Verflixt und Abgehaun - Mira Bergen - E-Book

Verflixt und Abgehaun E-Book

Mira Bergen

0,0

Beschreibung

Constantin, ein erfolgloser junger Mann mit gelegentlichen kriminellen Neigungen, der aus nachvollziehbaren Gründen Weihnachten verabscheut, wird infolge eines dummen Fehlers verurteilt, der Weihnachtsmann zu sein - und zwar für die nächsten hundert Jahre. Als die Weihnachtszwerge eine Gewerkschaft gründen wollen und dabei Constantin für eine Weile aus den Augen lassen, nutzt dieser die Gelegenheit zur Flucht. Doch nicht nur die Verfolgung durch die Zwerge macht ihm das Leben schwer. Auch seine böse Fee, ein Priester, ein alter Freund und nicht zuletzt sein permanentes Pech hindern ihn immer wieder am erfolgreichen Entkommen. Und auch seine Verfolger haben mit ungeahnten Problemen zu kämpfen - insbesondere in Person von Grundschullehrerin Frau Wunderlich, die den Zwergen näher kommt, als das einem anständigen Menschen lieb sein kann. Es beginnt eine irrwitzige Verfolgungsjagd, bei der ein dicker Hamster als Einziger zu wissen scheint, was zu tun ist - bis ihn seine Vergangenheit einholt. Und damit ist er nicht der Einzige. Auch Constantin wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert und gelangt dadurch zu ungeahnten Erkenntnissen. Als sich dann auch noch die Behörden einmischen, scheint das Chaos perfekt zu sein. Und am Ende ist alles wie immer nur eine Frage des Preises.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2013

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verflixt und Abgehaun!

Mira Bergen

Ein sommerlicher Weihnachtsroman

Impressum:

Verflixt und Abgehaun! Mira Bergen published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2012 Mira Bergen

Copyright Coverdesign: © 2012 Mira Bergen

Constantin warf einen nervösen Blick aus dem verschneiten Fenster, bevor er seine wenigen persönlichen Dinge eilig in einem abgenutzten Sack verschwinden ließ.

Suchend sah er sich um, ob er etwas vergessen hatte, doch da gab es nichts. Bis auf ein kleines verbliebenes Häufchen Unterwäsche war sein Schrank leer und Constantin überlegte kurz, ob er sie mitnehmen sollte. Im Gegensatz zu allen anderen üblichen Kleidungsstücken stand sie ihm ausreichend zur Verfügung und die merkwürdigen Motive auf den Unterhosen würde – so hoffte zumindest Constantin – keiner zu Gesicht bekommen. Wo sich seine richtige Kleidung befand, war ihm nicht bekannt, und das spielte jetzt auch keine Rolle. Darüber konnte er später nachdenken. Im Moment kam es nur darauf an, schnell zu sein und zu verschwinden, bevor jemand etwas merkte.

Dass seine sämtlichen persönlichen Papiere abhanden gekommen waren, drohte da schon eher zum Problem werden. Jedoch konnte er auch darauf keine Rücksicht nehmen. Mit etwas Glück würde sich dafür eine Lösung finden. In seinen früheren Leben kannte er Leute, die Leute kannten, die wussten, woher man neue Papiere bekam, ohne Aufsehen zu erregen.

Constantin musste die Gelegenheit nutzen – die erste richtige nach über einem halben Jahr Gefangenschaft und vielleicht für lange Zeit die letzte. Inzwischen war Juli und er konnte es nicht erwarten, endlich wieder seine blassen Beine in die Sonne zu halten.

Für einen kurzen Moment hielt er inne und stellte sich vor, wie ein richtiger Juli auszusehen hatte. Er war sich einigermaßen sicher, dass Schnee nichts damit zu tun hatte.

Constantin seufzte und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Für Träumereien hatte er keine Zeit.

Resigniert sah er in den noch immer beinahe leeren Sack. Außer ein paar Stiften, einer geklauten Taschenlampe, einem Kamm und einer Zahnbürste, einem roten Schlafanzug, ein paar Taschentüchern und der Unterwäsche befand sich nur ein dünnes Etui mit alten, zerknickten Fotos darin.

Eine richtige Tasche wäre unauffälliger gewesen, doch Constantin hatte nirgends eine finden können. Also musste er vorerst mit dem Sack vorlieb nehmen.

Der große Moment war gekommen. Endlich würde er diesen verrückten Ort hinter sich lassen.

Im Gehen sah er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er die weißen Papierschnipsel, die an seinem Kinn und Hals klebten.

Na großartig. Wegen des Mangels an geeignetem Werkzeug hatte er zum Rasieren auf eine Schere und ein stumpfes, aus der Küche gestohlenes Messer zurückgreifen müssen und sah nunmehr aus, als sei er unter einen Rasenmäher geraten.

Er blickte mit gemischten Gefühlen auf die langen, grauen Barthaare, die aus dem Papierkorb quollen. Natürlich hätte er in seinem neuen alten Leben unmöglich so herumlaufen können, aber die Tatsache, dass sein sonst eher spärlicher Bartwuchs zu einer solchen Leistung fähig gewesen war, erfüllte ihn irgendwie mit Stolz und war eine wohltuende Bestätigung für seine gequälte Männlichkeit.

Schließlich riss er die Schnipsel aus seinem Gesicht und musste feststellen, dass er auch ohne diese noch immer aussah, als sei er einem betrunkenen Messerwerfer in die Quere gekommen. Seine vage Hoffnung, dass sich das innerhalb der vergangenen zwanzig Minuten geändert haben könnte, hatte sich leider als unbegründet erwiesen.

Aber egal.

Eilig verließ er das Haus, das er, wenn es nach ihm ging, niemals wiedersehen würde. Wären die Umstände andere gewesen, hätte er vielleicht zugegeben, dass dieses Haus gemütlicher war als alles, das er jemals zuvor bewohnt hatte. Doch so war das eben mit den Umständen. Wen man irgendwo wohnenmusste, änderte das alles.

Vorsichtig schlich er durch verlassen wirkende, tief verschneite Straßen. Nirgends drang Licht aus den Fenstern. Selbst die Laternen gaben durch ihre dicke Schneelast nur eben genügend Licht ab, um Constantin den Weg zu weisen und gespenstische Schatten zu werfen.

Immer wieder blickte er argwöhnisch um sich, aber es schien tatsächlich keiner da zu sein. Constantin konnte sein Glück kaum fassen.

Einmal glaubte er, leises Getrippel gehört zu haben. Er erstarrte, konnte jedoch niemanden entdecken und fürchtete, allmählich paranoid zu werden.

Endlich erreichte er den Stall. Er warf den Sack in den Schlitten und schaute sich noch ein allerletztes Mal um. Doch noch immer war er allein und erleichtert murmelte er die magischen Worte, mit denen die Rentiere herbeigerufen wurden. Er zögerte kurz, sprang in den Schlitten und flog seinem neuen alten Leben entgegen.

Ein kleiner Schatten huschte hinter ihm in den Stall, aber Constantin sah ihn nicht mehr.

**

Ein dicker Hamster kämpfte mit dem Schnee und bemühte sich, Constantin nicht aus den Augen zu verlieren. Beunruhigt beobachtete er Constantins Abflug und flitzte dann zu dem einzigen noch im Stall verbliebenen Rentier. Er keuchte angestrengt und sah sich um. Schließlich kletterte er an dem vor sich hindösenden Rentier nach oben, bis er am Kopf des Tieres angelangt war, und murmelte ihm etwas ins Ohr.

Das Rentier war augenblicklich hellwach und trabte zum Ausgang des Stalles. Der Hamster warf einen nervösen Blick zum viel zu weit entfernten Boden. Doch dann zuckte er mit den Schultern und balancierte zu einer der beiden Satteltaschen. Erleichtert wollte er sich hineinfallen lassen.

»Wer... wer ist da?Elvis? Bist du das?«, drang aus dem Innern der Tasche eine gereizte Stimme.

Der Hamster quiekte erschrocken und starrte fassungslos in die Satteltasche.

Ein zerknitterter Zwerg kam zum Vorschein und sah den Hamster aufgebracht an. »Was zum Teufel suchst du hier? Das hier istmeinPlatz, verstanden?«

Der Hamster kniff die kleinen Augen zusammen und bemühte sich zu erkennen, wen er vor sich hatte. Grummelbert. Ausgerechnet. Elvis konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt einen noch schlechter gelaunten Zwerg gab.

Dem Anschein nach zu urteilen, hatte er sich vor der heute Abend einberufenen Zwergenversammlung gedrückt und die Gelegenheit genutzt, im Stall ein Nickerchen zu machen, da hier um diese Jahreszeit normalerweise nichts los war. Doch wie es aussah, hatte er sich dafür den falschen Tag ausgesucht.

Der Hamster erholte sich schnell von seinem Schrecken. Er überlegte. Vielleicht erwies sich dieses unverhoffte Aufeinandertreffen sogar als Vorteil. Angestrengt gestikulierte er und bemühte sich, den Weihnachtsmann nachzuahmen. Wieder und wieder zeigte er in den rasch näher kommenden Abendhimmel am Stallausgang.

Pantomime war nicht seine Stärke. Er knurrte und bellte gelegentlich, doch auch das schien nicht hilfreich zu sein.

Grummelbert beobachtete ihn argwöhnisch. Irgendetwas wollte der verrückte Hamster ihm mitteilen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser etwas zu verkünden hatte, das wichtiger als Grummelberts Pause war.

»Was ist los?« fragte er schließlich gereizt.

Der Hamster wiederholte ungeduldig seine gestenreiche Vorführung. Grummelbert kam schließlich nicht mehr umhin, die Botschaft zu verstehen.

