Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
1988. Es wurde gehandelt, getauscht und getuschelt. Gewünschte Dinge oder Dienstleistungen wurden nicht gekauft, sondern besorgt. Über, unter oder hinter Ladentischen. Gern auch an ihnen vorbei. Die beste Währung war die aus dem anderen Teil Deutschlands - nicht nur in Münzen und Scheinen, sondern auch in Kaffee und Schokolade. Für eine zickige Großcousine dritten Grades aus dem Westen hätte manch einer seine Oma verkauft. Das Leben im Osten Deutschlands bot seine ganz eigenen Herausforderungen – und auch Kuriositäten. Der Spaß kam nicht zu kurz. Man brauchte nur die richtige Einstellung. Kannte man dazu auch noch die richtigen Leute, umso besser. Kein Wunder, dass Marlene zugreift, als das Schicksal ihr nicht nur einen, sondern gleich mehrere Kontakte zum Westen Deutschlands in den Schoß wirft. Und siehe da – neben unerwarteten Freundschaften entsteht eine rege Handelsbeziehung. Das bringt Probleme mit sich. Und auch zwischenmenschlich und familiär läuft nicht immer alles rund. Neben ganz alltäglichen Missverständnissen und Verwirrungen spielt in Marlenes Leben plötzlich auch die Liebe wieder eine entscheidende Rolle und verkompliziert alles noch mehr. Und dann war da auch noch die Neugier der anderen – gleich welcher Natur.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Genießen und Genossen
Mira Bergen
Impressum:
Genießen und Genossen
Mira Bergen
Copyright: © 2016 Mira Bergen
Copyright Coverdesign: © 2016 Mira Bergen
Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN: 978-3-7418-7105-4
Prolog
Mit einem Mal war die Welt größer. Viel größer. Einfach so. Und damit nicht genug. Plötzlich war sie bunt.
Freudige Erwartung und Hoffnung durchströmte das Land.
Die Ängste kamen später.
DDR, Oktober 1988
Die Beerdigung war gut besucht. Zu gut.
In dem Dorf gab es zwar nicht allzu viele Bewohner, doch ein bisschen größer hätte man die Friedhofskapelle schon bauen können, fand Marlene. Zumindest groß genug, um Platz für einen Kachelofen zu haben und die Türen schließen zu können.
Letzteres war aufgrund der Vielzahl der Trauergäste unmöglich. Die großen Flügeltüren – so breit wie die gesamte Kirche (beziehungsweise das Kirchlein) selbst – blieben weit geöffnet und sorgten dafür, dass die eisige Oktoberluft auch den letzten Winkel durchdrang.
In der vergangenen Nacht hatte es Frost gegeben.
Eigentlich sollte die angekündigte Sonne inzwischen für erträglichere Temperaturen sorgen, doch die Meteorologen hatten offenbar nicht mit dem Nebel gerechnet, der in dicken Schwaden über dem Friedhof hing und sich nur zögerlich der Oktobersonne geschlagen gab.
Das hieß, die Leute draußen vor den großen Flügeltüren mussten zwar stehen, doch sie konnten in der zunehmenden Sonne allmählich auftauen. Marlene hingegen hatte der Verstorbenen nahe gestanden und war von der Familie gebeten worden, gemeinsam mit ihr in der winzigen Kapelle Platz zu nehmen. Was eigentlich als Privileg gedacht war, sorgte nunmehr dafür, dass Marlene ihre Zehen nicht mehr spürte.
Marlene warf einen verstohlenen Blick nach draußen zu den von der Sonne Beschienenen.
Lieber Himmel. Waren das viele.
Eigentlich kein Wunder. Agathe hatte die Gemüter gespalten. Entweder die Leute fanden sie großartig oder – nun, das Gegenteil eben. Traten solche Persönlichkeiten ihren letzten Gang an, kamen alle. Die einen, um sich zu verabschieden, und die anderen, um sicher zu gehen.
Marlene hatte Agathe gemocht. Schon seit ihrer gemeinsamen Kindheit. Hätte Marlene eine beste Freundin benennen sollen, wäre Agathe dem am nächsten gekommen, wenngleich sie nicht immer ganz leicht zu ertragen war. Doch sie war der lebendigste und unterhaltsamste Mensch gewesen, den Marlene kannte. Sie vermisste Agathe aufrichtig und wollte daher nur zu gern in angemessener Weise die Beerdigung zum Abschied nutzen. Doch diese verdammte Strumpfhose war einfach zu dünn. Die Kälte kroch ihr durch die Knochen und ließ sie keinen klaren Gedanken fassen.
Marlene war ebenfalls nicht mehr die Jüngste. Mit einundsechzig Jahren wuchs die Zahl der Beerdigungen, die ihre Teilnahme erforderten, naturgemäß. Daher besaß sie eine recht umfangreiche beerdigungstaugliche Garderobe – darunter auch etliche warme Sachen. Doch Agathe hatte stets Wert darauf gelegt, schick auszusehen, ohne sich dabei um Nebensächlichkeiten wie das Wetter zu scheren. Marlene glaubte daher, es Agathe schuldig zu sein, bei deren Beerdigung ebenfalls einen gewissen Stil an den Tag zu legen. Und dazu gehörten nun mal Rock und Strumpfhosen.
Falls Agathe von irgendwoher zusah, hatte sie vermutlich eine Menge Spaß. Das hätte ihr gefallen.
Verdammter Mist.
Auf Beerdigungen zu fluchen war in etwa so schlimm wie zu kichern. Doch die Kälte war unerträglich und Marlene wollte nicht hier und jetzt die Nächste sein, die Anlass für ein Begräbnis gab.
Der Redner taugte auch nicht als Ablenkung.
Marlene lauschte erstarrt einer weltlichen Trauerrede – Agathe hatte es nicht so mit der Religion –, die gleich in mehrerlei Hinsicht Grauen hervorrief.
Zunächst einmal war sie zu lang. Wenngleich Marlene nicht vom Schlimmsten ausging – nämlich spontanem Erfrieren –, war doch nicht auszuschließen, dass sich bei dem Durchschnittsalter des Publikums die eine oder andere Lungenentzündung entwickelte und zu einem fatalen Ende führte. Marlene argwöhnte, dass der Trauerredner da vorn ganz genau wusste, was er da tat. Sozusagen Kaltakquise.
Doch auch in anderer Hinsicht kam die Rede einer Folter gleich.
Sie war lieblos und allgemein und konnte bis auf einige wenige Passagen auf so ziemlich jeden angewendet werden – was vermutlich auch der Fall war. Offensichtlich hatte Agathe in der sozialistischen Gemeinschaft nicht die tragende Rolle eingenommen, die man von einer fortschrittlichen Frau erwartete.
Marlene setzte darauf, dass der Pfarrer das bei ihrer eigenen Beerdigung besser hinbekam. Doch man musste mit allem rechnen. Womöglich wurden, bis sie selbst an der Reihe war, kirchliche Trauerreden verboten. Bei denen wusste man nie. Bloß gut, dass ihr das, wenn sie es recht bedachte, vollkommen egal sein konnte. Denn sie selbst würde dann, wie sie hoffte, von dem ganzen Theater gar nichts mitbekommen und stattdessen irgendwo mit Agathe ihren Spaß haben.
Marlene spitzte die Ohren, um herauszufinden, wie weit der Redner vorangekommen war.
»… Leben ist ein ständiger Kreislauf. Ein Kommen und Gehen. Jeder hat seine Zeit – einem ist mehr vergönnt, dem anderen weniger. Sehr verehrte Trauergäste, wenn man in die Runde der Anwesenden schaut, fragt man sich unwillkürlich, an wessen Grab wir uns als nächstes wiedersehen.«
Mit einem Mal saß Marlene aufrecht. Und sie war nicht die Einzige. Ein Keuchen ging durch die Reihen.
Hatte der das eben wirklich gesagt?
Die Augen der Anwesenden wanderten verstohlen durch die enge Kapelle. Trafen sie sich, sah man hastig weg, um dann unauffällig auf der anderen Seite die Suche fortzusetzen. Ein jeder überlegte, wen es wohl treffen würde, und die Erleichterung war groß, wenn der Blick auf jemanden fiel, der augenscheinlich älter oder leidender aussah.
Marlene musste gereizt erkennen, dass sie – zumindest innerhalb der Kapelle – abgesehen von Agathes Ehemann das fortgeschrittenste Alter aufzuweisen hatte.
Die Schwester der Verstorbenen war zwar nur ein oder zwei Jahre jünger. Doch die zählte nicht, da sie im Westen lebte und mit Sicherheit auch einmal dort beerdigt werden würde. Marlenes Blick traf auf den von Agathes Schwester und Marlene nickte ihr zu. Das Entsetzen in deren Gesicht verriet, was sie von dem sozialistischen Einheitsbegräbnis hielt. Marlene konnte es ihr nicht verdenken. Dieser Redner war eine Zumutung. Besser, man hörte weg.
Immerhin. Der aufsteigende Ärger brachte das Blut in Wallung. Davon wurde einem zwar nicht unbedingt warm, doch zumindest war es plötzlich weniger kalt. Vielleicht vergaß man auch einfach für den Moment, über die Kälte nachzudenken, da die gesamte Aufmerksamkeit davon beansprucht wurde, sich vorzustellen, wie man diesen Schwachkopf da vorne endlich zum Schweigen bringen konnte. So schmerzhaft wie möglich.
Schließlich hätte Marlene beinahe das Ende verpasst. Es kam abrupt und löste fast so etwas wie Begeisterung aus. Zumindest allgemeine Erleichterung.
Doch das Drama war noch nicht vorbei. Im Gegenteil. Mit zunehmender Bestürzung beobachtete die Trauergemeinschaft, wie die Sargträger den Sarg nach draußen trugen und dabei der Boden desselben allmählich nachgab. Die Wölbung wurde größer. Entsetzen machte sich breit. Bitte lass das Grab gleich neben der Tür sein, dachte Marlene und sah fassungslos hinterher.
