Verbunden bis ans Ende der Zeit - Kaye Alden - E-Book

Verbunden bis ans Ende der Zeit E-Book

Kaye Alden

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als David dem charmanten Schriftsteller Gabriel begegnet, ist es sofort um ihn geschehen. Er verliebt sich Hals über Kopf, und auch Gabriel scheint von ihm verzaubert zu sein. Gabriel ist jedoch nicht, wer er zu sein vorgibt: Als Ewige Seele lebt er bereits seit über zweihundert Jahren. Immer auf der Suche nach seinem Gefährten, stetig dazu verdammt, David zu finden, zu lieben und zu verlieren. Einzig die Verbindung ihrer Seelen könnte diesen Zyklus durchbrechen. Mit jeder Reinkarnation Davids hofft Gabriel erneut darauf - nur um wieder und wieder enttäuscht und in tiefste Verzweiflung gestürzt zu werden. Endlich scheint sich ihre Bestimmung zu erfüllen. Doch die Idylle trügt. Jemand oder etwas macht Jagd auf Ewige Seelen, denn eine nach der anderen verschwindet. Und diese Bedrohung nähert sich ihnen unerbittlich ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Seelensuche
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56

 

Seelenraub
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Epilog

 

Weitere Romane aus dem Vancouver-Universum
Glossar
Und jetzt?
Bücher, die mitgespielt haben
Rechtliches

Kapitel 1

 

Mit einem unzufriedenen Seufzen warf David die Schirmmütze mit dem Tim-Hortons-Logo in seinen Spind. Schon wieder war der Tag viel zu lang geworden. Wie alle Schichten der letzten Wochen. Es war nicht so, dass sich die Chefs nicht bemühten, jemand zusätzlich einzustellen. Das taten sie! Doch irgendwie bewarben sich entweder nur Idioten oder Leute, die sich als vollkommen ungeeignet herausstellten – wie das scheue Mäuschen gestern, das untergegangen wäre, bevor sie auch nur einen Fuß hinter den Tresen gesetzt hätte. Oder der Lackaffe, der es als unter seiner Würde empfand, Tische abzuwischen.

In gewisser Weise verstand David ihn. Zwar war es nicht unter seiner eigenen Würde, doch er hatte eigentlich nicht Jahre studiert, um dann Kaffee auszuschenken. Trotzdem war er dankbar für den Job, der ihn über Wasser hielt, bis er – hoffentlich – irgendwann etwas Besseres fand. Bisher sah es nur leider nicht so aus. Obgleich das, wenn er ehrlich war, einzig an ihm lag.

Er nahm Fahrradhelm und Rucksack aus dem Spind und lehnte die Tür an, damit sie aus dem Weg war. Abgeschlossen hatte er noch nie, so wie alle anderen auch; hier kam nichts weg.

Als er den Pausenraum verließ, kam ihm seine Lieblingskollegin April entgegen. Obwohl sie ihre Augenringe geschickt mit Make-up kaschiert hatte, sah sie müde aus.

»Kaffee«, sagte sie langgezogen und deutete auf ihre große Tasse, aus der es verheißungsvoll duftete.

David lachte. An dieser Droge hingen sie alle. Kein Wunder, immerhin arbeiteten sie für Tim Hortons. Kaffee, Bagel und Donuts gab es während der Arbeitszeit umsonst und so viel, wie sie wollten. Das reduzierte Davids Lebensmittelausgaben enorm, obwohl er höllisch aufpassen musste, um nicht zu übertreiben. Im ersten Monat hier hatte er gleich einmal drei Kilo zugelegt. Die waren zum Glück wieder runter.

»In zwei Stunden ist auch deine Schicht durch.« Mit dem freien Arm drückte er sie zum Abschied. »Lass dich nicht unterkriegen.«

»Nie!«, behauptete sie energisch und balancierte die Tasse und einen Teller mit Donut an ihm vorbei. »Genieß' den Nachmittag. Du bekommst sogar noch etwas Tageslicht ab.«

April hatte recht. Die Sonne zeigte sich an einem strahlend blauen Himmel, als er den Laden verließ und direkt das schwarze Hemd aus der Uniformhose zog, ehe er sein Rad losschloss. Fröstelnd zog er gleich darauf den Reißverschluss seiner roten Winterjacke zu. Viel Wärme brachte der Nachmittag trotz Sonnenschein nicht. Spätherbst halt. David wickelte seinen Schal zweimal um und zog die Handschuhe über.

Eigentlich war das Wetter zu schön, um nach Hause zu radeln und mit Netflix auf der Couch zu versacken, was sein ursprünglicher Plan gewesen war. Der hatte sich aber auch nach dem Nieselregen des Morgens gerichtet, obwohl David durch die Fenster des Cafés gesehen hatte, dass es aufgeklart war. Vielleicht sollte er stattdessen eine Runde um den Stanley-Park drehen. Oder er radelte runter zu Granville Island und ließ sich durch die Markthalle treiben. Einkaufen musste er eh. Der Winzkühlschrank daheim war gähnend leer, und Essen zu bestellen, war auf Dauer einfach zu teuer. Gerade von seinem ohnehin nicht sonderlich üppigen Gehalt, welches richtig mau durch die Tatsache wurde, dass er davon sein Studiendarlehen abbezahlte.

Düster starrte er die Howe Street hinab und wieder hinauf. So hatte er sich sein Leben nach dem Studium echt nicht vorgestellt. Verschuldet, ja. Aber nicht mit einem Aushilfsjob, der ihn nur eben so über Wasser hielt. Immerhin arbeitete er jedoch in Vancouver Downtown und damit in der schönsten Stadt der Welt. Sie stand ihm nach jedem Dienstschluss in all ihrer Vielfältigkeit zur Verfügung, und das war toll.

Er atmete durch und entschied sich für Granville Island. Heute war ein Grübeltag, und dem begegnete er am besten, indem er etwas unternahm und unter Menschen kam. So ein Scheiß, dass Collin und Stacey, Ex-Kommilitonen, die zu engen Freunden geworden waren, in Toronto Arbeit gefunden hatten und nicht hier. Das ließ spontane Verabredungen vollkommen unmöglich werden. Ihr Büro suchte sogar noch Absolventen des Studiengangs Urban Forestry, aber es war halt Toronto, nicht Vancouver.

Energischer, als er sich fühlte, schwang David sich auf sein Fahrrad und trat in die Pedalen. Der Weg war nicht weit. Gerade einmal die Howe Street hinab und dann am Highway 99 entlang. Wortwörtlich hinab, David musste die Bremse stark beanspruchen, dafür würde der Rückweg anstrengend werden, und das war gut so. Das Sportstudio hatte er auch gecancelt. Zu teuer auf Dauer. Immerhin gab es im Burnaby Central Park mehrere kostenlose Geräte in einem Outdoor-Fitness-Zirkel, den David fleißig nutzte, solange das Wetter mitspielte.

Er winkte einem der Obdachenlosen zu, der immer an derselben Stelle saß und mit dem er schon ein paar Mal Kaffee getrunken hatte. Obdachlose gab es viel zu viele, und nur die wenigsten hatten das frei gewählt. Davor hatte ihn Tim Hortons bewahrt. Oder zumindest davor, zu seinen Eltern zurückziehen zu müssen. Oder seine Lieblingsstadt zu verlassen.

David schnitt eine Grimasse im kalten Fahrtwind. Klar hätten Mom und Dad ihn aufgenommen, aber dann wäre das ewige Gezänk wegen des Augenbrauenpiercings wieder losgegangen. Das war etwas, das er an Vancouver echt zu lieben gelernt hatte – das Leben war bunt. Überhaupt, was gab es an dieser Stadt nicht zu lieben? Außer den Mieten vielleicht. Perfekt zwischen den Rocky Mountains und dem Pazifik gelegen, eine grüne Metropole, die Großstadtleben und Outdoorvergnügen gleichermaßen bot plus offene Menschen. So viel besser als das Kaff, aus dem er kam.

Das Gefälle nahm ab, und David trat ordentlich in die Pedalen, um Schwung für den leichten Aufstieg zur Granville-Bridge zu sammeln. Auf dem höchsten Punkt der Brücke hielt er an und rollte sein Rad von der Fahrradspur auf den Gehweg.

Tief atmete er die klare Luft ein und blendete das Dröhnen der Fahrzeuge hinter sich aus. Er liebte diese Stelle direkt über dem False Creek, der Granville Island von Vancouver Downtown trennte. Rechts erhoben sich glitzernde Wolkenkratzer aus Glas und begrünte Luxuswohntürme in den Himmel, unter ihm wiegten sich wie dahingetupft die weißen Yachten des False Creek Yachtclubs. Linker Hand saß die Halbinsel wie das Hippie-Rebellenkind mit Blumen im Haar neben der edlen Tante im schicken Business-Kostüm. Die Hallen des Public Markets hatte nichts mit den Glaspalästen auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals gemein, davor und darum und darin wuselte eine bunte Menge an Touristen, Hipstern und anderen Vancouveranern. Farbenfroh und vielfältig, einfach traumhaft.

Eine Weile stand er nur da, ließ sich den Kopf vom Wind freipusten und sah auf das glitzernde Wasser, bevor er sich wieder auf seinen Drahtesel schwang und bis zum nächsten Treppenaufgang radelte, der die Brücke mit dem Marktflecken verband. Er trug sein Rad hinab und schloss es direkt am ersten Fahrradständer an. Dann stopfte er die Handschuhe in seinen Rucksack, tastete einmal nahezu unbewusst nach, ob sich seine kurzen braunen Haare noch benahmen, und machte sich auf den Weg zu den Markthallen.

Über ihm wiegten sich die riesigen Weiden unter der Brücke im Wind, Möwen kreischten ihr unharmonisches Konzert. Die Luft schmeckte nach Meer und frittiertem Essen. Davids Magen knurrte. Kurzerhand steuerte er den Stand mit Hotdogs an, der direkt am östlichen Eingang der Markthalle lag. Ein paar Dollar ärmer, dafür aber satt und mit ein wenig schlechtem Gewissen zog er weiter.

