Verfluchtes Seelenbuch - Rika Mohn - E-Book

Verfluchtes Seelenbuch E-Book

Rika Mohn

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Beschreibung

Eigentlich will Zauberer Usi die Tochter des Pharaos zwingen, ihn zu heiraten. Doch seine Magie versagt und seine Seele ist in denselben Papyrusseiten gefangen wie die der Prinzessin. Mit zunächst Wut, dann Verzweiflung und zum Schluss eiskalter Kalkulation versucht er über Jahrtausende, den Zauber umzukehren. Und stößt dabei an ungeahnte Grenzen: Die Mühlsteine moderner Burokratie und die Emanzipation heutiger Frauen.

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Verfluchtes Seelenbuch

Rika Mohn

Informationen zum Buch: 

Die Personen sind frei erfunden (oder schon lange verstorben), genauso wie die ganze Geschichte. Es ist eine reine Fantasy-Geschichte. Es gibt darin ein paar Schimpfworte und auch Beleidigungen. Nichts anderes, was der normale Mensch hin und wieder in bestimmten Situationen selbst nutzt.

Rika Mohn

Machandel Verlag
Neustadtstr.7, 49740 Haselünne

Cover und Illustrationen: Elena Münscher unter Gebrauch von Midjourney.com Elementen

2023

Bücher sind ein Teil der Seele derer,

die sie geschrieben haben.

Inschrift über dem Eingang der Bibliothek Vogler

Nicht viele Menschen haben das Glück, 

ihren Seelenverwandten zu treffen.

Umso glücklicher bin ich, 

dass wir uns gefunden haben, liebe Erika.

Deine Freundschaft ist es, 

die mein Leben um vieles lebenswerter macht.

Dafür danke ich dir.

Prolog

14. Jahrhundert v. Chr. – in der Nähe von Edfu in Kemet (Altägypten)

Es ist Neumond, nur die Sterne der Milchstraße über der Wüste erhellen ein wenig die Umgebung. Zwischen den Bäumen der Oase sind die Zelte nur als kompakte Umrisse zu erkennen. Ein kleiner Schatten huscht zwischen ihnen hindurch, wird eins mit der Dunkelheit.

Endlich.

Der Zauberer Usi hat das gesuchte Zelt erreicht. Ein leises Rascheln ist zu hören, als er sich durch die Stoffbahnen hineinschiebt.

Der Innenraum des Zeltes ist nicht ganz dunkel. In einer kleinen Schale brennt ein Ölfeuer. Es knistert und zischt leise, als sich die Flammen durch den sanften Windzug, den er verursacht, leicht bewegen. Schnell beruhigen sie sich wieder, als nichts mehr ihr Dasein stört. Selbst die filigranen Vorhänge, die der Flügelschlag eines Schmetterlings in Bewegung setzen könnte, hängen wieder still herab. Bewegungslos lauscht er in die Stille. Erst jetzt wagt er es, wieder zu atmen. Dabei steigt ihm der Duft von Zimt und Nelken in die Nase und erinnert ihn an eine längst vergangene Zeit.

Wie sehr er den schweren Geruch der Duftöle und dem Nachtschlaf seiner verstorbenen Frau vermisste, wird ihm erst jetzt klar.

Er lauscht. Ein Lächeln umspielt seine schmalen Lippen, als er das leise Atmen der Schlafenden hört. Er muss sich anstrengen, es überhaupt wahrzunehmen, weil die Wachen vor dem Zelt zu laut schnarchen.

Seine Finger schließen sich fester um die alte Pergamentrolle in seiner linken Hand.

Langsam und äußerst vorsichtig bewegt er sich über die dicken Teppiche voran, stets darauf bedacht, das Licht der Feuerschalen nicht zu sehr zu beeinflussen. Dann steht er vor dem großen Bett, welches nur aus Kissen und Stoffen zu bestehen scheint. Doch seine Mitte birgt etwas Kostbares, und genau das beansprucht der Eindringling für sich.