»Ach. Du meinst also, der Weihnachtsmann ist abgehauen?«

Elvis nickte eifrig.

Der Zwerg überlegte, ob das irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte, und er kam zu der unangenehmen Erkenntnis, dass sich diese Tatsache auch für ihn und sein ausgeprägtes Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, nachteilig auswirken konnte. Zorn stieg in ihm auf.

»Sind diese Schwachköpfe nicht in der Lage aufzupassen? Das ist doch unglaublich! Sind wahrscheinlich alle auf dieser blöden Versammlung. Ha! Und was hast du jetzt eigentlich vor?«

Misstrauisch beäugte der Zwerg den Hamster. Dann drängelte sich eine Erkenntnis nach vorn und er riss entsetzt die Augen auf.

»Hast du etwa vor, ihm zu folgen?«

Der Hamster nickte entschlossen.

»Unddudenkst, du kannst ihn zurückholen?«

Der Hamster nickte erneut.

Grummelbert verdrehte die Augen. Das wurde immer verrückter.

»Jetzt hör mal. Wie oft soll es dir noch jemand sagen: Du bist kein Hund, klar? Du bist einfach nur ein dummer Hamster, der nicht ganz richtig im Kopf ist. Und es istnichtdeine Aufgabe, den Weihnachtsmann zu bewachen!«

Es war ein seltsames Phänomen, welches sich keiner der Zwerge erklären konnte. Der Hamster war vor einem halben Jahr auf mysteriöse Weise zusammen mit dem Weihnachtsmann zu ihnen nach Zipfelbergen gekommen und hatte sich anfangs, soweit die Zwerge so etwas beurteilen konnten, wie ein ganz normaler Hamster verhalten. Er verschlief die Tage, und nachts schlich er durch die Stadt, wo er sich all das in die Backen stopfte, das nicht für ihn bestimmt war.

Kurze Zeit später hatte er plötzlich begonnen zu bellen und zu knurren und war dem Weihnachtsmann tagsüber nicht mehr von den Fersen gewichen. Wie ein guter Wachhund eben, nur dass Elvis ein Hamster war. Er versuchte, mit seinem Stummelschwänzchen zu wedeln, wenn er sich freute, und was auch immer man wegwarf - war Elvis in der Nähe, konnte man sicher sein, dass er es kurze Zeit später keuchend wieder angeschleppt brachte.

Die Zwerge hatten sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt. Hier passierten des Öfteren Dinge, für die es keine Erklärung gab. Wenn man zu intensiv darüber nachdachte, lief man Gefahr, für einen Intellektuellen gehalten zu werden. Und intellektuelle Zwerge bekamen Arbeiten weit weg von allen anderen zugeteilt, um keinen Schaden anrichten zu können.

Grummelbert sah entnervt um sich und erschrak, als ihm seine Augen mitteilten, dass sie den Stall bereits verlassen hatten und das Rentier eben im Begriff war, sich in die Luft zu erheben. Eilig wollte er abspringen, als ihn etwas von hinten festhielt. Wütend schaute er sich um. Der Hamster hatte sich entschlossen in seinem Mantel verbissen.

»Du schwachsinniger... Dings, äh, Hamster! Lass mich augenblicklich los! Sonst..., sonst sorge ich dafür, dass du bald keine Zähne mehr hast!«

Doch Elvis presste entschlossen die Zähne zusammen. Er brauchte den Zwerg, wenngleich ihm dieser schon jetzt furchtbar auf die Nerven ging.

Nach einer Weile wilden Gerangels schaute Grummelbert erneut nach unten und musste einsehen, dass es inzwischen eher von Nachteil wäre, wenn Elvis loslassen würde, da sie sich bereits einige Meter über dem Boden befanden.

Stürze aus dieser Höhe endeten für ungeübte Zwerge zumeist fatal, selbst wenn sie auf Schnee landeten.

Grummelberts Interessen verlagerten sich nach einer neuen Einschätzung der Situation mit einem Mal in die andere Richtung und nach einem weiteren erschrockenen Blick nach unten rief er: »Wehe, du lässt los!«

Elvis biss noch entschlossener zu und versuchte, den zappelnden Zwerg wieder nach oben zu ziehen. Das war nicht so einfach, da Zwerge Hamster noch immer um einiges überragten und Elvis nicht sonderlich sportlich war. Aber schließlich bekam Grummelbert einen Gurt der Satteltasche zu packen und konnte sich hochziehen. Völlig erledigt ließen sich beide in die Satteltasche plumpsen.

**

Zögerlicher Applaus kämpfte sich durch die voll besetzten Stuhlreihen der Haupthalle. Die Zwerge waren mehr oder weniger gutwillig erschienen und blickten nach vorn. Auf dem Podium stand auf einem wackeligen Stapel eilig zusammengetragener bunter Geschenkkartons ein augenscheinlich sehr wütender Zwerg und gestikulierte wild mit seinen Fäusten.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um die Durchsetzung unserer Interessen endlich in unsere eigenen Hände zu nehmen. Die Ungerechtigkeit muss ein Ende haben! Lasst uns zusammen dafür kämpfen und die Zukunft gemeinsam besser gestalten! Auch Zwerge sollten qualifiziert, motiviert und eigenverantwortlich arbeiten dürfen.«

Das Publikum warf sich skeptische Blicke zu und zeigte zunehmendes Missbehagen. Gemurmel wurde laut, und schließlich sprang ein besonders kleiner, aufgeregter Zwerg aus der dritten Reihe in die Höhe und rief:»Hattest du vorher nicht was vonwenigerArbeit und mehr Urlaub und solchem Zeug versprochen? Wir haben kein Problem mit unserer Arbeit. Wir hätten nur gerne weniger davon. Und mehr Lohn!Deshalbsind wir hier!«

Viele Zwerge nickten, und einige applaudierten spontan. Genau genommen hatten sie sich vorher nie viele Gedanken über ihre Arbeit gemacht, bis man ihnen Zettel mit diversen Verbesserungsideen in die Hand drückte, die das Blaue vom Himmel versprachen.

Der Podiumszwerg begann zu schwitzen. Er hatte monatelange Überzeugungsarbeit leisten müssen, um die Zwerge zu dieser Versammlung zu überreden. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er sich darauf vorbereitet, doch nun, da der große Moment gekommen war, lief es ganz und gar nicht nach Plan.

In seiner Vorstellung war dies stets ein ausgesprochen erhebender, von allen Seiten umjubelter Augenblick gewesen. Davon war er jedoch weit entfernt. Irgendwie hatte er in seiner Euphorie das Wesen des typischen Zwerges gänzlich verdrängt und sah sich nun plötzlich mit der Realität konfrontiert.

Wilbert hatte lange und intensiv recherchiert. In der jahrhundertelangen Geschichte des Weihnachtslandes und der Stadt Zipfelbergen hatte es nie einen nennenswerten Arbeitskampf gegeben. Die Zwerge taten jahrein jahraus ihre Arbeit und passten sich ohne zu Murren den Veränderungen an. Dabei mussten sie inzwischen mehr arbeiten denn je, da die Wünsche der Kinder immer größere Ausmaße annahmen und nebenbei noch ein widerwilliger Weihnachtsmann bewacht werden musste.

Unterstützung von außerhalb war nicht zu erwarten, da sich gewisse Dinge herumgesprochen hatte. Das hier war kein Traumjob mehr. Versetzungsanträge nach außerhalb wurden grundsätzlich ignoriert oder abgelehnt. Man verließ sich auf das bei Zwergen überdurchschnittlich stark ausgeprägte Pflichtbewusstsein.

So konnte, nein, so durfte es nicht weitergehen. Irgendjemand musste die Zwerge wachrütteln und auf ihre Möglichkeiten aufmerksam machen.

Wilbert sah seine große Stunde gekommen.

Aufmerksam hatte er in Zeitungen, die nach Zipfelbergen gelangt waren, nach Informationen gesucht und war schließlich auf die Wörter»Gewerkschaft« und»Streik« gestoßen.

Wilbert war begeistert.

Allerdings mussten erst noch irgendwie die anderen, in den meisten Fällen ausgesprochen konservativ eingestellten Zwerge, überzeugt werden.

Beschwichtigend hob er die Hände.»Immer mit der Ruhe! Das kommt doch alles noch. Aber wenn wir schon Forderungen stellen, dann sollten diese auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen umfassen. Mitbestimmung, intensive Gesundheitsvorsorge und eine ausreichende Altersabsicherung zählen dazu genauso wie Arbeitszeitverkürzungen, Lohnerhöhungen, Leistungsprämien und die Erweiterung des Erholungsurlaubs.«

Die Zwerge begannen wieder zu tuscheln. Besonders die jüngeren Zwerge waren nicht erpicht auf langwierige Versammlungen und diese hier schien schon jetzt zäh wie Rattenleder zu werden. Außerdem war ihnen die Sache mit der Altersabsicherung suspekt. Zwerge pflegten zu arbeiten, bis sie eines Tages umkippen. Und dann hatte sich in der Regel auch die Sache mit der Altersabsicherung erübrigt.

Nach längerer Diskussion erhob sich schließlich ein ehrwürdiger alter Zwerg namens Humbert in der vordersten Reihe, nickte dem Podiumszwerg zu und sprach:»Junger Wilbert, fahre fort.«

Aus einer der hinteren Reihen rief eine Stimme:»Na los Willi, sieh zu dass du heute noch fertig wirst!« Beifälliges Gekicher war zu hören, das allmählich in Applaus überging.

Wilbert lief rot an und begann eilig, seine zahlreichen Zettel umzusortieren. Er hatte fast zwei Monate an der Ausarbeitung eines ausführlichen Referates gesessen. Aber alles würde er wohl nicht vortragen können, ohne dass einige Zwerge vor Langeweile starben oder zumindest genug hatten und gingen.