Dass er so knapp bei Kasse war, lag unter Umständen auch daran, dass er nicht sonderlich gut mit Geld umgehen konnte. Was er hatte, war eigentlich ziemlich schnell wieder weg. Und dafür ließ sich niemand verantwortlich machen als er selbst. Seine Eltern und Geschwister hatten alle ein besseres Händchen für Finanzen als er.

Immerhin, wenn man wusste, wo man was zu suchen hatte, waren die Preise bei so manchem auch nicht höher als im Safeway oder Save-on. David erstand Nudeln, direkt am Stand eingekochte Tomatensoße und Äpfel sowie Zwiebeln. In einem anderen Geschäft gab es frischen Fisch und im nächsten Fleisch. Angesichts der Tatsache, dass er eigentlich sparen musste, nahm er nur ein wenig Hack mit. Grundnahrungsmittel würde er morgen im Safeway kaufen. Aber für heute hatte er zumindest etwas für ein halbwegs gesundes Essen.

»Danke, Mom«, murmelte er, als er am letzten Stand bezahlte. Immerhin konnte er kochen und war nicht auf Fertigessen angewiesen.

Das konnten die Belanger-Geschwister alle. Ein einziges Mal hatte sein älterer Bruder murrend gemeint, dass ihre Schwester Sarah das doch allein lernen sollte, schließlich sei die das Mädchen. David schlackerten noch immer die Ohren in Erinnerung daran, wie seine sonst so gleichmäßig ruhige Mutter explodiert war. Brian hatte sich niemals wieder darüber beschwert.

Davids Rucksack war schwerer, als er die Markthalle deutlich besser gelaunt verließ, als er sie betreten hatte. Gemächlich schlenderte er zum Meer hinab und setzte sich nahe dem Anleger für den Aquabus auf eine Stufe und sah einer Möwe zu, die mit schief gelegtem Kopf heran hüpfte, wohl in der Hoffnung, dass sie etwas stehlen konnte.

»Hab nichts.« Er grinste. »Und wenn, würde ich es nicht mit dir teilen. Ihr bekommt genug.«

Den Sonnenuntergang wollte er noch abwarten, der war hier immer traumhaft, dann würde er nach Hause radeln. Viel zu schnell sickerte die Kälte des Steins durch den Stoff seiner Jeans, seine Hände froren langsam ein. Sie tauten auch nicht auf, als er die Handschuhe herauskramte und anzog. Egal, gleich würde ihm warm genug werden, wenn er die Howe Street hinaufkeuchte. Und das feurige Spektakel am Himmel war jede Kälte wert, als die Sonne einige Schleierwolken nahe dem Horizont in blutiges Rot tauchte und David mal wieder verstehen ließ, wie die Menschen früher an übernatürliche Dinge hatten glauben können.

Als nur noch ein orangeroter Streifen über dem Meer zu sehen und der Rest des Himmels schon wie mit Samt überzogen wirkte, stand er endlich auf und streckte sich einmal durch. Jetzt fror er wirklich, doch sein Kopf war angenehm klar, und die dunklen Wolken in ihm hatten sich endgültig aufgelöst.

Er schulterte seinen Rucksack, drehte sich um und stellte fest, dass er den Sonnenuntergang nicht allein genossen hatte. Keine zehn Schritte von ihm entfernt stand ein Mann an einen Laternenpfahl gelehnt. Lässig die Hände in den Manteltaschen vergraben starrte er mit unbewegter Miene zu David hin. Nein, doch nicht. Eher an David vorbei.

Schade eigentlich. Er sah gut aus mit einem kantigen, schmalen Gesicht, erstaunlich großen Augen und einem Wust an blonden Locken. Probehalber grinste David ihn an.

Die hellen Augen richteten sich auf ihn und erwiderten seinen Blick mit einem Ausdruck, der wie … Hunger wirkte?

Im nächsten Moment riss es David den Boden unter den Füßen weg. Sein Magen stürzte ab, sein Herz flog hinterher, dann folgte der restliche David. Zumindest fühlte es sich so an. David klammerte sich an den Trageriemen seines Rucksacks, als könnte der ihn vor einem Sturz bewahren, und hielt unwillkürlich den Atem an. Wow.

Kapitel 2

 

Für eine halbe Ewigkeit konnte er nur starren. Diese Augen! Sie waren tief, intensiv, dunkel, hell, sturmumwölkt und sonnenheiter, alles zugleich und noch viel mehr. Sie schienen ihn einzusaugen, anzuziehen wie ein Supermagnet und …

Abrupt wandte der Mann den Blick ab, drehte sich um und ging, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben.

David holte tief Luft. Sein Herz raste, sein Kopf fühlte sich an wie in Wolken gehüllt, und sein ganzer Körper kribbelte. Scheiße, was war das denn gewesen? Nein, was war das? Er starrte weiter, auf einen breiten Rücken in einem hellen Mantel, auf lange Beine und blonde Locken, bis ihm eine Gruppe gut gelaunter Touristen mit dicken Kameras vor den Bäuchen die Sicht versperrte.

Als sie weitergezogen waren, war auch der Mann verschwunden.

Mit einem Mal drangen wieder Stimmen zu David durch. Das Dröhnen der Autos von der Brücke waberte herab, Wasser plätscherte gegen das Ufer und den Rumpf des Fährschiffs. Laternen tauchten die Insel in künstliches Licht, und auf der gegenüberliegenden Uferseite funkelten die Glasbauten wie erleuchtete Juwelen.

»Oh Mann!« Noch einmal atmete er durch. »Was … Wow!«

Das Gefühl, das war nicht von dieser Welt gewesen, oder? David fühlte ein Starkstromkribbeln im Magen, das derart heftig war, dass es an Angst erinnerte. Aber Angst konnte es nicht sein, der Mann hatte nicht im Geringsten bedrohlich gewirkt. Höchstens bedroht, so wie David ihn angestarrt hatte. Na ja, er war schließlich sogar geflohen. Ups. Nicht gut.

Dabei sah David nicht mal gefährlich aus. Klar, er war groß mit seinen eins sechsundachtzig. Aber seine schokobraunen Augen waren laut April nur dazu geeignet, um Trinkgeld von alten Damen zu bekommen, nicht um furchteinflößend zu sein.

Trotzdem war der Mann geflüchtet. Mist verdammt. Jetzt konnte David ihn nicht mal … ja, was? Danach fragen, ob er einen Kaffee mit ihm trinken wollte? Ob er überhaupt auf Männer stand? Ob er ihn kennenlernen durfte?

Enttäuscht verzog er den Mund. Pech gehabt. Warum war er wie angewurzelt stehengeblieben, statt ihm etwas zuzurufen oder ihm hinterherzugehen? Für einen Moment war er versucht, nach ihm zu suchen. Im nächsten schüttelte er ungläubig den Kopf und musste lachen. Der Kerl würde sich bedanken, wenn er ihn jetzt auch noch verfolgte.

Bewusst ließ er den Rucksackträger los, straffte die Schultern und kehrte zu seinem Rad zurück. Auf seinem Weg die Treppe zur Brücke hoch, die Brücke entlang und die Howe Street den Berg hinauf konzentrierte er sich ganz auf den Verkehr und darauf, in die Pedalen zu treten.

Doch als er samt Rad an der Burrard Station in den Skytrain gestiegen war, um bis zu seiner Haltestelle zu fahren, kehrten seine Gedanken unweigerlich zu dem Blondschopf zurück. Er konnte das energische Gesicht wieder vor sich sehen, als hätte er eine Studie davon angefertigt. Ach was, mehrere Studien, obwohl er künstlerisch eher unbegabt war. Die geraden Brauen. Der weiche Mund. Das kleine Netz an Fältchen um die Augen, wenn der Mann lachte.

David schüttelte den Kopf und sah sein Spiegelbild in der Scheibe an.

»Idiot«, flüsterte er sich zu. Er war nicht nah genug gewesen, um irgendwelche Details in dem Gesicht eines Fremden bei Nacht auszumachen. Auch nicht im Licht einer Laterne. Und lachen hatte er ihn erst recht nicht sehen.

Der Mann schien älter zu sein als er, ein paar Jahre zumindest. Vier oder fünf. Das machte ihn achtundzwanzig oder neunundzwanzig. Nicht zu alt.

Davids Spiegelbild rollte die Augen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er den Kerl wiedersehen würde, lag bei vielleicht null Komma drei Prozent. Sich darauf zu fixieren, ob sie etwas gemeinsam hatten, ob er im richtigen Alter und schwul war, schien anhand dessen doch eher unsinnig zu sein.

Trotzdem musste er seine Träume noch mehrfach zurück in die Realität holen. Es war, als wäre der Fremde ein Magnet und Davids Gedanken … ziemlich eisern. Grinsend stieg er an der Patterson Station aus, trug das Fahrrad die Treppen hinab und radelte nach Hause.

 

Der Zugang zu Davids winziger Wohnung lag in einem kahlen Hinterhof, in dem es außer einem vertrockneten Busch und den Müllcontainern nichts gab. Auch an sonnigen Tagen erreichte kein direktes Licht das Appartement, doch es war halbwegs bezahlbar und nicht zu weit von seiner Arbeit weg. Als er die Haustür aufschloss, empfing ihn der typische Geruch nach abgestandenem Zigarettenrauch und einem Gemenge an diversen Kochdünsten.

David trug seinen Drahtesel durch den Hausflur in den achten Stock, denn einen funktionierenden Aufzug gab es nicht, und schob es den schäbigen Flur entlang bis zu der beigefarbenen Tür hinten links mit dem abgeblätterten Lack. Er öffnete sie, hob das Fahrrad auf seinen Platz an der Wand und trat die Tür hinter sich wieder zu, ehe er die Sicherungskette vorlegte.

Daheim. Klein, aber sein. Der Bodenbelag hatte definitiv schon bessere Tage gesehen, ebenso wie die winzige Küche mit den schiefen, eher gelblich als weißen Einbaumöbeln. Doch immerhin hatte die Wohnung eine separate Küche. Dazu gab es ein Bad, in dem er sich kaum umdrehen konnte, sowie ein Zimmer, das groß genug war, um in einem komischen Winkel sein Bett zu beherbergen und zudem Platz für ein Zweisitzersofa, eine TV-Bank und ein Regal bot. Seine Kleidung bewahrte David in Schubladen unter dem Bett auf. Das Haus hatte sogar eine Waschküche mit mehreren Waschmaschinen und Trocknern im Keller, sehr praktisch.