Vorsichtig hebt er die Bahnen des Baldachins beiseite und schaut in das liebliche Gesicht von Prinzessin Mariton, siebte Tochter von Nofretete und Echnaton. Sie ist beinahe so schön wie ihre Mutter. Usi muss sich beherrschen, um nicht einen lauten Seufzer auszustoßen.

Noch einmal lauscht er, ob sich jemand dem Eingang des Zeltes nähert. Doch außer dem Schnarchen der Wachen dringt nichts zu ihm. Das Schlafpulver verrichtet seinen Dienst, wie auch bei der Prinzessin und der Sklavin zu ihren Füßen.

Vorsichtig entrollt er die Pergamentseiten und legt sie so zurecht, dass er jede einzelne Seite im Licht der Ölschalen lesen kann. Noch einmal schaut er sich das Gesicht der Prinzessin an, prägt sich jede Einzelheit ein.

Wie lange er diese Frau schon begehrt! Aber sie hatte sich gegen ihn entschieden. Ihr Vater und König folgte ihrem Wunsch und lehnte das Ersuchen des Zauberers ab.

Als ob du je eine andere Wahl gehabt hättest. Wir sind füreinander bestimmt – DU bist für mich bestimmt.

Aus einer der vielen verborgenen Taschen in seinem Gewand holt er ein kleines Gefäß hervor, das mit einer goldenen Kette verbunden ist. Geschmeidig gleiten die einzelnen Glieder lautlos durch seine Finger. Als das Ende der Kette erreicht ist und er den kleinen Haken zwischen den Fingern spürt, befestigt er die Kette unter dem Dach des Baldachins. Das Gefäß hängt nun direkt über dem Kopf der Prinzessin. Danach öffnet er einen kleinen Mechanismus, und hellblauer Rauch schlängelt sich daraus hervor.

Sein Blick ist jetzt vollkommen auf den Rauch fixiert. Er hebt beide Hände und murmelt leise vor sich hin. Die blauen Schlieren bewegen sich im Rhythmus seiner Worte auf das Gesicht der Prinzessin zu. Dann fließen die kleinen blauen Schwaden in ihre Nase und den Mund und verschwinden darin mit jedem Atemzug. Der Zauberer spricht so lange, bis von dem Rauch nichts mehr zu sehen ist.

Langsam lässt er die Hände sinken und greift zum ersten Blatt der Pergamentseiten. Dann beginnt er mit kehliger Stimme zu lesen. Die Zeichen auf dem Pergament scheinen aufzuleuchten. Ein kurzer Blick hin zu Mariton lässt seine Stimme vor Aufregung kurz zittern.

Wie zuvor aus dem Gefäß der blaue, dringt nun weißer Rauch aus Mund und Nase der Prinzessin. Dieser schlängelt sich in seine Richtung, umschmeichelt zuerst seine Handgelenke und dann die Finger, bevor er über das Pergament streicht, um darin zu versinken. Konzentriert liest Usi weiter, nimmt sich die nächste Pergamentseite vor. Die hellen Schwaden scheinen sich an seinen Bewegungen nicht zu stören. Sie berühren ihn fast, scheinen ihn liebkosen zu wollen. Das zweite Pergamentblatt ist nur zur Hälfte mit Zeichen und Symbolen bedeckt. Doch als der weiße Rauch darüber hinwegstreicht, erscheinen plötzlich neue Zeichen und füllen die Seite vollständig aus. Noch fünfmal wiederholt sich das Ganze. Als er die siebte und letzte Seite zu Ende gelesen hat, ist der weiße Rauch verschwunden. Er hat sich vollkommen in die Pergamentseiten zurückgezogen und sie neu beschrieben.

Zufrieden richtet Usi sich zu seiner vollen Größe auf. Die sieben Blätter hat er wieder zusammengerollt und hält sie mit beiden Händen fest an seine Brust gedrückt. Noch einmal schaut er in das Gesicht der schlafenden Prinzessin. Ein wenig Wehmut drückt sein Herz zusammen, wenn er daran denkt, wie sie am nächsten Morgen aufwachen wird. Doch es muss sein, wenn sie ganz ihm gehören soll.

