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Susanne-Sophia Spiliotis

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Beschreibung

Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft steht für zwei aufeinander bezogene Ziele: Sie suchte den internationalen Rechtsfrieden für deutsche Unternehmen durch humanitäre Leistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und andere Opfer des NS-Regimes herzustellen und ihn auf Dauer für die deutsche Wirtschaft insgesamt zu sichern. Die vorliegende Monographie stellt die Entstehungsgeschichte der Stiftungsinitiative, den Verlauf und die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen aus der Sicht der Gründungsunternehmen dar. Sie erläutert den historischen Hintergrund und skizziert die juristische Problematik, bietet eine Chronik sowie einen Anhang mit den wichtigsten Dokumenten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Susanne-Sophia Spiliotis

Verantwortung und Rechtsfrieden

Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft

FISCHER E-Books

Inhalt

Dem Andenken meines Vaters [...]VorwortEine persönliche BemerkungDie Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft – Humanitärer Anspruch und Wunsch nach RechtsfriedenEntstehung im RückblickAusgangslageKlagen und Sanktionsdrohungen gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit Kriegswirtschaft und NS-UnrechtHistorische Forschung und PraxisbezugHandlungsorientierte US-Geschichtspolitik»Die Umwandlung alter Fakten in neue Realitäten«BestandsaufnahmeJuristische Sondierungen im Geflecht von Reparationsproblematik und Wiedergutmachung»Keine Rechtsfrage« – Lösungsansätze jenseits von KlageverfahrenFirmeneigene FondsFirmenübergreifende FondsDer »Versöhnungsfonds der deutschen Wirtschaft« im Zentrum zwischenstaatlich gesicherten RechtsfriedensDeutsch-amerikanische SondierungenDie Grundkonzeption der »Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«Die internationalen VerhandlungenAuftaktEine humanitäre Geste als Verhandlungsgegenstand?Klägeranwälte und RechtsfriedenDifferenzen über den allgemeinen Zweck und die besondere Aufgabe der StiftungsinitiativeHumanitäre Leistungen und Rechtsfrieden: Konkretisierungen des WirtschaftskonzeptsAspekte der Verhandlungsdynamik: Die zentrale Funktion der »Spiegelbild«-Theorie und ihre FolgenPersonelle und institutionelle Veränderungen: Der »Beauftragte des Bundeskanzlers für die Stiftungsinitiative der deutschen Unternehmen« und die Koppelung von Wirtschafts- und BundesfondsWeichenstellungen: Finanzverhandlungen und Statement of Interest – Sachliche und politische VerknüpfungenDie Berliner Grundsatzeinigung vom 17. Dezember 1999 – eine ZäsurWie sammelt man 5 Mrd. DM?Mobilisierung ohne SanktionDas Engagement der Verbandsorganisation der deutschen WirtschaftSteuerliche AspekteStrukturen und HandlungenPartielle ErfolgeWie verteilt man 10 Mrd. DM?Die Allokation für Sklaven- und ZwangsarbeitDie Suballokation im Vermögensbereich: Fallstricke für den Rechtsfrieden?Wer gehört zu deutschen Unternehmen?Zur Einbeziehung ausländischer Tochter- und MuttergesellschaftenZwischenbilanz zum RechtsfriedenDas Statement of Interest und seine HürdenRechtssicherheit aus dem Weißen Haus: Der Berger/Nolan-BriefLeistung und Vorleistung: Das Szenarium der Gemeinsamen ErklärungDie »Zinsfrage«Zahlungsbeginn und Rechtssicherheit – Priorität der PolitikHürdenlauf zu den Berliner Abkommen vom 17. Juli 2000Die Umsetzung der Berliner Abkommen vom 17. Juli 2000Die Konstituierung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«Die Abweisung der Klagen gegen deutsche Industrie- und VersicherungsunternehmenDie Bankenklagen als FaustpfandZwischen Fußangeln und FußnotenWelche Rechtssicherheit?Rückblick auf die Leistung der StiftungsinitiativeDie Erfüllung des VersprechensZur Teilnehmerstruktur der StiftungsinitiativeErwarteter/erbrachter Anteil der WirtschaftssektorenZusammenfassung und AusblickExkurs: Wiedergutmachung – Gesetzliche und vertragliche GrundlagenRestitutionEntschädigung»Äußere Wiedergutmachung«AnhangChronikLiteraturverzeichnisQuellenverzeichnisDokumenteGesetz zur Errichtung einer Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zunkunft«Berger/Nolan-Steiner, Briefwechsel vom 16.6.2000/5.7.2000Gemeinsame Erklärung anlässlich des abschließenden Plenums zur Beendigung der internationalen Gespräche über die Vorbereitung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«Clinton – Schröder, Briefwechsel zur Grundsatzeinigung vom 13./14.12.1999

Dem Andenken meines Vaters

 

Διότι εν πολλή σοφία είναι πολλή λύπη

ϰαι όστις προσθέτει γνώσιν, προσθέτει πόνον

 

Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen,

und wer viel lernt, der muß viel leiden

Prediger I, 18

Vorwort

Über die internationalen Verhandlungen in den Jahren 1999 und 2000, die schließlich zur Gründung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« führten, berichteten die Medien jeweils breit. Dabei wurden in der Regel nur einzelne Aspekte des langwierigen und schwierigen Weges beleuchtet und oft harsche Kritik – vor allem an der deutschen Wirtschaft – geübt: Die Wirtschaft sei kleinlich und zögerlich, sie stelle ihr Interesse an Rechtssicherheit über die notwendige Entschädigung der Opfer, sie brauche zu lange, um das geschuldete Geld endlich zusammenzubringen. Die Verhandlungsführer der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Staaten erschienen als Treiber, die Wirtschaft als Getriebene, für die viele Medien wenig Verständnis aufbrachten.

Die während der und nach den Verhandlungen an der deutschen Wirtschaft geübte Kritik hat vielfach ein Bild in der Öffentlichkeit entstehen lassen, das die beteiligten Personen und ihre Rollen nicht oder nur eingeschränkt widerspiegelt: so z.B. die Klägeranwälte mit ihrem teilweise fragwürdigen Verhalten, die Vertreter der vielen Staaten, nicht staatlichen Verbände, Organisationen und der Wirtschaft. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft hat deshalb Frau Dr. Susanne-Sophia Spiliotis damit beauftragt, die Geschichte dieses einmaligen Projektes aufzuarbeiten.

Frau Spiliotis war an den Verhandlungen nicht beteiligt, hat aber die Stiftungsinitiative schon in einem frühen Stadium begleitet. Sie hatte Zugang zu allen Dokumenten des Büros der Stiftungsinitiative und in breitem Umfang auch zu den Akten von Gründungsunternehmen. Darüber hinaus hat sie mit allen Mitgliedern des Koordinationskreises und der Rechtsarbeitsgruppe der Stiftungsinitiative intensive Gespräche geführt. Für Gespräche standen auch Vorstandsvorsitzende der Gründungsunternehmen zur Verfügung.

Die Autorin hat die in den Gesprächen mitgeteilten Tatsachen weitestgehend in den Dokumenten verifiziert. Dennoch bleiben manche Erinnerungen, die nicht in Schriftstücken festgehalten sind und denen die Subjektivität des Gesprächspartners anhaften mag. Für die Richtigkeit der mitgeteilten Tatsachen und die Vollständigkeit der zugänglich gemachten Dokumente trägt letztlich der Gesprächspartner die Verantwortung. Die wissenschaftliche Umsetzung und Bewertung ist dagegen die eigenständige Arbeit der Verfasserin dieses Buches. Schlussfolgerungen und Meinungen der Autorin sind als solche kenntlich gemacht und können von denen der Stiftungsinitiative und den für die Stiftungsinitiative handelnden Personen durchaus abweichen. Wir sind dankbar, dass sich Frau Spiliotis der schwierigen Arbeit unterzogen hat.

Nicht vergessen werden darf, dass die Initiative zur Gründung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« von einer relativ kleinen Gruppe deutscher Unternehmen ausging, die später als die Stiftungsinitiative bezeichnet wurden. Mehr als 6500 deutsche Firmen haben schließlich zur Stiftungsinitiative beigetragen und gemeinsam die 5 Mrd. DM und 100 Mio. DM an Zinsen aufgebracht, die in den Verhandlungen zugesagt worden waren. Ein so hoher Betrag auf freiwilliger Basis ist als Solidarleistung einer Volkswirtschaft nach unserem Wissen noch nie und in keinem anderen Land zusammengetragen worden. Die Rolle der Gründungsunternehmen, die ihre ursprünglich zugesagten Beiträge deutlich aufgestockt haben, um eine damals noch bestehende Lücke zu füllen, sei dabei besonders hervorgehoben.

Sicher ist es etwas Außergewöhnliches, dass sich die Wirtschaft eines Landes zu ihrer Verantwortung für die Verwobenheit in ein vergangenes Unrechtssystem bekennt und bereit ist, für überlebende Opfer Mittel zur Verfügung zu stellen, obwohl die heutigen Entscheidungsträger schon aus Altersgründen keine persönliche Schuld treffen kann und viele der beitragenden Unternehmen erst nach dem Ende des Unrechtsregimes gegründet worden sind.

Neben dem Handeln aus humanitärer und historischer Verantwortung kam der Schaffung von Rechtsfrieden als einem essenziellen Ziel der deutschen Wirtschaft große Bedeutung zu. Dies betraf ein moralisches, aber auch ein rechtliches und politisches Problem, denn bei Lage der Dinge hätten das amerikanische Rechtssystem mit seinen Sammelklagen (class actions) und die faktischen Drohungen gegen deutsche Unternehmen zu einer großen Belastung für deutsche Unternehmen und die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen führen können. Rechtsfrieden im Sinne des Schutzes vor gerichtlicher Inanspruchnahme, vor administrativen und legislativen Eingriffen oder Sanktionen konnte nur mit Hilfe der Regierungen betroffener Länder erzielt werden. Deshalb war die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft dankbar, dass die deutsche Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die notwendige Unterstützung gegeben hat.

Die Verbindung der von der Wirtschaft ausgehenden Stiftungsinitiative mit der unabhängig davon angedachten Bundesstiftung zur weiteren Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts hat die Verhandlungen und den erzielten Abschluss deutlich erleichtert.

