin" zu sein. Er steht wahnsinnig auf dominante Frauen - zumindest beim Sex, sonst eher nicht so. Seinem Beuteschema entsprechen eher die "geilen Nymphchen" als erwachsene Frauen. Das habe ich allerdings erst viel später verstanden.

Dann wurde ich zum ersten Mal schwanger, und wir haben geheiratet. Das alles war schon nicht mehr sein Projekt. Ich habe es mehr oder weniger durchgesetzt, dass er mich heiratet. Wir zogen in die 5-Zimmer-Altbauwohnung, in der ich heute noch wohne.

Als Hannah dann zur Welt kam, war es für mich der glücklichste Tag meines Lebens. Sie war gewiss kein Wunschkind, aber trotzdem war ich selig vor Freude, stolz und zufrieden. Wenn man Karsten fragen würde, war die Schwangerschaft ein "Unfall". Ganz bestimmt war sie der Anfang vom Ende unserer Beziehung. Es war eine einschneidende Veränderung, weil im Prinzip damals unser ganzes bisheriges Leben implodiert ist. Ich konnte mich gut damit arrangieren: Ich legte mein Studium auf Eis, mehr oder weniger, und war seitdem nur noch Hausfrau und Mutter. Aber Karsten konnte oder wollte sich nicht damit abfinden. Er hatte keinen Bock, der Family Guy zu werden. Er hatte ein anderes Bild von sich selbst.

Es hatte sich schon länger abgezeichnet, dass wir uns trennen würden, spätestens seit der ersten Schwangerschaft. Dann wurde ich zum zweiten Mal schwanger, und was dann folgte, war nur noch eine um zwei weitere Jahre verlängerte Trennungsphase. Karsten wollte kein zweites Kind, Esther war sozusagen der Trennungsgrund. Anderthalb Jahre nach ihrer Geburt ist er dann ausgezogen.

Die Trennung von Karsten war im Prinzip OK. Ich behielt die Wohnung, er zahlte die Miete, den Unterhalt für die Kinder und auch für mich. Es fehlte mir an nichts, außer einem richtigen Leben. Es war gut, dass ich die Wohnung behalten durfte (alle, die mich zum ersten Mal besuchen, sagen: wow, supertoll, deine Wohnung!). Aber vor allem am Anfang hatte ich nachts oft auch Angst, so ganz allein in dieser riesigen Wohnung.

Während ich noch überlegte, ob wir jetzt getrennt waren oder lediglich nicht mehr zusammen wohnten, hatte Karsten sich bereits eine Neue angelacht. Emma, 19 Jahre, Kunststudentin. Und danach wieder... Und wieder... Ich brauchte ein bisschen, ehe ich es begriff, dabei war es eigentlich nicht so schwer, das dahinterstehende Muster zu erkennen. Es ist wirklich immer der gleiche Typ. Schema F: blutjung, dunkelblond, kleine feste Brüste, schmale Hüften, flacher Hintern. Im Moment ist es Elaine - Elaine Schneiderhans aus Münster, mittlerweile schon 20. Meistens dauert es nur ein paar Monate, ehe Karsten sich wieder eine neue anlacht. So gesehen kann ich mir schmeicheln, dass er mit mir wenigstens sieben Jahre zusammen war, ehe er mich ausgetauscht hatte.

Nach der Trennung stand ich psychosozial vor dem Nichts. Ich hatte das Gefühl, ich müsste erstmal mein Leben rekonstruieren. Auch mein Sexleben. Oder vielleicht überhaupt erst einmal konstruieren. Es war ein schwieriger Weg zurück ins Leben - nee, in mein neues Leben, ich war ja eine blutige Anfängerin, was das betraf. Irgendwie war alles ein Problem. Ich versuchte, mein Studium wieder aufzunehmen und womöglich noch einen Abschluss hinzukriegen, was sich als komplizierter herausstellte, als ich gedacht hatte (Und diese Kuh ist nach wie vor noch nicht vom Eis).

Auch Männer kennenzulernen war ein Problem. Ich hatte damit ja keinerlei Erfahrung. Bis dato war ich immer die Freundin/Frau des coolen Karsten Klein gewesen. Und davor war ich Nadine Rehberg, ein unglücklicher/wohlbehüteter Teenager aus Duvenstedt. Zudem waren die Gelegenheiten, jemand kennenzulernen, nicht so reich gesät, wie ich mir das vielleicht vorgestellt oder gewünscht hätte, wenigstens nicht dort, wo sich mein Leben im Wesentlichen abspielte. Die Tatsache, dass ich alleinerziehende Mutter mit zwei sehr kleinen Kindern war, steigerte mein Sexualprestige auch nicht eben ins Unermessliche. In den ersten Monaten nach Karstens Auszug lief so gut wie gar nichts. Wahrscheinlich hatte ich da insgeheim auch immer noch gedacht/gehofft, dass er wiederkommt. Danach hatte ich dann ein paar Affären: alle mehr oder weniger kurz, mehr oder weniger schön, mehr oder weniger befriedigend. Ich hatte jedoch bei keinem dieser Männer das Gefühl, dass er nun derjenige welcher sein könnte - der Mann, mit dem ich eine feste Beziehung eingehen, geschweige denn mein Leben verbringen wollte. Und ich hatte ja schon auch das Gefühl, ich müsste jemand finden, mit dem ich zusammenleben konnte und wollte - schon allein der Kinder wegen.