Mit gerunzelter Stirn musterte er die unruhig umherrutschenden Zwerge. Das war wirklich empörend. Immerhin war er nur um das Wohlergehen dieser Zwerge bemüht, und jetzt so was.

Nach kurzem Überlegen entschied er, die Zusammenfassung einer Studie über die steigende arbeitsbedingte Stressbelastung der Zwerge in den vergangenen drei Jahren und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität vorzutragen.

Da es im Saal ruhig blieb, wurde er anschließend noch etwas mutiger und referierte über psychische Ermüdung aufgrund steigender Arbeitsanforderungen. Aber offensichtlich hatte er den Begriff Ermüdung zu häufig gebraucht. Und als schließlich fast die Hälfte der Zwerge schlief und sogar die Streber nur noch mit Mühe die glasigen Augen offen halten konnten, war auch Wilbert nicht mehr imstande, das laute Schnarchen länger zu ignorieren.

Resigniert blickte er in die traurige Runde.»Kommen wir nun zum Ende!«

Schlagartig waren die Zwerge wieder wach, sahen sich verwirrt um und fragten sich, ob sie wohl etwas Wichtiges verpasst hätten.

»Hier auf diesem Papier«, Wilbert schwenkte ein großes, eng beschriebenes Blatt hin und her,»sind sämtliche bisher besprochenen Forderungen genauestens dokumentiert. Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen, Leistungsprämien, und so weiter und so fort. Und da wir die Interessen wirklich jeden Zwerges vertreten wollen, könnt Ihr jetzt selbst noch weitere Punkte vorschlagen, welche in den Forderungskatalog aufgenommen werden sollten.«

Mit einem Mal gab es kein Halten mehr. Die Zwerge schrieen lauthals heraus, was ihnen wichtig erschien, und Wilbert sah hilfesuchend zu dem alten Zwerg. Humbert hob die Hand, und erstaunlicherweise herrschte von einem Moment zum nächsten Stille. Zwerge hatten großen Respekt vor dem Alter und achteten streng auf eine entsprechend ausgelegte Hierarchie. Wie bedauerlich, dass Wilbert nach Zwergenmaßstäben noch nicht besonders alt war.

Der alte Zwerg forderte die anwesenden Zwerge nun einzeln zum Sprechen auf. Der erste rief aufgebracht:»Was ist mit den Aufstiegs- und Versetzungsmöglichkeiten? Nicht alle finden es hier im Dauerfrost und mit ständigem Glöckchengebimmel so großartig! Vielleicht möchte ich ja lieber als Märchenzwerg arbeiten. Aber nein - wenn man hier einmal hergeschickt wurde, kommt man nicht mehr weg!«

Sein Nachbar grinste.»Du willst ja nur Schneewittchen unter den Rock gucken!«

»Halts Maul, du Blödkopp!«

Wilbert schnitt den beiden entschlossen das Wort ab.»Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag, der gerne mit aufgenommen werden kann. Gibt es weitere Ideen?«

In der zweiten Reihe erhob sich ein sehr gepflegt aussehender Zwerg und schaute auf einen vorbereiteten Zettel.»Wie sieht es denn aus mit der Erweiterung der hier vor Ort angebotenen Dienstleistungen wie Friseur, Wellness- oder Fitness-Möglichkeiten? Solche Dinge sind maßgebend für die Lebensqualität, wurden bislang aber völlig vernachlässigt. Es könnten entsprechende Fortbildungen angeboten werden.«

»Ja, Ken. Und wer soll das bitteschön machen?« fragte ein anderer Zwerg.

Ken zeigte seine blitzenden, perfekt gepflegten Zähne und antwortete liebenswürdig:»Ich zum Beispiel. Und deine Locken drehe ich dir gratis. Falls ich noch Haare finden kann!«

»Schluss mit dem Geblödel«, rief Wilbert verärgert. Aber nach kurzer Diskussion wurde auch diese Forderung aufgenommen, genau wie eine vielfach begrüßte Gefahrenzulage für die Arbeit bei den zunehmend aggressiver werdenden Kindern, Förderung von Freizeitaktivitäten und die Einsetzung eines Komitees zur Abwehr besonders unverschämter Kinderwünsche.

Dann kam ein heikles Thema auf den Tisch, als dem Zwerg Valentin das Wort erteilt wurde und dieser schüchtern und mit roten Ohren Verbesserungen der Frauenrechte forderte.

In diesem Moment brach unter dem wütenden Wilbert der wackelige Stapel aus Kartons zusammen und er knallte mit dem Kopf aufs Podium. Danach verschwand er gänzlich aus den Blicken des interessierten Publikums. Aber nur kurz.

Wilbert rappelte sich auf, stürmte mit blutender Nase hinter dem Podium hervor und rief erregt:»Totaler Unsinn! Das ist doch völlig verrückt! EineZwergin«, bei diesem Wort verzog er das Gesicht, als habe ihm soeben jemand etwas Stinkendes unter die Nase gehalten,»hat doch schon die gleichen Rechte wie ein Zwerg. Da gibt's überhaupt keinen Unterschied!«

»Ja, eben. Das ist es ja. Vielleicht wäre den Zwerginnenein Unterschied aber lieber«, entgegnete Valentin hitzig.»Und, und, äh... vielleicht möchte man ja auch mal als Frau wahrgenommen werden«, fügte er kleinlaut hinzu.

Allgemeine Empörung machte sich breit und es drohte, ein Tumult auszubrechen. Da die Äxte am Eingang abgegeben werden mussten (Wilbert gratulierte sich nachträglich zu dieser Entscheidung), wurde wild gestikuliert und mit den für alle Fälle mitgenommenen Büchern auf Zwergenmützen geschlagen. Erst nachdem der alte Zwerg eingeschritten war, konnte wieder etwas Ruhe in den Saal gebracht werden.

Wilbert, der inzwischen auf die erneut aufgestapelten Kartons geklettert war, hatte sich wieder unter Kontrolle und sagte schließlich diplomatisch:»Nun gut. Dieses Thema klammern wir vorläufig aus und besprechen es auf einer der nächsten Versammlungen.«

Aus Valentins Richtung erklang wütendes Gemurmel in Richtung Podium, während sich die anderen Zwerge bei der Aussicht auf weitere Versammlungen verstörte Blicke zuwarfen.

»Also, nehmt bitte wieder Platz«, forderte Wilbert verzweifelt.

»Äh, wer platzt?« fragte ein verwirrter Zwerg in der ersten Reihe und sorgte damit für leichte Entspannung.

Entschlossen brach Wilbert den Diskussionsteil ab. Er hatte nun die volle Aufmerksamkeit der Zwerge und wollte diesen Moment ausnutzen. Übereifrig hob er den Zeigefinger und stach sich damit ins Auge. Das Publikum beobachtete gefesselt, wie er sich mit einem Taschentuch das tränende Auge zuhielt und sich erneut an sie wandte.

»Kommen wir nun zum eigentlichen Punkt. Zur Durchsetzung unserer Forderungen müssen wir hier und heute eine Gewerkschaft gründen und über die Durchführung eines Streiks abstimmen.«

»Moment noch«, rief eine verschlafene Stimme aus der letzten Reihe. Svante, der sich zur Zeit hauptsächlich um die anstrengende und ermüdende Überwachung des Weihnachtsmannes kümmerte, war erst durch den Tumult aus seinem Nickerchen erwacht.»Was ist eigentlich mit Zulagen für Wachdienst und Nachtschichten?«

Die Zwerge sahen sich zustimmend an. Das klang ausgesprochen vernünftig. Schließlich hatte jeder schon mal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, jeden Schritt des Weihnachtsmannes bewachen und sämtliche (und auch zahlreiche) Ausreißversuche erkennen oder schon vorhersehen zu müssen.

In diesem Moment fragte eine Stimme zaghaft:»Äh, wer bewacht eigentlichjetztden Weihnachtsmann?«

**

Constantin machte es sich im Schlitten gemütlich und entspannte sich.

Endlich!

Endlich hatte er es geschafft, nach so vielen hoffnungslosen Versuchen. Er war Tag und Nacht bewacht worden. Und selbst dann, wenn weit und breit kein Zwerg zu sehen war, hatte das nicht das Geringste zu bedeuten. Abgesehen davon, dass Zwerge naturgemäß sehr klein waren, hatten sie die Kunst des Versteckens praktisch zur Vollendung gebracht. UnddieseZwerge waren dabei besonders gut.

Vor einem Jahr noch hätte er jeden des fortgeschrittenen Wahnsinns bezichtigt, der etwas über die Existenz von Zwergen erzählte. Als er dann selbst den ersten Zwerg zu Gesicht bekam, war er sich sicher, den Verstand verloren zu haben. Was in seiner Situation vielleicht gar nicht so schlecht und irgendwie sogar vorhersehbar gewesen wäre. Bis er sich dann kurze Zeit später der Erkenntnis stellen musste, dass sein Verstand nur zu gut funktionierte und all das real war.

Er fragte sich noch immer, womit er das verdient hatte.

Einer der ersten Wege in seinem neuen Leben als Sklave des Weihnachtswahnsinns führte Constantin vor nunmehr beinahe einem halben Jahr in die Zwergenbibliothek. Die Ausmaße dieses Raumes erschütterten ihn. Er hatte nie besonders viel gelesen und die kleine örtliche Bibliothek, die er in seiner Schulzeit gelegentlich gezwungen war zu besuchen, überforderte ihn bereits. Er fand sein eigenes Leben schon anstrengend genug und wollte sich um nichts in der Welt auch noch mit fremden Geschichten belasten.