Die Verhandlungen waren zeitaufwendig. Bedrückend war, dass die Abweisung bzw. Erledigung eines Teils der anhängigen Klagen in den Vereinigten Staaten so lange Zeit in Anspruch genommen hat. Um eine möglichst schnelle Hilfe für die Opfer zu ermöglichen, übergab die Stiftungsinitiative vorzeitig ihre Mittel an die Bundesstiftung, obwohl die Klagen auch heute noch nicht vollständig abgeschlossen sind. Deprimierend war die Zeitdauer der Verhandlungen zwischen der Stiftung, der ICHEIC (International Commission on Holocaust Era Insurance Claims) und dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., die erst mehr als zwei Jahre nach Unterzeichnung der Berliner Vereinbarungen und bei weiteren Leistungen der Versicherungsunternehmen, die im Stiftungsgesetz nicht vorgesehen waren, im Oktober 2002 zum Abschluss gebracht werden konnten.

Dennoch meine ich, dass alle Beteiligten mit Erleichterung und vielleicht auch etwas Stolz auf die schließlich erzielten Ergebnisse blicken können. Inzwischen haben mehr als eine Million überlebender Opfer Leistungen erhalten. Der Zukunftsfonds, der gegen die Gefahren von Menschenrechtsverletzungen sensibilisieren soll und der Völkerverständigung dient, hat seine wichtige Arbeit aufgenommen.

Ich möchte allen danken, die zum Gelingen der Stiftungsinitiative beigetragen haben: den Gründungsunternehmen und ihren Vorstandsvorsitzenden, den Mitgliedern des Koordinationskreises, der Rechtsarbeitsgruppe, des Arbeitskreises, den Mitarbeitern im Büro der Stiftungsinitiative und in den Firmen. Außerhalb der Stiftungsinitiative gilt unser besonderer Dank Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, den beteiligten Ministern und den Verhandlungsführern der deutschen Seite, Bodo Hombach und Otto Graf Lambsdorff, sowie Stuart E. Eizenstat auf US-Seite. Mein Dank gilt aber auch den Vertretern des Deutschen Bundestages, die sich in die Arbeit eingebracht haben, den Mitarbeitern der Ministerien und den Verhandlungsdelegationen, die sich an den Verhandlungen mit positiven Beiträgen beteiligt haben.

 

Dr. Manfred Gentz

Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft

»Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«

Eine persönliche Bemerkung

»Wissen Sie – ich habe meine Mutter zuletzt hinter dem Stacheldraht gesehen« – persönliche Schicksale aus dem Schmerz des Jahrhunderts. Es waren Überlebende, die diese Worte an mich richteten, als drängende Appelle an die Stiftungsinitiative, in deren Berliner Verbindungsbüro ich seit Februar 2000 tätig war. »Unsere Zeit läuft ab« – und der nächste Anruf galt wieder einem deutschen Unternehmen mit dem Ziel, es als teilnehmende Firma zu gewinnen, um Geld zu sammeln. Die persönlich geschilderte Wirklichkeit des Krieges und der Verfolgung kontrastierte so nahezu täglich die Diskussion um Verantwortung, Schuld, Geld und Rechtsfrieden: Strukturelemente ökonomischer Humanität heute.

Die Bandbreite der Reaktionen auf unsere Bitten und Aufforderungen war denkbar groß. Sie reichte von spontanen Zusagen aus einem Gefühl der Schuld, ohne schuld zu sein bis zur vehementen, oft karikaturreifen Ablehnung nach dem Motto, »zum zoin müast eich an grössan Deppn suacha ois wia mi«, um bösartige Antworten und sogar Drohungen beiseite zu lassen. Wir freuten uns über jede Zusage, diskutierten jede Absage, empörten uns, wenn klar war, dass dieses oder jenes Unternehmen Zwangsarbeiter beschäftigt hatte und dennoch nicht oder nur mit einem Almosen mitmachen wollte. Die Arbeit führte so nicht selten zu emotionalen Belastungen, die aufgehoben wurden, sobald wir, was häufig vorkam, mit Briefen oder Telefonaten der Betroffenen selbst konfrontiert wurden, mit individuellem Leid. Dann wussten wir, wofür wir uns engagierten, dass es Sinn machte, was wir taten.

Es gibt eine kaum zu überbrückende Spannung zwischen dem Schicksal des Einzelnen und der kühlen Logik, die herrscht, wenn es gilt, eine Problematik zu bewältigen, die in ihren Dimensionen weit über das individuelle Leid hinausragt, weil historische, politische, juristische und ökonomische Faktoren als handlungsleitende Strukturen zwingend werden. Ihr begegnete ich während der Arbeit an diesem Buch wieder. In dem Bewusstsein, dass diese Spannung nicht aufzulösen ist, entschied ich mich dafür, strikt die strukturellen Aspekte der Verhandlungsgeschichte zu beleuchten und so, wie für Historiker üblich, für die Darstellung vom Los des Einzelnen zu abstrahieren – ein ständiger Balanceakt, der mehr als schwierig war.

Meinen Kollegen im Büro der Stiftungsinitiative, die mich dabei unterstützten, gilt mein aufrichtiger Dank, allen voran Gerhard Wahl, Frank Seyffert, Marc Senger und Katja Raetzke, ebenso Julia Daubmann (DaimlerChrysler).

Das Buch wäre ohne die vielen Gespräche mit Protagonisten der Stiftungsinitiative nicht entstanden. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle für Ihre Offenheit und das gezeigte Vertrauen herzlich danken, vor allem Dr. Manfred Gentz.

Zwei Menschen, die mich auf dem Weg dieses Buches begleitet und mir durch ihre Präsenz und ihr kritisches Wort geholfen haben, bin ich in ganz besonderer Weise verbunden. Dr. Karin Retzlaff stellte mir immer wieder wichtige Fragen, die mir in der Analyse des gesamten Verhandlungsgeschehens enorm weiterhalfen. Dr. Stephan Wernicke hat mir am Ende den Blick für das Ganze ermöglicht. Mit ihm stehe ich am Beginn eines langen Gesprächs.

 

Berlin, im Dezember 2002

Susanne-Sophia Spiliotis

Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft – Humanitärer Anspruch und Wunsch nach Rechtsfrieden

»Zwangsarbeiter« versus »deutsche Wirtschaft«: Häufig wurde die Stiftungsinitiative in der öffentlichen Wahrnehmung in die Perspektive dieses Konflikts gerückt. Das ist falsch. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft stand nie in Opposition zu den Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus Leid erfahren hatten. Es galt ihr vielmehr, in Anerkennung des erlittenen Schicksals der Betroffenen zu denken und zu handeln. Jedoch fügte sich die »Zwangsarbeiterentschädigung« allzu schnell in ein Spannungsgefüge internationaler politischer, rechtlicher und ökonomischer Interessen, in dem Gegensätze zu überbrücken waren, die mit den Opfern selbst letztlich nichts zu tun hatten, deren Belange gar teilweise ignorierten.

Dieses übergeordnete Spannungsgefüge von Wirtschaft, Politik, Recht und Moral aus einer Innenansicht zu beschreiben nimmt sich das vorliegende Buch zum Ziel. Es zeigt, auf welche Weise eine Solidaraktion deutscher Unternehmen vornehmlich zu Gunsten ehemaliger Zwangsarbeiter am Ende des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand schwieriger internationaler, von den USA dominierten Verhandlungen wurde. Es beschreibt die Strategien der Teilnehmer, allen voran der deutschen Wirtschaft, und rückt die unterschiedlichen Prämissen in den jeweiligen historisch-juristischen Kontext. Es erläutert die politischen Anstrengungen der US- und der Bundesregierung sowie der deutschen Wirtschaft, für deutsche Unternehmen dauerhaft und umfassend Schutz vor Klagen und Sanktionen im Zusammenhang mit NS-Unrecht und Zweitem Weltkrieg, vor allem in den USA, zu erlangen und damit Rechtsfrieden zu sichern. Schließlich werden auch die Schwierigkeiten nicht ausgespart, die für die Stiftungsinitiative damit verbunden waren, im Namen der deutschen Wirtschaft 5 Mrd. DM aufzubringen, um ihrer Verpflichtung zur hälftigen Finanzierung der mit ihrer Hilfe gegründeten, aber nicht mit ihr identischen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« nachzukommen. Und nicht zuletzt versucht die Darstellung eine Antwort zu geben auf die immer wieder gestellte Frage des »Warum so spät?«

Zu beurteilen, ob die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« in ihrer Verbindung von moralischem Anspruch und handfesten wirtschaftlichen wie politischen Interessen als janusgesichtiger Hybrid oder als vernünftiger Kompromiss zu deuten sein wird, ist dagegen nicht Aufgabe dieses Buches. Vielmehr gewährt es zum ersten Mal einen Einblick in die Entscheidungsprozesse der Stiftungsinitiative auf dem langen Weg zu dem internationalen Vertragswerk, in das die Stiftung eingebettet ist. Aus zahlreichen Gesprächen mit Protagonisten der Stiftungsinitiative, auf der Grundlage einschlägiger Akten einzelner Gründungsunternehmen sowie des Bundesverbandes der deutschen Industrie und insbesondere aus den Memoranda und Verhandlungsprotokollen der internationalen Anwaltssozietät Wilmer, Cutler & Pickering, die als Beraterin der Stiftungsinitiative fungierte, fügen sich viele Einzelfacetten zu einer Gesamtsicht auf Beweggründe wie Agenda der Wirtschaft. Die komplementären Akten der Regierungsseite werden diese Innenansicht aufgrund gesetzlicher Sperrfristen erst in dreißig Jahren ergänzen können. Eine Gesamtdarstellung, die neben der deutschen Seite auch die übrigen Teilnehmer des komplexen Verhandlungsgeschehens in gleicher Tiefenschärfe berücksichtigt, wird also noch zu schreiben sein. Doch kann die Innenansicht der Stiftungsinitiative bereits jetzt einen dazu notwendigen Baustein liefern.