Im Nachhinein kommt es mir so vor, als wäre ich damals durch mein Leben gestolpert - bis ich dann mit Henryk zusammentraf, ziemlich genau ein Jahr nach Karstens Auszug. Ich war kurz zuvor 29 geworden und hatte mir an meinem Geburtstag fest vorgenommen, dass ich auf jeden Fall wieder in festen Händen sein wollte, bevor ich dreißig werde. Und dann, bombarda maxima! - habe ich auf einer Halloween-Party Henryk kennengelernt. Ich war als Harry Potter verkleidet, und er auch, das dachte ich zumindest. Tatsächlich war er gar nicht verkleidet, sondern einfach nur Brillenträger und "mitgebracht" von seinem Freund Jörg, einem Arbeitskollegen unserer Gastgeberin. Er hat sich quasi sofort in mich verliebt. Und ich mich auch. Rennervate! Und ein halbes Jahr später ist er dann bei mir eingezogen (Ich bin nach wie vor mit Karsten verheiratet, und an unserem finanziellen Arrangement hat sich nichts geändert, obwohl ich jetzt mit einem anderen Mann zusammenlebe. Er ist da sehr kulant, kann man nicht anders sagen).

Seit gut drei Jahren sind wir jetzt ein Paar, ganz offiziell: Nadi und Henryk. Der Anfang war toll, die Mitte war geht so, und jetzt - ist es einfach nur noch, eher ein Zustand als eine lebendige Beziehung, zumindest aus meiner Sicht, mag sein, dass Henryk das anders sieht. Obendrein ist es ein Zustand, der mir zunehmend auf die Nerven geht. Es ist nicht so, als würde ich mich einfach langweilen oder wäre seiner überdrüssig. Es ist mehr als nur das: Ich habe das Gefühl, mir würde sämtliche Lebensfreude und Lebensenergie entzogen, so als wäre ich die Gefangene von Askaban. Und ich habe richtiggehende Ausbruchsfantasien entwickelt in den letzten Monaten.

Auch Sex ist einfach nur noch - wenn er denn überhaupt stattfindet. Seit einigen Wochen gehe ich ihm aus dem Weg, aber bis dahin haben wir "voll im Durchschnitt" gefickt, jedenfalls nach dem zu urteilen, was immer in Frauenzeitschriften zu lesen steht. Trotzdem hatte ich in letzter Zeit, was weiß ich, seit einem Jahr, manchmal das Gefühl, sexuell auszutrocknen. Das ist echt Wüste Gobi bei uns. OK, Sex war noch nie so besonders toll bei Henryk und mir, aber ich mochte unser Zusammenleben, sehr sogar, und der Sex war ja - irgendwie OK. Definitiv nicht so wie mit Karsten, wo der Sex echt super war, aber dafür war der ganze Rest zunehmend scheiße, wenigstens seit die Kinder da waren. Und mit Henryk war es genau umgekehrt, also zumindest am Anfang.

"Wir haben uns einfach nichts mehr zu sagen", habe ich neulich zu Nina gesagt. Wir hatten gerade All is lost im Kino gesehen und hatten anschließend in der Kneipe darüber diskutiert, was man so erwartet vom Leben und wofür es sich wirklich lohnt zu kämpfen. Und auch wenn es vielleicht klingt wie ein derbes Klischee, so beschreibt dieser Filmtitel doch ziemlich exakt, wie ich den Zustand meiner Beziehung empfinde.

"Ich habe ehrlich versucht, daran etwas zu verändern. Aber es hat nicht funktioniert. Außerdem habe ich das Gefühl, ich stelle immer viel zu hohe Ansprüche an mich selbst. Und dazu habe ich langsam irgendwie auch keine Lust mehr. Kannst du das verstehen?"

"Ja." Nina lächelte mich an, die Kerze auf dem Tisch zwischen uns warf einen fast magischen Schein auf ihr schönes Gesicht. "Ziemlich gut sogar."

Seit dem Jahreswechsel, spätestens jedoch seit All is lost habe ich das Gefühl, dass ich wieder auf der Suche bin. Aber Anfang/Mitte 30 ist im Leben einer Frau ganz generell ein beschissenes Alter, um Männer kennenzulernen. Und erst recht jemand, der an einer festen Beziehung interessiert ist, mit zwei Kindern als Dreingabe. Von daher meine drei großen Wünsche: Sex, Abenteuer und einen Liebhaber.