Jetzt sah er sich mit einem gewaltigen unterirdischen Komplex von Räumen konfrontiert, die allesamt bis zur selbst für menschliche Maßstäbe hohen Decke mit endlosen Reihen von Büchern vollgestopft waren. Die meisten Bücher waren recht klein und sehr alt, aber es gab auch neuere und sehr große Exemplare. Constantin fragte sich, wie die Zwerge an die höher gelagerten Bücher gelangten und vermutete, dass diese Regale absichtlich so hoch waren, damit man eine Ausrede hatte, weshalb man die entsprechenden Bücher nicht las. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und bei den Zwergen befanden sich die Augen noch ein erhebliches Stück tiefer als bei Constantin.

Etwas später entdeckte er Leiterwagen, die an den Bücherreihen entlang geschoben wurden. Er gelangte zu der Einsicht, dass man hier tatsächlich viel zu lesen schien, und Constantin fühlte sich noch unwohler, als dies ohnehin schon der Fall war.

Wie er dann von dem diensthabenden Bibliothekarszwerg erfuhr, handelte es sich bei den Büchern überwiegend um archivierte Wunschzettel und Geschenkelisten längst vergangener Zeiten. Aber auch normale Bücher nahmen einen bedenklich großen Teil der Räume ein und Constantin hatte Mühe, das verwirrende System zu durchschauen. Doch schließlich fand er in einem etwas abgelegenen Raum das gesuchte Hinweisschild mit der AufschriftZwergeund er begann, die Bücherrücken zu studieren.

Wenn man einmal davon absah, dass die Existenz von Zwergen schlichtweg unmöglich war, hatte er sich darunter immer sehr, sehr kleine, harmlose Menschen mit langen Bärten und lustigen Mützen vorgestellt, die gerne sangen. Die Realität hatte ihn eines Besseren belehrt1und jetzt wollte er es genau wissen.

Constantin verbrachte über drei Stunden damit, konzentriert zu lesen. Noch nie zuvor in seinem Leben war ihm das passiert.

Die meisten Bücher enthielten Zwergengeschichte. Constantin hatte sich nie sonderlich für Geschichte interessiert, da das, was man da erfuhr, bereits vorbei war und sowieso nicht mehr geändert werden konnte. Aber er würde wetten, dass Menschen nicht annäherndso vielGeschichte vorzuweisen hatten.

Es gab endlos viele Kämpfe, Kriege, Dynastien und Aufstände2, aber nichts, das wirklich Aufschluss über das Wesen von Zwergen gab.

Doch irgendwann lernte Constantin, zwischen den Zeilen zu lesen.

Es gab wie bei den Menschen kluge und dumme, fröhliche und mürrische, freundliche und hinterhältige, schöne und hässliche3Zwerge.

Aber es gab auch verschiedene Stämme, die sich äußerlich voneinander unterschieden. Nicht wie bei Menschen in Haut- und Haarfarbe, aber in Größe und Statur. Constantin erfuhr, dass die Zwerge hier mit ihrer Größe von ungefähr vierzig bis fünfzig Zentimetern eher klein und schmächtig waren. Die größeren Stämme waren überwiegend im Bergbau tätig oder schmiedeten Werkzeuge und Ähnliches, wogegen sich die kleinwüchsigeren Stämme auf filigranere Tätigkeiten verlegt hatten.

Außerdem gab es noch die Minderheiten der Weihnachtszwerge, Märchenzwerge, Heinzelmännchen und Waldwichtel, welche zumindest in den Märchen und Legenden der Menschen auftauchten und von diesen auch gelegentlich gesehen wurden. Mitunter sogar absichtlich.

Constantin fand nirgends einen Hinweis auf Zwerginnenoder gar darüber, woher die kleinen Zwerge kamen, was ihm seltsam vorkam. Als Mensch war man heutzutage daran gewöhnt, an allen Ecken auf entsprechende Anspielungen zu stoßen, ob man nun wollte oder nicht.

Zuerst vermutete Constantin, er sei in einer Art Kloster für männliche Zwerge gelandet und alle Hinweise auf das andere Geschlecht seien aus Sicherheitsgründen aus der Bibliothek verbannt worden.

Aber irgendwann fand er Bilder von Zwergen mit ihren Müttern und stellte fest, dass die Mütter genauso aussahen wie ihre Söhne (oder vielleicht auch Töchter), nur noch älter. Irgendwann stellte sich Constantin der Erkenntnis, dass Zwerge und Zwerginnen für sein ungeübtes Auge äußerlich nicht unterschieden werden konnten. Zumindest solange sie angezogen waren.

Auch spätere vorsichtige Nachfragen bei seiner Zwergenwache führten zu keinen neuen Erkenntnissen, da Zwerge ausgesprochen zugeknöpft reagierten, wenn man dieses Thema anschnitt. Also war Constantin bisher aus dem Stadium der interessanten Theorien noch nicht herausgekommen und er hatte die Lösung dieses Rätsels im Laufe der Zeit abgehakt.

Constantin legte die Beine auf die Schlittenwand und machte es sich bequem.

Er hoffte inständig, dass er jetzt dasgesamteKapitel Zwerge abhaken konnte. Irgendwann würde dann die Verdrängung ihren Teil der Arbeit erledigen und seine Erinnerungen an diese grauenvolle Zeit tilgen.

Nie wieder wollte er etwas mit diesen Leuten zu tun haben. Derartige Gesellschaft führte dazu, dass man weggesperrt und nie wieder herausgelassen wurde.

Und wieso hatte er das alles über sich ergehen lassen müssen? Nun? WegenWeihnachten. Wegen des deprimierendsten Festes, das er sich überhaupt vorstellen konnte. Weihnachten war für ihn etwas, das er schon von früher Kindheit an fürchten gelernt hatte. Nur widerwillig erinnerte er sich.

Constantins prägendste frühe Erinnerung war Heiligabend, als er fünf Jahre alt war. Seine drei Geschwister und er saßen aufgeregt im Wohnzimmer und warteten auf den Weihnachtsmann. Er sah noch genau vor sich, wie er zwischen seinen zwei älteren Brüdern saß, die großspurig Erinnerungen an vergangene Begegnungen mit dem Weihnachtsmann austauschten und sich dabei an Heldenmut und Verwegenheit offensichtlich gegenseitig übertroffen hatten. Constantin war unendlich stolz auf seine unerschrockenen Brüder und glücklich, dass er dazugehörte. Es war zwar nicht immer einfach, das Gekicher und die Bemerkungen ihrer siebenjährigen Schwester Leonore zu ignorieren, deren Gedächtnis offensichtlich besser funktionierte und die sich deutlich erinnern konnte, dass die beiden Maulhelden jedes Mal ganz still wurden, sobald es an der Tür klopfte. Aber Constantin und seine Brüder bemühten sich nach Kräften, die Existenz ihrer Schwester einfach zu übersehen.

Das Ignorieren der Vorgänge im Nebenzimmer fiel da schon schwerer.

Seine Eltern brüllten sich dort bereits seit einer Ewigkeit an. Das war auch vorher schon hin und wieder vorgekommen, aber irgendwie klang es dieses Mal anders. Ernster.

Schließlich stürmte sein Vater mit einer großen Tasche in der Hand aus dem Schlafzimmer. Seine Mutter folgte ihm weinend und rief immer wieder: »Bleib doch hier. Es ist Weihnachten, und wir können über alles reden.«

Doch sein Vater blieb hart. »Das hättest du dir eher überlegen müssen. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts passiert, und Weihnachten geht mir im Moment völlig am A...«, erschrocken schaute er zu seinen Kindern, die fassungslos auf dem Sofa saßen, und ihn mit angehaltenem Atem beobachteten. »... Ähm, ist mir gerade nicht wichtig.«

Theodor, Constantins ältester Bruder fragte mit aufgerissenen Augen: »Papi, wo willst du denn hin?«

»Ich weiß nicht, mein Kleiner. Ich werde mich morgen bei euch melden, aber heute müsst ihr mit dem Weihnachtsmann alleine fertig werden. Ich bin sicher, dass ihr das schafft. Ihr seid doch schon groß.«

Und dann tat Constantins Vater etwas, das Constantin das kleine Herz brach und dazu führte, dass er die Welt nicht mehr verstand: Er riss Constantins Brüder vom Sofa und umarmte sie stürmisch. Dann ging er zum Sessel, von dem Leonore bereits aufgesprungen war, und umarmte auch sie, während ihm Tränen in den Augen standen. Constantin stand langsam auf und ging auf seinen Vater zu, doch der wich zurück und sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an. Danach griff er hastig nach seiner Tasche, die er zuvor achtlos hatte fallen lassen, und verschwand eilig.

Theodor kam mit wütendem Gesicht auf Constantin zu. »Was hast du gemacht? Wieso ist Papa jetzt weg?«

Constantin begann zu weinen und sah sich hilfesuchend nach seiner Mutter um, doch die hatte sich schluchzend auf einen Sessel fallen lassen und beachtete ihn nicht.

An diesem Tag hatte keiner mehr mit Constantin gesprochen und er zermarterte sich den Kopf, was die Ursache dafür sein könnte. Doch ihm wollte nichts einfallen. Immerhin hatte er sich in den letzten Tagen ganz besonders bemüht, sich nichts zuschulden kommen zu lassen, da Weihnachten vor der Tür stand und man bekanntlich nie wissen konnte.

Seine Mutter zog sich bald darauf wieder weinend ins Schlafzimmer zurück, während seine Geschwister spekulierten, was Constantin angestellt haben könnte. Aber selbst ihre verblüffend blühenden Phantasien ergaben nichts, das auch nur ansatzweise eine solche Konsequenz gerechtfertigt hätte.