Der historische Beginn dessen, was zum Anliegen der Stiftungsinitiative wurde, liegt in furchtbaren Schicksalen begründet: Während des Zweiten Weltkriegs mussten 12 Millionen Menschen aus dem besetzten Europa in der Kriegswirtschaft des Großdeutschen Reichs arbeiten: verschleppte Zivilisten aus dem Osten, Arbeitnehmer aus dem Westen, die oft freiwillig kamen, später aber an der Rückkehr in ihre Heimat gehindert wurden, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Im allgemeinen Sprachgebrauch fallen sie alle trotz unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen unter einen einzigen Begriff: »Zwangsarbeiter«.

Rechtlich wie rassenideologisch diskriminiert und zumeist in Lagern isoliert, kamen Zwangsarbeiter in allen Wirtschaftsbereichen zum Einsatz, auf Bauernhöfen wie in der Rüstungsindustrie, in Haushalten wie im Handwerk. Sie arbeiteten für die Privatwirtschaft ebenso wie für SS-Betriebe, Kommunen oder kirchliche Einrichtungen. Spätestens seit 1941 war die deutsche Landwirtschaft ganz auf Zwangsarbeiter angewiesen. Mit der Ausweitung des Kriegsgeschehens ersetzten ausländische Kräfte zunehmend die zur Front abkommandierten Deutschen auch in der Industrie. Im Juli 1944 stellten so rund 5,7 Millionen zivile Fremdarbeiter, über 1,9 Millionen Kriegsgefangene und mehr als 400000KZ-Häftlinge rund ein Viertel des Arbeitskräftepotentials im Deutschen Reich.[1]

Gefangen im nahtlosen Geflecht eines menschenverachtenden Systems erhielten sie nur bedingt Lohn. Er wurde nach rassisch-ideologischen Kriterien gestuft und besteuert. Durch Abzüge für »Unterkunft und Verpflegung« sowie weitere Sonderabgaben minderte sich das Wenige je nach Kategorie oft so weit, dass unter dem Strich nichts übrig blieb. Am Ende der Skala rangierten die sowjetischen Zivilarbeiter, so genannte »Ostarbeiter«. KZ-Häftlinge und »Arbeitsjuden« fielen selbst aus diesem Raster. Für sie sah das NS-Regime in den letzten Kriegsjahren »Vernichtung durch Arbeit« vor.

Die Unternehmen hatten Zwangsarbeit zu bezahlen – im Rahmen der rigiden NS-Lohnpolitik an die Fremdarbeiter direkt, im Falle der Kriegsgefangenen und Häftlinge an den NS-Staat. Von angemessener Entlohnung wird dabei kaum jemand sprechen wollen. Schlechte Behandlung verordnete der Staat nicht. Hunger und Drangsalierung waren an der Tagesordnung, obgleich Handlungsspielräume bestanden. Einzelne Unternehmen haben sie zu Gunsten der Zwangsarbeiter ausgeschöpft, andere nicht.

Die Massendeportationen ausländischer Zivilisten und die menschenunwürdigen Bedingungen des Zwangsarbeitereinsatzes gehörten zu den Hauptanklagepunkten in den Nürnberger Prozessen. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, wurde ebenso zum Tode verurteilt wie Oswald Pohl, der als Chef des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes für die Ausbeutung der KZ-Häftlinge verantwortlich war. Führende Vertreter der Rüstungsindustrie erhielten Haftstrafen.

Auf die Frage nach der Entschädigung für millionenfache Zwangsarbeit hielt die internationale Politik Antworten parat, die unter den Umständen des Ost-West-Konflikts einer anderen Logik folgten als jener individueller Gerechtigkeit. In den Nachkriegsrechnungen war ein materieller Ausgleich für dieses jahrelang erduldete Leid praktisch suspendiert.

50 Jahre später brachten Klagen in Deutschland und in den USA gegen den deutschen Staat wie gegen deutsche Großunternehmen der Automobil-, Chemie- und Stahlindustrie das Los der Zwangsarbeiter einer breiten Öffentlichkeit wieder in Erinnerung. Zur gleichen Zeit wurden in den USA deutsche, aber auch andere europäische Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute aufgrund ihrer Einbindung in die nationalsozialistische Enteignung jüdischer Vermögenswerte verklagt oder mit Sanktionen bedroht.

Ende der 90er Jahre stand so die deutsche Wirtschaft wegen Unrechts aus der NS-Zeit in den USA am Pranger. Die geltend gemachten Entschädigungsansprüche hielten die beklagten Firmen allerdings für nicht justiziabel. Gleichwohl fassten sie den Entschluss, den Rechtsstreit nicht »auszusitzen«. Mit der Initiative zu einer Stiftung, aus der vor allem ehemalige Zwangsarbeiter, aber auch andere NS-Geschädigtengruppen humanitäre Leistungen erhalten sollten, schlugen sie neue Wege ein mit dem Ziel, Rechtsfrieden zu schaffen.

Die historische Darstellung dieser Stiftungsinitiative folgt in vier Hauptkapiteln dem chronologischen Gang der Ereignisse: Von der Entstehung (1998) über die internationalen Verhandlungen (1999–2000) und die Umsetzung der Ergebnisse (2000–2001) bis zum Rückblick auf Leistung und Teilnehmerstruktur dieser präzedenzlosen Solidaraktion deutscher Unternehmen. Die Binnengliederung orientiert sich an den Problem- und Weichenstellungen, die für die Fortschritte und Stagnationen in den jeweiligen Etappen maßgeblich waren. Durch diesen chronologisch-problemorientierten Zugriff wird die Dynamik nachvollziehbar, die den Gesamtprozess aus der Spannung gegensätzlicher Ausgangspositionen bestimmte und ihn immer wieder auf seine politischen Prämissen zurückführte. Personalisiert wurde die Spannungslage durch das maßgebliche »Verhandlungsdreieck«: Stuart E. Eizenstat, US-Verhandlungsführer, Otto Graf Lambsdorff und vor ihm kurze Zeit Bodo Hombach für die Bundesregierung sowie Manfred Gentz, Finanzvorstand von DaimlerChrysler und Sprecher der Stiftungsinitiative.

Wo es galt, die zentrale Bedeutung einzelner Problemkomplexe für das Gesamtgeschehen deutlich zu machen, wie z.B. die Frage der Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen oder die besondere vermögensrechtliche Thematik, rückt die Darstellung sie mit gebotener Genauigkeit in die jeweiligen Zusammenhänge. Anderes wird dagegen auf Skizzenformat gestrafft, etwa die Frage, wie die schließlich zugrunde gelegte Zahl der noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter von etwa einer Million Menschen geschätzt wurde, welche Wirkung die Geschichtspolitik der Clinton-Administration auf den Gang der Restitutionsbestrebungen in Europa in den 90er Jahren hatte oder inwiefern die innerjüdische Debatte über den Anspruch, für die ermordeten Juden Europas zu sprechen und deren erbenloses Eigentum einzufordern, die Verhandlungen zur Stiftung beeinflusste. Wie detailliert oder thesenhaft ein Gegenstand in diesem Buch erörtert wurde, hing davon ab, wie weit er für das Verständnis der Stiftungsinitiative und des Umfeldes, in dem sie sich bewegte, von Bedeutung war. Was nur am Rande erwähnt wurde, muss indes nicht peripher sein. Nicht die vielfältigen Aspekte substanziell zu würdigen, sondern sie in ihrer Funktionalität für die Stiftungsinitiative zu beleuchten, gab den Ausschlag für die Dichte der Darstellung.

Ein Wort zur Bedeutung der Quellen für die Darstellung: Die Stiftungsinitiative und andere Gesprächspartner stellten vielfältige Informationen zur Verfügung. Es gab jedoch Grenzen: Zentrale Entscheidungen fielen oft informell, blieben nahezu geheim und wie nicht untypisch für derart sensible Politikbereiche undokumentiert. Ihre Faktizität kann deshalb nur selten adäquat dargestellt, ihre präzise Wirkungsmacht nur vermutet werden. Ihre Dokumentation bleibt größtenteils den Memoiren der Beteiligten vorbehalten, wobei sich schon jetzt Widersprüche abzeichnen. Die Berichte etwa zum Inhalt des emotional geführten Gesprächs der Verhandlungsführer kurz vor der Unterzeichnung der Berliner Abkommen am 17. Juli 2000 (vgl. Seite 157f.) lassen offen, ob Eizenstat für ihn überraschend mit einem »final insult«, einer »invective, few American officials have ever heard from a negotiator in a friendly country, particularly one from the private sector«[2] empfangen, oder ob ihm nicht lediglich in klaren Worten seine, den Aussagen der Stiftungsinitiative zufolge, in wesentlichen Punkten absprachewidrige Vertragsgestaltung vorgehalten wurde.

Eine Chronik am Ende des Buches ordnet die politischen, gesetzgeberischen und prozessualen Wegmarken nach ihrer zeitlichen Reihenfolge und flicht die Sammelaktivitäten der Stiftungsinitiative ein. Diese tabellarische Übersicht dient ergänzend der raschen Orientierung in einem Themenfeld, das an politischer Aktualität gewann, seit das Europäische Parlament 1986 einen neuen Anstoß für eine übergreifende Lösung bei der Entschädigung von Zwangsarbeit zu geben versucht hatte, ein Anstoß, der jedoch erst mit der öffentlichen Resonanz auf die US-Sammelklagen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Ergebnisse zeitigte.

Entstehung im Rückblick

Am 16. Februar 1999 traten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft, Rolf-Ernst Breuer (Deutsche Bank AG), Gerhard Cromme (Krupp-Konzern) und Heinrich von Pierer (Siemens AG), in Bonn vor die Presse, um Ungewöhnliches, noch nicht Dagewesenes bekannt zu geben.[3]

Zwölf führende deutsche Unternehmen – die Allianz AG, BASF AG, Bayer AG, BMW AG, DaimlerChrysler AG, Deutsche Bank AG, Degussa-Hüls AG, Dresdner Bank AG, Fried.Krupp AG Hoesch-Krupp, Hoechst AG, Siemens AG und Volkswagen AG[4] – planten eine gemeinsame Initiative zur Gründung einer Stiftung, als »Antwort auf die Einbindung deutscher Unternehmen in die Bereiche der Zwangsarbeiter-Beschäftigung, der Arisierung und anderen Unrechts aus der Zeit der NS-Herrschaft«. Aus Mitteln der Wirtschaft sollte in freiwilliger Ergänzung zur staatlichen Wiedergutmachungspolitik ein »humanitärer Fonds zugunsten ehemaliger Zwangsarbeiter in der Wirtschaft und anderer NS-Geschädigtengruppen« eingerichtet werden, um bedürftigen Betroffenen ungeachtet ihrer Nationalität und Religion »kooperativ, fair und unbürokratisch« zu helfen. Als gleichgewichtiges Pendant war eine auf Dauer angelegte »Zukunftsstiftung« vorgesehen, aus deren Erträgen Bildungs- und Begegnungsprojekte mit einer »Beziehung zur Veranlassung des Fonds« gefördert werden sollten.