Am nächsten Morgen lauscht Usi den Rufen, die über die kleine Oase wehen.

„Prinzessin ... Prinzessin ...? Wollt Ihr nicht den neuen Tag begrüßen? Ihr verschlaft noch die Ankunft der Karawane.“ Khepri, die Lieblingssklavin der Prinzessin, versuchte scheinbar ihre Herrin wach zu bekommen.

Während eine hektische Betriebsamkeit die Oase erfüllt, sitzt Usi gelassen zwischen den Kissen und genießt seinen Tee. Er ist sich sicher, dass er bald schon gerufen wird. So war es bisher immer, sobald die Menschen nicht mehr weiterwussten.

Schon bald sieht er eine der Sklavinnen in seine Richtung laufen. Respektvoll verneigt sie sich vor ihm, und wartet darauf, dass sie sprechen darf. Mit einer Handbewegung gibt er ihr die Erlaubnis.

„Großer Usi, Schreckliches ist geschehen. Die Nacht hat sich über die Prinzessin gelegt. Ihr werdet gebeten, Eure Künste zu wirken und die Prinzessin zu heilen. Es soll auch Euer Schaden nicht sein.“

„Ich diene Aton und den Göttern, die an seiner Seite sind. Wenn es sein Wille ist, werde ich der Prinzessin helfen.“ Mit der rechten Hand wedelt er herum, als wolle er etwas Lästiges davonwischen.

„Ich danke Euch.“ Tief verneigt sich die Sklavin vor ihm. Er sieht die Erleichterung und die Angst in ihrem Blick, bevor sie sich umdreht und in Richtung Hauptzelt verschwindet. Zufrieden trinkt er seinen Tee aus, und erhebt sich mit einer fließenden Bewegung.

Kurze Zeit später steht Usi wieder vor dem Bett der Prinzessin. Wie von ihm gewünscht, ist das Weiß der Augäpfel völlig verschwunden. Er sieht nur das Schwarz in ihren Augenhöhlen. Selbst jetzt, mit dieser Absonderlichkeit, hat die Prinzessin nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Bewegungslos wie eine Puppe sitzt sie in ihrem Bett.

Er hat alle Sklaven und Wächter hinausgeschickt. Bis auf Khepri, für die er eine eigene Verwendung hat. Die Sklavin zittert vor Angst, wie fast jeder, der mit dem alten Zauberer zu tun bekommt. Deswegen lässt sie Usi nicht aus den Augen und beobachtet jede seiner Bewegungen, wie er mit einem Seitenblick feststellt.

„Komm her!“, befiehlt er. Zitternd folgt Khepri der Anweisung. Er bedeutet ihr, sich neben das Bett zu knien. „Beweg dich nicht, egal, was geschieht. Deiner Herrin wurde die Seele genommen und ich werde sie mit deiner Hilfe wieder zurückholen.“ So wie sie ihn ansieht, versteht Khepri kein Wort von dem, was der Zauberer sagt. Aber sie ist eine Sklavin und würde vermutlich alles tun, um ihrer Herrin zu helfen. Also nickt sie.

Unter seiner Kleidung holt Usi verschiedene Utensilien hervor und legt jedes Einzelne sorgsam vor der Prinzessin aufs Bett. Tiegel und Töpfchen, Papyrusrollen und getrocknete Pflanzen. Mithilfe eines dünnen Hölzchens nimmt er Feuer aus der nächststehenden Schale und zündet den Inhalt verschiedener Tiegel damit an. Sofort steigen aromatische Dämpfe auf. Rauch bildet sich, der sich im ganzen Zelt verteilt.

Tief atmet Usi ein, und ein großer Teil des Rauches verschwindet zwischen seinen Lippen. Als er ausatmet, fließt plötzlich gelblicher Rauch aus seinem Mund und formt sich zu einer Spirale, die sich über dem Bett dreht.