Später klopfte es an die Tür, doch ihre Mutter war schneller als sie und verbot ihnen, mit in den Flur zu kommen. Leonore und Theodor rannten zu Tür, um zu lauschen, aber auch von dort hörten sie nur, dass kurz gesprochen wurde, konnten jedoch kein Wort verstehen.

Danach kam ihre Mutter mit verweinten Augen und einem großen Sack herein, stellte diesen vor den Kindern ab und sagte kurz angebunden: »Hier sind eure Geschenke. Der Weihnachtsmann hatte heute keine Zeit hereinzukommen. Wenn ihr wollt, könnt ihr sie schon aufmachen.« Daraufhin ging sie wieder ins Schlafzimmer.

Constantin wollte keine Geschenke mehr. Er wollte, dass Papa zurückkam und ihn in den Arm nahm. Keines der Kinder zeigte Interesse an dem Inhalt des großen Sacks. Schließlich ging Constantin zu Bett und weinte sich in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Tag setzte sich die Mutter mit ihnen zusammen und erklärte, dass Papa erstmal weggefahren sei, aber sicherlich bald wieder zurückkäme. Doch niemand glaubte ihr recht. Theodor fragte seine Mutter, was Constantin denn Schreckliches angestellt habe, aber diese sagte nur abwesend: »Wie kommst du bloß auf diesen Unsinn? Keiner hat was angestellt.«

Die Zeit danach war für den kleinen Jungen die reinste Hölle. Constantin hing von all seinen Geschwistern am meisten an seinem Papa, und jetzt trug er scheinbar die Schuld, dass dieser sie verlassen hatte. Und es war ihm ein Rätsel, weshalb.

Ab und zu kam Papa vorbei und holte Constantins Geschwister ab, aber für ihn hatte er kaum mehr als ein kurzes »Hallo« übrig. Als sein Vater das erste Mal zu ihnen kam, war Constantin freudestrahlend in den Flur gestürmt. Doch wie er den Gesichtsausdruck seines Vaters sah, war er stehen geblieben, als ob er gegen eine Wand gerannt sei. Sofort schossen ihm wieder die Tränen in die Augen und er stieß hervor: »Was habe ich denn getan?«

Sein Vater zerwuschelte ihm kurz die Haare und sagte leise: »Du kannst nichts dafür. Aber es ist im Moment besser so. Ich ..., ich kann einfach nicht.«

Constantin musste mit ansehen, wie seine Geschwister sich anzogen und mit Papa ins Kino gingen. Und später auch zum Eislaufen, auf den Spielplatz und schließlich zu Papas neuer Wohnung. Und sosehr Constantin seine Mutter auch mit Fragen löcherte, erfuhr er nicht, weshalb er nicht mitgehen durfte.

Bis eines Tages Theodor verkündete, er wisse jetzt, was los sei, da er ein Gespräch zwischen Oma und ihrer Nachbarin belauscht hatte. Constantin war ganz aufgeregt. Theodor zeigte mit dem Finger auf ihn und behauptete: »Du bist nicht das Kind von Papa. Du hast einen anderen Vater.«

»W-was?«

Constantin war zu klein, um das zu verstehen. Papa war Papa und er wusste nicht, weshalb das plötzlich anders sein sollte. Aber Theodor war noch nicht fertig und verbreitete stolz sein neu erworbenes Wissen. »Papa dachte immer, dassder da«, dabei zeigte er wieder auf Constantin, »sein Kind ist. Und als er gehört hatte, dass das nicht stimmt, war er so traurig, dass er nicht mehr bei Mama bleiben wollte, weil die Schuld hat und sich einen anderen Mann gesucht hatte, der dann der Papa von Constantin war. Derrichtige, echte!«, fügte er noch hinzu für den Fall, dass ihn jemand nicht genau verstanden hatte.

Leonore, die seit den Ereignissen zu Weihnachten als Einzige noch für Constantin da gewesen war, fragte verblüfft: »Ja, aber weristdenn dann der richtige Papa von Constantin?«

»Tja, das weiß keiner. Also Mama und Papa bestimmt schon, aber die sagen es niemandem.«

Leonore wandte sich wieder an Constantin. »Siehst du«, sagte sie tröstend, »du kannst nichts dafür.«

Aber für Constantin war die Welt zum zweiten Mal zusammengebrochen. Es war ihm egal, dass es irgendwo einen anderen Papa gab. Er wollte seinen Papa zurückhaben, der immer für ihn da gewesen war.

Seine Mutter sagte ihm nie, wer sein Vater war. Auch später nicht.

Constantin hatte seitdem nie wieder ein schönes Weihnachtsfest erlebt. Seine Geschwister verbrachten die Weihnachtstage grundsätzlich bei ihrem Vater, da ihre Mutter keinen Anspruch darauf erhob. Papa schien sich nach wie vor sehr viel Mühe zu geben, diese Tage für die Kinder so schön wie nur möglich zu gestalten und Constantin war regelmäßig vom Neid zerfressen, wenn seine Geschwister sich später darüber unterhielten.

Constantin und seine Mutter verbrachten Heiligabend meistens vor dem Fernseher, nachdem er im Anschluss an ein schweigsames und deprimierendes Abendessen seine Geschenke erhalten hatte. Seine Mutter sagte dann immer, dass es ihr leid tut, aber sie nicht vergessen könne, dass ausgerechnet am Weihnachtsabend ihre Familie zerbrochen war, und dass sie das einfach nicht feiern könne.

Er begann, sich vor den Weihnachtstagen zu fürchten. Und irgendwann, als er älter war, empfand er für den ganzen Aufwand, den andere dafür betrieben, nur noch bissige Verachtung.

Was für ein scheinheiliges Getue. Von wegen Fest der Liebe und so weiter.

Sein Vater (der falsche) hatte sich einige Zeit nach seinem Auszug einmal mit ihm zusammengesetzt und sich zerknirscht dafür entschuldigt, dass er sich nicht weiter um Constantin gekümmert hatte.

»Ich weiß, dass du damit nicht umgehen konntest und viel zu klein warst, um zu verstehen, was da passierte. Und immerhin trägst du ja auch nicht die geringste Schuld an dem Ganzen. Aber du warst bis dahin immer mein kleiner Liebling gewesen, und ich bin damit einfach nicht klargekommen, dass du einen anderen Vater haben sollst. Wenn ich dich nur gesehen habe, hätte ich heulen können. Oder deiner Mutter etwas antun.« Er sah grübelnd vor sich hin. »Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich hätte das nie erfahren. Ich weiß zwar nicht, ob ich es mit eurer Mutter noch lange ausgehalten hätte, aber du wärst nach wie vor mein Kind gewesen. Nun ja. Das lässt sich wohl nicht mehr ändern. Aber wenn ich jetzt irgendetwas für dich tun kann, dann sag es mir bitte.«

Dabei sah er Constantin bittend an.

Constantin wollte keine Almosen. Er hatte sich zu einem sehr zurückgezogenen Kind entwickelt und fand, dass es jetzt zu spät für die Einsicht seines (falschen) Vaters sei.

Und so saß er den Nachmittag mit diesem aus und nahm danach nie wieder Kontakt zu ihm auf. Hin und wieder erreichten ihn Nachfragen über seine Geschwister und er bekam Einladungen, aber er antwortete nicht, und irgendwann gab sein Vater auf.

Seine älteren Brüder behandelten ihn, als würde er nicht dazugehören. Sie waren zwar auf ihre Weise ausgesprochen höflich, aber nicht herzlich. Die einzige, die weiter uneingeschränkt zu ihm hielt, war Leonore. Sie tröstete ihn und vermied es in seiner Gegenwart, über ihren Vater zu sprechen. Allerdings kam Constantin irgendwann in ein Alter, in dem man nicht mehr am Rockzipfel seiner älteren Schwester hängen wollte. Immerhin konnte man für so was verhauen werden.

Die Jahre vergingen, und Constantin entwickelte sich zu einem Problemkind. Anderen gegenüber wurde er zunehmend verschlossen und misstrauisch. Er hatte nur wenige Freunde, und die wenigen schätzten ihn vermutlich in erster Linie wegen seines unerschöpflichen Einfallsreichtums, was das Ausdenken neuer Dummheiten anbelangte.

Seiner Mutter schien er egal zu sein, und Constantin gewann den Eindruck, dass sie froh war, wenn sie ihn nicht sah oder hörte. Irgendwie kam ihm das falsch vor, aber was konnte er schon dagegen tun. So legte er sich im Laufe der Jahre ein dickes Fell zu und zog aus, sobald dies möglich war.

Doch all das war lange her.

Der Constantin von heute seufzte laut und machte sich in den weichen Polstern noch etwas breiter. Der Vorteil an einer Schlittenreise ohne viel Gepäck beziehungsweise Geschenken lag eindeutig in dem reichlichen Platzangebot. Zu Weihnachten ging es hier bestimmt wesentlich enger zu.

Er schwor sich, nie wieder zu den Zwergen oder in seinen Heimatort zurückzukehren.

**

In der Öffnung der Satteltasche des Ersatzrentiers erschien eine Zipfelmütze und unter dieser das zornige Gesicht eines Zwergs. An dessen krummen Nase hing ein Tropfen, der sich noch nicht ganz entschließen konnte loszulassen.

»Na das ist ja ganz reizend. Hast du eigentlich eine Ahnung, wohin wir gerade fliegen?«

Elvis nickte eifrig. Er zeigte auf das Rentier und versuchte, mit den Pfötchen einen Schlitten nachzuahmen. Grummelbert betrachtete ihn skeptisch. Warum konnte dieser verrückte Hamster nicht einfach sprechen? Das würde einiges vereinfachen. Jetzt musste er sich merkwürdigen Pantomimespielchen unterziehen und hoffen, dass ein bellender Hamster wusste, was er tat.

Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Elvis in der engen Satteltasche umherhüpfte und eben nachzustellen versuchte, wie er einen Schlitten steuert.

»Du meinst, wir folgen dem Weihnachtsmann?«

Elvis nickte heftig und ließ sich erschöpft fallen. Er hatte sich für seine konditionellen Verhältnisse heute schon ziemlich verausgabt und allmählich bekam er Hunger.

»Und was macht dich so sicher, dass dieses Rentier hier weiß, wohin die anderen geflogen sind, hä?«

Der Hamster verdrehte die Augen (was bei Hamstern ziemlich schwierig ist), zeigte in die Richtung des Rentiers und dann auf seinen Kopf.

»Äh..., das Rentier weiß das eben?« mutmaßte Grummelbert, und Elvis nickte erneut. Der Zwerg war doch nicht ganz so dämlich, wie er dachte.

Grummelbert hatte die Nase voll. Das konnte alles nicht wahr sein. Da wollte er einfach nur mal ein ungestörtes Nickerchen halten, und jetzt so was. Es war ihm völlig egal, ob der Weihnachtsmann ausgerissen war. Genau genommen war das vielleicht sogar ganz gut so, weil dann ein neuer Weihnachtsmann gesucht werden musste, der vermutlich nicht halb so viele Scherereien verursachte.

»Sag mal«, fragte er rein hypothetisch, da der Hamster ja gar nichts sagen konnte, »wieso glaubst du eigentlich, dass ausgerechnetdudem Typen da folgen musst? Und wie, glaubst du, ihn zurückbringen zu können? Nur mal angenommen, du würdest ihn überhaupt finden.«

Der Hamster strahlte ihn an und zeigte auf ihn.

»Wie bitte? Was habe denn ich damit zu tun?Ichbrauche den bestimmt nicht, und wenn du glaubst, ihm hinterher rennen zu müssen, dann ist das bitteschöndeineSache«, stellte Grummelbert erbost klar. Das war ja wohl die Höhe.

Der Hamster zuckte mit den Schultern, legte sich hin und schloss die Augen.

Grummelberts Unmut begann zu brodeln und verwandelte sich schließlich in Zorn. Was bildete sich diese bunte Ratte eigentlich ein?

Bei der gedanklichen Erwähnung von Ratten musste der Zwerg plötzlich an Essen denken und bemerkte, dass ihm der Magen knurrte. Eigentlich nahte um diese Zeit das Abendbrot - üblicherweise eine Mahlzeit, welche Grummelbert regelrecht zelebrierte und die ein Verdauungsschläfchen praktisch unumgänglich machte. Grummelbert dachte an das Brötchen, das er mitgenommen hatte, und ihm fiel ein, dass sich dieses in der anderen Satteltasche befand. Auf der anderen Seite des Rentiers. Na großartig.

Grummelbert stieg über den schlafenden Hamster und spähte aus der Satteltasche. Hm. Er kratzte sich am Kopf. Sie flogen ziemlich hoch und schnell, und der Weg zur anderen Satteltasche erschien Grummelbert mit einem Mal gefährlicher, als zu einem bewaffneten ZwergWichtelzu sagen.

Aber andererseits fühlte er, wie sich das große schwarze Loch in seinem Magen rasant ausbreitete, und ein hungriger Zwerg neigte schnell zu leichtsinnigen Taten. Darüber hinaus war das Brötchen ein ausgesprochen großes Brötchen, da er es vom Frühstückstablett des Weihnachtsmannes gestohlen hatte.

Vorsichtig zog er sich an dem Gurt nach oben. Als er sich so bereits ein ganzes Stück vorwärts gearbeitet hatte und gerade dachte, dass das doch eigentlich ganz einfach war, ertönte unter ihm ein schrilles Quieken. Grummelbert zuckte erschrocken zusammen und ließ den Gurt los. Er erhaschte einen kurzen Blick in die Tiefe, bei dem sich ihm der Magen umdrehte. Dann fiel er mit Schwung zurück in die Satteltasche auf den Hamster.

»Spinnst du jetzt völlig?« schrie er diesen an und rappelte sich auf. Aber der Hamster reagierte nicht.

»Äh, hallo?« brummte Grummelbert jetzt vorsichtiger und rüttelte an dem Hamster. Keine Regung.

Grummelbert prüfte, ob der Hamster noch atmete, und war trotz seines Ärgers erleichtert. Er hatte ihn offensichtlich nur k .o. geschlagen.

»Geschieht ihm ganz recht«, grummelte er, bis ihm einfiel, dass er sich eigentlich sein Brötchen holen wollte. Mist.

Konnte er den Hamster jetzt alleine lassen? Ja. Konnte er. Schließlich war dieser selbst schuld. Und Grummelbert hatte Hunger.

Er machte sich eben wieder daran, den Gurt zum zweiten Mal zu erklimmen, als Elvis die Augen aufschlug und zu bellen begann. Seufzend sah sich Grummelbert um und beobachtete, wie sich der Hamster bemühte, auf seine Pfoten zu kommen und ihn dabei nicht aus den Augen zu lassen.

»Denkst du etwa, ich haue ab? Wie bitte schön sollte ich das denn machen, hm? So lebensmüde bin ich nun auch wieder nicht, obwohl das kein Wunder wäre, wenn man mit dir in einer Satteltasche eingesperrt ist!«

Elvis plumpste wieder auf seinen Hintern und sah ihn fragend an.

»Wenn du´s unbedingt wissen willst«, grummelte Grummelbert genervt, »ich wollte mein Brötchen aus der anderen Satteltasche holen. Also, darf ich das jetzt, oder fängst du dann wieder mit dem Rumgeschreie an?«

Elvis beschaute nachdenklich den Gurt, sprang dann plötzlich mit einem Satz nach oben und flitzte schnurstracks auf die andere Seite.

Grummelbert sah ihm verblüfft nach und kratzte sich an der Nase. »Hätte ich auch gekonnt, wenn mich der verrückte Hamster mal kurz in Ruhe gelassen hätte.«

Er setzt sich hin und wartete. Eigentlich war er ganz dankbar dafür, dass Elvis die Kletterei übernommen hatte, denn bei dem Gedanken an den kurzen Blick, den er bei seinem ersten Versuch nach unten geworfen hatte, bekam er wieder weiche Knie.

Nur wenige Zeit später sah er interessiert einem sich schnell nähernden Hamsterhintern zu, der am anderen Ende ein großes Brötchen hinter sich herzog. Endlich was zu Essen! Aber irgendetwas sah merkwürdig aus. Er konnte noch nicht erkennen, was es war, aber... Als Elvis unten angekommen war, wusste Grummelbert, wieso. Der Hamster saß mehr oder wenigerimBrötchen. Nur sein fetter Hintern schaute noch hervor. Die aus dem Brötchen dringenden lauten Schmatzgeräusche waren nicht zu überhören.

Im Nu war Grummelbert auf den Beinen, zerrte dem Hamster das Brötchen vom Kopf und beschimpfte ihn. »Du blödes Vieh, hast du sie noch alle? Du frisst mir nicht mein Brötchen weg.Dunicht! Jetzt ist mir auch klar, wieso du so schnell da hochgeklettert bist. Na warte!«

Endlich hatte er den Hamster befreit, der ihn unsicher angrinste. Auch er hatte schon seit längerer Zeit nichts mehr gefressen, und der Geruch des Brötchens war einfach unwiderstehlich gewesen. Eigentlich hatte er vorgehabt, der Versuchung nicht nachzugeben, aber ... ähm, ja. Eben.

Als er jetzt mit einem wütenden Zwerg konfrontiert wurde, der selbst in friedlichem Zustand nicht zur Nettigkeit neigte, wurde ihm etwas mulmig zumute, doch er hatte einen gut gefüllten Bauch und war zuversichtlich, dass er das aussitzen konnte.

Grummelbert zeterte noch immer laut vor sich hin, hatte seine Aufmerksamkeit aber mittlerweile auf die Überreste des Brötchens gerichtet.

»Bäh, das ist ja alles voller Hamstersabber!« rief er empört und machte sich daran, die noch essbaren Teile abzutrennen und auf einen Haufen zu legen. Dem Hamster warf er dabei misstrauische Blicke zu und drohte: »Wehe, du vergreifst dich daran. Du solltest lieber hoffen, dass ich davon satt werde, denn wenn ich richtigen Hunger kriege, esse ich notfalls auch gegrillte Hamster!«

Aber Elvis war satt und hatte nicht das geringste Verlangen nach den Brötchenresten und den damit verbundenen Konsequenzen. Nachdem für ihn das Thema Essen vorläufig erledigt war, begann er sich wieder Sorgen zu machen, ob sie den Weihnachtsmann finden würden.

Wen sollte er denn sonst bewachen?

**

Die Zwerge sahen sich an. Für einen langen, schrecklichen Moment waren alle wie erstarrt und versuchten, die Million wirrer Gedanken in ihrem Kopf zu sortieren.

Als der Erste zur Tür sprintete, begann ein lautes Geschrei. Alle drängelten sich jetzt durch die schmale Tür und rannten stolpernd und schubsend zum Haus des Weihnachtsmanns. Mehrere Zwerge stürzten, doch auf solche Nebensächlichkeiten konnte in einem derart heiklen Augenblick nun wirklich keine Rücksicht genommen werden.