Das Stroh auf dem Sargboden wurde sichtbar.
Agathe war nicht eben ein schlankes Reh gewesen, doch längst nicht so korpulent, dass diese Bretterkiste noch nicht mal die paar Meter aus der Kapelle bis zum Grab hielt. Vermutlich war das Holz knapp und die volkseigene Sargtischlerei hatte geschludert, um den Plan übererfüllen zu können. Vielleicht waren aber auch einfach nur die Nägel zur Neige gegangen. Irgendwer hatte vergessen, bei der letzten Fünfjahresplanung diversen Roh- und Werkstoffbedarf für diejenigen, die es hinter sich gebracht hatten, einzukalkulieren. Oder es waren mehr Leute gestorben, als die Planwirtschaft vorsah. So was kam vor. Kein Wunder bei derart zugigen Friedhofskirchen.
Doch Gott sei Dank – der Sarg hielt, bis er im Erdboden verschwand. Nicht nur Marlene atmete auf. Die Alternative wäre undenkbar gewesen.
Agathes Mann Herbert starrte mit zusammengebissenen Zähnen dem Sarg hinterher. Er war ein cholerischer Mensch. Die einzige Herrschaft, die er je widerspruchslos anerkannt hatte, war die seiner Frau gewesen. Marlene konnte sich schon denken, was in ihm vorging. Der Redner sollte besser die Beine in die Hand nehmen.
Marlene hatte nicht vor, am anschließenden Trauerkaffee teilzunehmen. Das sollte allein der Familie vorbehalten sein.
Darüber hinaus hatte sie Herberts ungesunde Gesichtsfarbe bemerkt und es erschien ihr sicherer, einen Bogen um seine unmittelbare Umgebung zu machen. Agathes Verlust hatte ihn schwer getroffen. Sie war sein Leben gewesen. Bei seinem unberechenbaren Gemüt wollte Marlene lieber nicht aus der Nähe beobachten, wie er mit diesem Verlust umging.
Agathes einziger Sohn war mit seiner Familie aus Thüringen angereist. Marlene hatte keinen persönlichen Bezug zu ihm. Zumindest nicht mehr. Nein. Es war besser, sie verdrückte sich, bevor jemand auf die Idee kam, sie aus Gründen der Höflichkeit einzuladen, und sie aus ebendiesen Gründen nicht ablehnen konnte.
Ihre suchenden Augen wanderten zum Eingang des Friedhofs und gleich danach auf die Uhr. Verdammt. Ihr Schwiegersohn sollte längst da sein, um sie abzuholen. So etwas gehörte zu seinen Pflichten. Denn infolge Marlenes vorausschauender Fahrzeugbestellung vor vielen Jahren und einer ansehnlichen finanziellen Zuwendung verfügte der jetzt über einen Wartburg.
Marlene fand, unter diesen Umständen sollte es für ihn doch das Mindeste sein, seine Schwiegermutter bei Bedarf von A nach B zu transportieren, ohne rumzumaulen und dumme Fragen zu stellen. An den letzten beiden Punkten musste er noch arbeiten, aber ansonsten funktionierte das – abgesehen von heute – ganz gut. Vielleicht fürchtete er, Marlene könnte anderenfalls ihren kostenlosen Enkel-Betreuungsdienst einstellen.
Wenngleich sie ihm das nie sagen würde, musste er sich darüber keine Sorgen machen. Für ihre Enkel würde sie alles tun. Auch wenn sie deren Vater nicht mochte.
Dummerweise sah Marlenes Tochter in diesem irgendetwas, das sich Marlene nicht offenbarte. Und das seit nunmehr beinahe zwanzig Jahren. Marlenes Hoffnungen schwanden, dass sich daran noch etwas ändern könnte. Doch sie würde einen Teufel tun, ihn deshalb zu mögen. Alles hatte seine Grenzen.
Agathes Schwester näherte sich und Marlene verfluchte einmal mehr ihren Schwiegersohn. Wo zum Teufel steckte der?
Nicht nur die unwürdige Beerdigung steckte Marlene in den Knochen. Auch der Verlust ihrer Freundin setzte ihr zu. Und sie fühlte sich nicht in der Stimmung, deren Verwandtschaft zu trösten und Phrasen auszutauschen. Für sie waren das mittlerweile zum größten Teil Fremde. Was sollte man da groß sagen?
An Elisabeth, Agathes Schwester, waren die langen Jahre ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen. Vor einer Ewigkeit hatten sie miteinander gespielt. Das hieß, Agathe und Marlene waren gezwungen gewesen, Elisabeth zum Spielen mitzunehmen. Die kleine Schwester. Wie das eben so war. Und mal abgesehen davon, dass kleine Geschwister schon aus Prinzip nervten – erst recht die Geschwister der anderen –, war Elisabeth recht erträglich gewesen. Doch dann heiratete sie früh und zog in die Nähe von Köln. In eine andere Welt. Agathe hatte sie gelegentlich erwähnt; insbesondere wenn Elisabeth zu Besuch kam oder Pakete schickte. Doch persönlichen Kontakt hatte es schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gegeben.
»Erinnerst du dich an mich?« fragte Elisabeth und Marlene seufzte innerlich.
»Natürlich. Wie … wie geht es dir?« Eine blöde Frage. Immerhin hatte Elisabeth soeben ihre Schwester beerdigt. Aber etwas anderes fiel Marlene nicht ein.
Elisabeth zuckte mit den Schultern. »Ganz gut. Soweit. Und dir?«
Und schon waren sie mittendrin im Phrasendschungel, dachte Marlene resigniert. »Och, ebenso, denke ich. Mein Schwiegersohn wollte mich eigentlich abholen. Ich …«
»Aber warum denn? Kommst du nicht mit ins Café?«
»Also. Ich dachte …«
»Bitte.«
Na großartig. Von ihrem Schwiegersohn noch immer keine Spur.
Die Situation wurde zunehmend unangenehm, denn auch Herbert näherte sich. »Willst du etwa schon gehen?« fuhr er Marlene an. Sie wusste, dass sein schlechte Laune nicht ihr galt, sondern der Welt im Allgemeinen und darüber hinaus ganz speziell dem Redner, dem Sargtischler und der Tatsache, dass seine Frau ihn hier einfach so hatte sitzen lassen, ohne ihm zu erklären, was er jetzt tun sollte, ganz allein.
Marlene konnte und wollte dem armen Mann jetzt keine unfreundliche Antwort geben. Er war der Situation eindeutig nicht gewachsen und fürchtete sich vermutlich ganz entsetzlich vor dem Moment, an dem ihn die anderen mit seiner Trauer allein ließen.
Und so sagte Marlene in ebenjenem Moment zu, in welchem endlich ihr Schwiegersohn aufkreuzte. Sie hätte ihn treten können.
Stattdessen schickte sie ihn wieder nach Hause und bemühte sich, sein Gemurre zu ignorieren. Und ebenso das Geschrei im Hintergrund. Wie es aussah, war der Redner nicht schnell genug gewesen und Herbert in die Finger geraten.
Elisabeth beobachtete ihn misstrauisch. »Ich hab nie verstanden, wieso meine Schwester ihn geheiratet hat«, meinte sie schließlich.
»Oh, für sie hat er alles gemacht«, erwiderte Marlene. »Wirklich.«
»Ich weiß. Aber trotzdem … Nun ja.« Schulterzuckend wandte sie sich ab. »Kann ich dich … um einen Gefallen bitten?«
»Natürlich«, sagte Marlene skeptisch.
»Ich … ich habe jetzt hier niemanden mehr. Außer dem Verrückten da vielleicht. Aber das hier ist meine Heimat. Ich … nun, ich würde gerne … wir sind hier zusammen aufgewachsen. Also … könntest du dir vorstellen, mir zu schreiben? Ab und zu? Es muss nicht viel sein. Einfach ein paar Zeilen, was es hier Neues gibt. Oder Erinnerungen an früher. Und an Agathe. Ich … das kommt dir vermutlich seltsam vor. Aber ich brauche irgendeine Verbindung hierher. Glaube ich.«
»Oh. Das … das ist kein Problem«, meinte Marlene erleichtert. Das konnte Elisabeth gerne haben, wenn es sie glücklich machte. Marlene hatte mit weitaus Schlimmerem gerechnet. Dass sie sich um Herbert kümmern soll, zum Beispiel.
Im Übrigen bezweifelte sie, dass der Briefwechsel tatsächlich zustande kam. Auf Beerdigungen versprachen sich die Leute regelmäßig, in Kontakt zu bleiben oder sich künftig öfter zu treffen. Das lag in der Natur von Beerdigungen. Es schweißte die Hinterbliebenen enger zusammen. Doch eben nur für den Moment. War die erste Trauer verflogen und der Alltag holte einen wieder ein, verdrängte man derartige den Emotionen geschuldete Versprechungen in der Regel ebenso schnell, wie es dazu gekommen war.
Agathes Sohn hatte inzwischen die Initiative ergriffen und den Trauerredner gerettet, indem er Herbert an die übrigen Trauergäste erinnerte und mit aller zur Verfügung stehenden Kraft vom Ort des Geschehens wegzog.
»Junger Mann, das hier ist ein Friedhof. Da wird nicht gerannt«, rief Marlene dem mitgenommenen Redner hinterher.
»Da kannst du rennen, wie du willst«, brüllte Herbert. »Ich finde dich!«
»Vater!« sagte sein Sohn entsetzt.
»Der war aber auch fürchterlich«, meinte Elisabeth.
»Gibt´s jetzt Kaffee oder nicht?« schnauzte Herbert seinen Sohn an.
Marlene dachte an Agathe und sah verstohlen nach oben.
Na? Falls du da oben bist und zusiehst – amüsierst du dich immer noch?
Vermutlich ja, dachte sie und seufzte. Was soll´s. Dann mal rein ins Vergnügen.
* * *
Mittlerweile waren beinahe vier Stunden vergangen. Der Kaffee hatte sich gezogen.
