Venusatmosphäre - Hanno Millesi - E-Book

Venusatmosphäre E-Book

Hanno Millesi

4,6

Beschreibung

Eine Frau erwacht eines Morgens orientierungslos und ohne Erinnerung an die vergangene Nacht. Nur langsam erkennt sie die Umrisse ihres eigenen Schlafzimmers. Dann bemerkt sie, dass jemand neben ihr liegt. Aus Angst vor einer Konfrontation bleibt sie mit geschlossenen Augen liegen und hofft, ihr Übernachtungsgast möge so schnell wie möglich verschwinden. Während sie regungslos abwartet, beginnen ihre Gedanken zu kreisen. Die Frage, wer der Fremde neben ihr eigentlich ist, rückt dabei immer mehr in den Hintergrund ... Hanno Millesi führt uns virtuos die Konsequenzen einer verlorenen Nacht vor und hält eine faustdicke Überraschung bereit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 46

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (16 Bewertungen)
10
6
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Der Autor

Hanno Millesi wurde 1966 in Wien geboren, Studium an der Universität Wien und an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Buchveröffentlichungen (zuletzt): „Granturismo“ (2012), „Das innere und das äußere Sonnensystem“ (2010), „Der Nachzügler“ (2008), alle im Luftschacht Verlag (Wien). Neben verschiedenen anderen Veröffentlichungen auch Arbeiten fürs Radio (zuletzt): „Der (internationale) Peng-Klub“ (Hörspiel ORF, 2012)

Die Textlicht-Reihe

Textlicht ist zeitgenössische Literatur im handlichen Format, für daheim oder unterwegs. Texte, die unter die Haut gehen und im Kopf bleiben.

Mehr Infos zur Textlicht-Reihe und dem Verlagsprogramm finden Sie auf

www.editionatelier.at

Hanno Millesi

Venusatmosphäre

Novelle

„Sie versuchte sich zu besinnen, was ihr geschehen war, aber alles schien ihr noch Traum. Unwirklich, leicht und befreit, so wie man im Schlaf durch die Räume schwebt, dünkte ihr dies hämmernde Empfinden ...“

Stefan Zweig, „Angst“

Inhalt

Kapitel 1

Der erste Gedanke war exakt einen Augenaufschlag vom zweiten entfernt. Dabei handelte es sich gar nicht um zwei Gedanken, sondern um ein Traumbild, eine vom trägen Bewusstsein gespeiste Illusion und das zunächst immer mit Schrecken, einem Erschrecken, Aufschrecken oder beruhigendem Zurückschrecken verbundene Erwachen.

Ein Erwachen im eigenen Bett, in den eigenen vier Wänden, und wenn ihr diese Umgebung an jenem Morgen auf den ersten Blick fremd, ungewohnt, mysteriös vorkam, lag das daran, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie gestern Abend, gestern Nacht hier gelandet sein mochte. Auch ihr Körper fühlte sich anders an, und dennoch bezweifelte sie nicht einen Moment lang, dass es sich um den ihren handelte. Alles tat weh. In ihrem Schädel schien sich ein Feuerkern entzündet zu haben. Ihre Pupillen ächzten mangels Flüssigkeit auf dem Weg durch das Zimmer. Mit der vertrauten Beziehung, die an einzelne Gegenstände geknüpft war, kehrte schemenhaft auch so etwas wie Erinnerung zurück.

Beispielsweise entdeckte sie den aus ihrer Position im Bett – an eine Bewegung war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken – sichtbaren Fauteuil, der sich nach anfänglichem Zögern als ihr Fauteuil zu erkennen gab und damit einen geringfügigen Beitrag zur Rekonstruktion der gestrigen Nacht, der unmittelbaren Vergangenheit leistete. Gewöhnlich legte sie abends ihre Kleider auf diesem Fauteuil, seiner Lehne, seiner Sitzfläche und den Armstützen ab, faltete sie, tauschte sie gegen ein Nachthemd oder einen Pyjama. An diesem verschwommenen und unter Schmerzen Gestalt annehmenden Morgen befand sich jedoch kein einziges Kleidungsstück an den vertrauten Stellen. Sollte das heißen, sie sei immer noch angezogen? Auf ihre Erinnerung gestützt, ließ sich das nicht mit Sicherheit sagen. Sie versuchte es zu überprüfen, indem sie sich ins Bettzeug schmiegte, aber an seiner Außengrenze fühlte sich ihr gesamter Körper taub an. Vom Schmerz narkotisiert. Für nichts anderes aufnahmebereit als für die im Körper vom Körper für den Körper produzierten Schmerzen. Unzugänglich für eine Empfindung jenseits des dröhnenden Kopfes. Das Fehlen der Kleider stellte ein Rätsel dar.