Die ersten schnaufenden Zwerge waren am Haus angelangt und rannten mit Hilfe des Drucks der nach ihnen kommenden Zwerge die Tür ein. Sie stürmten in alle Räume - und kamen mit betretenen Gesichtern wieder heraus. Einer hielt die Barthaare in der Hand. Als auch der Zwerg, der das Klo durchsucht hatte, mit hängenden Schultern wieder da war (er stopfte sich gerade das Hemd in die Hose und die Klospülung war noch zu hören), standen alle nervös herum und vermieden es, sich anzusehen.

Schöner Mist.

Der alte Humbert war erst jetzt am Tatort eingetroffen. Den Gesichtern der anderen Zwerge konnte er jedoch deutlich entnehmen, dass sie niemanden im Haus gefunden hatten.

Er räusperte sich vernehmlich. »Wir sollten erstmal die ganze Stadt durchsuchen, bevor wir in Panik ausbrechen. Ihr da drüben«, er zeigte auf eine etwas abseits stehende Gruppe, »überprüft den Stall. Wenn die Rentiere noch da sind, kann er nicht weit sein.«

Danach schickte er weitere Gruppen in sämtliche Richtungen und wandte sich schließlich an die verbliebenen Zwerge. »So. Und ihr sagt mir jetzt, wer heute Wachdienst gehabt hätte.«

Betretenes Schweigen machte sich breit.

Aha. Da schien er also genau die Richtigen vor sich zu haben.

»Nun?« fragte er in einem barscheren Ton, und die Zwerge vor ihm wurden noch kleiner. Da konnten Köpfe rollen – und das war unter Umständen nicht nur eine Metapher, wenn man bedachte, dass Zwerge Äxte trugen und in den meisten Fällen eine recht kurze Lunte hatten.

Schließlich meldete sich Giselbert und versuchte zitternd, diePsstsum sich herum zu ignorieren. »Äh, wir hatten Wachdienst. Ken, Lauritz, Svante und ich.«

Einen kurzen Moment lang war es sehr still. Dann plötzlich wurde es sehr laut und die Genannten warfen Giselbert Blicke zu, die dessen Zittern noch verstärkten.

Svante reichte es jetzt. »Stimmt, wir hatten Wachdienst. Aber schon seit Tagen hat Wilbert uns Vorträge gehalten, dass es für uns als fortschrittliche Zwerge praktisch Pflicht sei, zu dieser dämlichenVersammlungzu erscheinen! Es müsstenalleanwesend sein, da sonst nichts beschlossen werden könne. Und er hielt uns vor, dass wir doch wohl nicht diejenigen sein wollen, die den Fortschritt verhindern!«

Ken kam ihm zu Hilfe und fügte hinzu: »Wir haben Wilbert mehrmals auf den Wachdienst hingewiesen, aber er meinte, dass wir wissen müssten, was wichtiger sei, und dass der Weihnachtsmann sich mit Sicherheit nicht gerade diesen Zeitpunkt für einen Ausreißversuch aussuchen würde. Dafür müsse er ja schließlich erst einmal etwas von der Versammlung wissen.«

Das warf weitere Fragen auf und Humbert musste seine Gedanken neu ordnen. Er richtete einen grimmigen Blick auf Wilbert, der trotzig die Arme verschränkt hatte und die Dinge aus sicherer Entfernung beobachtete. »Stimmt das, junger Wilbert?«4

»Jawohl. Das habe ich gesagt, und ich finde immer noch, dass ich recht hatte. Immerhin hat dieVersammlung«, auch er betonte das Wort und warf giftige Blicke zu Svante, »tatsächlich eine Menge gebracht. Also sollten gewisse Zwerge jetzt nicht rumjammern!«

»Äh, ja, das mag ja alles sein. Aber immerhin ist der Weihnachtsmann eben in dieser Zeit verschwunden und wurde nicht bewacht. Damit ist alles, was auf deiner Versammlung vielleicht erreicht worden ist, völlig nutzlos, weil es ohne Weihnachtsmann auch kein Weihnachtsland und kein Zipfelbergen mehr geben kann!«

»Ach ja? Jetzt ist es schonmeineVersammlung! Bisher war es immerunsere! Vielleicht sollte lieber mal jemand darüber nachdenken, wieso der Weihnachtsmann wusste, dass ihn keiner bewacht.«

»Vielleicht war das ja Zufall, und er hat es einfach mal probiert, und es hat geklappt«, warf Lauritz hibbelig ein.

Wilbert sah ihn argwöhnisch an. »Ja. Aber vielleicht hast du Schusselzwerg auch wieder irgendwas Dummes gesagt. Du denkst doch nie nach, bevor du den Mund aufmachst. Und außerdem warst du in den letzten Tagen ziemlich oft bei ihm.«

Lauritz lief rot an. »W-wie bitte?« fragte er. Seine Ohren glühten und sengten inzwischen fast die Mütze durch.

»Oh nein«, stöhnte Svante und verdrehte die Augen. »Was genau hast du ihm gesagt?«

»Was?« piepste Lauritz.

»Was du ihm gesagt hast, wollen wir wissen!« donnerte Wilbert.

»N-na, ... nichts.«

Humbert schritt ein. »Es ist wirklich wichtig, dass wir erfahren, was du dem Weihnachtsmann gesagt hast. Vielleicht haben wir so noch eine Möglichkeit, ihn zu finden«, redete er eindringlich auf den verstörten Lauritz ein.

Svante war skeptisch. »Selbst wenn wir ihn finden, wie willst du ihn denn wieder zurückbringen?«

»Da wird sich schon eine Möglichkeit ergeben. Und? Antwortest du jetzt endlich?« fuhr Humbert Lauritz an.

Dieser schniefte und flüsterte dann: »Ich weiß es nicht mehr genau.«

»Was?«

Lauritz schrie jetzt: »Ich weiß es nicht. Klar?«

»Wie kann man denn so was vergessen?« erkundigte sich Svante.

»Na ja, der Weihnachtsmann fragte, ob ich noch etwas zu rauchen für ihn hätte, und da habe ich was geholt, und wir haben zusammen geraucht.«

Svante unterbrach ihn. »Meinst vielleicht deinespeziellenZigaretten?«

Lauritz rauchte das merkwürdigste Zeug, und keiner wusste, woher er das bekam. Aber da er danach meistens besonders lustig war, hatte es bisher auch noch keiner für nötig gehalten, der Sache auf den Grund zu gehen.

Lauritz nickte. »Genau die. Und... und es war dann sehr lustig.« Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht, aber er wurde sofort wieder ernst, als er die grimmigen Mienen um sich herum sah.

»Äh, ich glaube, dann hat mich der Weihnachtsmann gefragt, ob es nicht langweilig ist, immer nur Wache zu schieben, und ob es auch mal eine Abwechslung gibt. Und ich glaube, dass ich gesagt habe, dass es die schon gibt, aber dass das auch nicht immer was Spaßiges ist. Und dann wollte er wissen, wieso nicht, und äh, dann habe ich ihm vielleicht etwas über die bevorstehende Versammlung erzählt. Aber ich bin mir nicht sicher, vielleicht habe ich auch nur daran gedacht.« Lauritz war immer leiser geworden und die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern. Er fühlte sich jämmerlich und hätte jetzt gut eine seiner Zigaretten gebrauchen können. Genau genommen befanden sich sogar welche in seiner Tasche, aber selbst Lauritz war klar, welche Reaktion das bei den anderen Zwergen hervorrufen würde, wenn er sich gerade jetzt eine Zigarette anzünden würde. EinespezielleZigarette.

In diesem Moment platzten atemlose Zwerge in die wütend starrende Runde.

»Alle Rentiere sind weg! Und der Schlitten!« Der Sprecher keuchte und warf ratlose Blicke um sich.

Humbert runzelte die Stirn. »Was meinst du mitalle? Mehr als sechs kann er doch gar nicht vor den Schlitten spannen.«

»Keine Ahnung. Jedenfalls sind alle verschwunden.«

Ein Tumult drohte auszubrechen. Und nun kam auch noch ein Zwerg aus dem Haus und verkündete dramatisch: »Es ist alles weg, was ihm gehört.«

»Na, das war ja nicht viel«, kommentierte Svante.

Humbert hob die Hände, und es wurde etwas ruhiger.

»Das macht einfach keinen Sinn, dass alle Rentiere verschwunden sind. Das siebente muss noch irgendwo sein.«

»Also, wir haben überall gesucht und es nirgends entdeckt.«

Ken mutmaßte: »Vielleicht hat er es irgendwohin geschickt, damit wir ihn nicht verfolgen können?«

Humbert schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Die magischen Formeln für die Rentiere sehen so etwas nicht vor. Man könnte ein Rentier höchstens allein nach Zipfelbergenzurückschicken. Aber nicht weg von hier. Und alle sieben fliegen nicht gemeinsam.«

Die Zwerge verfielen in angestrengtes Grübeln.

Schließlich sagte Svante: »Wenn es nicht der Weihnachtsmann war, muss es ein Zwerg gewesen sein. Fehlt vielleicht irgendeiner von uns?«

Die Zwerge sahen sich um und gingen geistig eine Checkliste aller ihnen bekannten Zwerge durch. Nach einer Weile sagte jemand: »Grummelbert? Ist der hier irgendwo?«

Nein. Grummelbert war nirgends zu sehen.

Svante zweifelte. »Wahrscheinlich hat der sich nur wieder irgendwo versteckt und schläft. Ich glaube, auf der Versammlung war er auch nicht.«

Die anderen Zwerge tauschten bedeutungsvolle Blicke.

Humbert fragte interessiert: »Wo schläft er denn normalerweise so?«

Svante zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich dort, wo die geringste Gefahr besteht, dass er gefunden wird.«

Giselbert meldete sich. »Ich glaube, im Sommer schläft der meistens im Stall, weil dort nichts los ist.«

»Also, im Stall war er nicht«, sagte einer der Zwerge, die im Stall nachgesehen hatten.