Er räumte seine Einkäufe weg und machte sich ans Kochen. Doch als er es sich wenig später mit einem großen Teller Spirelli mit Tomatensoße und einer Cola auf seinem Sofa bequem gemacht hatte, wanderten seine Gedanken schon wieder zu dem Mann zurück.

Unwillig schob David einen Löffel voll Nudeln in den Mund und schaltete den Fernseher ein. Langsam wurde es nervig. Er würde den Blondschopf nicht wiedersehen, was sollte das? Aber verdammt, diese Augen und der hungrige Blick verfolgten ihn. Hungrig? Unfug. Der war gut gekleidet gewesen, der kannte keinen Hunger. Lag wahrscheinlich an diesem Tag, dass er den Mann nicht aus dem Kopf bekam. Erst die trüben Gedanken zu seinem Job und Collin und Stacey, jetzt das. Dabei hatte er echt viel, für das er dankbar sein konnte.

Er hatte eine Wohnung, er hatte einen Job, er hatte eine tolle Familie und gute Freunde, obwohl die alle weit weg waren. Und einen Partner würde er irgendwann ebenfalls finden. Das hier war Vancouver, Traumstadt. Da gab es auch für ihn einen Traummann, selbst wenn er dem bisher noch nicht über den Weg gelaufen war. Und nein, der hatte keine blonden Locken und helle Augen. Denn ein Traummann wäre nicht vor ihm davongelaufen. So.

 

Fröstelnd zog Gabriel den Schal enger um sich. Es war kalt, zu kalt für seinen Geschmack. Nicht, dass das unerwartet kam – seit Jahren fror er ständig, wenn der Herbst kam. Verlangend dachte er daran, einfach ins nächste Flugzeug zu steigen und vor dem Winter in den Süden zu fliehen. Oder zumindest ins wärmere Okanagan Valley. Aber das ging aus mehreren Gründen nicht, schon allein wegen seiner Flugangst.

Außerdem konnte er nicht weg aus Vancouver, auf gar keinen Fall. Seine Sehnsucht hielt ihn hier fest. Und im Laufe der vielen Jahrzehnte auf der Suche hatte er gelernt, sie ernst zu nehmen und von unspezifischem Wünschen und Hoffen zu unterscheiden.

Immerhin blieb es anscheinend Vancouver mit seinen gemäßigten Wintern. Es hätte ihn ja auch in eines der nördlichen Territorien treiben können – Iqaluit in Nunavut oder Whitehorse im Yukon. Gabriel schauderte. Doch selbst vierzig Grad Minus hätten ihn nicht davon abgehalten, seinem Herz zu folgen. Himmel, er würde sogar in die Antarktis ziehen, wäre er dort.

Da war Vancouver deutlich besser. Gabriel mochte die Stadt. Nicht nur bot sie jede Menge Zerstreuung und ein einzigartiges Flair – sie stand nicht umsonst regelmäßig in den Top Ten der lebenswertesten Städte. Hier hatte Gabriel außerdem seit Jahrzehnten seine Hauptwohnung, hier befand sich zudem der Hauptwohnsitz seines besten Freundes. Yves bei sich zu haben, war ein Trost.

Müßig ließ Gabriel seinen Blick über die Menschenmenge gleiten, die wie ein bunter Schwarm an Schmetterlingen in und aus den erleuchteten Markthallen des Public Markets flatterte. Vancouver war Leben. Manchmal erreichte es ihn sogar irgendwo tief in seinem frostigen Inneren, das schon seit Jahren wie mit Eis überzogen war. Vermutlich fror er deswegen dauernd. Yves ermüdete schnell, während er wartete und suchte, Gabriel wurde es kalt.

Er vergrub die Hände in den Manteltaschen und wollte eben in die Markthallen treten, als ein Prickeln über seine Haut zog, als liefe Strom darüber. Ein Duft wie von Frühlingsblumen streifte ihn, und mit ihm kam die Ahnung von Wärme.

Gabriels Herz setzte einen Schlag aus, Hoffnung zuckte wild und wunderbar durch ihn hindurch.

»Ruhig, ruhig«, flüsterte er sich zu, doch sein Herz hielt nichts davon und klopfte sich in seine Kehle empor, während Gabriel sich umsah. Konnte es sein? Konnte es wirklich sein, dass er ihn endlich wiedersah? Nach all den Jahren des Wartens und der Einsamkeit?

Sein Blick flog über fröhliche, unbedeutende Gesichter, alt und jung, schwarz, braun und weiß, Männer, Frauen, Kinder. Ein Hindu mit Turban, eine dunkelhäutige Business-Frau am Handy, eine Gruppe Jugendlicher, die sich um ein Tablet geschart hatten und kichernd etwas betrachteten.

Für einen Moment erhaschte er einen Blick auf breite Schultern und braunes Haar. Unvermittelt fluteten Wärme und Licht Gabriel, als habe sich die Sonne wieder hoch in den Himmel geschraubt, als sei die Erde in ihrer Achse gekippt und habe den Sommer zurückgebracht.

David!

Wo war er hin? Rücksichtslos schob Gabriel sich mit klopfendem Herz durch die Menge, bis er ihn endlich sehen konnte.

David war größer, als er erwartet hatte, schlank mit breiten Schultern, die in einer roten, etwas verschlissenen Winterjacke steckten. Ein unförmiger Rucksack beulte sich auf seinem Rücken aus. Das braune Haar trug er hochgestylt und in kunstvolle Unordnung gebracht.

Sofort zuckte es in Gabriels Händen, die Finger hindurchstreichen zu lassen und die Strähnen zu ordnen. Sein Körper sang, jede einzelne Zelle in ihm schien zu jubilieren. David, sein David! Wie von einem Puppenspieler geführt folgte Gabriel ihm hinab ans Ufer. Er wollte zu ihm laufen, wollte ihn umarmen und an sich drücken und ihn nie wieder loslassen. Er wollte ihn küssen bis zur Besinnungslosigkeit, wollte seinen Duft einatmen, seine Wärme spüren und jede Zelle seines Körpers mit der geliebten Anwesenheit tränken.

Kapitel 3

 

Stattdessen atmete er tief durch und ballte die Hände zu Fäusten, grub die Fingernägel in die Handballen, um sich genau davon abzuhalten. So innig und vertraut Gabriel Davids Seele war, so wenig kannte er doch diesen Mann. Und noch viel weniger kannte der ihn. Unmöglich konnte sich Gabriel einem Fremden an den Hals werfen, so sehr er sich danach sehnte, so sehr auch alles in ihm danach verlangte.

Hungrig beobachtete er, wie der Mann einmal die breiten Schultern kreiste, dann den Rucksack mit einem Achselzucken abstreifte und zu Boden gleiten ließ, ehe er sich auf eine Stufe setzte. Er wirkte müde und ein wenig traurig.

Gabriel wusste, was helfen würde. Zu ihm gehen, sich hinter ihn hocken, die Arme um ihn legen und einen weichen Kuss in seinen Nacken drücken. Dann würde David die Hände auf Gabriels schieben, mit einem Lächeln den Kopf drehen, zu ihm aufsehen und …

Nein, er würde aufspringen, ihn von sich stoßen und wütend fragen, was ihm einfiele. Vielleicht würde er angeekelt weggehen. Oder ihn einen Dämon nennen, einen Teufel, der ihn verführen wollte.

Gabriel stoppte seine Füße, die schon wieder verräterische Schritte auf David zu gemacht hatten. Durchatmen. Sie kannten sich nicht. Ihre Seelen mochten zusammen gehören, ihre Herzen in einem Takt schlagen, aber Gabriel und dieser Mann waren Fremde.

Haltsuchend lehnte Gabriel sich an eine Laterne. Es war so unendlich schwer! Der Mann, auf den er seit Jahrzehnten wartete, saß keine zehn Schritte von ihm entfernt. Doch es war, als befände er sich auf der anderen Seite der Welt. Zuerst mussten sie sich begegnen. Dann mussten sie sich kennenlernen. Es würde dauern, natürlich. Und während dieser behutsamen ersten Phase musste Gabriel all die brennende Sehnsucht in sich, das Verlangen nach Nähe, das Wünschen und Wollen im Zaum halten. Irgendwie. Bis sie sich kannten. Bis sie zusammen waren … wenn Gabriel nicht versagte und ihn vertrieb.

Er schauderte, als er sich an ein Leben vor endlosen Jahren erinnerte, in dem sein Liebster vor ihm geflohen war, weil Gabriel zu schnell zu viel gewollt hatte. Er war besser geworden, vorsichtiger, doch die Balance zwischen seinem Begehren und einem unbekannten David zu finden, blieb schwer. Immer. Das Warten hatte ein Ende, der Frühling war zurückgekehrt. Nur mit ihm kamen Stürme, Fluten und ein bedachtsames Kennenlernen, während alles in ihm danach schrie, seinem Liebsten nicht mehr von der Seite zu weichen.

»Hab nichts«, brummte der Mann, und Gabriel sah erst jetzt, dass sich eine Möwe genähert hatte. »Und wenn, dann würde ich es nicht mit dir teilen. Ihr bekommt genug.«

Die warme, dunkle Stimme erfüllte Gabriel mit Licht. Für einen flüchtigen Moment konnte er den Blick auf einen energischen Kiefer und einen hohen Wangenknochen erhaschen, ehe der Mann wieder aufs Meer sah.

Mehr, dachte Gabriel hilflos. Bitte, dreh dich zu mir um. Lass mich deine Augen sehen.

Der Mann gähnte und streckte sich. Hungrig verfolgte Gabriel jede Bewegung und sog den Anblick in sich auf. Er fühlte sich wie ein verdorrtes Land, das nach Wasser dürstete, während schwere Regenwolken in der Ferne quälend lockten und doch nur ein paar einzelne Tropfen fielen, die verdunsteten, kaum dass sie den trockenen Boden berührten.