Als handle es sich bei ihr um zwei Personen, die lediglich durch einen Augenaufschlag, durch eine Tat und den Versuch, diese nachzuvollziehen, voneinander getrennt wären, setzte der hilflos erwachte, morgendliche Rest die offenbar außerhalb jeglicher Zurechnungsfähigkeit entschlafene Abendausgabe unter Druck. Druck, sich zu erinnern, einen Teil an einen anderen zu fügen, um sich irgendwann wieder in einem Zusammenhang zu befinden, wie die Sehkraft mit der Zeit die Gesetze der Finsternis akzeptiert und vertraute Silhouetten aus ihrer Uneinsehbarkeit löst.

Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt, und so konnte sie sehen, dass es mit Helligkeit und Sonnenschein prall gefüllt war. Ihrer Erinnerung half das zwar nicht auf die Sprünge, aber ein ängstlicher Widerwille fuhr ihr durch den Leib. Instinktiv verbarg sie den Kopf unter der Bettdecke und wurde so mit dem Umstand konfrontiert, dass sie keinerlei Kleidung trug. Weder eine für tagsüber, die sie bequemlichkeits- oder vergesslichkeitshalber anbehalten hatte, noch irgendetwas für die Nacht. Sie verstand immer noch nicht. Eine solche Konstellation war ungewöhnlich. Sie, nackt, am sonnendurchfluteten Tagsüber erwachend. Schmerzerfüllt. Bewegungsunfähig.

Als allein lebender Mensch hatte sie gelernt, auf verschiedene Umstände mit Beunruhigung, ja mit Furcht zu reagieren. Ihr Alltag hatte eine gewisse Routine herausgebildet, unter dieser litt sie und sehnte sich bisweilen danach, sie zu durchbrechen. Geriet diese Routine allerdings nur vorübergehend außer Sichtweite, bekam sie es mit der Angst.

Jetzt lag sie da und versuchte sich gedanklich zurückzutasten. Offenbar hatte sie sich ausgezogen, war zu Bett gegangen, irgendwie musste sie nach Hause gekommen sein. Im Moment reichte ihre Erinnerung lediglich bis zur ausgelassenen Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin. Da hatte sie getanzt, getrunken, kecke Reden geschwungen, noch mehr getrunken, dann irgendetwas geholfen, Platten ausgesucht, Gläser ausgewaschen, Teller hereingebracht oder hinausgetragen und so lange weiter getrunken, bis schließlich das Erinnerungsbild in all diesen Getränken untergegangen sein musste. Sicherlich hatte sie sich unmöglich benommen. So wie ihr das früher öfters passiert war. Vor Jahren. Als das noch dazugehört hatte. Damals konnte sie sich sonntags am Telefon anhören, welche Geschmacklosigkeiten sie sich geleistet hatte, wem sie demnächst besser aus dem Weg gehen sollte, wer ein aufmunterndes Wort gebrauchen könnte. Selbstverständlich hatte da jedes Mal nur die Hälfte gestimmt, das wusste sie schon deswegen, weil sie im Gegenzug ihren Freundinnen deren Verhalten geschildert und entsprechend ausgeschmückt hatte.

Das war lange her. Damals hatte das einzige Problem darin bestanden, sich an die für Eskapaden vorgesehenen Wochentage zu halten, sich an den Eltern vorbeizuschwindeln. Seit sie allein lebte, und das war seit vielen Jahren, hatte sie daran gearbeitet, sich solche Leichtsinnigkeiten abzugewöhnen.