Humbert schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr wirklich die ganze Stadt durchsucht habt, hättet ihr ihn finden müssen, wenn er noch irgendwo hier wäre.«

Die Suchzwerge nickten. Wilbert sagte nachdenklich: »Vielleicht können wir ja den verrückten Hamster finden. Der schleicht doch ständig um den Weihnachtsmann herum, und im Stall hält er sich auch gerne auf.«

»Elvis? Eigentlich merkwürdig, dass der nicht schon längst hier ist. Sonst ist der doch immer gleich dabei, wenn was los ist.«

»Vielleicht schmollt er ja, weil er nicht mit zur Versammlung durfte.«

Humbert sagte zweifelnd: »Den Hamster zu suchen dauert zu lange. Im Moment müssen wir davon ausgehen, dass der Weihnachtsmann mit dem Schlitten verschwunden ist und Grummelbert das siebente Rentier genommen hat.«

Svante konnte sich das nicht vorstellen. »Aber wieso sollte ausgerechneterdas tun? Ich kann einfach nicht glauben, dass Grummelbert den Weihnachtsmann verfolgt. Der hat ständig nur rumgemeckert, wenn er mal dran war, auf ihn aufzupassen!«

»Vielleicht macht er ja mit dem Weihnachtsmann gemeinsame Sache und hat das Rentier genommen, damit ihnen keiner folgen kann«, meinte ein Zwerg.

Das warf ein neues Licht auf die Angelegenheit. Zustimmendes Gemurmel wurde laut und mehrere Zwerge begannen, Beschimpfungen gegen Grummelbert auszustoßen.

»Ruhe!« rief Humbert. »Zum einen glaube ich nicht, dass ein Zwerg so etwas tun würde, und zum anderen kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Grummelbert ausgerechnet mit dem Weihnachtsmann verschwinden würde. Das wäre ihm viel zu stressig.«

»Außerdem lässt der sich von ihm bestimmt nicht so vollmaulen«, stellte Giselbert fest.

Svante fragte: »Kennt Grummelbert eigentlich die magischen Rentierworte?«

Humbert schlug sich mit der Hand an den Kopf. »Stimmt. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Der könnte das Rentier gar nicht zum Fliegen bringen.«

»Na, dann ist er wohl doch der neue beste Kumpel vom Weihnachtsmann, und die Geschichte vom heldenhaften Zwerg, der allein dem Weihnachtsmann folgt, ist Unsinn. War ja klar«, brummte Wilbert.

Lauritz sagte hoffnungsvoll: »Ja. Genau. Und vielleicht war es dann auch Grummelbert, der das mit der Versammlung verraten hat.«

Humbert musterte ihn streng und Lauritz zerkrümelte nervös eine Zigarette in seiner Manteltasche.

Svante sah die anderen nachdenklich an. »Der Hamster wusste vielleicht ebenfalls, wie man die Rentiere fliegen lässt.«

»Aber der kann doch gar nicht sprechen.«

»Schon, aber ich habe ihn mehrmals beobachtet, wie er sich mit den Rentieren unterhielt.«

»Sich mit ihnenunterhielt?«

Die Zwerge sahen Svante an, als habe er eine Axt auf den Kopf bekommen.

»Ich weiß, dass das merkwürdig klingt«, versuchte Svante, sich zu rechtfertigen. »Aber ihr hättet das mal sehen müssen. Das machte tatsächlich den Eindruck, als würden sie miteinander sprechen. Oder wie auch immer man das nennen soll.«

Ein anderer Zwerg bestätigte: »Ich habe das auch schon mal beobachtet.«

»Na, das würde auf jeden Fall mehr Sinn machen als die Möglichkeit, dass Grummelbert den Weihnachtsmann verfolgt«, meinte Humbert. »Immerhin hält sich Elvis für einen Wachhamster und dachte vielleicht, es sei seine Aufgabe, dem Weihnachtsmann zu folgen. Und uns warnen konnte er nicht, weil er ja nicht in die Versammlung durfte.«

»Äh, genau genommen, hält er sich für einen Wachhund. Und außerdem ist damit auch noch immer nicht geklärt, wo Grummelbert steckt«, sagte Wilbert.

»Nun, das werden wir wohl auch nicht herausfinden, wenn wir weiter hier herumstehen und debattieren. Zuerst einmal, das ist ganz wichtig: Keiner weiter darf erfahren, dass der Weihnachtsmann verschwunden ist, hört ihr? Es gibt riesigen Ärger, wenn das rauskommt, und ohne Weihnachtsmann gibt es auch kein Weihnachtsland mehr.«

»Können wir uns nicht einfach einen anderen suchen? Einen, der vielleicht weniger Ärger macht?«

Mehrere Augen begannen zu leuchten und in den Köpfen entstanden bereits konkrete Vorstellungen von einem pflegeleichten Weihnachtsmann. Vielleicht war das jetztdieGelegenheit.

Doch Humbert schüttelte bedauernd den Kopf. »Ihr wisst genau, dass die Bestimmung eines neuen Weihnachtsmannes strengen Gesetzen unterliegt und wir keinen Einfluss darauf haben.«

Erwartungsvoll aufgerichtete Köpfe sackten wieder nach unten.

»So ein Mist. Mit dem davor gab´s nicht halb so viele Probleme. So einer wäre doch viel besser.«

Zustimmendes Gemurmel war zu hören. Der Vorgänger des derzeitigen Weihnachtsmannes war recht beliebt gewesen, zumindest zum Ende seiner Amtszeit hin. Aber er hatte seine hundertjährige Strafe abgesessen, und vor einem halben Jahr wurde am Weihnachtsfest ein Nachfolger bestimmt.

Man musste schon etwas wirklich Schlimmes verbrochen haben, um dafür ausgewählt zu werden. Die Zwerge hatten keine Ahnung, womit sich Constantin für das Amt des Weihnachtsmannes qualifiziert hatte. Doch sie waren der festen Überzeugung, dass er die Strafe verdiente.

**

Constantins Aufregung stieg zunehmend, je weiter er sich von seinem Gefängnis entfernte. Er wusste nicht, wie man die Rentiere dazu brachte, zu einem bestimmten Ort zu fliegen, und hatte somit nicht die geringste Ahnung, wohin sie ihn bringen würden. Aber das war letztendlich auch egal. Hauptsache, weg von hier. Beziehungsweise von da hinten.

Er hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, was er eigentlich tun wollte, wenn er sich wieder in der normalen Welt befand. Er wusste nur, dass er sich für den Rest seines Lebens über die Weihnachtsfeiertage einsperren, nein, verbarrikadieren würde. So etwas wie vor einem halben Jahr würde ihm jedenfalls nicht noch einmal passieren.

Er dachte an diesen Weihnachtsabend zurück und schüttelte sich. Ihm war damals noch nicht einmal klar gewesen, dass Weihnachten war. Sicher, selbst der geübteste Ignorant konnte die unzähligen Anzeichen und Begleiterscheinungen des Weihnachtsfestes in der Stadt nicht übersehen. Aber dass genau an diesem Tag Heiligabend war, wusste er tatsächlich nicht. Er lebte in den Tag hinein, verbrauchte größere Mengen Alkohol als ein ganzes Studentenwohnheim und verließ seine vier Wände oftmals nur, um sich Nachschub zu besorgen oder etwas zu klauen. Wie eben auch an diesem Abend.

Er sah das kleine Mädchen noch genau vor sich. Die Kleine hielt einen Karton im Arm und starrte mit großen, leuchtenden Augen auf einen Fünfzig-Euro-Schein in ihrer Hand. So als könne sie noch gar nicht fassen, was sie da festhielt.

Constantin sah nur das Geld. Er schnappte sich blitzschnell den Schein und - den Grund dafür konnte er sich heute noch nicht erklären - den Karton. Dann machte er den Fehler und blickte dem Mädchen kurz in die Augen.

Diesen Blick würde er nie vergessen. Die Kleine sah ihn fassungslos und unendlich traurig an. Doch Constantins schlechtes Gewissen war eher von der langsamen Sorte, wenn es sich überhaupt einmal heraustraute. Und so wandte er den Blick schnell wieder ab und nahm die Beine in die Hand.

PUFF!

Es gab einen lauten Knall und ein unerträglich helles Licht. Im nächsten Augenblick saß der völlig verdatterte Constantin auf einem unbequemen Stuhl mitten im Nichts. Alles um ihn herum war sehr hell, aber er konnte nichts Genaues erkennen.

Vorsichtig rief er: »Äh, hallo?«

Doch er erhielt keine Antwort.

So saß er eine Weile und schwankte, ob er übergeschnappt oder gestorben war. Er tendierte zur ersten Möglichkeit, da er nicht damit rechnete, bei seinem Tod helles Licht zu sehen. Irgendwie nahm er an, dass dann alles eher sehr dunkel und sehr heiß sein würde.

Vielleicht hatte irgendetwas mit dem letzten Wodka nicht gestimmt. Er hatte schon davon gehört, dass man sich um den Verstand trinken konnte, aber auch das hatte er sich eigentlich anders vorgestellt. Hm.

Schließlich sah er an sich herab und stellte fest, dass er ein langes, weißes Gewand trug, welches er noch nie zuvor gesehen hatte und sicherlich niemals freiwillig angezogen hätte.

Also befand er sich in einer Irrenanstalt. Vermutlich stand er unter Medikamenten und konnte sich deshalb nicht erinnern, wie er hierher gekommen war. Ja, das machte Sinn. Aber irgendetwas stimmte noch immer nicht. Er blinzelte und sah sich um, und ihm wurde bewusst, dass keine Wände zu sehen waren. Nirgends.