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, streckte sich der Mann erneut und stand auf. Er griff nach seinem Rucksack, warf ihn über und drehte sich um. Für einen Atemzug trafen sich ihre Blicke. Davids Augen wurden weit. Sie waren dunkel und weich und drohten, Gabriel zu verschlingen.

Es kostete ihn alle Kraft, die er hatte, das Gesicht so weit abzuwenden, dass er seinen Liebsten nicht anstarrte. Doch seine Sinne waren weiter auf ihn gerichtet. Er hörte ein leises Knirschen, als David das Gewicht verlagerte, sah aus den Augenwinkeln die winzige Bewegung.

David hingegen starrte, ohne den Blick abwenden zu können.

Gabriel konnte es fühlen. Himmel, spürte er es schon jetzt? Konnte er das Band zwischen ihnen wahrnehmen? Sein Herz hämmerte wie wild in seinen Schläfen, das Blut rauschte viel zu laut und schnell durch seine Adern.

Er machte den Fehler, erneut in die dunklen Augen zu sehen. Unweigerlich fühlte er wieder diesen Sog, der ihn von den Beinen zu reißen drohte und in die Arme eines Fremden spülen wollte. Eines Fremden, der ihn ansah wie ein Weltwunder, wie einen verlorenen Schatz, den er endlich gefunden …

Nein! Mit dem letzten Quäntchen Kraft wandte Gabriel sich ab und ging mit großen Schritten davon. Das war alles, was er tun konnte, um den Mann nicht an sich zu ziehen. Er brauchte Luft zum Atmen, Raum zum Denken, zum Planen … zum Jubeln.

Endlich konnte er das Band wieder zwischen ihnen fühlen, dessen Zug stärker wurde, je weiter er sich entfernte. Es war, als wollte es ihn zurückhalten, und Gabriel wäre dem Sog nur zu gerne gefolgt. Doch das war nicht möglich. Nicht jetzt, da er so aufgewühlt war. Er konnte nicht riskieren, dass er David um den Hals fiel, ihn hochhob und herumwirbelte, ihn küsste.

Aber er hatte ihn gefunden! Und dieses Band würde ihn jederzeit zurück zu ihm bringen. Ihm war schwindlig vor Glück, in ihm prickelte und perlte es. Er hatte ihn wirklich gefunden! Gabriel lachte auf, und als er um eine Ecke gebogen war und die Straße sich leerer vor ihm ausstreckte, stieß er einen Jubelruf aus und begann zu rennen. Er musste sich bewegen, musste der wirbelnden Energie und der Euphorie in sich körperlich Ausdruck verleihen.

Er rannte, bis er Seitenstechen hatte und seine Beine brannten. Granville Island lag schon lange hinter ihm, und Gabriel fand sich in einer Ecke der Stadt wieder, in der er noch nie gewesen war. Hübsche Häuser reihten sich mit kleinen Vorgärten aneinander. Gegebenenfalls konnten sie sich hier später ein Haus kaufen.

»Oh Gabriel!« Atemlos lachte er erneut, blieb stehen und holte tief Luft. »Zu schnell, viel zu schnell. Du weißt gar nicht, was er will. Vielleicht steht er nicht auf Vorgartenidylle.« Oder Gabriels sichere Wohnung. »Möglicherweise mag er stylische Lofts lieber?«

Obwohl David gerade eher so ausgesehen hatte, als sei jedes stylische Loft weit außerhalb seines Budgets. Ob das zu einem Problem werden konnte? Dass sein Liebster sich als nicht angemessen für ihn empfand? Nein, das war eine andere Zeit, solche Gedanken galten nicht mehr.

»Halt!« Er sprach das Wort laut aus, um seine vorauseilenden Zukunftsvisionen zu bändigen. »Das liegt nun wirklich zu weit entfernt. Lerne ihn kennen. Stopp. Nein. Triff ihn zuerst einmal wieder. Und dann sieh von dort aus weiter, langsam, Schritt für Schritt. Wir können nicht rennen, ehe wir nicht Laufen gelernt haben.«

Und so, wie Gabriel ihn angestarrt hatte, ließ er für die nächste Begegnung besser einige Tage ins Land gehen. Nicht, dass er David direkt vergraulte, bevor sie auch nur ein paar Worte miteinander gewechselt hatten.

Gabriel sah zum Himmel empor und lächelte, während der Schweiß auf seiner Haut trocknete. Die Nacht war wunderschön, selbst hier inmitten der Stadt sah man funkelnde Sterne auf die Straßen niederblinzeln. Es war ruhig, ein leichter Wind rauschte in den Bäumen. Die Luft schmeckte nach Verheißung und endloser Freiheit. Kälte prickelte in seinem Gesicht und kühlte seine erhitzte Haut, und trotzdem war Gabriel bis in jede Zelle seines Körpers aufgewärmt. Das Eis in ihm war verschwunden, der Winter schreckte ihn nicht mehr. Nicht einmal der im nördlichen Nunavut oder hoch oben im Yukon.

 

Nachdem der erste Morgenansturm der Berufspendler abgeklungen war, wurde der Tag ruhig. Ein typischer Mittwoch eben, ab und an Laufkundschaft und Zeit, um die Gedanken ein wenig treiben zu lassen.

Müßig ließ David den Blick über die zwei besetzten Tische schweifen. An dem einen saß ein Teenager-Pärchen, das vermutlich eigentlich in der Schule sein sollte, und an dem anderen der junge Mann mit seinem Laptop, der jeden Morgen zum Arbeiten hierher kam und »Bloß nicht!« das WLAN-Passwort wollte.

Draußen machte das Wetter dem November alle Ehre. Es regnete durch, seit David aufgestanden war. Die Wolken hingen so tief über der Stadt, dass es ein Wunder war, dass sie die Spitzen der Wolkenkratzer nicht verschluckten.

Hinten trank April einen späten Frühstückskaffee, während Charles neue Donuts füllte und glasierte. Die Theke vor David glänzte, der Tresen war makellos, und er verweigerte es, sich mit sinnlosen Putzjobs zu beschäftigen, nur um geschäftig zu wirken. Zum Glück sahen die Chefs das nicht so eng, solange alles ordentlich war.

David war gerade am Planen, nach Dienstschluss bei ein paar Kumpels durchzuklingeln, ob einer spontan Lust zum Zocken hatte, als sich die Tür öffnete. Automatisch blickte er hin und schaltete sein professionelles Willkommenslächeln ein, das immer bis zum ersten Blickkontakt oder Wortwechsel durchhalten durfte, um dann echt zu werden. Im nächsten Moment machte sein Herz einen Satz, sprang in seine Kehle und raste dort aufgeregt los, noch ehe Davids Verstand hinterhergekommen war und den neuen Gast erkannte – der Fremde von Granville Island.

Sofort war Davids Mund trocken. Auch hier in der Vertrautheit eines Tim Hortons' sah der Mann unheimlich gut aus. Gerade faltete er seinen schlicht schwarzen Regenschirm zusammen und ließ den Blick einmal durch den Raum gleiten, ohne dass er David streifte. Heute trug er einen grauen Mantel, auch der sah teuer aus, und Jeans.

David biss sich auf die Unterlippe, als er es nicht mehr schaffte, seine Augen von dem attraktiven Gesicht fernzuhalten. Obwohl in seinem Hinterkopf ein Stimmchen im Rhythmus seines hämmernden Herzschlags flüsterte: »Nicht starren. Nicht starren!«

Aber das war verdammt noch mal schwer! Der Kerl sah einfach zu gut aus, um nicht angestarrt zu werden. David wünschte sich, er würde näher kommen, damit er ihn besser betrachten konnte. Gleichzeitig hoffte er, dass einer seiner Kollegen nach vorne kam, bevor er sich wieder zum Narren machte. Als der Mann sich erneut zur Tür umwandte, eventuell, um sicherzugehen, dass sie sich ordnungsgemäß geschlossen hatte, fiel David auf, dass er die Haare lang trug und zu einem kleinen Zopf im Nacken zusammengefasst. Süß sah das aus!

Unwillkürlich lächelte er. Gut, damit hatte er vielleicht auch nichts gegen Augenbrauenpiercings. Gleich darauf schnitt er sich im Geiste eine Grimasse. Das ging ja schon wieder los mit diesen verrückten Gedanken! Na, das hieß wohl, dass er die nächsten drei Tage ständig den Kopf mit Erinnerungen an helle Augen voll haben würde.

Der Mann drehte sich um, und David schaffte es nicht, den Blick rechtzeitig abzuwenden. Stattdessen lächelte er – erneut oder immer noch, er konnte es nicht so genau sagen.

Die Augen des Mannes weiteten sich eben gerade sichtbar, ganz offensichtlich hatte er ihn erkannt. Ups. Dann erwiderte er das Lächeln.

Kapitel 4

 

David spürte, wie sich eine Sonne in seinem Magen entzündete. Ihm wurde heiß. Mit einem Mal schien der Tag gar nicht mehr so grau, trüb und regnerisch zu sein, wie er es noch vor ein paar Minuten gewesen war.

Es kostete ihn Kraft, sich von dem Kunden abzuwenden, obwohl es nur für den kurzen Moment war, die der Mann bis zum Tresen brauchte. Doch ihn konstant zu beobachten, das kam nicht gut. Fast war es eine Erleichterung, als er den Blick wieder auf ihn richten konnte. Direkt in blaue Augen.

Gleich spürte David den nächsten holpernden Herzschlag, außerdem legte die Sonne in seinem Magen noch mal an Kraft zu und schickte Hitzespitzen durch seinen Körper. Wow, der Kerl hatte aber auch schöne Augen! Tiefblau, ungewöhnlich groß, und die Wimpern waren dunkler, als David bei der Haarfarbe vermutet hätte. Toll sah das aus.

»Hallo, willkommen bei Tim Hortons.« Zu Davids Glück merkte man seiner Stimme nicht an, dass es ihn vollkommen von den Beinen gehauen hatte. Die Monate an Übung mit Kunden zahlten sich aus.