Dunkle Wolken verfolgten Marlene auf ihrem Heimweg und sie beschleunigte. Das Wetter schien es heute auf sie abgesehen zu haben.
Marlenes Schirm lag zu Hause auf der Garderobe, da er nicht in die winzige schwarze Handtasche gepasst hatte. Ganz großartig.
Als die ersten Tropfen fielen, bog sie eben in die Grundstückseinfahrt ab. Nicht zum ersten Mal bedauerte sie, dass das Grundstück derart groß war. Zwischen ihr und dem schützenden Dach gab es noch viele Regentropfen.
Ihr Blick glitt unwillkürlich über das lockende Dach. Verdammt. Der Dachdecker war noch immer nicht da gewesen.
Sie sollte morgen noch mal hingehen und nachfragen. Oder am besten gleich. Sobald sie ihren Schirm geholt hatte.
Als ihr Mann noch lebte, musste sie sich nie um etwas Derartiges kümmern. Wer oder was auch gebraucht wurde – Wilfried nahm die Dinge in aller Regel erfolgreich in die Hand. Er konnte jeden zu allem überreden. Spätestens wenn er die Sekretärinnen anlächelte oder den Herren Handwerkern tschechisches Exportbier in die Hand drückte.
Marlene vermisste ihn. Nicht nur, wenn es reinregnete.
Die Aufgabe des Organisierens und Handwerkerbeschaffens fiel nunmehr ihrem Schwiegersohn zu. Doch da ging Marlene lieber doch gleich selbst. Und das lag nicht nur daran, dass sie ihn nicht mochte. Nein. Irgendwie hatte das Prinzip des erfolgreichen Tauschhandels noch keinen Zugang zum wirtschaftlichen Denken ihres Schwiegersohns gefunden. Darüber hinaus gab es auch nichts, das er tauschen könnte. Nicht mal ein einnehmendes Wesen hatte er vorzuweisen. Da kam man nicht weit.
Kilian verfügte über zwei linke Hände und eine organisatorische Nichtbegabung. Nicht dass ihn das abhalten würde. Im Gegenteil. Immerhin war er Ingenieur und Marlene rätselte noch immer, wie in aller Welt das passieren konnte. Beruflich plante und organisierte er für den VEB Werkzeugbau in leitender Position, und spätestens seitdem war Marlene fest davon überzeugt, dass das Ende der sozialistischen Planwirtschaft unmittelbar bevor stand.
Nichtsdestotrotz errang der VEB Werkzeugbau unter dem Mitwirken von Kilian zahlreiche Auszeichnungen für hervorragende Arbeit und Planübererfüllung. Marlene kam aus dem Stauen nicht heraus.
Wenn Kilian auf Arbeit mit derselben Effektivität plante und organisierte wie zu Hause, dann gute Nacht.
Sicher. Der Junge bemühte sich ernsthaft. Aber man musste sich fragen, ob die Welt nicht besser dran wäre, wenn er das bleiben ließe.
Der Regen nahm Fahrt auf und Marlene rannte das letzte Stück. Die Haustür wurde von innen aufgerissen und Marlene atmete auf. Wenigstens musste sie nicht noch nach ihrem Schlüssel suchen. Doch anstelle eines hilfreichen Enkels erschien ihr Schwiegersohn in der Tür.
»Bist du nass geworden?«
»Wonach sieht´s denn aus?« erwiderte Marlene gereizt. »Hast du mit dem Dachdecker geredet?«
»Äh …«
»Hast du oder hast du nicht?«
»Ja. Vor zwei Wochen. Glaube ich.«
»Ach. Und?«
»Er wollte kommen, sobald er kann.«
»Schön. Dir ist doch klar, dass er dir das auch noch erzählt, wenn das Haus ein Schwimmbad ist?«
»Also …«
»Hast du auf dem Boden nachgesehen?«
»Wieso?« fragte Kilian töricht und Marlene biss die Zähne zusammen.
»Mann. Ob der Eimer voll ist. Und ob es inzwischen auch noch woanders reinregnet. Dann reicht der Eimer nämlich nicht, weißt du?«
»Ich … ich geh gleich.«
»Ich glaub, ich geh lieber selbst.«
»Na … gut. Wie – wie war´s?«
»Wie es war? Das war eine Beerdigung!«
»Ja. Schon klar.« Kilian folgte Marlene zur Treppe. »Ich meine … gab´s was zu Essen?«
Marlene hielt abrupt inne. Aha. Daher wehte der Wind. Ihr Schwiegersohn war nicht nur unpraktisch (und, wie sich eben einmal mehr zeigte, taktlos) veranlagt, er war auch ein Fass ohne Boden. Wenngleich man ihm das nicht ansah. Doch wobei auch immer er seine Energie verbrannte – beim Denken jedenfalls nicht, dachte Marlene erbost. Dann bemerkte sie Kilians fragenden Blick, der auf dem Beutel ruhte, den sie in der Hand hielt.
Ein Pawlowscher Reflex, konnte man meinen. Denn von der letzten Beerdigung hatte Marlene einen Berg Kuchen mitgebracht, nachdem die trauernde Witwe trotz der überschaubaren Anzahl an Trauergästen versucht hatte, ihren Kummer wegzubacken. Kilian hatte dieses unerwartete Kuchenangebot überaus zu schätzen gewusst und der Rest der Familie musste sehr schnell sein, wenn er auch noch etwas abbekommen wollte.
»Das sind Bücher. Von Agathe«, erklärte sie gereizt.
»Bücher? Von der Verstorbenen?«
»Ganz genau.« Marlene biss die Zähne zusammen. Durchgefroren und nun auch noch durchnässt wäre ein zugiger, tropfender Dachboden normalerweise das Letzte, wohin es sie zog. Doch sie wäre an noch ganz andere Orte geflüchtet, um Kilian loszuwerden.
»Gehst du jetzt wirklich auf den Boden?« fragte Kilian ungläubig.
»Sagte ich das nicht?«
»Ich – ich komm mit.«
»Bloß nicht!« Huch. Das war deutlich.
»Was?«
»Ich kann das auch alleine.«
»Aber …«
»Meine Güte. Hast du nichts anderes zu tun?«
»Ich wollte nur helfen.«
Na großartig. Jetzt schmollte er auch noch. Marlene brummte etwas Unverständliches.
Henriette, ihre Tochter, hätte beinahe jeden kriegen können. Zum Beispiel Herrn Senf, den Sohn des Klempnermeisters. Und wen nahm sie? Diesen aufdringlichen, nutzlosen Zwerg.
Nun gut. Das Haus bot ihnen theoretisch genügend Platz, sich aus dem Weg zu gehen. Doch aus irgendeinem geheimnisvollen Grund schien Kilian es darauf anzulegen, Marlene zu belästigen. Wieso auch immer.
Vermutlich wollte er sie beeindrucken. Und je mehr sie ihn ablehnte, desto intensiver bemühte er sich. Doch darauf konnte er lange warten. Marlene fragte sich besorgt, was sie wohl am Ende dieser Spirale erwarten mochte. Und sie wusste, dass sie es, sollte sie es zu sehr auf die Spitze treiben, mit ihrer Tochter zu tun bekam. Denn Kilian war nicht nur anstrengend und zu nichts gebrauchen, er petzte auch.
Vermutlich war er schon auf dem Weg.
* * *
Marlenes Mann, Wilfried Schüppel, war still und vorausschauend und damit das komplette Gegenteil seiner Frau gewesen.
Doch während Gegensätze bei anderen Paaren Spannungen und Unverständnis erzeugten, schweißten sie die Schüppels nur noch inniger zusammen. Beide wussten, was sie am jeweils anderen hatten. Er war die bodenständige, gewissenhafte Konstante in ihrem Leben und kümmerte sich um profane alltägliche Notwendigkeiten, und sie brachte Schwung und Abwechslung in seinen tristen, zu Gleichförmigkeit neigenden Lebensstil.
Mussten Entscheidungen getroffen werden, gelangten sie beide meistens zu dem selben Ergebnis – Marlene spontan aus dem Bauch heraus und Wilfried durch gründliches Überlegen und Abwägen. So unterschiedlich ihre Charaktere auch zu sein schienen – ihre Lebensauffassungen und Ziele harmonierten miteinander. Nur in der Umsetzung wählten sie verschiedene Wege: Wilfried plante und organisierte, Marlene hingegen sorgte für Spontanität und den notwendigen Spaß.
Da Wilfried als allgemeinmedizinischer Arzt zu den angeseheneren Persönlichkeiten der Stadt gehörte, bewegten sich die Schüppels auch in entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen, welche im Sozialismus, in dem alle gleich waren, offiziell jedoch gar nicht existierten. Nicht dass die Schüppels darauf jemals Wert gelegt hätten.
An Wilfrieds Seite hatte sich Marlene in jeder Hinsicht sicher gefühlt, ganz egal, wie hochnäsig ihr Umfeld sich auch geben mochte. Ohne ihn jedoch war sie unvollständig. Selbst jetzt noch.
Vieles, das sie für selbstverständlich erachtet hatte, blieb nun an ihr hängen. Nicht dass sie sich nicht zutraute, das zu übernehmen, worum sich Wilfried früher kümmerte. Doch es lag ihr einfach nicht. Sie war kein Mensch, der gerne plante und vorausschauend handelte. Sie sah jedoch ein, dass gewisse Konzepte ihre Vorteile hatten und bemühte sich. Und sei es nur, um Wilfried nicht zu enttäuschen, falls er zusah. Von wo auch immer.
Eines der Dinge, die Wilfried eingeführt und akribisch betrieben hatte, war sein Besorgungstagebuch.
Sobald ihm dämmerte, dass das System nicht dazu geeignet war, eine umfassende Versorgung zu gewährleisten, hatte er es angelegt.
Wilfried notierte alles. Wann welche Engpässe herrschten, auf welchem Wege er dem abhelfen konnte, wer womit bestechlich war und was wann und wie zufällig zu haben war.