Nina ist meine compañera beim Kampf um das Glück. Wir kennen uns eigentlich noch gar nicht so lange, aber mit uns war es Liebe auf den ersten Blick. Als wir uns das erste Mal sahen, war ich sofort vollkommen geflasht. Ich sah ihr in die Augen, und alles, was ich sagen konnte, war: "Wow! Sind die echt?" - einfach, weil sie so wunderschöne Augen hat. Aber an Nina ist alles echt. Nina ist frisch. Sie hat diese superglatte Haut, frische leicht gerötete Wangen, wie es oft bei ganz jungen Frauen ist.

Sie selbst findet sich zu pummelig und ärgert sich darüber, dass sie es nicht schafft abzunehmen. Aber darauf sind wir ja nun einmal alle trainiert, uns selber immer so hyperkritisch unter die Lupe zu nehmen und zu verurteilen. Und ja, fuck, mag ja sein, dass Nina vielleicht keine ideale Bikini-Figur hat, aber dafür hat sie die ideale Ohne-Bikini-Figur. Ich weiß, wovon ich rede, ich war schon diverse Male mit ihr in der Sauna. Ich glaube, Nina ist die einzige Frau, der ich jemals Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht habe.

"Ich finde ja, du hast einen megatollen Körper: süß und saftig, fest und prall, üppig und..."

"Fett."

"... straff. Ah, Quatsch mit Soße. Du hast einfach diesen super Glow, echt."

"Schönen Dank für die Blumen", sagte Nina. "Sowas kann glaube ich echt nur eine Frau sagen. Männer sehen sowas diametral anders. Aber wahrscheinlich sind Mann und Frau eh nicht dazu bestimmt, nach der Schwangerschaft zusammenzubleiben."

"Kann sein."

"Okay, zu Beginn der Schwangerschaft tun sie erst noch so, als fänden sie das total schön und Wunder wie sexy, und betatschen andauernd deinen Bauch, als wäre ein Fußball darunter versteckt. Aber sobald du dann erstmal diesen Riesenbauch hast... Weißt du, wie Olli mich damals genannt hat, während der Schwangerschaft?"

"Nee."

"Frau Fettschenkel."

"Frau Fettschenkel?"

"Ja."

"Krass!"

"Und weißt du, kein Mann hat Bock, Herr Fettschenkel zu sein."

Wir mochten uns auf Anhieb. Zudem waren wir die Alleinerziehenden-Fraktion unter all den tutigen Hipster-Muttis. Wir haben uns superschnell ziemlich angefreundet. Wir gingen immer zusammen auf den Spielplatz und danach in eins der Cafés in der Nähe. Irgendwann fingen wir dann an, uns auch so zu treffen, ohne die Kinder. Inzwischen ist sie meine beste Freundin, meine allerbeste Freundin. Und seitdem sind wir dauernd zusammen.

Nina ist eigentlich Graphikdesignerin, aber sie arbeitet nicht in ihrem Beruf. Sie jobbt zweimal die Woche in dem Laden ihrer Freundin Frida im Schanzenviertel, wenn Leo nach der Schule bei Oma ist. Sie müsste nicht arbeiten, ihre Familie ist ziemlich wohlhabend, und sie hat eigentlich immer genug Geld. Und vieles, was sie so braucht, Klamotten, Bücher, Spielzeug, teure Lebensmittel usw. klaut sie ja sowieso.

"Wie spät isses denn eigentlich?"

"Schon fittel vor fümf!"

"O Scheiße, schon fittel vor fümf", sagte Nina. Sie setzte sich auf und reckte die Arme nach oben. "Bestümmt sind die ganzen heißen Typen jetzt schon nach Hause gegangen, Bubu machen."

"Ja, bestimmt", erwiderte ich. "Aber was heißt schon heiße Typen. Im Prinzip waren das alles Männer wie Henryk."

"Ach, mach dir nichts draus", sagte Nina. "Ist doch eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis der richtige Typ auftaucht. Und dann - tada-tadáa! Ficken bis der Arzt kommt!"

"Ein Leben in Schönheit und Ausschweifung!"

"Genau! Und wenn ich aus den Ferien wieder zurück bin, dann gehen wir mal richtig aus. Ich war neulich mit Frida auf dem Kiez, und wir sind dann auch im Bright Star gewesen. Und ich kann dir sagen, uijuijuijuijui! Da träumst du von!"

Wir beschlossen, abzubrechen und heimzufahren. Wir waren mit Ninas Auto da. Sie war zwar total blau, wollte uns aber trotzdem noch nach Hause fahren. Ich lehnte energisch ab. Wir einigten uns darauf, dass ich viel weniger betrunken sei als sie.