Bedächtig öffnet er die Papyrusrolle und beginnt zu lesen. Halb durchscheinend weiße Schwaden quellen aus den Seiten des Papyrus und verwirbeln mit den Dämpfen über dem Bett der Prinzessin. Usi hebt seine Stimme. Seine freie Hand bewegt sich, als ob sie den Rauch mischen würde. Der dreht sich immer schneller. Das untere Ende der Spirale bewegt sich plötzlich auf die Prinzessin zu und will in deren Mund verschwinden. Doch kurz bevor das passiert, macht Usi eine schnelle Handbewegung und die Spirale ändert ihren Weg. Jetzt fliegt sie auf die Sklavin zu, die mit schreckgeweiteten Augen noch immer neben dem Bett kniet. Gerade als der Rauch in ihren Mund dringen will, springt Khepri erschrocken auf.

Zwei Dinge geschehen gleichzeitig.

Khepri reißt die Decke mit sich, auf der Usi seine Utensilien gelagert hat. Die Gefäße stürzen allesamt um. Der brennende Inhalt eines Tiegels ergießt sich über die Papyrusseiten und setzt diese in Brand.

Die Spirale aus Rauch löst sich auf und sucht sich ihren Weg zurück in die brennenden Papyrusseiten.

Kreischend versucht der Zauberer wieder Herr über das Chaos zu werden. Es gelingt ihm nur mit Mühe, die Papyri vor dem gierigen Feuer zu retten. Ungeachtet der Flammen, die bereits über seine Kleidung lecken, rafft er zusammen, was er zu fassen bekommt und stolpert hinaus. Dass er dabei die leichten Stoffe des Zeltes in Brand setzt, ist ihm in dem Moment nicht bewusst.

Während drinnen Khepri erfolglos versucht, das Feuer zu löschen, um die Prinzessin zu retten, rennt ein Pulk von Menschen vor dem Zelt panisch hin und her. Die Flammen sind jedoch zu heiß, niemand wagt sich in das Zelt hinein. Und diejenigen, die es doch versuchen, werden Opfer der brennenden Stoffbahnen. So wie Khepri, deren kreischende Stimme von ihrer Todesangst zeigt, bis sie verstummt. Einige Menschen versuchen mit Krügen voller Wasser ein Übergreifen des Feuers auf die anderen Zelte zu verhindern. Niemand achtet dabei auf den alten Zauberer, der sich in den Sand geworfen hat, um die Flammen an seiner Kleidung zu löschen.

Kapitel 1

Deutschland – heute

Es sollte ein schöner Tag werden. Die Sorte Tag, die Alexa Fischer immer in beste Laune versetzte. Seit dem frühen Morgen arbeitete sie schon in ihrem Blumengeschäft, um die Bestellungen des Tages rechtzeitig fertigzustellen. Sie liebte ihren Beruf. Nicht nur die Arbeit mit den Pflanzen, auch dass sie ihre Kreativität ausleben konnte. Als Erstes kümmerte sie sich heute um eine größere Bestellung, die für eine Hochzeit gedacht war. Sie hatte nur wenig geschlafen, so sehr freute sie sich darauf, ihre Ideen dafür umsetzen zu können. Gegen elf Uhr sollte alles abgeholt werden. Den Anstecker für den Bräutigam und seinen Trauzeugen hatte sie bereits fertig und auch die Handsträuße standen im Wasser. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch zwei Stunden Zeit hatte.

Die Türglocke ertönte. Alexa schaute durch das großzügige Fenster, das den Arbeitsbereich vom Verkaufsraum trennte. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie ihre beste Freundin entdeckte. Cora war nicht nur ihre Freundin, sondern auch ihre schärfste Kritikerin. Sie hatte das geübte Auge einer Malerin. Wann immer sie eine Disharmonie in Farbe oder Form erkannte, rupfte sie schnell einen Strauß wieder auseinander, den Alexa gebunden hatte. Außerdem war Cora eine zuverlässige Aushilfskraft für den Laden, wenn Alexa Verstärkung benötigte. So wie heute.

„Hi, Lexi!“ Cora legte ihre Tasche ab und gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. Dabei roch Alexa das herbe Parfüm, welches sie an ihrer Freundin so mochte.