Das Tagebuch umfasste inzwischen fünf Bände, eng beschrieben mit Wilfrieds ordentlicher, geradliniger Schrift – alles andere als eine Selbstverständlichkeit bei einem Arzt – und seit den letzten zwei Jahren mit Marlenes flüchtigen Eintragungen.
Auch heute gab es etwas, das sie notieren musste, und etwas widerwillig machte sie sich an die Arbeit.
23.10.1988
Mit einem Päckchen Jacobs Krönung, das ich im Sommer von Agathe bekommen hatte, konnte Frau Hübler vom Blumenladen davon überzeugt werden, für Agathes Trauerkranz Blumen besorgen. Das hätte Agathe bestimmt gefallen. War auch einer der wenigen Kränze mit echten Blumen und nicht diesen scheußlichen Plastikdingern.
Marlene hielt inne.
Obwohl Elisabeth wusste, dass ihre Schwester keinen Kaffee mochte, war jedem ihrer Pakete welcher beigefügt gewesen. Anscheinend ging das nicht anders. Irgendein ungeschriebenes Gesetz sah vor, dass Kaffee unverzichtbarer Bestandteil eines Westpakets war. Wieso auch immer. Doch Marlene wollte sich nicht beschweren – profitierte sie doch schlussendlich davon. Denn wenn sich der Kaffee bei Agathe gestapelt hatte und sie keine anderweitige Verwendung wusste, schenkte sie ihn Marlene, die nicht nur gerne Kaffee trank, sondern auch selbst sonst nichts aus dem Westen geschickt bekam.
Marlene ihrerseits war ausgesprochen dankbar für diese Gaben, schreckte jedoch davor zurück, den Kaffee selbst zu verbrauchen. Zu hoch war der Tauschwert. Sicherlich würde sich dafür bald bessere Verwendung finden lassen, und dem war auch so, wie sich einmal mehr gezeigt hatte.
Nur blöd, dass sie jetzt keinen mehr für den Dachdecker hatte. Sie war nun vollkommen auf ihre Überzeugungskraft angewiesen, und die hatte hier ganz offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung. Sonst wäre die Sache mit dem Dach längst erledigt.
Einmal mehr blätterte Marlene in Wilfrieds alten Eintragungen und wünschte sich ihren Mann zurück.
Doch das war müßig. Der einzige Mann im Haus war jetzt Kilian, und das brachte sie kein Stück weiter. Aber wenigstens konnte sie jemandem die Schuld geben. Besser als nichts.
Und wer weiß. Vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder.
* * *
Peter Schüppel kaufte ein.
Nicht dass ihm das Spaß machte. Doch er hatte seine Gründe.
Der erste Grund bestand schlicht in der Tatsache, dass er in Berlin wohnte. Wenn er seine Verwandten im Erzgebirge besuchte, hegten die gewisse Erwartungen. Er war zwar nicht der Onkel aus dem Westen, aber schon ziemlich dicht dran.
Normalerweise rief er vor Besuchen seine Mutter an, um herauszufinden, woran es im Süden der Republik gerade mangelte. Doch dieses Mal wusste die Familie nichts von seinem Kommen und er musste auf gut Glück einkaufen. Aber das sollte er hinbekommen. Schon vor einer Woche hatte er Schneeanzüge für die Kinder organisiert, was ihm sowohl die Dankbarkeit als auch das Wohlwollen seiner Schwester sichern sollte.
Und damit war er auch schon beim zweiten Grund für seine Bemühungen, schöne Dinge zu erwerben, angelangt. Wenn man Nachrichten im Gepäck hatte, von denen man nicht wusste, wie sie aufgenommen wurden, war es von Vorteil, wenn das Gepäck auch noch etwas anderes enthielt. H-Milch in Tüten und Negerküsse zum Beispiel. Das sollte zumindest als Bestechung für die Kinder reichen, obwohl Peter für seine Nichte sicherheitshalber vom Sohn seines Nachbarn eine Kassette mit Duran Duran hatte überspielen lassen. Er wusste zwar nicht, ob Stephanie Duran Duran mochte, doch sie war vierzehn und ein Mädchen. Wenn das nicht passte, dann wusste er auch nicht.
Peter Schüppels größte Sorge galt seiner Mutter. Marlene Schüppel war eine harte Nuss, was Geschenke anging. Und sie war nicht dumm. Wenn er ihr etwas größeres als Weinbrandbohnen überreichte, wüsste die auf der Stelle, dass etwas nicht stimmte. Obwohl das auch egal wäre. Früher oder später musste er es ihr sowieso sagen. Wieso es also nicht gleich hinter sich bringen?
Peter fiel ihr Gespräch vom vergangenen Wochenende ein, als er sie, wie an jedem zweiten Sonntag, von seinem Nachbarn aus anrief.
Ha. Na also. Da war sie. Die Idee, womit er seine Mutter nachsichtig stimmen konnte. Er musste auf seiner Fahrt nur einen Umweg zu Thomas einlegen. Der würde schon mitmachen. Denn Thomas war viel einfacher zu bestechen. Beispielsweise mit Bier. Richtigem Bier.
Peter peilte den nächsten Getränkestützpunkt an.
* * *
»Oma, ich zieh bei dir ein.« Marlenes achtjähriger Enkel Sebastian schien fest entschlossen. Ein Wunder, das er nicht schon den Schlafanzug mitbrachte.
»Ach. Wann denn?«
»Weiß noch nicht genau. Nächstes Jahr.«
»So so. Darf ich auch erfahren, warum?«
»Weil wir dann keinen Platz mehr haben.«
»Seit wann das denn?«
Das Telefon läutete.
So sehr Marlene die Tatsache, ein Telefon zu besitzen, auch zu schätzen wusste – mitunter war es ausgesprochen lästig. Das hing insbesondere damit zusammen, dass außer ihr nur Leute über ein eigenes Telefon verfügten, mit denen sie nicht reden wollte. All diejenigen hingegen, mit denen sie sich liebend gern unterhalten würde, waren für das Privileg eines eigenen Telefonanschlusses nicht vorgesehen. Da konnten sie Anträge stellen, wie sie wollten.
Darüber hinaus hatte das Telefon den Nachteil, dass es sämtliche Telefonierwillige aus der Umgebung anzog. Wer immer meinte, ein Telefon zu brauchen, klingelte an Marlenes Tür. Gern auch nachts oder sonntags während des Mittagsschlafs.
»Weil das Baby Platz braucht.«
Marlene fiel der Hörer aus der Hand.
»Das solltest du doch nicht verraten«, meinte Sebastians ältere Schwester Stephanie von der Tür aus. Marlene hatte sie gar nicht reinkommen hören.
»Ach. Und wieso nicht?« fragte Marlene bestürzt.
»Weil Mutti dir das selber sagen wollte.«
Marlenes Kinn klappte nach unten. Wenn ihr Schwiegersohn auch sonst zu nichts taugte. Kinder zeugen konnte er ganz offensichtlich.
»Willst du nicht rangehen?« fragte Stephanie.
»Wie?«
»Da. Das Telefon.«
»Ach ja.« Marlene nahm sich zusammen. »Schüppel?« sagte sie gereizt in den Hörer.
»Krüger«, antwortete eine erfreute Stimme und Marlene sackte zusammen.
Na großartig. Der schon wieder.
Ausgerechnet Edmund Krüger hatte natürlich ein Telefon. Und Marlene wusste auch, warum. Damit er sie in den Wahnsinn treiben konnte.
»Wer ist es denn?« flüsterte Stephanie.
»Der Krüger«, flüsterte Marlene zurück.
»Ah.« Marlenes Enkelin grinste.
Zu dumm, dass ausgerechnet Edmund Krüger, obschon er bereits das Rentenalter erreicht hatte, die beste Fleischerei im Ort betrieb. Das vereinfachte den Einkauf ganz erheblich, da Marlene Edmund immer mittwochs einen Zettel zukommen ließ, auf welchem sie notierte, welche Fleisch- und Wurstwaren sie in der kommenden Woche zu essen gedachte. An jedem Donnerstag erwartete sie in der Fleischerei ein gut verschlossenes, mit ihrem Namen versehenes Paket, welches genau das enthielt, was sie wünschte, und oft auch noch ein bisschen mehr. Ein unschätzbarer Vorteil, wenn man das alltägliche Angebot in den Fleischereien bedachte.
Zu verdanken hatte Marlene dieses Privileg ihrem Mann, der mit Edmund Krüger schon seit der Schulzeit befreundet war. Seit Wilfried das Zeitliche gesegnet hatte, überreichte Edmund die Wurst- und Fleischpakete jedoch plötzlich persönlich und wartete dabei mit ungeahnten rhetorischen Künsten auf, die allesamt auf dasselbe hinausliefen – er wollte mit Marlene ausgehen.
Gelegentlich fand sie in den Paketen herzförmig geschnittene Wurstscheiben und Schnitzel, die sie schnell versteckte, bevor die Familie sie entdeckte.
Edmund Krüger war schon seit Jahren geschieden, recht angenehm und grundsätzlich auch keine schlechte Partie. Wirklich zu schade, dass sie ihn nicht wollte. Und schon gar nicht jetzt. Wilfried war erst seit zwei Jahren nicht mehr da und sie war noch nicht soweit. Doch selbst wenn – ihre Wahl fiele sicherlich nicht auf Edmund Krüger. Wurstpäckchen hin oder her.
Bislang formulierte sie aus Rücksicht auf die unschätzbaren Vorteile bei der Fleisch- und Wurstbeschaffung ihre Ablehnungen äußerst zurückhaltend. Edmund nahm das geduldig hin, ließ sich nicht beirren und fragte weiter. Woche für Woche.
Noch immer schob er die Körbe darauf, dass Marlene Zeit brauchte. Doch irgendwann würde es selbst ihm zu bunt werden. Und das würde bedeuten, dass Marlene, wenn sie sich nicht allzu sehr einschränken wollte, an jedem Donnerstagnachmittag zusammen mit einem Haufen anderer Leute eine geschlagene Stunde lang beim Fleischer anstehen und sehen musste, was es gerade gab. Oder eben nicht.