"Too drunk to fuck maybe", meinte ich seufzend. "Aber Autofahren geht gerade noch."

"Tja, too fucked to drink wäre irgendwie besser", meinte Nina grinsend.

Sie baute noch schnell einen Joint für die Heimfahrt. Und dann zogen wir uns an. Nina setzte ihre leuchtendblaue Wollmütze auf und zog sich die Kapuze ihres Anoraks tief ins Gesicht. Sie fischte mit der Hand ihre Haare aus ihrer Kapuze und zog sie über die linke Schulter nach vorn. Sie sah aus wie eine Märchenschönheit, wie Schneewittchen oder Rotkäppchen. Nur eben in Schwarz.

"Ich wär dann so weit. Vamos!"

Auf der Fahrt rauchte Nina den Joint und sang laut und schräge ihren Song für eine zukünftige Musical-Version von Schoßgebete.

"Ich bin völlig frei, mir ist nichts peinlich. Ich bin die-ie-ie Ga-heilheit - auf zwei Rädern."

"Wieso auf zwei Rädern?" Ich nahm einen Zug von dem Joint.

"Keine Ahnung. Absolut keine Ahnung."

Wir gackerten ziemlich herum, während sie ihren Song immer wieder sang. Und grölten ihn dann auch noch mehrfach im Duett.

Ich parkte den Wagen vis-à-vis von Ninas Haus.

"Besser geht's net", sagte Nina.

"Danke."

"Ich hab zu danken. Vielen Dank für den schönen Abend, Reh. Und vielen Dank auch fürs nach-Hause-Bringen."

"Gleichfalls. Und Entschuldigung nochmal für den verkackten Abend. Das waren mehr Einblicke in das Leben der Ü30er als jungen Menschen guttun kann."

"Ach, ist nicht so wild", sagte Nina. "Kerlemäßig war der heutige Abend zwar ein absoluter Griff ins Klo. Aber s'war trotzdem schön mit dir!" Sie nahm meine rechte Hand und küsste sie. "Und was soll's? Wahre Liebe gibt's eh nur unter Frauen!" Sie drückte den Joint im Aschenbecher aus. "So, und jetzt geht Muddi nach Hause!"

Wir stiegen aus, ich schloss den Wagen ab und gab ihr den Schlüssel. Wir nahmen uns in die Arme und küssten uns auf den Mund. Hier draußen in der Kälte hatte unser Kuss plötzlich eine viel größere Ernsthaftigkeit als vorhin - als wäre dies eher das richtige Leben als das Rumgeknutsche auf Partys.

"So, tschüs, Süße. Denk mal an mich und schreib mir!", sagte ich und puschelte den Riesenbommel auf ihrer Mütze. "Jeden Tag, hörst du!" Wir küssten uns zum Abschied noch einmal schmatz auf den Mund. Ich kriegte ein bisschen feuchte Augen, weil jetzt der Abschied kam.

"Alles tutti? Nicht weinen! Bitte!"

"Ja, klar. Alles tutti."

"Ich werd dich vermissen."

"Ich werde dich auch vermissen."

"Wir telefonieren", sagte sie und winkte mir mit den Fingern zu. Dann ging sie leicht schwankend über die Straße, ohne nach links und rechts zu gucken.

"Rotgänger, Totgänger!", rief ich ihr zu.

"Ich bin total besoffen, ich hab 'n Schutzengel. Außerdem schlafen die Todesengel um diese Zeit sowieso alle schon."

Sie winkte nochmal kurz von der Haustür aus. Und weg war sie.

Ach Gott, Nina-Süße, ich vermisse dich jetzt schon.

Als ich nach Hause komme, habe ich eine Message von ihr: "Bist du gut nach hause gekmen. Schlaf schon mein kleines susses supergeiles schmusekatzchen. Traum was schomes"

Ich schreibe ihr zurück: "Bin ich. Mach ich. Du auch, liebes! Schönen urlaub!"

II - Genau der richtige Typ für mich?

Nina war weg, und ich hatte dieses Gefühl: Frühjahrsferien, nerv! Wieder etwas, was dein Leben beeinträchtigt. Alle sind in den Ferien und du musst hier alleine klarkommen. Aber dann wurde es trotzdem sehr sehr geil. Ich habe nämlich einen meiner Ex-Lover wiedergetroffen, Frederik Jacobi. Als ich am Mittwoch Hannah vom Ballett abholte, stand er plötzlich hinter mir.

"Hi Nadine! Kennst du mich noch?"

Ich drehte mich um. Klar kannte ich ihn noch. Er hatte ein bisschen zugenommen, wir waren beide ein bisschen älter geworden, aber er war's.

"Hi, Frederik! So ein Zufall."