„Schön, dass du da bist, Cora. Kannst du gleich vorn anfangen und die alten Blumen aussortieren? Und danach brauch ich dich hier, für den Tischschmuck.“

„Klar, mach ich. Wow, die Handsträuße sind toll. Da bin ich auf den Brautstrauß gespannt. Hast du Vorgaben oder freie Hand?“

„Ich habe freie Hand, was die Blumenwahl angeht. Die Farben wurden allerdings festgelegt, Beige und Lila.“

„Oh, da kannst du dich ja so richtig austoben.“

„Ja, stimmt. Schau mal, ich habe eine Zeichnung gemacht. Wie findest du meine Idee?“ Alexa nahm ein Blatt Papier vom Sideboard und gab es ihrer Freundin. Dabei beobachtete sie genau, wie Cora reagierte. Schließlich war sie diejenige von ihnen, die mit ihrer Malerei und Kinderbuchzeichnungen ihr Geld verdiente. Über Coras Gesicht zog ein ehrliches Lächeln, was Alexa innerlich aufatmen ließ.

„Wenn du den Strauß so hinbekommst, hast du dich einmal mehr übertroffen.“

„Vielen Dank. Es hat auch Riesenspaß gemacht, ihn zu zeichnen. Jetzt muss ich den nur noch so gebunden bekommen.“

„Das wirst du, da bin ich sicher. Ich geh nach vorn, damit du weitermachen kannst.“ Kaum war sie im Verkaufsbereich angelangt, blieb sie nicht lange alleine. Die erste Kundin betrat das Geschäft. Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Cora hatte den Tischschmuck fertiggestellt, während Alexa den Brautstrauß gebunden hatte. Anschließend waren beide vom Resultat ihrer Arbeit begeistert. Alexa war gerade mit den Aufnahmen der Sträuße und des blumigen Zubehörs für ihr Fotobuch fertig, als der Trauzeuge mit der Mutter des Bräutigams den Laden betrat.

Die Begeisterung der beiden über den Brautstrauß war überwältigend, und das Trinkgeld für das gesamte Arrangement fiel entsprechend großzügig aus. Kurzentschlossen lud Alexa ihre Freundin zum Mittagessen ein.

Am Nachmittag war Alexa wieder allein in ihrem Geschäft. Als der Ladenschluss nahte, schaute sie unwillkürlich immer wieder zur Eingangstür. Um diese Zeit betrat meist einer ihrer Stammkunden das Geschäft. Als sie ihn durch die Schaufensterscheibe über die Straße kommen sah, kam sie sofort hinter dem Verkaufstresen hervor und ging ihm ein paar Schritte entgegen.

„Guten Tag, Herr Vogler! Schön, Sie zu sehen.“

„Ihnen auch einen schönen guten Tag, Frau Fischer!“

„Ich habe heute ein paar besonders hübsche Sträuße fertig. Wenn Sie schauen wollen?“

„Ach, Frau Fischer, Ihre Sträuße sind doch immer sehr hübsch, nicht nur heute.“

„Vielen Dank. Ich durfte heute eine Hochzeit ausstatten und habe von den bestellten Sträußen einige Ideen übernommen. Vielleicht gefällt Ihnen etwas davon.“

Alexa ging wieder hinter den Tresen und überließ ihren Kunden sich selbst. Sie wusste, dass er jetzt seine Ruhe haben wollte. Er kam jeden Freitag, fast immer um die gleiche Zeit, und kaufte meistens einen der kleineren Sträuße. Und das bereits seit einigen Wochen. Einmal hatte sie ihn gefragt, für wen er die Blumen kaufte, doch er hatte sie nur traurig mit seinen dunklen Augen angesehen und nicht darauf geantwortet. Sie respektierte sein Schweigen und fragte nicht weiter.

Während sie sich die Bestellungen für den nächsten Tag in ihrem Notizbuch durchlas, beobachtete sie ihren Kunden. Wie immer, wenn er so in Gedanken versunken die Blumen anschaute, hatte sein Gesicht etwas Melancholisches. Zart strichen seine Fingerspitzen über einzelne Blüten, als würde er sie liebkosen. Seine hohe, schlanke Gestalt wirkte in den dunklen Farben, die er trug, noch schmaler.