Mit diesem Schritt wollten sie »am Ende des Jahrhunderts ein abschließendes materielles Zeichen setzen, aus Solidarität, Gerechtigkeit und Selbstachtung«. Der Wirtschaftsfonds sollte zugleich Sanktionen und Klagen, insbesondere Sammelklagen in den USA[5], die Grundlage entziehen. Die zwölf »Gründungsunternehmen« knüpften so die Umsetzung ihrer Initiative an den Erfolg zwischenstaatlicher Bemühungen, einschlägige Gerichtsverfahren zu beenden und weitere zu verhindern. Regierungsabkommen, nicht Gerichtsurteile sollten für Rechtssicherheit sorgen. Der Bundeskanzler sicherte hierfür politische Unterstützung zu.

Das hohe Alter der ehemaligen Zwangsarbeiter drängte dazu, die Stiftung rasch ins Werk zu setzen, »möglichst bis zum 1. September 1999«, dem 60. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen, als sich die Entfesselung nationalsozialistischer Gewalt militärisch nach außen zu richten begann und damit auch die Wirtschaft immer tiefer in den zerstörerischen Sog von Krieg und Ausbeutung geriet.[6]

Dem Ansatz dieser »Stiftungsinitiative« lag die Überzeugung zugrunde, dass die gegen Unternehmen gerichteten Ansprüche im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg nicht justiziabel waren, weil der Staat Hauptverursacher des Unrechts gewesen sei. Die Verantwortung der heutigen Unternehmen war daher nicht in juristischen, sondern in moralischen und historischen Kategorien zu fassen. Das Konzept, das freiwillige humanitäre Leistungen mit einer für die Unternehmen befriedigenden Rechtssicherheit verband, stellte so einen »Gegenentwurf« zum Rechtsweg dar. Seine Vorteile lagen auf der Hand. Während langwierige Gerichtsprozesse mit ungewissem Ausgang allenfalls jenen Menschen Leistungen gebracht hätten, die eine existente Firma als konkreten Klagegegner benennen konnten, bot der geplante Wirtschaftsfonds sichere Leistungen für einen wesentlich umfangreicheren Adressatenkreis. Er sollte auch all diejenigen umfassen, die gegen niemanden mehr Klage führen konnten. Denn mehr als fünfzig Jahre nach dem Krieg existierte aufgrund der tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturveränderungen nur noch ein geringer Teil jener überwiegend kleinen und mittelständischen Betriebe, die gleichwohl den Großteil des Millionenheers von Zwangsarbeitern während der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigt hatten.[7] Die ungleich größere Reichweite sollte durch eine solidarische Anstrengung der deutschen Unternehmen zustande kommen. In der Bereitschaft, ohne Rechtspflicht gleichsam stellvertretend für die deutsche Wirtschaft zu handeln, lag der entscheidende Schritt zum humanitären Akt. Das kollektive Engagement der Unternehmen rechtfertigte und erforderte die politische Unterstützung durch den Staat. Mit Blick auf die, so der Bundeskanzler, »rufschädigenden Kampagnen gegen die deutsche Wirtschaft«[8] in den USA versprach nur eine zwischenstaatliche Übereinkunft mit der US-Regierung den Ausweg aus einer Situation, die auf beiden Seiten des Atlantiks ungeachtet der materiell-rechtlichen Substanz der Sammelklagen als ernste Gefahr für die deutsch-amerikanischen Beziehungen wahrgenommen wurde.

Die Regierungen der USA und Israels betrachteten die Initiative als »positive und mutige Antwort der deutschen Unternehmen auf ihre moralische Verantwortung«.[9] Von Entschlossenheit zeugte die Stiftungsinitiative allemal. Sie nahm eine Option vorweg, die von vielen, schwer berechenbaren Variablen abhing. Würden sich andere Unternehmen für die Stiftungsidee gewinnen lassen? Würden die Regierungen der mittel- und osteuropäischen Staaten, deren Bürger die Hauptempfänger von Stiftungsleistungen wären, positiv reagieren? Und würde schließlich die Gruppe der US-Klägeranwälte einem Lösungsweg zustimmen, der sie letztlich überging und dazu die Aussicht auf profitable Prozessvergleiche zunichte machte?

Der Entscheidung zur Stiftungsinitiative gingen im Kreis der genannten Gründungsunternehmen – im Verlauf des Jahres erweiterte sich der Initiativkreis um die RAG AG, Veba AG, Deutz AG, Commerzbank AG (Mai 1999) und die Robert Bosch GmbH (November 1999) auf 17 Unternehmen – intensive, zum Teil kontroverse Diskussionen voraus. Im Frühjahr 1998 hatten sie unter dem Eindruck steigenden publizistischen und juristischen Drucks nach internen Beratungen und firmenübergreifenden Kontakten begonnen, aus der als für sie prekär wahrgenommenen Situation unternehmenspolitische Konsequenzen zu ziehen.

Ausgangslage

Klagen und Sanktionsdrohungen gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit Kriegswirtschaft und NS-Unrecht

1998 waren gegen eine Reihe deutscher Unternehmen, in erster Linie gegen weltbekannte Konzerne, in den USA Einzel-, vor allem aber Sammelklagen[10] anhängig gemacht worden. Die Zuständigkeit US-amerikanischer Gerichte für Klagen gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg leiteten die Klägeranwälte u.a. aus einem Gesetz ab, das der US-Kongress im Jahr des Ausbruchs der Französischen Revolution verabschiedet hatte. Nach dem so genannten Alien Tort Claims Act (ATCA) von 1789 konnte die amerikanische Gerichtsbarkeit über Völkerrechtsverletzungen durch fremde Staatsangehörige befinden, wo auch immer sie begangen worden waren. Wenn auch juristisch in den USA selbst umstritten, hatte sich dieses wenig bekannte Gesetz seit den 80er Jahren zu einer schlagkräftigen Waffe in Fällen entwickelt, zu deren Lösung öffentliche Meinung mobilisiert und instrumentalisiert werden konnte.[11]

Die Klagen, getragen von zum Teil rivalisierenden Anwaltskanzleien, stützten sich auf unterschiedlich solide Recherchen. Während etwa Michael Hausfeld, mit seinen Klagen im Namen osteuropäischer ehemaliger Zwangsarbeiter gegen deutsche Industrieunternehmen eine der Schlüsselfiguren auf Seiten der Klägeranwälte, über Monate Historiker beschäftigt hatte, setzte Ed Fagan mit seinen Vorwürfen gegen deutsche Banken vor allem auf medienwirksame Inszenierungen.[12] Die Beschuldigungen aber hatten alle einen gemeinsamen Nenner: Profit der Unternehmen auf Kosten der Opfer. Industriefirmen hatten sich u.a. mit Vorwürfen der ungerechtfertigten Bereicherung auseinander zu setzen und wurden mit Lohn-, Schaden- und Strafschadenersatzansprüchen (punitive damages) in Milliardenhöhe konfrontiert. Deutsche Geschäftsbanken wurden der aktiven Rolle bei der »Arisierung« beschuldigt, jener systematischen ökonomischen Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung, die die Nationalsozialisten zunächst im Deutschen Reich, später auch in dem von deutschen Truppen besetzten Europa mit brutaler Konsequenz durchführten. Forderungen wegen »Arisierungsgewinnen«, Geschäften mit Raubgold etc. wurden erhoben und ebenfalls mit bis zu zweistelligen Milliardenbeträgen beziffert.[13] Derart exorbitante Zahlen entbehrten für die Vertreter der beklagten Unternehmen jeglicher Grundlage. Sie erschienen ihnen als Teil eines rechtlich substanzlosen, allein auf öffentliche Wirkung abzielenden Szenarios, dessen kalkulierte Medienwirkung nichtsdestoweniger große Suggestivkraft entfaltete.

Diese Überzeugung teilte auch die Allianz AG. Bereits 1997 war sie zusammen mit 15 weiteren europäischen Versicherungsgesellschaften in den USA mit der Behauptung verklagt worden, sie hätte Versicherungsverträge von Holocaust-Opfern bzw. deren Familien nicht eingehalten und den Erben zustehende Rückkaufwerte oder Versicherungssummen, insbesondere aus Lebensversicherungen, nicht ausbezahlt – Policen seien also unbezahlt.[14] Gegen die Unternehmen der Versicherungswirtschaft, deren Geschäftstätigkeit in den USA einer staatlichen Genehmigung bedarf, richteten sich überdies eine Reihe von Sanktionsdrohungen einzelstaatlicher Aufsichtsbehörden:[15] Falls in den für offen gehaltenen Vermögensfällen keine Abhilfe geschaffen würde, mussten die Unternehmen mit dem Entzug der Lizenz rechnen.

Sanktionen hatten auch Banken zu gewärtigen. Im Zusammenhang mit der für 1999 durch die Deutsche Bank beabsichtigten Übernahme von Banker’s Trust, einem der größten US-amerikanischen Finanzdienstleister, zeigten Vertreter einzelstaatlicher Behörden ein besonderes Interesse an der Lösung der Vermögensproblematik aus der »Holocaust-Ära«.[16] Vage Drohungen verfingen allerdings nicht; denn in diesem konkreten Fall war die weitaus zurückhaltendere amerikanische Zentralbank maßgeblich.

Geklagt wurde auch in Deutschland. Gegen Industrieunternehmen wie z.B. Volkswagen oder Siemens (1998), ThyssenKrupp, Robert Bosch oder DaimlerChrysler (1999) waren Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahren wegen Zwangsarbeit anhängig. Die Klagewelle erreichte hier Mitte 1999 ihren Höhepunkt, als die Stiftungsinitiative bereits seit einigen Monaten ins Leben gerufen worden war.