"Nee, nicht wirklich", sagte er lächelnd. "Ich wohn doch direkt gegenüber. Ich hab euch in den letzten Wochen schon ein paarmal von oben gesehen, als ihr aus dem Tanzstudio gekommen seid. Von daher - kein Zufall, sondern volle Absicht."

"Hier war heute Hexenball", sagte ich zur Erklärung bezüglich des Aufzugs meiner beiden Töchter. Hannah hatte ein richtiges Hexenkostüm mit einem rosa Tüllrock, komplett mit Hexenbesen. Aber sie war eine hübsche Hexe (Ich fand es schon immer unlogisch, dass Hexen als hässliche alte Weiber dargestellt werden, so nach dem Motto Hexe Wackelzahn. Ich meine, wenn ich hexen könnte, wäre das ja nun wirklich das allererste, was ich machen würde). Esther war auch eine kleine Hexe, obwohl sie gar nicht in der Tanzschule war, und verhexte uns alle fortwährend mit ihrem Zauberstab.

Die beiden staunten Frederik an, mit offenem Mund, diesen großen fremden Mann - der sich dann plötzlich auch noch hinhockte und ganz ernsthaft mit ihnen sprach.

"War das schön, der Hexenball?", fragte er Hannah.

"Das war toll!"

"Ja, das war toll!", rief Esther, obwohl sie gar nicht mit dabei war, und beklopfte Frederik mit ihrem Zauberstab.

Dann wandte er sich mir zu (mein Mund stand nicht offen, das hoffe ich zumindest).

"Ich hab Freitag Geburtstag und mache eine kleine Party", sagte er. "Wenn du Lust hast? Ich fänd das echt toll, wenn du kämest."

"Jetzt übermorgen?"

Er nickte: "Ja. Ist ein bisschen kurzfristig, aber ich würde mich sehr freuen."

"Ja, nee, danke. Aber ich glaub nicht", sagte ich und wies mit einem seitlichen Kopfnicken Richtung Kinder. "Außerdem kenn ich da ja niemand."

"Macht doch nichts!", sagte er lachend.

Dass ich niemand kannte, war nicht wirklich ein Argument, ich weiß, aber ich bin immer ziemlich schüchtern und außerdem alles andere als spontan. Und Frederik insistierte auch nicht, zum Glück. Ich hätte mich damit einfach nicht wohlgefühlt.

Wir tauschten schnell noch Telefonnummern, und dann verfrachtete ich meine beiden mittlerweile schon so leicht quengeligen Junior-Hexen ins Auto. Ich fuhr los und sah mich noch einmal per Rückspiegel nach Frederik um. Er blickte uns nach. Und winkte.

"Yeah!" rief ich aus und trommelte aufs Lenkrad.

"Was ist jäha, Mamma?", fragte Hannah.

"Yeah ist, dass ihr gleich noch in die Wanne geht, wenn wir zuhause sind."

"Ich mag nicht jäha!", sagte Esther. Sie kann manchmal sehr dickköpfig sein.

Tatsächlich war Yeah natürlich die Kurzform von läuft bei mir. Eben noch ohne Hoffen gewünscht, nach dem Motto woher nehmen und nicht stehlen, und dann warf mir der liebe Zufall einen potenziellen Liebhaber in den Weg.

Frederik war nämlich vor dreieinhalb Jahren schon einmal meine Affäre. Das Ganze hatte nur sechs Wochen gedauert, kurz und schmerzlos (mehr oder weniger). Eigentlich war es sogar ganz schön, unser kleines Techtel, aber ich war damals so unentschlossen, was ich eigentlich wollte. Nach Karstens Auszug hatte ich noch keine Affäre gehabt, gar keinen Sex, bis auf diesen völlig missratenen One-Afternoon-Stand mit dem Typen, den ich auf der Silvesterparty bei Sylvie kennengelernt hatte. So gesehen war Frederik dann mein erster. Mein erster richtiger Mann, mit dem ich auf Augenhöhe etwas angefangen habe.

Es war nur eine kurze heftige Sache, nur ein paar Wochen voller gutem Sex, aber immer ein bisschen verstohlen. Die Mädchen waren damals noch so klein, und ich wollte nicht, dass sie etwas davon mitbekamen. Deshalb ließ ich ihn auch nie bei mir übernachten. Er kam immer erst spätabends heimlich zu mir, wenn die Mädchen schon schliefen, und wir hatten praktisch lautlosen Sex, und danach schmiss ich ihn dann immer wieder raus. Ich kann verstehen, dass das einen Mann nicht gerade antörnt, würde mich auch nicht antörnen. Scharf ist was anderes. Aber irgendwie war ich damals noch nicht so weit, ich war noch nicht bereit für eine neue Beziehung, dazu war alles noch viel zu frisch. Zudem hatte er ja damals auch parallel noch eine Fernbeziehung mit dieser Frau aus Regensburg.