»Hallo.« Das Lächeln des Mannes vertiefte sich noch. »Ich kenne dich doch. Warst du das nicht am Montag bei Granville Island?«

Jetzt spürte David die Hitze aus dem Bauch abrupt in seine Wangen ziehen. Irgendwie hatte er gehofft, dass ihn die Uniform tarnte. Andererseits … war das gut, dass er ihn erkannt hatte, nicht? Denn der Mann lächelte ohne jeden Vorbehalt.

»Eh ja. Sorry, dass ich dich so angestarrt habe.« Verlegen schob er das Visier mit dem Tim-Hortons-Logo zurecht. »Ich wollte nicht, dass du dich unbehaglich fühlst.«

Der Mann lachte, ein warmer, dunkler Laut, der direkt in Davids Brust wanderte. »Habe ich nicht als unangenehm empfunden.«

Verdutzt sah David ihn an. Nur warum war er dann geflohen? Hm, war er vielleicht gar nicht. Er hatte es wohl nur eilig gehabt. Sofort fühlte er sich ein Stück besser; sein Lächeln kehrte zurück. Und der Mann hatte es nicht aufdringlich gefunden, das klang vielversprechend!

»Du bist aber auch attraktiv«, murmelte er und spürte gleich wieder einen Stich, dieses Mal einen leicht panischen. Hatte er das wirklich gesagt? Fuck! Er konnte doch nicht einfach … aber er hatte.

Erneut weiteten sich die Augen des Mannes, was sehr seltsame Dinge mit Davids Magen anstellte. Zeigte sich da ein Hauch Röte auf den hellen Wangen? Dummerweise wandte der Mann den Blick jetzt dem Board mit den Preisen zu. »Danke. Ich hätte gerne einen Dark Roast, medium. Schwarz, kein Zucker.«

»Zum Mitnehmen oder hier Trinken?« Gut, immerhin war der Kunde nicht gleich geflüchtet. Aber leider schien er auch nicht an David interessiert zu sein. Sonst hätte er doch etwas anderes erwidert. Mist. Oder vielleicht war er schüchtern? Dann könnte er jetzt einen Kaffee zum Hiertrinken wählen und …

»Zum Mitnehmen, bitte.«

Fuck. Davids Hoffnung verabschiedete sich. Wenn der Mann nicht extrem scheu war, war das wohl eindeutig. Oder er hatte es einfach eilig? Ja, rede es dir schön. Das hilft auch nicht. Gedanklich schnaubte er. »Kommt sofort.«

Er wandte sich ab und bereitete den Kaffee zu, während er krampfhaft überlegte, wie er nach dem Ausrutscher gerade ein Gespräch aufrecht erhalten konnte, ohne dass es aufdringlich wirkte. Wie er den schönen Mann ein wenig länger im Laden behalten könnte. Wie er ihn vielleicht gar dazu bekommen konnte, ihn wiederzusehen.

In seinem Kopf herrschte gähnende Leere.

Das wurde sogar eher schlimmer, als er sich wieder umdrehte und ihn erneut vor sich hatte. »Hier, bitte schön. Darf's sonst noch etwas sein? Die Donuts sind gerade frisch.« Nee, der sah nach gesunder Nahrung aus. »Oder ein Wrap für unterwegs?«

Mit einem Lächeln schüttelte der Mann den Kopf. »Nein, das war's. Danke.«

Er lenkte Davids Aufmerksamkeit auf seine Hände, als er ihm eine Kreditkarte reichte. Lange, schlanke Finger, die … Stopp!

David warf einen schnellen Blick auf den Namen. Gabriel Belanger. Unwillkürlich musste er lachen. »Ich heiße ebenfalls Belanger! David Belanger.« Er tippte auf sein Namensschild an der Brust.

»Was, echt?« Auch Gabriel lachte auf und folgte mit den Augen dem Fingerzeig. »Das ist ja verrückt. Hallo, Mr. Belanger.«

»Bitte eine Unterschrift, Mr. Belanger.« David gluckste, teilweise deswegen, weil sich dieses Stimmchen in ihm meldete, dass – wäre Gabriel interessiert gewesen – bei einer Hochzeit keine Namenseinigung würde stattfinden müssen.

Gabriel unterschrieb so schwungvoll, dass die Buchstaben weit über die Linie, die dafür vorgesehen war, hinausragten. Sah hübsch aus.

Na, vermutlich hätte David zu egal welcher Handschrift etwas Positives sagen können, so sehr, wie er von Gabriel verzaubert war. Energisch bot sich immer an oder unkonventionell. Nach einem kurzen Vergleich der Unterschrift reichte David ihm die Karte samt Bon zurück.

Mist, fiel ihm echt nichts mehr ein? Er wollte nicht, dass der Mann jetzt direkt wieder verschwand. »Bist du öfter in der Gegend?«

Gabriel warf ihm einen Blick unter seinen langen Wimpern hervor zu. Ob er ahnte, dass Davids Herz mit Salti darauf reagierte? Bestimmt.

»Ab und an«, sagte er unverbindlich und steckte die Karte zurück in ein teures Lederportemonnaie. »Hab noch einen schönen Tag und wenig Stress, David.«

»Danke, du auch.« David behielt das Lächeln bei, als Gabriel sich abwandte und ging. Mist, verdammt. Aber immerhin hatte er eine Chance, dass der Mann erneut vorbei kam. Hoffentlich hatte er dann wieder Dienst.

Andererseits war es vielleicht besser, wenn er ihn nicht wiedersah. Der Mann war ja offensichtlich nicht an ihm interessiert, und dafür reagierte David eindeutig zu heftig auf ihn. Wenn sie sich öfter trafen, würde er sich garantiert in ihn verlieben, das war gar keine Frage. Allein dieser Blick aus diesen herrlichen Augen! Und seine tolle Stimme …

David seufzte, als die Tür hinter Gabriel zuglitt, und verfolgte seinen Weg durch die Schaufenster hindurch, bis er nicht mehr zu sehen war. So schade … so unglaublich schade. Aber vermutlich nicht verwunderlich. So, wie der Kerl aussah, konnte er doch jeden haben. Und bei dem Geld, das er garantiert hatte, wenn David von den teuren Klamotten ausging, stand ein Tim-Hortons-Mitarbeiter für Gabriel nicht gerade oben auf der Liste der begehrenswertesten Junggesellen. Andererseits, wenn der auf so etwas achtete, war er sowieso keine Beziehung wert.

David grinste, schob die Hände in die Hosentaschen und beschloss, dass Gabriel genau so einer war. War besser für sein Herz.

 

Gabriel jauchzte auf, kaum dass er außer Sicht war, und kümmerte sich nicht darum, dass ein Passant ihn irritiert ansah. Er hatte einen vollständigen Namen – David Belanger. Wie passend, wie perfekt war denn das, bitte?

»David Belanger«, sagte er leise, einfach um den Klang zu kosten.

Gabriel trug diesen Nachnamen mittlerweile lange genug, um sich ihm verbunden zu fühlen. Davids Vornamen damit in einem Satz zu nennen, brachte Intimität. Er grinste und nahm einen vorsichtigen Schluck Kaffee. Wenn er ehrlich war, war es nicht der beste, aber David hatte ihn zubereitet, da war es schwer, objektiv zu bleiben.

David Belanger. Er hatte einen Namen. Wieder David, wie bereits die Leben davor. Er passte zu dem großen Mann mit den traumhaft schönen Schokoaugen. Warm und weich, ja, so wirkten sie. Sanft, wie David es schon immer gewesen war.

Und es sah ganz danach aus, als sei auch er direkt von ihm angezogen. Diese langen Blicke! Nach wie vor fühlte Gabriel sich ein wenig wackelig in den Knien davon. Sein Herz schlug gleich wieder schneller. Ob es dieses Mal einfacher würde? Die Zeichen standen gut, nicht wahr?

Das Läuten seines Handys störte ihn in seinen Träumereien. Doch es war Yves' Klingelton, das war willkommen. Er holte das Handy aus der Manteltasche und nahm das Gespräch an. »Hallo, mein Freund. Bist du wieder im Lande?«

»Gabriel, sei mir gegrüßt. Ja, gestern Abend gelandet.« Yves lächelte, Gabriel konnte es hören. »Der Jetlag hat mich noch im Griff. Magst du vorbeikommen und mich davon abhalten, viel zu früh ins Bett zu gehen?«

»Soll ich dich sofort davon abhalten?« Gabriel sah sich um und hielt nach einem der gelben Taxis Ausschau. Wenn er nur ein wenig Glück hatte …

»Ist etwas passiert?« Für einen Atemzug lag Besorgnis in Yves' Stimme, ehe er lachte. »Nein, du klingst fröhlich. Komm her. Dann berichte ich dir gleich, wie es gelaufen ist.«

Und ob etwas passiert war! Das Allerbeste, was hatte geschehen können! Doch das wollte Gabriel ihm nicht auf der Straße erzählen, umringt von fremden Menschen, die rechts und links an ihm vorbei trieben wie Blätter auf einem Fluss im Herbst. »Perfekt.« Aus den Augenwinkeln sah er eines der gelben Autos und winkte. Der Fahrer setzte sofort den Blinker und zog zu ihm herüber. Perfekt hoch zwei. »Ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Soll ich mich reinlassen?«

»Mach das. Ich erwarte dich.«

Im nächsten Moment verkündete Stille im Hörer, dass Yves aufgelegt hatte. Gut gelaunt stieg Gabriel in den Wagen, nachdem der chinesische Fahrer ihm geöffnet hatte, und gab ihm Yves' Adresse. Das Leben war herrlich.

Er hatte einen redseligen Chauffeur erwischt, mit dem die Fahrt wie im Flug verging. Gabriel neidete ihm ein wenig das Talent, sich mühelos mit Fremden unterhalten zu können. Das hatte er in all den Jahren nicht wirklich gelernt. Er brauchte immer ein bisschen Zeit, ehe er auftaute. Vor einer Confiserie ließ er den Mann warten, bis er eine Auswahl an Pralinen ausgesucht hatte. Yves war ein Schleckermaul, und gute Schokolade war bestens dazu geeignet, ihn auch am Abend wach zu halten.