Den Entschluss der Unternehmen zu gemeinsamem Vorgehen allein auf Klagen und drohende Sanktionen zurückzuführen, würde allerdings zu kurz greifen. Vielmehr lassen sich Beweggründe nennen, die in die seit Ende der 80er Jahre zunehmende Tendenz eines kritischen Umgangs mit der Unternehmensgeschichte eingebettet waren. Lange vor der klage- und sanktionsbedingten Eskalation schärfte sie das Gehör für Fragen, die den Beitrag der Firmen zu Kriegswirtschaft und NS-System betrafen.

Historische Forschung und Praxisbezug

Die seit 1997/98 angegriffenen, aber auch andere Unternehmen hatten bereits sehr konkretes historisches Wissen um ihr Verhalten während der NS-Zeit und ihre Einbindung in NS-Unrecht erarbeiten lassen und veröffentlicht. Im Zusammenhang mit zahlreichen Gründungsjubiläen, z.B. Daimler-Benz AG (100 Jahre, 1986), Robert Bosch GmbH (100 Jahre, 1986), Volkswagen AG (50 Jahre, 1988), Deutsche Bank AG (125 Jahre, 1995), Siemens AG (150 Jahre, 1997), setzte die unternehmensgeschichtliche Forschung seit Mitte der 80er Jahre neue Akzente. Nationalsozialismus und Kriegswirtschaft wurden dabei nicht länger tabuisiert. Alltagshistorische Fragestellungen, die in der allgemeinen Geschichtswissenschaft en vogue waren und die das Schicksal des Einzelnen in den Mittelpunkt historischen Interesses rückten, eröffneten neue Perspektiven auf die Rolle privater Unternehmen, ihr Handeln und ihre Verantwortlichkeit im Rahmen eines Unrechtssystems, dessen Urheber der NS-Staat war, dessen Stabilisierung sie sich aber zumindest vorhalten lassen mussten. Kein späterer Vertreter der Stiftungsinitiative beschönigte das. In Arbeiten über die auf Kriegswirtschaft umgestellten Industrieunternehmen spielten Zwangsarbeit und die oft unmenschlichen Lebensbedingungen der eingesetzten KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und Zivilisten eine zentrale Rolle. Diese Forschungen gaben wiederum der Analyse des NS-Systems dadurch weiterführende Impulse, dass sie die etatistische Perspektive, die die Entfaltung dieses Systems aus einer Abfolge bürokratischer Maßnahmen erklärte, durch den Blick auf die Umsetzungswirklichkeit ergänzten und damit einen weiteren Schlüssel zum Verständnis seiner Radikalisierungsdynamik entdeckten.

Aus dem Anspruch, »lückenlos und umfassend« aufzuklären, leiteten die Unternehmen, Betriebsräte und Vorstände gleichermaßen, die Aufgabe ab, »dazu beizutragen, dass nie wieder Unrecht und Gewalt, Rassenhass und Volksverhetzung an die Stelle von Recht und Frieden treten«.[17] In diesem Verständnis förderten einzelne Unternehmen seit Ende der 80er Jahre verstärkt Initiativen der internationalen Jugendbegegnung sowie die wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Allgemeinen und mit Zwangsarbeit im Besonderen.[18]

Die Begegnung mit Zeitzeugen nahm einen besonderen Rang ein. Viele Unternehmen stellten im Rahmen von Besuchsprogrammen den Kontakt zu ehemals in ihren Werken eingesetzten Zwangsarbeitern her, um deren Lebensgeschichten als Teil der Unternehmensgeschichte gegenwärtig zu halten.

Die öffentliche Resonanz auf das Thema Zwangsarbeit war bis zur Aktualisierung durch die US-Sammelklagen gleichwohl gering, Pionierstudien über den Einsatz ziviler Fremdarbeiter im Dritten Reich blieben außerhalb der Fachwelt eher unbemerkt.[19]

In vielen Firmen kam die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit erst Mitte der 90er Jahre in Gang. Oft lag das an alten Besitzstrukturen und Loyalitäten, die bis dahin einen offenen Umgang blockierten. Erst der generationsbedingte Wechsel an der Spitze der Unternehmen, der jüngere Manager, die NS-Zeit und Krieg allenfalls als Kleinkinder erlebt hatten, in Führungspositionen brachte, machte in vielen Fällen den Weg frei. Das galt z.B. für die Degussa AG. Sie gab 1997 ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Unternehmens als größte Edelmetallscheideanstalt Europas während des Nationalsozialismus in Auftrag und kooperierte mit dem World Jewish Congress, um den Verbleib von Edelmetallen aus jüdischem Besitz zu klären.[20]

Dass unternehmenshistorische Arbeiten als Quelle für Sammelklagen in den USA dienen konnten, kam wohl den wenigsten im Management in den Sinn, zumal kein individuelles Schuldgefühl Fragen nach den Rechtsfolgen von Geschichte nahe legte. Beispiele gibt es genug. Die Klageschriften gegen VW aus dem Jahr 1998 z.B. beruhten zum Teil auf der kurz zuvor erschienenen Studie zur Zwangsarbeit bei Volkswagen und trafen damit einen Konzern, der, wie auch Daimler-Benz, früher als andere dazu bereit gewesen war, sich mit der NS-Zeit auseinander zu setzen.

Die spezifische Praxisrelevanz kritischer Geschichtswissenschaft schlug sich seit Mitte der 90er Jahre in einem zunehmend internationalisierten und politisierten Forschungskontext nieder. Am deutlichsten zeigte sich das in den hitzigen Diskussionen um das so genannte »Raubgold« der Nationalsozialisten, das aus den Zentralbanken der besetzten Länder Europas, aber auch aus konfisziertem Eigentum NS-Verfolgter stammte, bis hin zum eingeschmolzenen Zahngold ermordeter Juden. Sie thematisierten die kriegsverlängernde Funktion der neutralen Staaten, allen voran der Schweiz als Hauptabnehmerin dieses Goldes. Für dessen Devisenwert, so eine der Kernthesen, konnte das Deutsche Reich wichtige Rohstoffe erwerben und damit die Kriegsmaschinerie am Laufen halten. Angestoßen und vorangetrieben wurden diese Diskussionen durch umfangreiche, staatlich initiierte Recherchen in den USA unter der Leitung des damaligen Staatssekretärs im US-Handelsministerium, Stuart E. Eizenstat (Eizenstat-Berichte).[21] Für die Schweiz untersuchten zwei 1996 eingerichtete internationale Kommissionen, die Volcker-Kommission und die Bergier-Kommission, das Verhalten von Schweizer Institutionen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Es ging um den Umgang der Schweizer Banken mit Vermögen NS-Verfolgter, das auf Schweizer Konten deponiert, nach dem Krieg aber nicht an die Berechtigten oder ihre Erben zurückgegeben worden war sowie die Goldgeschäfte der Nationalbank und die Flüchtlingspolitik.[22] Unter dem Eindruck der 1996/97 angestrengten Sammelklagen gegen Schweizer Großbanken im Zusammenhang mit so genannten nachrichtenlosen Konten (dormant accounts) strahlten diese Diskussionen mit ihren politischen und diplomatischen Weiterungen intensiv nach Deutschland aus.

Zwei internationale Konferenzen über »Nazi-Gold« (London 1997) bzw. »Vermögenswerte aus der Holocaust-Ära« (Washington 1998) boten schließlich für mehr als 40 Staaten und rund ein Dutzend Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) das Forum, den Verbleib geraubter Kunstwerke, das Problem unbezahlter Versicherungspolicen, allgemein Fragen der so genannten »Holocaust Era Assets« zu thematisieren.[23] Von diesen Konferenzen gingen multinationale Initiativen aus, Bildungsprogramme zu Holocaust und Totalitarismus in den Lehrplänen der Schulen zu verankern.[24]

Handlungsorientierte US-Geschichtspolitik

Diese »Geschichtskonjunktur« brachte durch neue Forschungsergebnisse größere Klarheit zu den Sachverhalten, erschöpfte sich aber nicht darin. Vielmehr traten Fragen der Rückerstattung, der Entschädigung, überhaupt praktische Konsequenzen in den Mittelpunkt. Holocaust-bezogene Entschädigungs-, Forschungs- und Bildungsfragen besaßen in der USPolitik seit Mitte der 90er Jahre höchste Priorität.[25] Motor dieser Entwicklung war die Clinton-Administration. Sie mobilisierte ihre politischen und diplomatischen Ressourcen, schuf mit der Benennung diverser Kommissionen und Sonderbeauftragter die personelle Infrastruktur, um das selbstgesetzte Ziel zu realisieren, alle noch offenen Eigentums- und Entschädigungsfragen im Zusammenhang mit dem Holocaust im weitesten Sinne bis zum Ende des Jahrtausends zu lösen – nach der Devise »setting history straight«.[26] Kein US-Präsident vor Bill Clinton hatte sich persönlich mit so großem Nachdruck dafür eingesetzt.

Abgesehen von der Rolle neutraler Staaten, insbesondere der Schweiz, richtete sich das konkrete US-Interesse dabei zunächst auf die ehemals kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas und die Rückgabe NSOpfern entzogener Vermögenswerte, die nach dem Ende des Krieges dort verstaatlicht worden waren und nun reprivatisiert werden sollten. In erster Linie betraf das privates und kommunales jüdisches Eigentum. Mit der Mission eines Special Envoy for Property Claims in Central and Eastern Europe betraute US-Präsident Clinton 1995 Stuart E. Eizenstat.[27] Eizenstat identifizierte sich mit der Aufgabe, »die Untersuchung alter Fakten in neue Realitäten umzuwandeln«.[28] Im Sommer 1999 wurde er außerdem zum Special Representative of the President and the Secretary of State for Holocaust Issues ernannt. Eizenstat wurde zur Schlüsselfigur in allen Angelegenheiten der Holocaust Era Assets. Bei ihm liefen die Fäden zusammen, er koordinierte alle relevanten Aktivitäten, in die mehrere staatliche und private Institutionen eingebunden waren.[29] Ihm wurde im Juni 1996 James D. Bindenagel als Special Envoy for Holocaust Issues zur Seite gestellt, ein Karriere-Diplomat mit großer Deutschland-Erfahrung.