Der Gedanke daran motivierte Marlene zu Freundlichkeit. Und – wie praktisch – heute musste sie nicht mal schwindeln.
»Wochenende kann ich leider nicht«, sagte sie. »Da sind meine Enkelkinder bei mir.« Der bedauernde Tonfall war ebenso überzeugend wie geheuchelt. Und es kam noch besser. »Das wird jetzt, fürchte ich, häufiger passieren«, verkündete sie und bemühte sich, nicht allzu erfreut zu klingen. »Meine Tochter beginnt gerade mit dem Hausbau und hat an den Wochenenden auf der Baustelle zu tun, weißt du?«
Ja! Sie lauschte in den Hörer.
»Wie? Ja. Die große. Charlotte.«
»Jetzt geh doch schon mit ihm aus«, sagte Marlenes andere Tochter Henriette, die eben hereingekommen war.
Wie schön. Das Publikum wuchs und erteilte Ratschläge.
Marlene verabschiedete sich hastig und legte auf. »Das lass mal meine Sorge sein«, fauchte sie.
»Schon. Aber … was spricht denn dagegen? Vielleicht macht es ja Spaß.«
»Für dein wöchentliches Wurstpaket würdest du deine Mutter wohl an jeden verkaufen, wie?« Marlene hatte es satt, dieses Thema zu diskutieren. Sie wollte nicht. Basta. Und je mehr die anderen Leute ihr deshalb auf die Nerven gingen, desto weniger wollte sie.
Natürlich hatte sie sich auch schon selbst gefragt, woher diese Abneigung kam. Und sie hatte nicht lange suchen müssen. Es lag auf der Hand.
Edmund Krüger war ein Romantiker. Ein romantischer Romantiker.
Marlene konnte damit nichts anfangen. Im Gegenteil. Für Romantik war sie einfach nicht geschaffen. Jedenfalls nicht für diese Art von Romantik. Marlene fand es beispielsweise romantisch, wenn ein Mann ihr das Dach reparierte oder dafür sorgte, dass sie auf ihrem Sofa nicht frieren musste.
Edmund Krüger verstand unter Romantik leider etwas anderes. Etwas mit vielen Herzchen und Kerzen und Rosen und Sonnenuntergängen. Noch deutlich hatte sie vor Augen, wie er mit seiner Frau umgegangen war. Küsschen hier, Umarmung dort, und Kosenamen, wann immer er den Mund aufmachte. Gemeinsame Schaumbäder, stundenlanges Spazierengehen und Händchen halten … Kein Wunder, dass sie ihm weggelaufen war, sobald die Kinder aus dem Haus waren. Das hielt kein normaler Mensch aus. Und Marlene schon gar nicht. Früher oder später würde sie nach einem solchen Mann mit Tellern werfen, und das hatte keiner verdient. Weder Edmund Krüger noch das Porzellan.
»Schon gut«, meinte Henriette eilig. »Ich – wollte eigentlich wegen was anderem mit dir reden.«
»Sie weiß es schon«, sagte Stephanie.
»Was?«
»Der kleine Wicht konnte nicht dichthalten.«
»Oh.« Henriette musterte fragend ihre Mutter.
Marlene hob die Augenbrauen.
»Wo steckt er überhaupt?« Henriette sah sich um.
»Wer?«
»Die Petze«, erklärte Stephanie hilfreich. »Vermutlich ist er da, wo er immer ist.«
Synchron drehten sich drei Köpfe zur Küche und lauschten. Doch es war nichts zu hören. Allem Anschein nach hatte Sebastian bereits gefunden, wonach er suchte, und war damit beschäftigt, die Fundstücke so schnell wie möglich zu vertilgen, bevor es Ärger gab.
So liebenswert der Junge auch war. Den Appetit hat er von seinem Vater, dachte Marlene.
»Ich wollte es dir gerade sagen«, beteuerte Henriette. »Ehrlich. Du bist die Erste, die es erfährt.«
»Ach, das ist doch jetzt auch egal. Du … du bist glücklich darüber?« erkundigte sich Marlene vorsichtig.
»Ja«, strahlte Henriette.
»Gut. Dann bin ich´s auch«, sagte Marlene und bemühte sich, den Gedanken an Kilians Beteiligung an dem Glücksumstand zu verdrängen.
* * *
Der Kreisratsvorsitzende Friedrich war ein Meister im Organisieren. Darüber hinaus lauschte er gern hinter Türen und Hecken, was ihm gelegentlich Argwohn unter seinen Mitmenschen bescherte. In seinem Fall jedoch zu Unrecht, obwohl ihn diese Neugier gepaart mit seiner Position zu einer äußerst gefährlichen Person machte. Herr Friedrich war nicht nur einfach so neugierig. Er selbst nannte es Interesse an den Belangen der Bevölkerung. Und so unglaublich sich das auch anhörte – es stimmte. Und zwar auf durch und durch positive Weise.
Der Kreisratsvorsitzende Friedrich spürte sehr wohl, dass das mit dem Sozialismus nicht so lief, wie es sich Genosse Lenin einst vorgestellt hatte. Und das machte ihm zu schaffen. Irgendwas lief schief. Die Leute waren nicht richtig bei der Sache, und mitunter konnte er sie auch verstehen. Zu viele Widersprüche und Fragezeichen erwarteten die tapferen Beschreiter des fortschrittlichen Wegs in eine sozialistische Zukunft.
Grundsätzlich war das nicht verwunderlich. Schließlich war dieser Weg zuvor noch von niemandem beschritten worden, weshalb man auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen konnte. Außerdem waren die Leute nun mal wie sie waren. Sie sahen immer nur, was andere hatten und worauf sie selbst verzichten mussten. Die positiven Seiten hingegen sah keiner. Die waren selbstverständlich.
Der Kreisratsvorsitzende Friedrich tat sein Bestes, um die Leute ein wenig zufriedener zu machen. Seinen Möglichkeiten waren von der Partei enge Grenzen gesetzt, wenn man die Natur der Wünsche der Bevölkerung bedachte. Doch mitunter ließ sich auch schon mit Kleinigkeiten eine ganze Menge erreichen.
Daher auch seine Neugier. Es schmerzte seiner von der Ideologie durchdrungenen Seele, wenn die Leute ihrer Enttäuschung über die Zustände Luft machten. Doch wenn sie dabei konkrete Beschwerden äußerten, konnte man vielleicht das eine oder andere hinbiegen.
Herr Friedrich hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, zwischen den Leuten und dem Sozialismus zu vermitteln. Wenn man ihnen dabei half, das höhere Ziel zu begreifen, konnten sie sich früher oder später vielleicht doch noch damit anfreunden und etwas mehr Zuversicht an den Tag legen. Denn der Weg war noch lang und beschwerlich und keiner wusste genau, was am Ende lauerte. Das hieß, in der Theorie schon. Doch die war allem Anschein nach nur begrenzt umsetzbar.
Herrn Friedrichs Neugier gepaart mit dem Bedürfnis, den Leuten zu dem zu verhelfen, von dem sie meinten, es zu brauchen, war für andere recht praktisch. Insbesondere für Marlene, die gleich nebenan wohnte. Sobald die sozialistische Versorgung der Bürger mit Waren und Dienstleistungen ihre Schwächen offenbarte, begab sich Marlene zum passenden Zeitpunkt in ihren Garten und begann hinter der Hecke, über diverse Missstände zu fluchen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Herr Friedrich nunmehr alles in Bewegung setzte, um Marlene zu beweisen, dass sie sich zu Unrecht aufregte. Mitunter gestaltete sich das langwieriger als erhofft, aber am Ende tat sich fast immer was.
Allerdings hatte die Sache einen Haken. Seit kurzer Zeit sogar zwei. Der erste Haken hieß Frau Friedrich, einst Sekretärin beim Rat des Kreises und von chronischer Missgunst geplagt.
Vor ihr gab es schon mal eine Frau Friedrich. Diese war recht umgänglich gewesen und hatte ihren Mann machen lassen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die perfekte Ehe, sollte man meinen. Leider verfügte die erste Frau Friedrich nicht über die richtigen Körpermaße.
Der Kreisratsvorsitzende Friedrich hatte nämlich eine Schwäche für Kurven an den richtigen Stellen, also überall dort, wo seine Frau gerade keine vorzuweisen hatte. Seine Sekretärin hingegen schon. Und wie. Die war zwar nicht die Hellste, aber sie hatte erkannt, dass mitunter eben doch der Weg um die größten Kurven am schnellsten zum Ziel führte. Und so kam, was kommen musste.
Marlene bezweifelte, dass Herr Friedrich nach dem von primitiven Instinkten motivierten Frauentausch den neu angeheirateten Kurven noch sonderlich oft nahekommen durfte. Die zweite Frau Friedrich war nach dem Ringtausch plötzlich sehr sparsam mit Zärtlichkeiten und verteilte diese nur, wenn sie rundum zufrieden war. Und sie war verdammt schwer zufriedenzustellen.
Nun denn. So blieb Herrn Friedrich mehr Zeit zum Besorgen und Gärtnern, was wiederum vorteilhaft für all diejenigen war, die etwas brauchten. Allerdings konnte Herr Friedrich nicht mehr so, wie er wollte. Die zweite Frau Friedrich wachte mit Argusaugen über die wohltätigen Aktivitäten ihres Mannes. Das Prinzip reiner Gefälligkeit überstieg ihren egoistischen Horizont, und wann immer sie ihn dabei erwischte, konnte er sich auf was gefasst machen. Da war Raffinesse gefragt, über die Herr Friedrich leider nur begrenzt verfügte.
Der zweite, neu hinzugekommene Haken bestand in Herrn Friedrichs angegriffener Gesundheit. Nicht immer, wenn es aus Marlenes Sicht erforderlich wurde, hinter der Hecke zu fluchen, fühlte sich Herr Friedrich in der Lage zu gärtnern. Stattdessen saß er auf der Terrasse. Dort konnte man Marlene, sofern sie es darauf anlegte, zwar auch ganz gut hören, doch in aller Regel wurde er dabei von der zweiten Frau Friedrich bewacht.