Wenig später stieg Gabriel vor den schön gelegenen Appartementkomplexen am False Creek aus. Das Trinkgeld gab er dem Fahrer bar für den Fall, dass der es sonst mit der Firma teilen musste. Sicher war sicher.

Nach einem kurzen Check ließ ihn der Portier ohne weitere Fragen ein, natürlich kannte man ihn hier. Ein hell erleuchteter, elegant gestalteter Aufzug brachte ihn in den zehnten Stock und damit zur obersten Etage. Yves hatte Glück gehabt, dass gerade dieses Loft frei geworden war, als er sich entschieden hatte, sich in Vancouver niederzulassen. Es war traumhaft.

Per biometrischem Irisscan ließ Gabriel sich die Tür öffnen und trat in die geräumige Eingangshalle.

Yves wartete bereits auf ihn. Müde sah er aus, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, was bei seiner hellen Haut besonders deutlich auffiel. Ansonsten war er so tadellos gekleidet wie immer, das braune Haar akkurat geschnitten. Offensichtlich war er in Paris beim Friseur gewesen.

Kapitel 5

 

»Willkommen, mein Freund.« Yves' Gesicht hellte sich auf, als ihre Blicke sich trafen. Er umarmte Gabriel zur Begrüßung, ehe er ihn auf Armlänge von sich drückte und mit einem Lächeln musterte. »Du strahlst.«

Breit erwiderte Gabriel das Lächeln und wickelte sich aus dem Schal. Er fühlte sich, als müsste von dem funkelnden Schimmern in ihm die ganze Welt erhellt werden. »Ich habe allen Grund dazu. Yves, ich habe ihn gefunden! Mein David ist hier!«

»Wirklich?« Yves' Augen leuchteten auf, für einen Moment schien jede Müdigkeit vergessen zu sein. »Kein Zweifel möglich?«

Mit einem Auflachen schüttelte Gabriel den Kopf. »Wie kann es da Zweifel geben? Hast du jemals gezweifelt, nachdem du ihm gegenüber standest?«

Für einen Wimpernschlag schien eine dunkle Wolke über Yves' Gesicht zu fliegen, doch sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Ich wollte sicher gehen. Das ist wundervoll! Du musst mir alles erzählen. Wie heißt er, wo wohnt er, wie sieht er aus? Wann bist du ihm begegnet und wo? Habt ihr euch schon getroffen? Weiß er überhaupt, dass es dich gibt?«

»Er weiß es. Wir haben bereits ein paar Worte gewechselt, ich habe bei ihm Kaffee gekauft. Es scheint, als … als habe er keine Vorbehalte, sein Interesse zu zeigen.« Allein bei der Erinnerung an die Begegnung gerade eben spürte Gabriel wieder eine Wärme in sich, die sich mit nichts vergleichen ließ. David hatte ihn angeschaut – voller Neugier und ohne Scheu. Er zog den Mantel aus und hängte ihn auf, dann schlüpfte er aus den Schuhen. Natürlich hatte Yves Fußbodenheizung, zudem eine Abneigung gegen Straßenschuhe in der Wohnung. »Außerdem hat er es mir nicht übel genommen, dass ich ihn bei unserer ersten Begegnung angestarrt habe wie den Eingang zum Paradies. Das mir verwehrt ist. Noch.«

Yves gluckste. Er machte eine einladende Handbewegung und führte Gabriel den bekannten Weg zu der großen modernen Küche voller Hightech-Geräte. Was immer neu auf dem Markt war und interessant für Yves klang, fand kurze Zeit später den Weg zu ihm. »Darf ich dir einen Kaffee anbieten?«

Ohne auf Gabriels Antwort zu warten, holte er zwei Tassen hervor und stellte sie unter den Vollautomaten, um Gabriels und seine bevorzugten Einstellungen abzurufen. Während der Kaffee durchlief, erzählte Gabriel ihm das Wenige, was er über David bereits in Erfahrung hatte bringen können.

Mit dampfenden Tassen zogen sie ins Wohnzimmer um. Gabriel mochte den Blick aus den raumhohen Fenstern auf den False Creek, Granville Island und darüber hinaus nach Kitsilano. Er mochte auch die helle, minimalistische Einrichtung in kanadischem Ahorn, Hellgrau und Sand, zumindest aus ästhetischer Sicht. Doch der einzige Grund, aus dem er sich hier wirklich wohlfühlte, war der, dass es Yves' Wohnzimmer war. Eigentlich war der Raum zu groß, um gemütlich zu sein. Sein ganzes Appartement hätte hier in dem einen Zimmer Platz gefunden.

Sie ließen sich einander gegenüber auf dem sandfarbenen Designersofa nieder.

Yves nippte an seinem Kaffee, den er mit einem Espresso verstärkt hatte. »Weißt du, ob er alleinstehend ist?«

»Das heißt mittlerweile Single.« Gabriel grinste, weil Yves immer ein wenig altmodisch war. Bei ihm war das niedlich. Gut, er war einige Jahrzehnte älter als Gabriel, da war das zu verzeihen. Dann sickerte die Bedeutung der Worte ein. Sie wirkten wie ein Eisschauer. »Nein. Weiß ich nicht.«

Darüber hatte er nicht einmal nachgedacht in seiner Euphorie. Irgendwie war er ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sein Liebster ungebunden war. Wie immer, wenn er ihn gefunden hatte. Doch was, wenn nicht? Was, wenn er in einer harmonischen Beziehung lebte? Bisher hatte er diese Entscheidung nie treffen müssen, im Gegensatz zu Yves. Der war seinem Geliebten in einem Leben konsequent aus dem Weg gegangen, egal, wie es ihn zerrissen hatte, denn der war glücklich verheiratet gewesen. Gabriel wusste nicht, ob er die Kraft dazu haben würde.

Aufmerksam sah Yves ihn an. »Trug er einen Ring?«

»Nein.« Gabriel konnte sich die kräftigen Hände so gut ins Gedächtnis rufen, als stünde David vor ihm und würde ihm erneut seinen Becher und die Karte reichen. »Aber das sagt nichts. Er arbeitet bei Tim Hortons, da ist Schmuck aus hygienischen Gründen nicht erlaubt. Und ganz ehrlich, beim Public Market habe ich nicht auf seine Finger geachtet. Da war ich zu beschäftigt damit, ihn im Gesamten anzustarren und mir zu versichern, dass ich nicht träume.«

Weich lachte Yves auf. »Oh, das Gefühl kenne ich! Dann machen wir uns erst einmal keine Sorgen, ja? Du hast bislang immer Glück gehabt, bestimmt ist er auch dieses Mal ungebunden. Hast du schon überlegt, wo und wie du ihm das nächste Mal begegnen willst?«

Gabriel schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken an einen David in einer glücklichen Partnerschaft. Falls er tatsächlich einen Freund – oder unwahrscheinlicher eine Freundin – haben sollte, war später noch immer Zeit, sich verrückt zu machen. »Ich werde es auf mich zukommen lassen. Ich denke, ich warte bis Freitag und schaue dann, wo er sich aufhält. Morgen wäre es einfach zu auffällig. Ich will nicht riskieren, dass er sich von mir bedrängt fühlt.«

»Sehr gut.« Yves lehnte sich mit einem Grinsen vor und klopfte Gabriel zustimmend auf die Schulter. »Lernen du tust, junger Padawan.«

Damit brachte er Gabriel zum Lachen. Übermütig prostete er ihm zu. »Danke, Meister Yves. Aber ehrlich, das eine Mal, dass er vor mir geflohen ist, hat mir gereicht.« Und alle Bemühungen, ihn wieder zu erreichen, hatten es zuerst nur schlimmer gemacht. Er schauderte noch immer, wenn er daran dachte. Da hatte er auch gelernt, dass es keine gute Idee war, seinem Liebsten jubelnd um den Hals zu fallen, wenn der ihn gar nicht kannte. »Aber genug von mir. Wie ist es in Paris gelaufen?«

»Ganz wie erwartet. Erfolgreich.« Yves lächelte und lehnte sich zurück, mit einem Mal wirkte er wie der Geschäftsmann, der er sein konnte. »Was mich überrascht hat, ist, dass ich mich nicht mehr heimisch fühle. All die alten Plätze klingen noch immer in meinem Herzen, aber daheim bin ich hier. Das liegt nicht zuletzt an dir, mein Freund.«

Gabriel erwiderte das Lächeln. Es hatte eine Zeit vor seinem Erwachen gegeben, da war er in Yves verliebt gewesen. Dann war er David begegnet und hatte erfahren dürfen, wie sich die eine Liebe mit dem Seelengefährten anfühlte. Noch immer liebte er Yves. Doch es war zu einer anderen Art Liebe geworden – eine Mischung aus Bruder und Freund, so wie Yves auch ihn liebte.

Eine Weile lauschte er Yves' Berichten von der Geschäftsreise und den Meetings mit französischen CEOs und Treffen mit alten Freunden. Mireille und Rodriguez ließen ihm Grüße ausrichten, und Gabriel fiel auf, dass er die beiden schon seit über sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte.

»Hast du etwas Neues von Maurice gehört?« Yves' Blick umwölkte sich, er stellte die mittlerweile leere Tasse auf dem Glastisch ab. »Kris hat mich die letzten Tage mehrfach angeschrieben, weil er Trost brauchte. Er stirbt vor Sorge, und ich kann es ihm nicht verdenken.«

Unvermittelt spürte Gabriel einen Stich im Magen, als er an die beiden dachte. Kris war völlig durch den Wind, kein Wunder. Maurice, eine ewige Seele wie Yves und Gabriel, hatte sich seit über vierzehn Tagen nicht mehr gemeldet. Er reagierte auf keine Nachricht, egal auf welchem Kanal, und war nicht daheim aufgetaucht. Gabriel schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Neuigkeiten. Die Polizei tappt vollkommen im Dunkeln. Ich habe mich vergangene Woche mit Kris getroffen, da hat er es mir erzählt.«

»Verdammt.« Yves' Gesicht wurde dunkel. »Jarvis, verbinde mich mit Merrith.«

Gabriel grinste trotz des flauen Gefühls in seiner Brust. Bei seinem letzten Besuch war der Rufname der KI noch Computer gewesen. Offensichtlich war Yves von Star Trek auf Iron Man umgeschwenkt.