Aber es lag weder an meiner Unentschlossenheit noch an "Resi aus Regensburg", dass unsere Affäre nach sechs Wochen mehr oder weniger sang- und klanglos zu Ende ging. Völlig unerwartet, zumindest von meiner Seite aus, denn eigentlich schien alles gerade auf bestem Wege mit uns. Unser im Rückblick letztes Mal Sex war so supertoll gewesen. Ich hatte ihn zuhause besucht und war von daher vollkommen ungehemmt. Die Mädchen waren an dem Nachmittag bei Karstens Mama. Nach diesem ganz unglaublichen Erlebnis brachte er mich noch zu Fuß nach Hause. Wir waren uns so nahe, wir hielten sogar Händchen unterwegs. Wir setzten uns auf die Bank, auf der ich immer sitze, wenn wir auf dem Spielplatz sind. Wir knutschten und redeten und knutschten noch mehr. Ich saß auf seinem Schoß und habe vom Arschficken gelabert: dass ich es gern einmal mit ihm machen würde und Wunder wie gut ich darin wäre (Ich bin manchmal so eine fürchterliche Angeberin). Er hatte gesagt, er fände es toll. Und ich so: "Du wirst es erleben." Es war wirklich ein ganz ganz inniger Moment, wir konnten uns kaum trennen.

Dann kamen die Sommerferien - und danach war alles vorbei. Ich fuhr für drei Wochen mit Billa und Susa in das Haus im Wendland, "Mütterferien" mit sechs Kindern und Billas beiden Hunden Frida und Karlo. Als ich wieder zurück war, war Frederik für vier Wochen weg, und ich hatte diesen kurzen Karsten-Rückfall, nachdem wir uns bei der Hochzeit seiner kleinen Schwester Trixi wiedergetroffen hatten, wo unsere Große Blumenmädchen war. Und als Frederik dann zurück war aus den Ferien, hatte sich die Welt weitergedreht. Wir haben noch ein paarmal telefoniert und uns auch noch einmal getroffen. Eine Fortsetzung unserer kleinen Affäre gab es indes nicht. Irgendwie konnten wir nicht mehr an das vorherige anknüpfen. Nach unserem letzten Treffen hörten auch die Telefonate auf. Wir sind uns nie wieder begegnet, auch nicht zufällig. Bis zu diesem Tag.

Ich habe damals nicht groß über das Wie und Warum nachgedacht. Abhaken und weitermachen. Ich hatte zwei kleine Kinder, ich hatte keine Zeit für müßige Fragen. Ich hatte danach dann noch ein paar andere Männerbekanntschaften, One-Night-Stands hauptsächlich. Ich habe ziemlich viel rumgefickt damals, um ehrlich zu sein. Und im Frühjahr 2011 bin ich dann mit Henryk zusammengezogen.

Mama liebt Henryk, und ich weiß nicht so genau, ob das jetzt für oder gegen ihn spricht. "Er ist ein braver Mann", hatte sie damals gesagt, nachdem ich Henryk meinen Eltern vorgestellt hatte. Ich fand das oberschräge, als Formulierung, aber man muss einfach sehen, dass sie, zumindest auf lange Sicht, voll recht hatte damit. Nach dem ganzen Glamour, der meine Beziehung mit Karsten ausmachte, waren meine Eltern wahrscheinlich einfach froh, dass mein neuer Lebensgefährte von einem anderen Schlag war als ihr Hallodri von Schwiegersohn, ganz unspektakulär eben. Doch vor allem sagte es natürlich etwas darüber aus, wie Mama mich sah/sieht. Aber wenn man so relativ jung Mama wird wie ich, dann auch noch getrennt ist und mit zwei kleinen Kindern am Hals, dann muss man damit leben, dass die eigene Mama einen als "Sorgenkind" betrachtet.

Aber sie hatte damit eben einfach auch recht. Henryk war - unspektakulär. Und vielleicht ist es das Wort zur Beziehung mit Henryk überhaupt: unspektakulär. Ich will ihn damit gar nicht abwerten, vielleicht habe ich ihn mir ja auch genau deswegen ausgesucht. Henryk ist lieb, Henryk ist nett, er sieht vorzeigbar aus. Er ist ein gutverdienender Ingenieur mit Doktor-Titel, er packt im Haushalt mit an und spielt aktiv seine Rolle als sozialer Papa meiner Kinder. Alles das trifft zu. Aber wir sind völlig unterschiedlich getaktet. Und das zeigt sich nirgends so klar und deutlich wie beim Sex. Er kommt nicht damit klar, dass ich beim Sex den aktiven Part spiele. "Du fickst wie eine Hure", hat er einmal zu mir gesagt, als wir bereits ein paar Monate zusammen waren, und das war auf sicher nicht als Kompliment gemeint (Obwohl ich mich frage, woher er das eigentlich wissen will, wo er doch Stein und Bein schwört, dass er noch nie bei einer Prostituierten gewesen ist). Das ist natürlich Karstens Schuld, er hat mich komplett versaut, zumindest für Sex mit einem Mann wie Henryk. Aber wie dem auch immer sei, irgendwie hat dieser Satz unserem Sexleben einen ziemlichen Knacks verpasst, weil ich seitdem echt nicht mehr weiß, was ich im Bett überhaupt noch machen darf, ohne seiner Verachtung anheimzufallen. Das Vertrauen in ihn, in uns, in unsere Sexualität war mit einem Schlag weg. Und ab da war Sex irgendwie nur noch scheiße. "Du fickst wie eine Hure." Das war so verletzend. Und außerdem stimmt es nicht.