Der US-Kongress stand der Exekutive nicht nach. Mit über einem Dutzend Anhörungen zum Gesamtkomplex der Holocaust Era Assets zwischen 1996 und 2001, mit mehreren Gesetzesinitiativen zu Entschädigung, Archivöffnung und Sanktionen gegen europäische Versicherungen, verstärkte er die Stoßrichtung dieser Politik.[30]

Den entscheidenden Anstoß aber, die Thematik ins politische Bewusstsein zu heben und auf die internationale Tagesordnung zu setzen, schrieb Eizenstat einzelnen Personen zu: Edgar Bronfman, dem Präsidenten des World Jewish Congress, dessen Generalsekretär Israel Singer und Exekutivdirektor Elan Steinberg. Ausdrücklich hob er auch US-Senator Alfonse D’Amato als treibende Kraft hervor.[31]

»Die Umwandlung alter Fakten in neue Realitäten«

Fünf inhaltliche Schwerpunkte der US-Geschichtspolitik in der zweiten Hälfte der 90er Jahre kristallisierten heraus: NS-Raubgold und jüdisches Bankvermögen in der Schweiz (seit 1995), Beutekunst und Versicherungspolicen (seit 1997) und schließlich Zwangsarbeit sowie generell Vermögensschäden (seit 1998). Der Fokus richtete sich auf ganz Europa, auf die staatliche Ebene wie auf die Privatwirtschaft.

Solch handlungsorientiertes Interesse konnte sich u.a. auf Forschungsergebnisse beziehen, die durch deutsche Banken auf den Weg gebracht worden waren. Unabhängige Historiker hatten in ihrem Auftrag z.B. Goldtransaktionen während der NS-Zeit oder den Komplex der »Arisierung« untersucht.[32] Die Allianz AG erteilte 1997 den Auftrag, die Geschichte des Unternehmens während der NS-Zeit zu erforschen.[33] Auf die Vorwürfe, Versicherungspolicen seien noch offen, reagierte der Konzern mit einer weltweit geschalteten Hotline, um Anfragen umgehend zu bearbeiten. Zusätzlich ließ er seine Archive extern auf eventuell offene Ansprüche prüfen.[34] Einmal erschüttertes Vertrauen in die langfristige Verlässlichkeit der Geschäftspolitik ließ sich auf diesem Sektor nicht leicht wiederherstellen und konnte gravierende Wettbewerbsnachteile zur Folge haben. Wer wollte schon sein Leben bei einem Unternehmen versichern, dem vorgeworfen wurde, Berechtigten die Auszahlung ihrer Policen jahrzehntelang vorenthalten zu haben? Gerade Unternehmen, die durch einen engen lebensweltlichen Bezug zu Millionen von Kunden lange Außengrenzen besaßen, waren durch diese Art der Anschuldigungen und den daraus resultierenden Vertrauensverlusten wirksam zu treffen.

Während also einschlägige Forschungsergebnisse in den 80er und frühen 90er Jahren überwiegend akademischen Interessen dienten, erlangten sie in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zusätzlich praktische Bedeutung. Forciert wurde diese Akzentverschiebung durch zwei damals aufeinander treffende Tendenzen: die handlungsorientierte Geschichtspolitik der US-Regierung und die investitionsorientierte Geschäftspolitik europäischer Konzerne in den USA.[35] Hier liegt eine Teilantwort auf die Frage, weshalb das nicht neue Wissen um die Einbindung privater Unternehmen in NS-Unrecht den Handlungsraum eröffnete, in dem Sammelklagen die ihnen eigene Logik entfalten konnten. Sie fungierten mehr als publizistisches und politisches Instrument denn als Mittel zur Rechtsfindung. Ihre Wirkungsmacht schöpften sie aus der öffentlichen Resonanz auf die Problematik, die sie thematisierten. Standen Menschenrechtsverletzungen zur Debatte, konnten sie auf einen breiten Wertekonsens zählen, als Ausgangspunkt für jede Form der Skandalisierung. Sammelklagen wurden dadurch in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach zum Inbegriff verspäteter Gerechtigkeit. Für manche indess waren sie in diesem Kontext nichts anderes als ein Instrument der Erpressung.

Ein weiterer Aspekt, der die Praxisrelevanz historischer Erkenntnis beförderte, kommt hinzu. In dem Maße, wie sich global agierende Konzerne zur »corporate citizenship« bekannten, die sie darauf verpflichtete, Grundprinzipien gesellschaftlicher Verantwortung, darunter die Achtung der Menschenrechte, in der Unternehmenspraxis zu verankern, forderte der Vorwurf, in der Vergangenheit massiv Menschenrechte verletzt zu haben, bereits um der eigenen Glaubwürdigkeit willen zu einer Reaktion heraus.[36] Um dem gerecht zu werden und Angriffen zu wehren, rekapitulierten die Unternehmen für sich, wie sie in den zurückliegenden Jahrzehnten mit der Entschädigungsproblematik umgegangen waren. Denn das handlungsorientierte Bekenntnis zur historischen Verantwortung war nicht erst das Produkt der Globalisierung, obgleich insbesondere US-Medien zuweilen den Eindruck hervorriefen, Fragen des materiellen Ausgleichs für NS-Unrecht seien erstmals durch die Aktualiät der Sammelklagen zur Sprache gekommen.

Wie hatte sich die deutsche Wirtschaft also in der Vergangenheit diesen Fragen gestellt?

Bestandsaufnahme

In den 50er und 60er Jahren trafen einzelne Industrieunternehmen mit der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference)[37] pauschale Abkommen, um in erster Linie jüdische KZ-Häftlinge, die während des Krieges für diese Firmen arbeiten mussten, individuell zu entschädigen. Diese Vereinbarungen kamen teils im Wege eines gerichtlichen Vergleichs zustande, wie bei den IG-Farben i. L.[38] Teils resultierten sie aus außergerichtlichen Verhandlungen. Eine Haftung im juristischen Sinn lehnten die Firmen dabei stets ab. Und selbst mit der Anerkennung moralischer Verantwortung hatten manche damals noch Schwierigkeiten. Im Gegenzug stellte die Claims Conference die Unternehmen von weiteren Ansprüchen jüdischer KZ-Häftlinge aus Zwangsarbeit frei.

Unternehmensleistungen für die Individualentschädigung jüdischer KZ-Häftlinge

IG-Farben i.L. (IV/1958)

30 Mio. DM[39]

Fried. Krupp (XII/1959)

10 Mio. DM

AEG/Telefunken (VIII/1960)

4 Mio. DM

Siemens & Halske (V/1962;XI/1966)

5 Mio. DM/2 Mio. DM

Rheinmetall (1966)

2,5 Mio. DM

Feldmühle Nobel AG/Deutsche Bank (1986)

5 Mio. DM[40]

In den 80er und 90er Jahren verlagerte sich die Zielsetzung einschlägiger Unternehmensleistungen. Jetzt gingen Zahlungen an karitative Einrichtungen, um deren humanitäre Hilfsprogramme für NS-Geschädigte, darunter auch Zwangsarbeiter insbesondere in Osteuropa, zu unterstützen. Die Empfänger dieser Leistungen mussten anders als früher keinen spezifischen Bezug mehr zu den Spenderfirmen haben. Die Daimler-Benz AG stellte so 1988 der Claims Conference 10 Mio. DM zur Verfügung und jeweils weitere 5 Mio. DM dem Roten Kreuz sowie dem Maximilian-Kolbe-Werk[41]. Die Volkswagen AG förderte 1991 mit 12 Mio. DM Projekte mehrerer Trägerorganisationen, die Jugend-, Alten- und Behindertenarbeit sowie Krankenhäuser in Weißrussland, Polen und der Ukraine finanzierten. Die Hamburgische Electricitäts-Werke AG überwies für den Einsatz polnischer KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs eine namhafte Summe an die Stiftung »Deutsch-Polnische Aussöhnung« in Warschau[42]. Die Deutsche Bank überließ 1998 der World Jewish Restitution Organisation, einer 1992 gegründeten Schwesterorganisation der Claims Conference, mit rund 2,8 Mio. DM die Hälfte der Erlöse aus dem Verkauf eines Goldbestandes, dessen Herkunft aus NS-Raubgold nicht auszuschließen war. Die andere Hälfte ging an die Stiftung »March of the Living«.[43]

In der Bereitschaft zu pauschalen Leistungen manifestierte sich die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Unternehmensgeschichte während der NS-Zeit. Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten sensibilisierten zwar für das individuelle Leid der Opfer einer rüden und menschenverachtenden Politik; Großunternehmen wie mittelständische Betriebe leisteten spontan auch in Einzelfällen materielle Hilfe. Prinzipiell aber kamen individuelle Entschädigungszahlungen nicht in Frage. Entsprechende Anfragen ehemaliger Zwangsarbeiter, die sich seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre häuften, wurden stets abgelehnt. Einzelfallgerechtigkeit schien den Unternehmen nicht die richtige Antwort auf eine Problematik zu sein, die in ihren Dimensionen derart weit über den Rahmen des Individuellen hinaus reichte; wenn überhaupt, dann galt ein Lösungsansatz als geboten, der alle noch lebenden Zwangsarbeiter in gleicher Weise berücksichtigte. Bereits deshalb war es letztlich unerheblich, dass damals die gesetzlichen Löhne in der Regel entrichtet worden waren; dem Management der beklagten Firmen war bewusst, dass derartige Aspekte dem Anspruch historischer und moralischer Verantwortung nicht gerecht wurden und vor dem Hintergrund öffentlichen Drucks nicht überzeugten.

Wie war für die Wirtschaft angesichts dieser Bestandsaufnahme Ende der 90er Jahre die rechtliche Ausgangssituation einzuschätzen? In welchem Maß war mit einem Erfolg der Klagen zu rechnen? Hier ist zwischen Industrie und Finanzwirtschaft unter dem Blickwinkel der allgemeinen Reparationsproblematik einerseits und der Wiedergutmachung für NS-Unrecht andererseits zu unterscheiden.