Viel wusste Alexa nicht über ihren Kunden. Gerade einmal seinen Namen, dass er gut roch und dass er nicht viel sprach. Immer nur das Nötigste und die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Irgendwie reizte Alexa gerade das. Sie kommunizierte gern und viel. Eine ihrer Schwächen, das wusste sie. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Verlobter zog sie damit gern auf, wenn sie wieder einmal etwas erzählte und sie dabei seiner Meinung nach das Luftholen vergaß.

Als er sich für einen Strauß entschieden hatte, freute sie sich über seine Wahl. Der Strauß ähnelte denen, die sie als Tischstrauß für die Hochzeit gefertigt hatte. Nur, dass diesem hier die opulente Schleife fehlte und er ein wenig anders gebunden war.

„Ein sehr schöner Strauß. Der ist tatsächlich etwas ganz Besonderes“, lobte Herr Vogler.

„Ich danke Ihnen.“ Alexas Augen strahlten, wie immer, wenn jemand ihre Arbeit würdigte und die Schönheit sah, die in jeder einzelnen Blume steckte. „Darf ich Ihnen den einpacken?“ Sie streckte die Hand aus und bekam den Strauß vorsichtig hineingelegt. Während sie ihn einwickelte, blieb ihrem Kunden Zeit, sich auf ihrem Ladentisch umzuschauen. Behutsam zog er ein abgegriffenes Buch, das Alexa zuvor achtlos beiseite geschoben hatte, unter einem Stapel von Zeitungspapier hervor.

„Ägyptische Kunst – ein Taschenbuch von Rainer und Rose-Marie Hagen“, las er den Titel und die Autoren laut vor. „Sie haben hier Zeit zum Lesen?“

Alexa schaute ihn zuerst erstaunt an und entdeckte dann das Buch in seinen Händen.

„Um Himmels willen, nein!“ Sie lachte laut auf. Dann nahm sie das Buch aus seiner Hand und warf es achtlos hinter sich auf eine Ablage. „Das gehört meiner Freundin, die mir ab und zu im Laden hilft. Keine Ahnung, warum sie das dahin gelegt hat. Ich mag so alte Bücher nicht. Etwas in den Händen zu halten, in das fremde Menschen reingeniest, gehustet oder wer weiß was noch getan haben. Brrrr ... fürchterliche Vorstellung.“

Erst als Alexa die Reaktion im Gesicht ihres Gegenübers erkannte, schwieg sie. Sein Blick war plötzlich abweisend. Ohne ein weiteres Wort bezahlte Herr Vogler den Strauß und verließ grußlos ihr Geschäft.

Betroffen schaute Alexa hinter ihm her. Das hatte sie nicht gewollt. Wieso reagierte er derart? Nur weil sie wegen des ollen Buches etwas gesagt hatte? Vielleicht war er auch so ein Kunstliebhaber wie ihre Freundin?

„Ganz toll, Frau Fischer! Ja, das haben Sie wieder prima hinbekommen“, schimpfte sie mit sich selbst.

Abends zu Hause hatte Alexa den Vorfall noch immer nicht verdaut. Sie hockte in ihrem Sessel, die Knie angezogen, und malträtierte ihre Innenwange mit den Zähnen. Als Stefan sie darauf hinwies und fragte, was los sei, erzählte sie ihm, was vorgefallen war. Ihr Verlobter rügte sie zwar nicht direkt, aber seine Reaktion sprach Bände.