Nach unserer "nicht so ganz zufälligen" Begegnung nach dem Hexenball war ich den ganzen Tag noch ziemlich aufgekratzt. Irgendwie angepeppt und freudig erregt. Als ich zuhause war, hätte ich ihn am liebsten gleich sofort angerufen, um noch einmal ungestört mit ihm reden zu können. Ich hatte das Telefon sogar schon ein paarmal in der Hand, drauf und dran ihn anzurufen, aber dann passte es irgendwie immer gerade nicht.

Ich rief ihn dann am Freitagvormittag an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren und womöglich ein bisschen zu reden. Und um mich mit ihm zu verabreden. Ich platzte mit meinem Anruf mitten in seine Vorbereitungen für die Party. War aber nicht schlimm, meinte er jedenfalls.

"Aber ich will dich auch nicht stören", sagte ich, "du hast ja bestimmt noch jede Menge zu tun wegen heute Abend."

"Naja, ich habe ja Hilfe, meine Freundin Luna-Lisa. Zusammen kriegen wir das gewuppt." Er lachte. "Auch wenn ich hier jetzt gerade mit Küchenmessern bedroht werde, weil ich schon wieder telefoniere." Im Hintergrund hörte ich eine Frauenstimme und danach Gelächter.

"Na, ich will dich auch gar nicht länger stören", sagte ich.

"Du störst überhaupt nicht, im Gegenteil. Solange ich mit dir telefoniere, muss ich hier wenigstens nicht weitermachen." Er lachte. "Und, hast du es dir nochmal überlegt, ob du nicht doch kommen willst, heute Abend?"

"Nee, ich denke nicht. Mein Freund hat jetzt morgen Dienst, bis Sonntag früh, und dann verbringen wir den Abend davor immer gemeinsam, weißt du? So damit man wenigstens ein bisschen was voneinander hat."

"Ja, klar, verstehe. Aber dann vielleicht morgen?"

"Nee, das geht auch nicht. Ich habe dieses Wochenende Kinderwochenende. Von daher - geht das leider nicht. Aber vielleicht können wir uns ja so mal verabreden."

"Cool! Wann kannst du denn am besten?"

"Unter der Woche bin ich eigentlich ganz flexibel, also tagsüber."

"Das trifft sich gut. Ich auch", sagte er.

"Oder eigentlich vormittags."

Es stellte sich heraus, dass wir beide gerade arbeitslos waren. Frederik stand zwischen zwei Jobs, und ich hatte kurz zuvor meinen Job in der Sozialstation beendet.

"Von daher habe ich vormittags eigentlich häufig ganz gut Zeit", sagte ich. "Die Kinder sind in der Schule beziehungsweise in der Kita, und mein Freund auch."

"Dein Freund ist auch in der Kita?", fragte er lachend.

"Nee. Ich meinte, er ist zur Arbeit. Er ist Ingenieur."

"Dem Ingenieur ist nichts zu schwör."

"O, das ist originell", sagte ich mit einem kleinen falschen Lachen.

"Ich weiß, aber ich konnte nicht widerstehen."

"Geht mir genauso, manchmal." Und dann mussten wir beide lachen.

"Aber dann können wir uns doch mal vormittags treffen", sagte er, "was weiß ich, zum Arbeitslosen-Frühstück, sozusagen."

"Ja, vielleicht."

"Wir können ja Anfang der Woche nochmal telefonieren", sagte Frederik. "Wann kannst du denn immer so?"

"Ach, wie gesagt, irgendwas zwischen immer und nie. Aber grundsätzlich bin ich flexibel."

"Ja. Ich bin im Moment auch ziemlich flauschig, was Termine angeht."

"Bis dann also. Und viel Spaß mit deiner Party!"

"Danke! Bis bald!"

"Bis bald!"

"Wir telefonieren."

"Ja." Ich legte schnell auf, weil ich Sorge hatte, ansonsten in so eine Endlosschleife zu geraten, weil ich mich nicht trennen konnte.