Ein Jammer aber auch. Ausgerechnet jetzt, da Marlene so dringend einen Dachdecker brauchte.
Sie überlegte gerade, ob sie nicht doch ihren Stolz überwinden und offiziell nebenan betteln gehen sollte. Das bedeutete zwar, dass sie auch nette Dinge zur zweiten Frau Friedrich sagen musste, doch die Prioritäten verschoben sich, wenn es durchs Dach regnete und der Winter nahte.
Im nächsten Moment klingelte es an der Tür und Marlene fluchte.
Es war Samstagmorgen, sie saß vor dem Fernseher und schrieb die ZDF Programmvorschau der nächsten Woche mit. Die Kinder spielten draußen. Jedenfalls hoffte sie, dass sie spielten und ihre Kreativität zügelten.
Wenn Marlene jetzt zur Haustür ging, würde sie den kompletten Dienstag verpassen. Wenn es ganz blöd lief, sogar noch den Mittwoch und den Donnerstag.
Dass die Leute aber auch nie Ruhe geben konnten.
Es klingelte erneut und Marlene erhob sich resigniert. Wer auch immer das war, konnte gleich wieder verschwinden. Sie …
»Onkel Peter ist da«, rief eine Kinderstimme.
Peter? Hier?
Marlene beschleunigte. Vergessen war das Fernsehprogramm.
Die Treppe rennend zu bewältigen, war leider nicht mehr drin. Marlenes Knie wussten dies zu verhindern. Dennoch erreichte sie die Haustür in Rekordzeit und fiel ihrem hochgewachsenen Sohn um den Hals.
»Peter! Was machst du denn … oh.« Marlene sah fragend auf den jungen Mann hinter ihrem Sohn.
»Kennen Sie mich noch?« fragte der und hielt ihr wohlerzogen die Hand hin.
»Äh …«
Nichts. Sie arbeitete sich durch verschiedene Karteikarten in ihrem Kopf, doch vergeblich. Sollte sie diesen jungen Mann wirklich kennen?
Nun, immerhin trug er vielversprechende Kleidung. Nämlich Arbeitskleidung. Das war immer ein gutes Zeichen.
»Thomas. Brumm. Wissen Sie noch?«
Nein!« Marlene riss die Augen auf. Der Thomas Brumm, der sich jetzt in ihrem Kopf manifestierte, war zwar mit Peter zur Schule gegangen und des Öfteren hier gewesen. Doch Marlenes Erinnerungskino zeigte einen kleinen dürren Knaben mit Pickeln und einem Haarschnitt wie das Zeichentrickmännchen mit dem verzauberten Bleistift. Nichts hatte er gemein mit diesem großen, adretten Mann, der jetzt die Stirn in Falten legte.
»Doch.« Peter grinste. »Glaub´s ruhig. Und weißt du was? Es kommt noch besser. Er ist Dachdecker.«
»Was?« Marlene verschlug es die Sprache. Hatte sie das eben richtig verstanden? Ihr Sohn kam extra von Berlin hierher, um ihr Dach zu retten. Beziehungsweise retten zu lassen. Was sagte man dazu?
Marlene fiel ein, dass ein Dachdecker und ein Dach allein nicht reichten. Man brauchte auch etwas, das man auf das Dach decken konnte. Der Junge konnte doch unmöglich …
»Ich mach mal das Tor auf, damit wir reinfahren können. Es braucht ja nicht jeder gleich zu sehen, was wir dabei haben.«
»Was habt ihr denn dabei?« erkundigte sich Sebastian hoffnungsvoll.
»Na Zeug fürs Dach eben.«
»Und woher habt ihr das?« fragte Marlene entgeistert.
»Äh – ich glaub, das willst du lieber nicht wissen.«
»Junge! Hast du etwa …«
»Mann, jetzt denk nicht darüber nach. Thomas hat das geregelt. Ja?«
»So so. Geregelt.« Marlene hatte eine ungefähre Vorstellung, was das bedeutete. Jeder wusste, was auf öffentlichen Baustellen des nachts oder an Wochenenden passierte, und man konnte den Leuten noch nicht mal einen Vorwurf machen. Sie waren ja durchaus bereit, die ersehnten Baumaterialien auf legalem Wege gegen Bezahlung und notfalls auch inoffizielle Tauschwaren zu erwerben. Wenn man sie nur ließe.
Na gut. Oder nein. Na bestens. Sie bekam endlich ein dichtes Dach.
»Also dann – können Sie mir zeigen, wo das Problem liegt? Ich steig Ihnen mal aufs Dach und kümmere mich darum«, sagte Thomas.
»Wie? Oh, ja. Natürlich. Sofort. Brauchen Sie noch was? Ich meine … ich kann erstmal Kaffee kochen. Und …«
»Kaffee klingt gut«, meinte Thomas.
»Und was gibt’s zum Mittag?« erkundigte sich Peter.
»Äh – Gemüseeintopf.«
»Bäh! Ehrlich?« Peters Gesicht sprach Bände des Grauens.
»Also, ich esse gerne Gemüseeintopf«, verkündete Thomas Brumm. Der junge Mann gefiel Marlene immer besser.
»Soll ich dir Bratkartoffeln machen? Mit Ei?« bot sie ihrem Sohn an.
»Oh ja. Bitte.« Marlenes Bratkartoffeln waren der Hammer. Allerdings behaupteten das die anderen auch von ihrem Gemüseeintopf.
»Ist deine Familie gar nicht mitgekommen?« fragte Marlene und Peter wurde ein Stück kleiner. Verdammt. Er hatte gehofft, dieses Thema noch eine Weile hinausschieben zu können.
»N-nein«, murmelte er und betete, dass sie es dabei belassen würde.
»Warum nicht?« bohrte sein Neffe. So ein Mist. Was machte der denn immer noch hier?
»Äh … das ging nicht. Ich … wir müssen jetzt wirklich erst mal das Zeug reinschaffen. Thomas hat nicht ewig Zeit.«
Peter hatte vor, sich strikt an seinen Plan zu halten. Und der sah nun mal vor, Marlene unter vier Augen zu sprechen, während Thomas auf dem Dach herumhämmerte und sie somit ständig daran erinnerte, was für einen guten, fürsorglichen Sohn sie hatte.
Natürlich bot selbst das keine Garantie. Im Gegenteil. Doch es sollte den mütterlichen Ärger auf ein erträgliches Maß reduzieren und spontanes Verlangen nach Tätlichkeiten verhindern.
»Hast du auch was für mich mitgebracht?« erkundigte sich Peters Neffe.
»Sebastian!«
»Na klar.« Peter wandte sich zum Gehen.
»Und was?«
»Onkel Peter!« Die Söhne von Charlotte, Peters ältester Schwester, bogen um die Hausecke. Wie es aussah, hatten sie unter vollem Körpereinsatz im Garten gespielt. Beziehungsweise im Dreck.
»Ach. Ihr seid auch da?«
»Hast du ihnen auch was mitgebracht?« fragte Sebastian. Die Sorge, teilen zu müssen, sprach aus seiner Miene.
»Äh …« Die Antwort lautete Nein. Wozu auch? Er hatte nicht vorgehabt, seine andere Schwester zu besuchen. Doch da seine Neffen nun mal da waren, musste es eben so gehen. Zumindest die Milch und der Süßkram sollten sich durch vier teilen lassen.
»Schläfst du auch hier?« fragte Felix, der jüngere der beiden.
»Wieso auch?« erkundigte sich Peter alarmiert.
»Na, Charlotte und Heiner haben doch mit dem Hausbau begonnen. Da bleiben die Jungs an diesem Wochenende hier«, erklärte Marlene.
»Ach. Und wo schlaft ihr?«
»In deinem alten Zimmer. Und du?«
Peter zog die Stirn in Falten. Woher zum Geier sollte er das wissen?
»Ich konnte doch nicht wissen, dass du kommst«, sagte Marlene entschuldigend.
»Schon gut.«
Aber nichts war gut. So ein Mist. Da wollte er allein mit seiner Mutter reden, und jetzt war das Haus voller neugieriger Halbwüchsiger, die erfahrungsgemäß Peter nicht von der Pelle rückten, solange er sich hier aufhielt.
Vielleicht sollte er zum Äußersten greifen und Marlene anbieten, mit ihr spazieren zu gehen. Das hatte den Vorteil, dass Marlene ihn nicht anschreien konnte, da sonst die Öffentlichkeit lange Ohren bekam und zu tuscheln begann. Außerdem beruhigte Natur angeblich die Nerven.
Jetzt konnte er mal testen, ob da was dran war.
* * *
Paul Freiwald, Marlenes Vater, war überzeugter Kommunist, und zwar schon seit seiner Jugend, als ein sozialistischer Staat noch reine Utopie war. Bei dem bloßen Gedanken daran konnte man damals wegen Unzurechnungsfähigkeit oder aufrührerischen Flausen weggesperrt werden.
Inzwischen war er stolze siebenundachtzig Jahre alt und überzeugter denn je, dass am Ende der Kommunismus siegen würde. Immerhin war bereits ein großer Schritt geschafft und er schätzte sich glücklich, dass er das miterleben durfte.
Paul Freiwald war jedoch keiner von der aggressiven oder – noch schlimmer – von der missionierenden Sorte. Er war einfach wahrhaft überzeugt und darüber hinaus ein durch und durch guter Mensch.
Marlene dachte immer, wenn alle so wären wie ihr Vater, könnte das mit dem Kommunismus vielleicht tatsächlich funktionieren. Doch die Menschen waren nun mal nicht wie Paul Freiwald. Mithin konnte das mit dem Sozialismus ja nichts werden. So leid Marlene das für ihren Vater auch tat. Doch sie ließ ihm seinen Glauben. Schließlich ließ er ihr auch den ihren.