Juristische Sondierungen im Geflecht von Reparationsproblematik und Wiedergutmachung

Die Position der Industrie

Mit den ersten US-Sammelklagen gegen die deutsche Industrie im Frühjahr 1998 reaktivierten die Chefsyndizi der beklagten Automobil-, Stahl- und Chemiekonzerne einen bereits in den 50er Jahren gegründeten Juristenkreis, der sich wiederholt mit Fragen der rechtlichen Verantwortung von Unternehmen für Zwangsarbeit befasst hatte. Ziel war es, gemeinsam die Rechtslage zu sondieren und sich auszutauschen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fungierte als Gastgeber regelmäßiger Treffen, an denen schließlich immer mehr Firmen, zeitweilig mehrere Dutzend, teilnahmen, die in den Jahren 1998/99 von Klagen betroffen waren oder ebenfalls mit Prozessen in den USA rechneten.

Die Diskussionen drehten sich anfangs um die Frage, ob private Unternehmen überhaupt für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern im Rahmen der Kriegswirtschaft finanziell in die Pflicht genommen werden könnten. Welche rechtlichen Möglichkeiten existierten, um Lohn- und Schadenersatzansprüche mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende gerichtlich gegen die Firmen durchzusetzen?

Die Syndizi waren der Auffassung, dass keine rechtlichen Anspruchsgrundlagen für Klagen gegen Unternehmen bestanden, weil es sich bei dem millionenfach erzwungenen Arbeitseinsatz ausländischer Zivilbevölkerung um Unrecht im Zusammenhang mit Kriegsgeschehen handelte. Nach dem Völkerrecht hafte hierfür allein der Staat als Verursacher. Mit dieser Begründung hatten auch US-amerikanische Zivilgerichte Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter gegen in den USA tätige deutsche Unternehmen stets abgewiesen.[44] Der Ausgleich kriegsbedingter Schäden bleibt in der Regel zwischenstaatlichen Reparationsleistungen vorbehalten. Zwangsarbeit und Deportation gelten seit dem Ersten Weltkrieg als völkerrechtswidrig und begründen reparationsrechtliche Ansprüche. Sie können allerdings nicht von den Betroffenen selbst, sondern nur von deren Heimatstaaten geltend gemacht werden. Nach ganz herrschender Meinung gewährt das Völkerrecht als zwischenstaatliches Recht zwar dem Einzelnen internationalen Schutz mittelbar als Angehörigem eines Staates, nicht jedoch unmittelbar als eigenständigem Völkerrechtssubjekt. Somit sind Individualklagen auf Schadenersatz wegen Zwangsarbeit gegen den schädigenden Staat ausgeschlossen. Ehemalige Zwangsarbeiter mussten sich also an ihre eigenen Staaten wenden, wollten sie über diese ihre Forderungen geltend machen.

Die Frage der Entschädigung von Zwangsarbeit hing so unmittelbar mit der völkerrechtlichen Reparationsproblematik zusammen. Um die rechtlichen Konsequenzen zu verstehen, die daraus für die beklagten Unternehmen resultierten, ist ein kurzer historischer Rückblick auf die Entwicklung dieser Problematik nach dem Zweiten Weltkrieg sinnvoll.

Nach 1945 hatte sich die Reparationsfrage unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts zu Lasten der Zwangsarbeiter entwickelt. Auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam waren die Alliierten zwar grundsätzlich übereingekommen, dass Deutschland gezwungen werden sollte, »in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und die Leiden, die es den Vereinten Nationen verursacht hat und wofür das deutsche Volk der Verantwortung nicht entgehen kann, Ausgleich zu schaffen«.[45] Der Umfang der Reparationsleistungen aber sollte generell durch Deutschlands Zahlungsfähigkeit, einem letztlich politisch interpretierbaren Kriterium begrenzt sein.[46] Die Alliierten oktroyierten in diesem Rahmen Reparationsleistungen, die grundsätzlich auch für den Ausgleich von Zwangsarbeit in Ansatz gebracht werden konnten.[47] Sie unterschieden dabei östliche und westliche Reparationsmasse.

In der sowjetischen Besatzungszone und den ehemaligen Ostgebieten Deutschlands kam es in größtem Umfang zur Demontage industrieller Infrastruktur. 1953 erklärten die Sowjetunion und Polen einseitig ihren Verzicht auf weitere Reparationen gegenüber ganz Deutschland. Trotz dieses Forderungsverzichts hielt Polen jedoch Ansprüche seiner Angehörigen auf individuelle Entschädigung für Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs aufrecht.[48]

Über die westliche Reparationsmasse schlossen die USA, Großbritannien und Frankreich im Januar 1946 mit 15 weiteren Staaten in Paris das Interalliierte Reparationsabkommen (IARA).[49] Neben Demontagen wurde das gesamte deutsche Auslandsvermögen in die Reparationsmasse einbezogen und entsprechend einem von allen Beteiligten vereinbarten Allokationsschlüssel auf die einzelnen Signatarmächte verteilt. Eine Schlussabrechnung über die gesamten Reparationsansprüche, in die auch Leistungen für Zwangsarbeit einbezogen waren, sollte Gegenstand eines Friedensvertrags sein.[50]

Die drei Westalliierten hielten sich, im Unterschied zur Sowjetunion, mit Demontagen und Entnahmen aus laufender Produktion relativ zurück. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges schienen hohe Reparationsforderungen gegen die Bundesrepublik deren Option für den Westen und damit den europäischen Wiederaufbau insgesamt gefährden zu können. Das so genannte Londoner Schuldenabkommen von 1953 zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, das zur Wiederherstellung des Kredits die deutschen Auslandsschulden regelte, legte deshalb die »Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen (…) bis zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage« auf Eis – unabhängig davon, ob sich die Forderungen gegen das Reich oder gegen im Auftrag des Reichs handelnde Stellen bzw. Personen richteten.[51] Der Zeitpunkt dieser Prüfung blieb offen. Die rechtlichen Voraussetzungen hingegen präzisierte der 1952 unterzeichnete, erst 1955 modifiziert in Kraft getretene Überleitungsvertrag, der das Besatzungsregime in der Bundesrepublik beendete. Danach blieb die Reparationsfrage dem »Friedensvertrag zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern« anheim gestellt, falls sie nicht schon vorher »durch diese Frage betreffende Abkommen geregelt« werden würde.[52] Zu solchen Abkommen kam es nicht.

Nach der Wiedervereinigung betrachtete die Bundesrepublik die Reparationsproblematik »de facto« als »erledigt«. Der 2+4-Vertrag von 1990[53], der die Wiedervereinigung Deutschlands besiegelte, wurde in seiner friedensvertraglichen Eigenqualität von der Bundesrepublik dahingehend interpretiert, dass »ohne formellen Abschluss eines Friedensvertrages (…) der Eintritt der Wiedervereinigung nicht bedeute, dass die Reparationsproblematik noch einmal aufgerollt werden muss«. Zum einen fehlten konkrete, vertraglich vereinbarte Verpflichtungen, wodurch Reparationsforderungen zu begründen wären. Zum anderen entzogen ihnen die Verzichtserklärungen ehemaliger Gegner und »die bereits erbrachten Leistungen Deutschlands 45 Jahre nach Kriegsende« den Boden.[54] Die Reparationsfrage habe ihre Berechtigung verloren – so lautet die Standardformulierung aller Bundesregierungen seit 1990.

Der Ablauf eines halben Jahrhunderts seit Kriegsende und die engen Bande europäischer und transatlantischer Kooperation hatten die internationalen Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt. Die USA schienen mit dieser Sichtweise im Prinzip einverstanden. Der US-Kongress brachte seine Haltung zur Reparationsfrage 1990 daher auf die Formel: »The United States believes that reparations from World War II are no longer an issue on the agenda between Bonn and Washington.«[55] Unter rechtlichen Gesichtspunkten betrachteten die USA diese Frage indes als weiterhin offen.

Kurz, die Bundesregierung und die Syndizi der verklagten Industrieunternehmen stimmten darin überein, dass nach dem Völkerrecht Individualansprüche aus Zwangsarbeit nicht gegeben seien, sie vielmehr von zwischenstaatlichen Reparationsansprüchen absorbiert worden waren.

»Soweit während des Zweiten Weltkrieges ausländische Zwangsarbeiter verpflichtet und eingesetzt worden sind, können diese keine direkten Ansprüche gegen den Krieg führenden Staat oder seine Unternehmen geltend machen. Solche Forderungen können nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen nicht von einzelnen Personen und auch nicht gegen einzelne Personen oder privatrechtliche juristische Personen, sondern nur von Staat zu Staat als Reparationsverlangen geltend gemacht werden. Zur Regelung solcher Ansprüche bedarf es völkerrechtlicher Vereinbarungen zwischen den betroffenen Staaten. Deutsche Privatunternehmen können deshalb von ausländischen Zwangsarbeitern nicht in Anspruch genommen werden. Auch deutsche Gesetze sehen solche Ansprüche nicht vor.«

 

Unterrichtung des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung vom 3. Juni 1996[56]

Diese Rechtsauffassung war allerdings umstritten. Opfervertreter und teilweise die einschlägige deutsche Rechtsprechung verneinten den ausschließlich reparationenrechtlichen Charakter der Zwangsarbeit, begriffen sie vielmehr als entschädigungsfähigen Tatbestand unter den Gesichtspunkten der Staatshaftung bzw. spezifischer NS-Verfolgung.[57] Veranlasst durch Pilotklagen ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter unmittelbar gegen die Bundesrepublik, hatte das Bundesverfassungsgericht 1996 die Diskussion um einklagbare Ansprüche, auch gegen deutsche Unternehmen, angefacht.[58] Die Verfassungsrichter zeigten Handlungsspielräume für den deutschen Gesetzgeber auf, alternativ zum zwischenstaatlichen Reparationsreglement durch innerstaatliches Recht eine auch unmittelbare Grundlage für Individualansprüche aus Zwangsarbeit zu schaffen. Sie knüpften in ihrer Entscheidung an jüngere Entwicklungen im Völkerrecht an, die den Schutz der Menschenrechte erweitern und es zuließen, dem Einzelnen ein eigenes – und nicht länger nur durch Staaten vermitteltes – Recht zu gewähren.[59] Das Bundesverfassungsgericht unterschied demnach zwischen Ansprüchen von Staaten wegen Schädigung ihrer Angehörigen und Ansprüchen der Betroffenen selbst. In der Auffassung, dass die völkerrechtlichen Ansprüche eines Staates einen Anspruch des Einzelnen nicht ausschließen, sofern ihm nationales Recht einen solchen Anspruch jenseits völkerrechtlicher Verpflichtungen gewährt, z.B. durch die entsprechende Entschädigungsgesetzgebung, ging es von einer »Anspruchsparallelität« aus. Sie gelte, stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich fest, »auch für etwaige zwischenstaatliche Ansprüche aufgrund von Zwangsarbeit im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg«.[60] Allerdings gestand das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber zu, Prioritäten zwischen Entschädigungsleistungen und anderen Staatsaufgaben zu setzen und dabei die wirtschaftliche Lage bzw. die finanzielle Leistungskraft des Staates zu berücksichtigen. Bis dato hatte kein deutsches Parlament eine Rechtsgrundlage für die Entschädigung von Zwangsarbeit als solcher geschaffen, sei es in Form innerstaatlicher Gesetzgebung, sei es auf staatsvertraglicher Ebene.