Während Yves seiner Assistentin den Auftrag gab, einen Privatdetektiv zu engagieren, sah Gabriel zum Fenster hinaus. Unwillkürlich musste er lächeln. Granville Island, er würde die Halbinsel nie mehr mit neutralem Blick betrachten können. Sie hatte ihm seinen Liebsten zurückgebracht. In Vancouver hatten sie sich nun bereits zweimal gefunden und einmal lange zusammen gelebt. Kein Wunder, dass diese Stadt die Stadt seines Herzens war.

Er nahm Yves' und seine Tasse auf und holte neuen Kaffee. So schade, dass David und er noch keine Handynummern ausgetauscht hatten. Er wollte ihm schreiben, wollte ihn wiedersehen. Seine Brust zog sich vor Sehnsucht zusammen, David zu halten, zu küssen, einfach bei ihm zu sein.

Als er zurückkehrte, hatte Yves nicht nur das Gespräch mit Merrith beendet, sondern gleich noch die Börsenkurse abgefragt. Gabriel stellte ihm den neuen Kaffee hin.

»Du bist ein Engel.« Dankbar griff Yves nach der Tasse und sog genießerisch den Duft ein. »Was haben sie nur gemacht, bevor der Kaffee gefunden worden ist?«

Gabriel lachte. »Mehr geschlafen. Und vor allem hatten sie keine Flugzeuge, Jetlag gab es also nicht.«

»Auch wieder wahr.« Grinsend prostete Yves ihm zu. »Ich bin dennoch froh, dass es ihn gibt. Selbst ohne Jetlag.« Dann wurde er erneut ernst. Seine Augen verdunkelten sich. »Ich hoffe, Maurice ist in nichts hinein geraten, das eine Nummer zu groß für ihn war. Du weißt, wie er ist. Als er Kris rausgeholt hat, war er alles, aber nicht vorsichtig.«

Beklommen nickte Gabriel. Wenn Maurice überhaupt irgendwo hineingeraten war und nicht etwas Anderes dahinter steckte. Gabriel sagte es nicht, genauso wenig wie Yves, doch er wusste, dass sie beide an dasselbe dachten. Sollte Maurice nicht wieder auftauchen, wäre er die dritte ewige Seele, die innerhalb der letzten Jahre in Vancouver und Umgebung verschwunden war.

Kapitel 6

 

Eigentlich hatte Gabriels Plan vorgesehen, bei Davids Arbeitsplatz vorbeizusehen und sich einen Kaffee zu kaufen. Und dann – hoffentlich – dieses Mal etwas länger zu bleiben, um mit seinem Liebsten ins Gespräch zu kommen. Doch als er am Freitagmorgen aus dem Haus trat, um zur Haltestelle zu laufen, hielt er bereits nach wenigen Schritten inne. David war nicht in seinem Tim Hortons; die Richtung, in die es Gabriel zog, stimmte nicht.

Vielleicht hatte David einen freien Tag. Hoffentlich war er nicht krank. Kurzerhand drehte Gabriel um. Auf keinen Fall würde er sich per Bus oder Taxi auf die Suche nach seinem Liebsten machen. Stattdessen nahm er den Aufzug in die Tiefgarage.

Unwillkürlich lächelte er, als er kurz darauf vor seinem eisblauen Lexus stand. Gabriel gönnte sich nicht viel ausgefallenen Luxus, das fand er einfach unnötig. Doch in diesen Wagen hatte er sich sofort verliebt, also war der bei ihm eingezogen. Noch immer freute er sich jedes Mal, wenn er ihn ansah. Nach wie vor liebte er es, auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen und die Fingerspitzen über das lederbezogene helle Lenkrad gleiten zu lassen. Er liebte es auch dieses Mal, als der Motor mit vertrautem Schnurren zum Leben erwachte und die Sitzheizung binnen kürzester Zeit unangenehme Kälte in Behaglichkeit verwandelte.

Als sich das Garagentor hinter ihm geschlossen hatte, lauschte er in sich hinein, dann setzte er den Blinker und bog aus der Ausfahrt links ab. Sein Weg führte ihn aus Vancouver Downtown hinaus und nach Burnaby. Als er sich Metrotown näherte, wurde das Ziehen stärker, die Sehnsucht ließ sein Herz schneller schlagen.

Gabriel brauchte nur ein paar Minuten und eine Umrundung des Central Parks, um sich sicher zu sein, dass David frei hatte. Denn genau dort, irgendwo unter den mächtigen Nadelbäumen, trieb sein Geliebter sich herum. Hm, vielleicht joggte er in seiner Freizeit. Mit einem Lächeln hielt Gabriel auf dem nächsten freien Parkplatz. David sah aus, als sei er sportlich.

Zum Glück war es trocken, trotz der tief über dem Park hängenden Wolken. Gabriel stieg aus, schloss den Wagen ab und zog dunkelgraue Lederhandschuhe über, passend zu seinem hellgrauen Mantel und dem ebenfalls dunklen Schal. Er mochte es, harmonisch gekleidet zu sein. Noch einmal prüfte er, ob die Türen wirklich zu waren, dann machte er sich auf die Suche nach seinem Liebsten.

Ahorn und Pappeln reckten kahle Zweige in den grauen Himmel empor und zeigten deutlich, dass die ungemütliche Jahreszeit begonnen hatte. Trotzdem sangen versteckt in immergrünen Douglasien, Hemlock-Tannen und roten Zedern noch immer eifrige Vögel, als gelte es, zumindest den Herbst fest- und den Winter fernzuhalten. Ein vereinzelter Spaziergänger führte einen Yorkshire-Terrier aus, doch von David war weit und breit nichts zu sehen. Mit seinen neunzig Hektar war der Park mehr als groß genug, um unübersichtlich zu sein.

Systematisch ging Gabriel die Wege ab und folgte dem Zug seiner Seele. Näher und immer näher, an einem kleinen See vorbei, über eine mit Büschen gesprenkelte Rasenfläche hinweg und in ein Waldstück hinein. Als sich knirschend schnelle Schritte von einem Seitenweg näherten, machte sein Herz einen Satz.

David. Er war sich sicher. Sehnsüchtig sprintete sein Herz los und dem Mann entgegen, elektrische Schläge flackerten in Blitzen durch seinen Körper. Hitze floss in seine Wangen vor Aufregung, seinen Liebsten endlich wiederzusehen.

Mehrfach atmete Gabriel ein und aus, um seine Ruhe zurückzugewinnen, doch sie war sofort wieder dahin, als David durch die Büsche in Sicht kam. Er sah aber auch zu gut aus! Groß, mit breiten Schultern und zerzaustem, braunen Haar. Der graue Trainingsanzug versteckte seine Figur nicht im Geringsten. Nun ja, Gabriel wusste, dass er seinen Puls selbst dann nicht hätte beruhigen können, wäre David klein gewesen. Oder blond. Oder egal was sonst! Das hier war David, sein Seelengefährte.

David bog auf den Weg ein und zu Gabriels Freude in seine Richtung. Hektisch wandte er den Blick ab, um nicht schon wieder beim Starren erwischt zu werden. Gemächlich ging er weiter, als hätte er ihn nicht entdeckt, obwohl doch jede Faser seines Körpers ihn zu David hinzog. Ah, wie er dieses Verstellen hasste! Leider war es nötig.

Ob er ihn bemerkte? Ob er ihn erkannte? Oder würde Gabriel ihn ansprechen müssen? Die Worte hatte er sich im Wagen zurechtgelegt. Immerhin wusste er offiziell ja nicht, dass sie sich begegnen würden. Noch zwanzig Meter. Noch zehn. Noch fünf …

Er hob den Kopf, bemüht um eine neutrale Miene.

Im gleichen Moment sah David auf. Seine warmen Schokoaugen weiteten sich, dann ging ein Strahlen über sein Gesicht, das den Tag so hell machte wie einen wolkenlosen Sommertag. Es stellte ganz und gar wunderbare Dinge mit Gabriels Herz an. Ach was, mit seinem gesamten Körper!

»Gabriel Belanger!« David lachte und brachte Gabriels Herz damit erneut zum Hüpfen. Er wurde langsamer und kam direkt vor Gabriel zum Stehen. »Mit dir hätte ich hier ja gar nicht gerechnet. Wohnst du etwa auch hier in der Gegend?«

»Hi David.« Gabriel erwiderte das Lächeln ebenso sonnig. Unmöglich, seine Mundwinkel irgendwie unter Kontrolle zu bekommen.

Wieder weiteten sich Davids Augen, als gefiel ihm, was er sah. Ein Hauch Röte überzog seine Wangen zusätzlich zu der ohnehin schon gesunden Gesichtsfarbe durch den Lauf.

Himmel, war das entwaffnend! »Ich wohne in Gastown, bei mir gibt es keinen so schönen Park direkt um die Ecke. Wenn ich spazieren gehen will, aber nicht weit fahren, bin ich entweder hier oder im Stanley Park.« Oh, wie er das Lügen hasste! »Da hast du es echt gut erwischt, dass du hier um die Ecke wohnst.«

Fröhlich nickte David. »Stimmt. Sind nur fünfzehn Minuten mit dem Rad, wenn ich zügig fahre. Der Park ist einfach herrlich zum Laufen. Außerdem wärme ich mich beim Herradeln immer schon auf, bevor ich loslege.«

»Praktisch.« Gabriels Magen zog sich bei dem Ausdruck von Unbeschwertheit in den samtigen Augen vor Sehnsucht zusammen. »Hast du heute frei oder musst du später noch zur Arbeit? Dann könnte ich mir nachher meinen Kaffee wieder bei dir holen.« Er würde aber so etwas von auftauchen, wenn David das bestätigte. Irrte er sich oder vertiefte sich der Rotton auf Davids Wangen erneut?