„Liebes, sich hinterher Vorwürfe zu machen, macht es auch nicht wieder gut. Sei das nächste Mal einfach etwas vorsichtiger, wem du etwas sagst.“

„Und was ist, wenn er nicht wiederkommt?“

„Tja, dann hast du wohl einen Kunden weniger.“

„Danke“, brummte Alexa. „Es ist ja nicht so, dass er mir den Wahnsinnsumsatz gebracht hätte. Ich finde ihn einfach nur ... irgendwie interessant. Und ich hätte gern irgendwann erfahren, für wen er jeden Freitag die Blumen kauft.“

„Ah, ja ... du findest ihn also interessant. Das finde ich nun wieder interessant.“

„So meine ich das nicht, und das weißt du.“

„Weiß ich das? Ich denke, mein Schatz, wir haben genug über einen anderen Mann gesprochen. Lass uns stattdessen überlegen, was wir heute Abend noch tun wollen.“ Stefans Stimme war bei seinen letzten Worten etwas tiefer geworden. Über Alexas Körper zog sofort eine wohlige Gänsehaut und ließ sie ihre trüben Gedanken vergessen.

So schnell wie das Wochenende mit Stefan vorbei war, so schnell verflog auch die folgende Woche.

Alexa hatte viel zu tun. Sie genoss es, wenn sie nach Hause kam und Stefan schon vor ihr da war. Dann wartete jedes Mal ein Abendessen auf sie. Stefan kochte für sein Leben gern und nutzte jede Gelegenheit, sie mit seinem Können zu verwöhnen. Als Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma war er jedoch oft an Wochenenden oder abends unterwegs. Sie nannte ihn deshalb oft „meinen Bodyguard“, auch wenn er diesen Begriff nicht gern hörte. Es machte ihr Spaß, ihn damit zu necken. Seine Arbeitszeiten waren die Schattenseite des Berufs. Er musste oft für Tage weg, meist an den Wochenenden. So war sie häufig allein. Auch das bevorstehende Wochenende musste sie wieder auf ihn verzichten.

Kurz nachdem sie den Laden abgeschlossen hatte, klingelte Alexas Handy, ihre Freundin war dran.

„Hey, Lexi. Lange nichts voneinander gehört.“

„Stimmt, gestern erst“, stimmte Alexa erheitert zu.

„Ich wollte nur fragen, ob es bei unserem Wochenende bleibt? Oder ist Stefan zu Hause?“

„Nein, er muss arbeiten.“

„Prima! Dann rein ins Mädelswochenende! Wie wäre es mit Shoppen, Filme gucken, Musik, Quatschen, Eis und anderem ungesunden Zeugs?“

„Super! Das hatten wir echt lange nicht mehr. Wann bist du morgen da?“

„Nicht vorm Aufstehen. Um ein Uhr bei dir?“

„Perfekt! Ich mach den Laden pünktlich zu. Bis morgen, ich freue mich.“

Alexa freute sich tatsächlich. Sie brauchte dringend ein wenig Ablenkung. Wie sie es befürchtet hatte, war Herr Vogler heute nicht da gewesen. Das beschäftigte sie mehr, als sie gedacht hatte. Doch nach Coras Anruf ging es ihr bereits um Längen besser.

Es wurde ein schönes Wochenende für die beiden Freundinnen.

Cora hatte Alexa vom Geschäft abgeholt. Danach waren sie ausgiebig Shoppen, mit kleinen Pausen, in denen sie sich mit allerlei Leckereien verwöhnten. Kaputt aber glücklich lagen beide abends auf dem Sofa und schauten einen Film. Dabei gönnten sie sich mehr als eine Flasche des süßen Weines, den beide so liebten.

Den Sonntagsbrunch zogen sie ausgiebig in die Länge.

Als Cora dabei Alexa auf das Buch ansprach, welches sie vor einer Woche im Laden vergessen hatte, fiel Alexa wieder die merkwürdige Reaktion des Herrn Vogler ein. Sie erzählte Cora davon. Die war zwar nicht darüber begeistert, wie Alexa mit ihrem Buch umgegangen war, doch sie maß dem Benehmen des Mannes nicht so viel Bedeutung zu, wie Alexa es tat.

Die folgende Woche verging und schnell war wieder Freitag. Obwohl sie es nicht wollte, musste Alexa wieder an Herrn Vogler denken. Zum Glück betrat jemand das Geschäft, über den sie sich besonders freute.