Yeah! Ich ließ mich erleichtert zurückfallen, gegen die Rückenlehne der Couch. Ich hatte die ganze Zeit völlig aufrecht ganz vorn auf der Kante gesessen. Eigentlich doch ganz gut gelaufen, für das erste Telefonat.

Ich schrieb Nina eine Message.

"Ich hab ein date!!!"

Und sie schrieb sofort zurück.

"Vaya chica! Ich auch date… so geil, hechel hechel…ILY"

Aber zunächst war da noch gar nichts mit "hechel hechel", höchstens in meinem Kopfkino vielleicht. Und zu behaupten, ich hätte ein "Date", war eine kühne Übertreibung, bisher gab es ja noch nicht einmal eine Verabredung. Ich dachte noch ziemlich lange über das Telefonat nach und versuchte den Inhalt unseres Gespräches zu analysieren, Detail für Detail. Hatte er gesagt "meine Freundin Luna-Lisa" oder "meine Freundin und Lisa"? Gab es eine Freundin? Und wenn ja, was bedeutete das genau? Ich hatte das Gefühl, dass von der Beantwortung dieser Fragen die gesamte Einschätzung unseres Telefonats abhing, das ich als ziemlich flirty empfunden hatte - zumindest von seiner Seite.

Den Freitagabend und das Wochenende verbrachte ich ein bisschen wie auf Kohlen. Ich wollte, dass endlich Montag ist und ich freie Bahn habe, um Frederik anzurufen. Dann war's endlich so weit. Ich wartete bis 10 Uhr, und dann rief ich ihn an.

"Na?"

"Na?", sagte ich.

"Und was passiert jetzt?"

"Verabredung. Das hatten wir doch gesagt."

Wir verabredeten uns schließlich für Mittwoch, 11 Uhr. Übermorgen, noch ewig hin. Aber andererseits auch kaum noch Zeit, um etwas Vernünftiges vorzubereiten.

Nach zwei weiteren Tagen wie auf Kohlen war es dann endlich so weit: unser erstes Date. Hechel hechel!

Ich war wirklich ziemlich aufgeregt vorher. Was würde geschehen? Ich hatte mich sehr sorgfältig präpariert, um absolut hübsch auszusehen, aber ich hatte mich auch nicht aufgedonnert. Dezentes Make-up, rosa Lippenstift, die Kleidung sportlich-elegant. Ich hatte mich für eine Hose entschieden, Chinos in beige, weiße Bluse, meinen neuen Parka, orange Wollmütze. Ich hatte ein Geschenk für ihn gekauft, ein Buch mit Kurzgeschichten von Alice Munro. Und ich hatte sogar einen kleinen Kuchen für ihn gebacken, einen schlichten Mini-Puffer mit Schokoladenplätzchen, garniert mit Gummibärchen und Smarties.

Ich holte ihn mit dem Auto ab, wir hatten am Telefon überlegt, dass wir ein bisschen rausfahren könnten. Frederik empfing mich in der offenen Wohnungstür.

"Und, was machen wir jetzt?", fragte er mit einem Lächeln und einer einladenden Geste. Als ich eintrat, erinnerte ich mich plötzlich wieder genau an die Wohnung, auch wenn sie mir verändert vorkam.

"Öh. Ich habe gedacht, dass wir doch wirklich ein bisschen rausfahren könnten, oder? Es ist echt ganz tolles Wetter draußen."

"Okay. Let's go!"

Ich drückte ihm schnell noch meine Gaben in die Hand. "Herzlichen Glückwunsch nachträglich!"

"Danke!", sagte er, und ich glaube, er hat sich wirklich gefreut über meinen kleinen Schokopuffer.

Wir fuhren hinaus nach Wedel und spazierten zwei Stunden auf dem Elbdeich. Wir hatten wirklich ziemliches Glück, es war allerschönstes Draußenwetter, nicht unbedingt warm, aber sehr sonnig. Nach dem Spaziergang waren wir noch Kaffeetrinken, saßen draußen (am 12. März!) auf der Terrasse eines Eiscafés in der Fußgängerzone.

Wir haben uns die ganze Zeit äußerst angeregt unterhalten, über alles Mögliche, was weiß ich: über das verschwundene Flugzeug, das an dem Tag groß in der Zeitung stand. Wir vermieden es jedoch, über unsere Vorgeschichte zu sprechen, das heißt, ich vermied es - und er kam von sich aus auch nicht darauf zu sprechen. Aber abgesehen davon gaben wir uns ein komplettes Update über den jeweiligen Stand der Dinge in unser beider Leben. Frederik war seit Anfang des Jahres arbeitslos und wartete auf eine Stelle an der Uni, die er fest in Aussicht hatte.

"Also mehr oder weniger. Es liegt jetzt alles bei den Gremien. Und du?"

"Immer noch verheiratet beziehungsweise immer noch nicht geschieden. Immer noch in der gleichen Wohnung."

"Toll!"