»Den wirst du wohl von meinen Kollegen bekommen. Schade. Ich habe frei.« David riskierte einen direkten Blick in Gabriels Augen und wurde gleich darauf eindeutig rot.

Himmel, war das niedlich! Gabriels Herz klopfte schneller vor Aufregung. Alles in ihm kribbelte von dem Verlangen, die zwei Schritte, die sie trennten, auch noch zu überwinden. Er wollte David umarmen, wollte das Gesicht in seine Halsbeuge schmiegen und seinen Duft einatmen. Bestimmt roch er wie das Paradies, besonders so erhitzt, wie er war. Gabriel wollte seine Körperwärme spüren, die starken Arme um sich.

Ganz von allein wanderte sein Blick auf Davids Lippen. Voll und energisch und eben den Spalt breit geöffnet, dass Gabriel einen Schimmer der Zähne sehen konnte. Er wollte ihn küssen.

Gerade noch rechtzeitig merkte er, dass er sich vorgelehnt hatte, um auf David zuzugehen, und atmete tief durch. Gewaltsam riss er den Blick von den samtigen Augen los und ballte für einen Moment die Fäuste, um nichts Dummes zu tun.

»Ja«, sage er etwas zusammenhangslos, ehe er seine Gedanken gesammelt hatte. »Dann will ich dich nicht weiter aufhalten. Nicht, dass dir vom Stehen kalt wird. Wir sehen uns bestimmt wieder mal im Tim Hortons.«

»Ja …« Nun wurde David richtig rot, als hätte er eben gemerkt, dass auch er Gabriel einfach nur eine halbe Ewigkeit in die Augen gesehen hatte. »Dir noch einen schönen Tag.«

»Dir ebenfalls.« Gabriel wollte nicht gehen, doch wenn er jetzt stehen blieb, wurde aus seinem vernünftigen Plan des langsamen Kennenlernens nichts. Dann würde er Dinge tun, die er hinterher nur bereuen konnte. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

Für eine irrwitzige Sekunde lang hoffte er, dass David sich dazu hinreißen lassen würde, ihn nach … etwas zu fragen. Telefonnummer, Adresse, E-Mail … irgendetwas. Vielleicht gar nach einem Date.

Doch der Mann lächelte nur, nickte eifrig und lief direkt los.

Gabriel konnte nicht anders, er sah ihm hinterher.

Nach vier oder fünf Schritten drehte David sich um. Wieder wurde er rot, als er sah, dass Gabriel ihn beobachtete, grinste verschämt, winkte und wandte sich hastig erneut ab. Gleich darauf zog er das Tempo noch einmal an.

Gabriel biss sich auf die Unterlippe, lächelte und wäre ihm am liebsten gefolgt. Himmel, war David süß! Selbst wenn er nicht gewusst hätte, dass sie zusammen gehörten, hätte er doch keine Chance gehabt gegen diesen Welpenblick und diese entzückende Unsicherheit. Warum war er überhaupt so unsicher? Dieses Erröten war hinreißend, keine Frage. Aber Gabriel hatte nichts versucht bisher, dass das rechtfertigte. Oder? David allerdings ebenfalls nicht.

Sie waren sich soeben immerhin das dritte Mal begegnet. Kurz. Wobei das erste Mal nicht wirklich zählte. Aber war es nicht normal, dass man jemanden, der einen faszinierte, wiedersehen wollte? David hatte schließlich keinen Grund anzunehmen, dass sie sich noch einmal über den Weg laufen würden.

Gabriel lachte. »Doch, natürlich. Er denkt, dass ich wieder bei ihm auf Arbeit vorbeikomme, klar!«

Beim nächsten Mal durfte er auch direkter werden. Eindeutig. Das war dann nicht mehr zu schnell. Zumindest hoffte er das. Oder war das nur die Sehnsucht, die aus ihm sprach? Gabriel atmete durch und setzte sich endlich wieder in Bewegung. Er wählte den kürzesten Weg zu seinem Wagen, statt sich dazu hinreißen zu lassen, ein zweites Mal absolut zufällig über David zu stolpern.

Kapitel 7

 

Mann, Mann, Mann. David grinste wie ein Idiot, sein Kopf glühte, sein Herz raste, und das kam nicht vom schnellen Lauf. Das war ja schon nicht mehr feierlich, wie er auf diesen Mann reagierte. Aber der Kerl hatte etwas an sich, das ihn jeder Vernunft beraubte, kaum dass er ihm in die Augen sah.

Diese Augen waren allerdings auch unzählige Blicke wert, tief und blau wie der Himmel an einem Sommerabend. Wow. Und wenn er lächelte, ging die Sonne auf. Das Strahlen, das dann über sein Gesicht zog, brachte David jedes Mal ohne Umwege um den Verstand.

Kein Wunder, dass er kein vernünftiges Wort hervorgebracht hatte. Wie auch, wenn sein Gehirn lahmgelegt war. Immerhin … Davids Grinsen wurde breiter. Immerhin schien Gabriel ihn ebenfalls interessant zu finden. Er hatte genauso lange wie David gestarrt. Ihm in die Augen gesehen und nichts gesagt.

Die Erinnerung ließ sofort wieder das verrückte Prickeln in seinen Bauch und seine Brust fahren, sein Herz machte ganz und gar merkwürdige Dinge. Gute Dinge. Aber merkwürdige.

Und Gabriel wollte ihn wiedersehen! David lachte. Sein folgender Schritt wurde zu einem Hüpfer, dem ein weiterer folgte. Beim nächsten Mal hatte er hoffentlich dann seine Sinne auch genug beisammen, um den Mann auf einen Kaffee oder so einzuladen. Vorzugsweise nicht im Tim Hortons.

Warum hatte er das eigentlich nicht gleich getan? Gabriel hatte ihm doch eine Steilvorlage dazu geliefert! Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Das hatte nicht nach reiner Höflichkeit geklungen, sondern eindeutig nach mehr. Und was hatte David gesagt? Nichts! Er hatte genickt. Oh Mann! Wie dumm konnte man sein?

Er lief aus und blieb schließlich stehen. Mist! Unschlüssig drehte er sich um, doch der Weg lag leer und verlassen hinter ihm. Er hätte ihn nach der E-Mail-Adresse fragen sollen. Oder seiner Handynummer! Wer wusste schon, wann Gabriel das nächste Mal im Tim Hortons war, während David Dienst hatte. Mist, verdammt! Vielleicht würden Wochen vergehen, bevor sie sich wiedersahen!

Warum hatte er seine Gedanken nicht beisammen gehabt? Klar, die waren eher mit Kribbeln und flusigen Gefühlen gefüllt gewesen, aber trotzdem! Er war doch keine zwölf. Andererseits hatte er nicht wirklich viel Erfahrung im Umgang mit dieser Art Kopflosigkeit. Er hatte bisher erst einen Freund gehabt, und der hatte nicht mal im Ansatz das in ihm ausgelöst, was Gabriel verursachte.

Ein schmerzhafter Stich durchfuhr ihn. Was, wenn Gabriel gar nicht mehr wiederkam? Wenn er beschloss, dass David doch nicht so interessant war, weil er sich so gar nicht zu bemühen schien?

David erschauderte, drehte auf dem Absatz um und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Vielleicht konnte er ihn wiederfinden. Einholen. Und dann würde er ihn direkt fragen, wann sie sich wiedersehen konnten.

Natürlich stand Gabriel nicht mehr an der Stelle, an der sie sich getrennt hatten. Der war garantiert auch nicht so von den Socken wie David. Gabriel sah abgeklärt aus, elegant. So, als wusste er zu jeder Zeit, was er tat. Wie alt er wohl sein mochte? David fand das extrem schwer zu schätzen. Jünger als er mit Sicherheit nicht. Aber wie viel älter? Das konnte zwischen ein paar Monaten – unwahrscheinlich – bis hin zu fünfzehn oder gar zwanzig Jahren alles sein.

Was, wenn er wirklich zwanzig Jahre älter war? Wollte er da mit so einem Jungspund wie ihm überhaupt etwas anfangen? Oder würde David nur eine Bestätigung sein, dass er noch attraktiv war? Und wollte David einen Freund, der so viel reifer war?

»Argh, das sind total bescheuerte Gedanken! Erst mal musst du ihn finden. Ihn wiedersehen. Dann müsst ihr euch treffen und … danach weiterschauen.« Hektisch sah er sich um und joggte in die einzige Richtung, die ihm logisch erschien – einfach den Weg entlang.

Der gabelte sich dummerweise. David hörte auf sein Gefühl und nahm die rechte Abzweigung. Die war offensichtlich falsch, denn Gabriel war auch nach zwei Kurven nirgends zu sehen. Das kam davon, wenn er seinen Verstand ignorierte. Schneller noch als vorher rannte er zurück, um den anderen Pfad entlang zu suchen. Der sich natürlich gleich erneut verästelte.

Nach einer guten halben Stunde gestand David sich ein, dass er den Mann wohl nicht mehr finden würde. Der Park war einfach zu groß. Ein Wunder, dass sie sich überhaupt über den Weg gelaufen waren.

»Fuck.« Verschwitzt und außer Atem blieb David schließlich stehen. Frustriert strich er sich mit beiden Händen über das schweißfeuchte Gesicht und sah sich ein letztes Mal um. Half natürlich nicht, Gabriel war weiterhin nirgends zu entdecken.

Dann musste David über sich selbst lachen. Er benahm sich, als ginge es um Leben und Tod. Na ja, oder zumindest um etwas von extremer Wichtigkeit. Dabei hatte er doch nur einen Fremden nach der Handynummer fragen wollen. Zugegeben, einen sehr attraktiven Fremden, der ihm mühelos den Kopf verdrehte, und das war schon lange nicht mehr vorgekommen.

Meistens konnte David gut damit umgehen, dass er Single war. Doch wenn er daheim allein war, allein kochte, allein aß, allein zu Bett ging und allein aufwachte, wünschte er sich einen Mann an seiner Seite. Jemand, mit dem er alle Höhen und Tiefen des Lebens teilen konnte. Jemanden zum Kuscheln, zum Verwöhnen und, ja, natürlich auch für Sex.