Paul Freiwald lebte in einem Plattenbau und genoss die Vorzüge der Fernwärme. Eigentlich wäre spätestens nach dem Tod von Marlenes kinderloser Tante die Familienvilla ihm zugefallen. Doch er hatte es abgelehnt, in diesem Symbol kapitalistischer Ausbeutung zu residieren. Und so kam es, dass Marlene plötzlich Besitzerin der Villa wurde, deren Garten die Ausmaße eines kleineren Parks aufwies.
Das hatte schon was. Unter anderem jede Menge Probleme. Sowohl am Gebäude als auch am Grundstück war eine Menge zu tun, und Marlene wurde nicht jünger und die Handwerker nicht williger.
Wie Marlene richtig vermutete, war ihr Vater insgeheim ganz froh, dass das Grundstück nicht in fremde Hände übergeben wurde. Denn er schätzte den Garten über alles. Ganz besonders dann, wenn sich die Kinder in der Schule befanden und er hier seine Ruhe hatte.
Dann saß er zusammen mit seinem besten Freund vor dem etwas verfallenen Gartenpavillon und spielte Karten.
Sein bester Freund war – kein Witz – evangelischer Pfarrer. Das hieß, Pfarrer im Ruhestand.
Früher hatten sie gemeinsam die Schulbank gedrückt und sich später zusammen durch die Schützengräben gekämpft. Jetzt angelten sie zusammen und spielten Karten oder Schach.
Marlene hatte sie nie streiten gehört. So vermeintlich gegensätzlich ihre Weltanschauungen auch sein mochten – im Grunde waren sie sich sehr ähnlich. Sie waren idealistisch und hatten sich ihr Leben lang bemüht, auf dem von ihnen gewählten Weg die Welt ein bisschen besser zu machen. Und beide waren gescheitert. Jedenfalls im Großen und Ganzen.
Der fortschrittliche sozialistische Mensch glaubte – aufgrund seiner ideologischen Erziehung – nicht mehr an das Heil der Kirche. Und war er auch nur ein halbwegs realistischer fortschrittlicher sozialistischer Mensch, glaubte er – aufgrund seiner Erfahrungen und Beobachtungen – auch nicht mehr an das Heil des Kommunismus.
Doch die beiden alten Männer sahen das anders. Sie hatten einen blinden Fleck, was die Charakterfestigkeit und Selbstlosigkeit ihrer Mitmenschen anging.
Darüber hinaus hegten sie tiefen Respekt voreinander und vor der Art, wie der jeweils andere für seine Ideale gekämpft hatte. Auch wenn sie dessen Grundideologie nicht teilten.
Selbst dass seine einzige Tochter eher dazu neigte, die Ansichten seines besten Freundes zu teilen als seine eigenen, störte Paul Freiwald nicht sonderlich.
Nun gut. Marlene konnte in seinen Augen grundsätzlich nichts falsch machen. Seine Enkel auch nicht, und die Urenkel noch viel weniger. Was für eine hoffnungsvolle Jugend. Er traute ihnen Großes zu und bedauerte, dass er es nicht mehr miterleben würde. Doch er wollte mitnehmen, was ging, und die jungen Leute im Auge behalten. Nur für den Fall, dass sie doch einmal auf Abwege gerieten.
* * *
Der Herbst machte Peter einen Strich durch die Rechnung. Denn er ließ es regnen, und bei Regen spazierte es sich nicht so gut. Erst recht nicht entspannt. Peter wollte sich gar nicht ausmalen, wie seine Mutter auf seine Neuigkeiten reagierte, wenn sie ohnehin schon gereizt war.
Also saß er in der Küche, sah ihr unschlüssig beim Kochen zu und hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Freund Thomas, der seinetwegen bei diesem Wetter auf dem Dach herumrutschen musste.
Und das alles nur, weil Peter sein Liebesleben nicht im Griff hatte und darüber hinaus auch noch ein Feigling war. Dabei hatte seine Ehe so vielversprechend begonnen.
Vor acht Jahren hatte Peter an der Trasse gearbeitet – eine Entscheidung, die seiner Mutter im Übrigen auch nur sehr schwer beizubringen war.
Diese Arbeit hatte ihm jedoch einen Haufen Geld und einen Wartburg beschert, was wiederum entscheidend dazu beitrug, seine jetzige Frau Yvette zu beeindrucken.
Yvette war eine unglaubliche Frau und Peter war ihr von der ersten Minute an verfallen. Solchen Frauen musste man etwas bieten, sowohl finanziell als auch intellektuell. Als das Geld alle war, mussten sie beide einsehen, dass Peters intellektuelle Fähigkeiten nicht ausreichten, um das auszugleichen. Da konnte er sich anstrengen, wie er wollte.
So eine Ehe war nur begrenzt strapazierbar und Scheidungen lagen im Trend. Der halbe Freundeskreis (sowohl ihrer als auch seiner) hatte diese Erfahrung bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Peter und Yvette waren auf dem besten Wege, dem Trend zu folgen. Doch sie waren noch nicht bereit, ihre ehelichen Aktivitäten gänzlich einzustellen, und die Natur hatte ihren ganz eigenen Humor.
Neun Monate später kam Carolin zur Welt und die Scheidungspläne waren vom Tisch. Stattdessen stapelten sich dort jetzt Babyfläschchen und Windelberge.
Mit einem Mal war Intellekt nebensächlich. Sie hatten keine Zeit für derartige Faxen. Es gab Wichtigeres zu tun, und für eine Weile vergaßen sie die Welt da draußen.
Peter wickelte, badete, fütterte und bespaßte seine Tochter. Gern auch nachts, wenn Yvette so tat, als würde sie fest schlafen und nichts mitbekommen.
Unglaublich, dass es etwas so Schönes gab. Für ihn.
Seine väterlichen Fähigkeiten beeindruckten auch Yvette. Zumindest eine Zeitlang.
Seit Carolin zwei Jahre alt war, vermutete Peter, dass seine Frau was mit einem aus ihrer Theatergruppe hatte. Die beiden gaben sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Doch das Getue war nicht zu übersehen und die Anzeichen häuften sich im Laufe der Jahre.
Das kränkte. Liebend gern hätte Peter ihr Vorhaltungen gemacht und sie ein bisschen angeschrien. Nur leider stünde er dann als Heuchler da, denn er verfügte über keinerlei Beweise für seinen Verdacht. Yvette hingegen schon. Sie hatte ihn erwischt, wie er Susanne küsste.
Wer hätte aber auch ahnen können, dass Yvette eher nach Hause kam. Das war sonst nie ihre Art. Im Gegenteil.
Susanne arbeitete im Kindergarten von Carolin, welche inzwischen vier und gefährlich aufmerksam war. Zu aufmerksam. Und sie redete gern – zu Peters Leidwesen auch mit ihrer Mutter. Vermutlich hatte dabei etwas Yvettes Misstrauen erweckt, und das völlig zu Recht, wie sich nunmehr herausstellte.
Jetzt lernte Peter ganz neue Seiten an seiner Frau kennen und er fragte sich, ob sie heimlich einen Kurs für rachsüchtige Ehefrauen belegt hatte oder ein bislang verborgenes Naturtalent besaß.
Eine Zeitlang gab er den um Vergebung bettelnden Sünder. Das Glück seiner Tochter war ihm wichtiger als sein Stolz, und er glaubte noch immer an den Wert einer intakten Familie. Doch kein Mensch konnte das dauerhaft ertragen. Zumal er sich sicher war, dass Yvette es um Längen schlimmer trieb als er. Nur ließ sie sich dabei nicht erwischen. Das war der springende Punkt.
Peter zog die Reißleine und aus. Und da das mit einer Wohnung nicht so einfach ging, wie sich das verfeindete Eheleute mitunter wünschten, wohnte er vorerst bei Susanne. Die war zwar auch verheiratet, ihr Mann war jedoch wegen ehelicher Differenzen zu seiner Mutter gezogen.
Peter fühlte aufrichtig mit dem Mann und machte drei Kreuze, dass er nicht zu ähnlich drastischen Mitteln greifen musste. Denn was seine familiären Neuigkeiten anging, glich Marlene einer Wundertüte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie heftig ihr Ausbruch sein würde.
Nun ja. Marlene hatte grundsätzlich nichts dagegen, wenn sich ihr Kind scheiden ließ. Im Gegenteil.
Nur war Peter das falsche Kind. Würde hingegen Henriette eine solche Absicht äußern, könnte diese gar nicht so schnell gucken, wie Marlene ihr einen Termin beim Anwalt besorgen würde. Doch Peter …
Wenngleich Marlene es nicht gern zugab, war sie recht konservativ, was die Familie anging. Und wenn sogar Henriette es mit Kilian aushielt, würde Peter das mit Yvette ja wohl auch schaffen. So schwer konnte das nicht sein. Schließlich hatten die beiden ein Kind – das sollte doch Grund genug sein für ein wenig Selbstdisziplin. Wer jemanden nahe genug an sich heran ließ, um mit ihm ein Kind zu zeugen, musste ihn ja wohl irgendwie riechen können. Sonst wäre es gar nicht erst soweit gekommen. Und als erwachsener Mensch sollte man in der Lage sein, alle weiteren Streitigkeiten irgendwie zu regeln.
Man sollte im Übrigen auch in der Lage sein, mit seiner Mutter vernünftig zu kommunizieren, dachte Peter und gab sich einen Ruck. Außerdem wollte er es endlich hinter sich bringen. Aber erst nach dem Mittagessen. Sonst konnte er sich von Bratkartoffeln verabschieden und musste Gemüseeintopf essen. Und das hatte seiner Ansicht nach niemand verdient. Nicht mal Leute, die ihre Ehe in den Sand setzten.
* * *
Marlene war in der HO und kaufte großzügig ein. Das lenkte ab. Außerdem hatten sowohl Peter als auch ihre Enkel für ungewohnte Leere im Kühlschrank und in der Vorratskammer gesorgt. Insbesondere hatte dieses verfressene Volk sämtliche Schokoladenvorräte verputzt und am Ende schließlich das Nudossi ausgelöffelt. Selbst am Trinkfix hatten sie sich vergangen.