Kritisch für die Unternehmen war an diesem Beschluss, dass das Dogma der Ausschließlichkeit zwischenstaatlicher Entschädigungsregelungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen angetastet wurde. Denn die jetzt verfassungsrechtlich bekräftigten Handlungsspielräume des nationalen Gesetzgebers für Ansprüche gegen den Staat konnten theoretisch die Tür auch für Ansprüche gegen Unternehmen einen Spalt breit öffnen. Nach wie vor aber dominierte die Überzeugung, dass Kriegsfolgen exklusiv zwischenstaatlich geregelt werden sollten. Die Syndizi der angegriffenen Unternehmen wussten sich darin mit Völkerrechtsexperten und mit der internationalen Völkerrechtspraxis einig.[61]

Der Juristenkreis der Industrie diskutierte jedoch nicht nur völkerrechtliche Argumente gegen individuelle Entschädigungsforderungen, sondern auch originäre verfahrens- und zivilrechtliche Einwände des USamerikanischen Rechts, die die Zulässigkeit von Prozessen in den USA in Frage stellten. Die Syndizi bezogen sich auf die fehlende internationale Zuständigkeit amerikanischer Gerichte, über deutsche Unternehmen ohne Geschäftsstandort in den USA Recht zu sprechen (personal jurisdiction). Damit verbunden war die Frage, ob für derartige Ansprüche im US-Recht bereits abstrakt ein Rechtsgrund gegeben sein konnte (subject matter jurisdiction). Selbst wenn die Gerichte für die Parteien und die Sache eine Zuständigkeit annehmen sollten, hätten sie doch den zwingenden Vorrang deutscher Gerichte zu achten, und zwar wegen deren größerer Orts- und Sachnähe zum Geschehen in Europa 50 Jahre zuvor (z.B. bezüglich der Verfügbarkeit von Beweismitteln), was zu einer Abweisung aufgrund der Doktrin des forum non conveniens hätte führen müssen. Ergänzend konnte auch der völkerrechtlich gebotene Respekt vor einer ausländischen Rechtsordnung ins Feld geführt werden (international comity), nachdem die Annahme der Zuständigkeit amerikanischer Gerichte für Fälle ohne unmittelbaren Bezug zu den USA den Souveränitätsanspruch dritter Staaten verletzen würde.

Bei den in Deutschland angestrengten Zwangsarbeiterklagen kam ein weiterer Rechtswegaspekt hinzu. Bis zum Sommer 1999 waren Tausende von Verfahren gegen deutsche Unternehmen vor Arbeitsgerichten anhängig gemacht worden. Nach unterschiedlichen Urteilen über die arbeitsgerichtliche Zuständigkeit lehnte sie das Bundesarbeitsgericht letztinstanzlich mit der Begründung ab, dass es sich bei Zwangsarbeit unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht um Arbeitsverhältnisse gehandelt habe und dementsprechend die Zivilgerichtsbarkeit zuständig sei.[62]

In den Jahrzehnten zuvor hatte es immer wieder Entschädigungsklagen ehemaliger Zwangsarbeiter gegen Privatfirmen vor bundesdeutschen Zivilgerichten gegeben. Doch waren alle, bis auf eine Ausnahme, rechtskräftig abgewiesen worden.[63]

Die Position der Finanzwirtschaft

Für Kreditinstitute und Versicherungsgesellschaften stellte sich die rechtliche Ausgangslage in Teilen erheblich anders dar. Soweit nicht schon Reparationsgesichtspunkte Zivilprozessen entgegenstanden, entzog nach Ansicht der beklagten Finanzunternehmen und der Bundesregierung bereits die alliierte und deutsche Politik der Wiedergutmachung von NSUnrecht der letzten 50 Jahre den jetzt in den USA geltend gemachten vermögensrechtlichen Ansprüchen die juristische Grundlage.

Um die Tragweite der Wiedergutmachung für die rechtliche Situation der beklagten Banken und Versicherungen einzuschätzen, ist auch hier ein kurzer historischer Rückblick angezeigt.[64]

Die US-Klagen stellten mit dem generellen Vorwurf der ungerechtfertigten Bereicherung an entzogenem jüdischen Vermögen auf einen Unrechtszusammenhang ab, der nicht unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen zu tun hatte, sondern der in der Ideologie des NS-Regimes wurzelte. Die Unterscheidung aber von kriegs- und NS-bedingtem Unrecht war für die materielle Bewältigung der Folgen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg ausschlaggebend. Während die Prüfung der kriegsbedingten Reparationsforderungen gegen Deutschland bis zu einer späteren friedensvertraglichen Regelung aufgeschoben wurde, entfaltete sich im Zusammenhang mit NS-Unrecht in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands unmittelbar nach Kriegsende unter der begrifflichen Klammer »Wiedergutmachung« ein umfangreiches legislatives Regelwerk zur Rückerstattung und Entschädigung. Alliierte Militärgesetze, allen voran das Pioniergesetz No. 59 der Amerikanischen Militärregierung vom 10. November 1947, legten das rechtliche Fundament für das, was international als politischer und moralischer Prüfstein für die westdeutsche Demokratie galt, als Ausweis der Rückkehr Deutschlands in die Völkerfamilie.[65]

Die rasche Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an die Opfer von NS-Verfolgung stand zunächst im Vordergrund. Sie erstreckte sich auf Sachen ebenso wie auf Rechte (z.B. Grundstücke und Rechte an Grundstücken, bewegliche Wertgegenstände wie Schmuck, Edelmetalle, Kunstgegenstände, Sammlungen sowie Bankguthaben, Wertpapiere, Versicherungsansprüche und andere Rechte). Bis zum Beginn der 50er Jahre war bereits die Mehrheit aller Fälle auf dem Gebiet der Bundesrepublik durch Rückgabe (Naturalrestitution), Vergleiche, Wert- oder Schadenersatzleistungen abgewickelt worden. Die Währungsumstellung sowie rechtliche Rahmenbedingungen wie z.B. Höchstgrenzen führten dabei zum Teil zu Einbußen. Die Rückerstattungsansprüche richteten sich hauptsächlich gegen die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, die von den Alliierten für die verfolgungsbedingten Vermögensverluste haftbar gemacht wurde.

Die personenbezogene Entschädigung von Opfern rassischer und politischer Verfolgung kam dagegen erst später in Gang. Improvisierte, lokale und kommunale Fürsorgeleistungen traten allmählich hinter Entschädigungsansprüche auf Länderebene zurück. Auch hier kam mit dem am 1. April 1949 in Kraft gesetzten US-zonalen Entschädigungsgesetz der entscheidende Anstoß aus der amerikanischen Zone.

Unter maßgeblichem Einfluss der USA verpflichtete sich die Bundesrepublik im Überleitungsvertrag (1955), die besatzungsrechtlichen Regelungen zur Rückerstattung und Entschädigung für NS-Verfolgte fortzuführen, zu vereinheitlichen und zu ergänzen. Konkret bedeutete dies, die Rückerstattung beschleunigt durchzuführen, rückerstattungsrechtliche Ansprüche gegen das Deutsche Reich zu befriedigen und verfolgungsbedingte Personenschäden angemessen zu entschädigen.

Im Rahmen der Wiedergutmachungsgesetzgebung waren Banken und Versicherungen zu Auskunft und Kooperation mit den Behörden verpflichtet worden. Der endgültige Abschluss der Währungsumstellung Mitte der 70er Jahre zwang die Unternehmen dazu, die letzten, eventuell verbliebenen Reichsmarkguthaben und Wertpapiere dem zuständigen Bundesausgleichsamt anzuzeigen und die entsprechenden Bestände abzugeben.[66] »Nachrichtenlose Konten«, deren eventuelle Guthaben wie in der Schweiz in der Verfügung der Banken geblieben waren, konnte es also bei deutschen Kreditinstituten nicht mehr geben. Für die deutsche Finanzwirtschaft waren damit sämtliche Fälle, soweit die im Einzelnen feststellbaren Vermögenswerte im Geltungsbereich der westdeutschen Rechtsordnung belegen waren, seit Jahrzehnten erledigt.

Wo frühere Eigentümer oder deren Erben nicht mehr lebten bzw. keine Ansprüche geltend gemacht hatten, waren jüdische Nachfolgeorganisationen aufgrund ihrer Benennung als Rechtsnachfolger durch Militärgesetze in deren Rechtsstellung eingetreten: die Jewish Successor Restitution Organization (JRSO) in der US-Zone, die Jewish Trust Corporation in der britischen und französischen Zone. In den 50er und 60er Jahren schlossen sie eine Reihe von Globalvergleichen mit der Bundesrepublik.[67] Nach der Wiedervereinigung handelte die Claims Conference auf der Basis ihrer Anerkennung als Rechtsnachfolgerin durch den 2+4-Vertrag für die erbenlos gebliebenen Ansprüche im Beitrittsgebiet mit der Bundesrepublik einen globalen Vergleich aus.

Der Claims Conference kommt in der gesamten Wiedergutmachungspolitik eine zentrale Rolle zu. Gemeinsam mit dem 1948 gegründeten Staat Israel hatte sie zu Beginn der 50er Jahre mit der Bundesrepublik Verhandlungen aufgenommen. Im Rahmen des abschließenden Luxemburger Abkommens vom 10. September 1952 sagte die Bundesrepublik Israel 3 Mrd. DM als Eingliederungshilfe für NS-Verfolgte zu (Israel-Vertrag).[68]