Wirklich unglaublich.
Marlene lehnte es kategorisch ab, in einem Haushalt ohne Schokolade zu wohnen. Das bedeutete, sie musste schnellstens Nachschub besorgen, bevor sie es aus Verzweiflung ihren Enkeln gleich tat und selbst zur Trinkfix-Büchse griff. Pulvrige Substanzen waren nur bedingt zum direkten Verzehr geeignet.
Anschließend sollte sie ein gutes Versteck für ihre Vorräte suchen.
Ein Leben ohne Schokolade war nur halb so lebenswert und die Wichtigkeit von Schokolade stieg proportional mit den Problemen und Sorgen, die einen beschäftigten. Das bedeutete, dass Marlenes Bedarf an Schokolade momentan deutlich über dem Durchschnitt lag, Peter sei Dank.
Nun gut. Immerhin war sie die Sorge um das Dach los, wenngleich Peters Freund Thomas nur schwer misszuverstehende Andeutungen über den Zustand der Dachrinnen gemacht hatte. Doch Peters Geständnis wog um einiges schwerer.
Was dachte sich der Junge nur? Zog einfach aus, weg von seiner Frau und – noch viel schlimmer – weg von seinem Kind. Und wohin? Zu einer anderen. Einer, die ebenfalls verheiratet war. Und er wollte sie demnächst mitbringen. Hierher. Ungeheuerlich.
Marlene konnte sie schon jetzt nicht leiden. Es war allgemein bekannt, dass bei Männern gelegentlich der Verstand aussetzte und sie nicht über Konsequenzen nachdachten. Das erklärte eine ganze Menge. Doch welche anständige verheiratete Frau machte sich denn bitteschön an einen verheirateten Vater ran? So was gehörte sich einfach nicht. Liebe hin oder her.
Peter hatte Marlene ein Foto von Susanne gezeigt und sie konnte sich schon denken, was genau er da mit Liebe verwechselte. Diese Person schien ganz gern zu zeigen, was der liebe Gott ihr alles mitgegeben hatte. Und bei dem Gedanken, dass sie es neuerdings bevorzugt Peter zeigte, wurde Marlene ganz schlecht.
Unschlüssig verharrte sie vor dem Süßigkeitenregal.
»Na? Kaufst du für die Enkel ein?«
Marlene fuhr herum.
Rosalia hatte sich unbemerkt angeschlichen. Jahrelang hatten sie sich im Büro gegenüber gesessen. Doch seit Marlene ein vielbeschäftigtes, durchterminiertes Rentnerdasein führte, begegneten sie sich kaum noch. Dabei wohnte Rosalia nur vier Straßen weiter.
Auch heute wären sie sich normalerweise nicht über den Weg gelaufen. An einem Montagmorgen traf man in der Stadt für gewöhnlich nur auf Verkäuferinnen, die Tauschhandel mit anderen Verkäuferinnen trieben, junge Mütter und Rentner. Apropos … Marlene rechnete hastig.
»Oh. Kann es sein, dass du sechzig geworden bist?«
»Ja. Schon vor zwei Wochen.«
»Mist. Das hab ich völlig vergessen. Meinen herzlichen Glückwunsch. Und du hast aufgehört?«
»Nicht ganz. zweimal die Woche gehe ich noch arbeiten. Erstmal. Ich sitze ja sonst sowieso nur zu Hause rum.«
Marlene musterte Rosalia verstohlen. Diese hatte nie geheiratet, obwohl es zumindest in den letzten Jahren an Bewerbern nicht mangelte. Rosalias Verlobter war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Später kümmerte sie sich um ihre kranke Mutter. Als sie endlich wieder an sich selbst denken konnte, war es zu spät für eine Familiengründung.
Nun hätte Rosalia ja durchaus trotzdem ein schönes Leben zu zweit führen können. Doch sie argwöhnte – oftmals zu Recht –, dass die plötzlich wieder zur Verfügung stehenden Männer aus gutem Grund keine abbekommen hatten beziehungsweise von ihren Ehefrauen sitzengelassen wurden. Nein, danke. So etwas brauchte sie gewiss nicht.
Im noch fortgeschritteneren Alter gesellte sich zur Schar der Interessenten auch der ein oder andere Witwer. Doch selbst hier siegte Rosalias Argwohn. Plötzlich mit den Tücken des Haushalts konfrontiert, suchten diese armen Männer vermutlich nichts weiter als eine billige Haushälterin. Und dafür war sie sich zu schade.
So kam es, dass Rosalia zuerst aufgrund der Umstände und später aufgrund ihres Misstrauens ein männerfreies Leben führte.
Mitunter neigte Marlene dazu, ihr Recht zu geben. Männer konnten anstrengend sein und Frauen an die Grenzen des Wahnsinns treiben (was, wie sie zugeben musste, auf Gegenseitigkeit beruhte). Doch erstens hatte Marlene einen von den Guten abbekommen und nur selten Grund zur Beschwerde gehabt, und zweitens wogen die Vorteile dies gleich vielfach wieder auf. Man musste nur eben den Richtigen finden, dann war es die Mühe durchaus wert.
»Du kannst ja mal vorbeikommen«, bot sie schließlich an.
»Oh. Danke. Ich hatte auch schon daran gedacht, dich mal anzurufen. Vom Büro. Aber …«
»Na bestens. Ruf einfach an, wenn du Zeit hast und gerne vorbeikommen würdest.«
»Du musst nicht … Ich will nicht stören«, platzte Rosalia heraus.
»Was? Du störst doch nicht. Wie kommst du denn auf so was?«
»Ich … na, ist auch egal. Ich ruf dich an, ja?« Sagte es und verschwand.
Marlene sah ihr verwirrt hinterher. Anscheinend bekam Rosalia das Alleinsein nicht. Manche wurde da wunderlich. Sie sollte Rosalie im Auge behalten. Doch nicht sofort.
Entschlossen wandte sie sich wieder dem Regal und ihren eigenen Problemen zu. Im Korb lag noch eindeutig zu wenig Schokolade.
Außerdem musste sie sich um einen Klempner kümmern. Wie bedauerlich, dass Peters alte Schulfreunde nicht das gesamte breite Feld der nützlichen Handwerksberufe abdeckten.
* * *
Der Briefträger Borstel bekam es nur selten mit persönlicher Post an Marlene zu tun. Das lag in erster Linie daran, dass sie zu faul zum Briefeschreiben war. Obwohl sie eigentlich ganz gerne welche bekam. Doch wer nicht schreibt, dem antwortet keiner. Und so hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr Briefkasten ein einsames Dasein fristete. Lediglich in der Weihnachtszeit verirrte sich die eine oder andere Karte zu ihr. Was Menschen aus weihnachtlich motivierter Nächstenliebe eben so einfiel.
Heute jedoch war ein Brief für Marlene dabei. Und das mitten im Oktober. Herr Borstel war sonst kein allzu neugieriger Mensch – ein vorteilhafter Zug bei einem Briefträger –, doch dieser Brief verwirrte ihn derart, dass er sich dazu hinreißen ließ, den Absender zu überprüfen.
Wie interessant. Frau Schüppel bekam nicht nur plötzlich mitten im Jahr Post, sondern darüber hinaus auch noch welche aus dem Westen. Aus Köln, um genau zu sein.
Als Marlene ihre Zeitung aus dem Briefkasten holte, war sie nicht minder verblüfft. Sie hatte Post. Von Elisabeth. Damit hatte sie nicht gerechnet. Offensichtlich war Elisabeth tatsächlich daran gelegen, den Kontakt in ihre alte Heimat aufrecht zu erhalten. Was für eine nette Überraschung.
Marlene las, staunte und freute sich. Bis ihr einfiel, dass Elisabeth eine Antwort erwartete. Und nicht nur das. Marlene hat ihr eine solche versprochen, und sie sollte es sofort in Angriff nehmen, bevor die Freude über den Brief schwand und die Unlust zum Schreiben die Überhand gewann.
Marlene suchte Briefpapier. Schließlich fiel ihr ein, dass ihre Enkelin, die eine ausufernde Korrespondenz betrieb, dieses irgendwann einkassiert hatte. Es konnte ja keiner ahnen, dass Marlene plötzlich ebenfalls unter die Briefschreiber ging.
Nun denn. Musste es eben so gehen. Elisabeth wollte schließlich Neuigkeiten erfahren und nicht das Briefpapier bewundern.
Mal sehen.
Doch Marlene kam nicht weit. Das hier war eine kleine Stadt. Da passierte nicht viel. Und für den Austausch persönlicher Mitteilungen kannten sie sich zu wenig.
So holperte sie anderthalb Seiten zusammen, berichtete oberflächlich von ihren Enkeln und setzte schließlich erleichtert ihren Namen unter ihr Werk.
Na also. Wäre das auch geschafft. Sie schloss den Umschlag und ging nach unten, um ihren Mantel anzuziehen. Das Wetter war trocken und nach der anstrengenden Schreiberei musste sie an die frische Luft. Warum den Brief also nicht gleich wegbringen?
An der Haustür wurde Marlene beinahe von Kilian über den Haufen gerannt.
»Was machst du denn hier?« fragte Marlene konsterniert und sah auf die Uhr. Es war kurz nach Eins und Kilian sollte ihr eigentlich noch für mindestens drei Stunden erspart bleiben.
»Wollte nur das hier nach Hause bringen, bevor es einer im Betrieb sieht.« Kilian hielt ein Päckchen Jacobs Krönung in die Höhe.
»Wo hast du das denn her?« erkundigte sich Marlene verblüfft. Kilian war weder der Typ noch in der Position für solche Geschenke.
»Vom Herrn Kunz. Der hatte sich krank gemeldet. Hat was mit dem Knie. Und wir brauchten heute die Pläne für das neue Projekt