Mariella arbeitete als Ärztin in einem Krankenhaus in der Nähe. Sie kaufte schon viele Jahre bei Alexa ein und ließ sich immer ganz besondere Sträuße binden. Im Laufe der Jahre hatten sich die beiden angefreundet. Obwohl es in den meisten Fällen kein schöner Anlass war, wenn Mariella zu ihr ins Geschäft kam, genossen die beiden Frauen die kurze Zeit miteinander. Der Ärztin tat es offensichtlich ebenfalls gut, ein wenig ihrer Sorgen bei Alexa zu lassen, auch wenn sie nicht ins Detail ging. Denn meistens drehte es sich um todkranke Kinder, die die Ärztin in ihrer knapp bemessenen Freizeit ehrenamtlich betreute.

Dann war Alexa wieder allein. Als es auf achtzehn Uhr zuging, wanderten ihre Gedanken automatisch wieder zu Herrn Vogler. Er kam meistens um diese Zeit in ihr Geschäft. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie wünschte sich so sehr, dass er heute wie gewohnt ihr kleines Blumenparadies betrat.

Als sie den Laden abschloss, war ihre Enttäuschung noch größer als den Freitag zuvor. Alexa verstand sich selbst nicht. Wieso nahm sie sich das so zu Herzen?

Die Wohnung war leer, als sie zu Hause ankam. Stefan war schon wieder unterwegs. Als kleinen Trost hatte er ihr einen lieben Brief geschrieben und etwas vorgekocht.

Er würde erst am Sonntag zurückkommen. Manchmal verfluchte sie seinen Job als Sicherheitsmann. Vor allem, weil er den anscheinend so gut erledigte, dass er immer öfter von diversen Auftraggebern direkt angefordert wurde. Seinen Chef freute es natürlich, Stefan auch. Er verdiente gutes Geld dabei. Aber er fehlte ihr. Alexa war in Momenten wie diesen traurig, niemanden zum Reden und Kuscheln zu haben. Cora brauchte sie nicht anzurufen, die hatte Klassentreffen und war übers Wochenende ebenfalls nicht da.

Nachdem sie sich das Essen warmgemacht hatte, schnappte Alexa sich ihren Laptop und las als Erstes ihre Mails. Das meiste war Werbung, wie immer.

Sie surfte ein wenig im Internet. Doch auch das lenkte sie nicht ab. Immer wieder drifteten ihre Gedanken zu Richard Vogler. Kurz entschlossen googelte sie seinen Namen. Vielleicht hatte sie Glück und sie fand etwas über ihn.

Voglers gab es einige in Leipzig, das hatte sie sich schon gedacht. Richard Vogler schon nicht mehr so viele. Sie klickte auf die Bildersuche und hatte Glück. Schon auf der ersten Seite fand sie ihn. Sie blickte in das unverkennbare Gesicht mit den melancholischen Augen.

Als Alexa die Informationen über ihn las, wunderte sie sich nicht mehr, warum er so abweisend geschaut hatte. Richard Vogler war Bibliothekar. Das erklärte seine Reaktion nach ihren unschönen Worten wegen der alten Bücher.

Alexa suchte weiter und fand eine Seite, die sich mit der Bibliothek Vogler und deren Geschichte beschäftigte.

Sie rief die Seite auf und las aufmerksam den Bericht. So erfuhr sie, dass die Bibliothek Vogler bereits in fünfter Generation von Richard geführt wurde. Sein Urahn, Heinrich Vogler, hatte sich Anfang des neunzehnten Jahrhunderts lange Zeit in Ägypten aufgehalten. Daher also auch das Interesse an Coras Buch. Der Traum dieses Urahns war es gewesen, Überreste der alten Bibliothek von Alexandria zu finden. Viele geheimnisvolle Bücher und alte Schriften hatte er zusammengetragen. Mit ihnen als Grundstock gründete er die Bibliothek Vogler.

Heinrichs Sohn und deren Söhne erweiterten die Bibliothek. Zwei von ihnen reisten ebenfalls viel und fanden einige alte Schriften und Artefakte, die dadurch von Ägypten nach Europa gelangten. Bis heute besuchten Gelehrte, Wissenschaftler, Studenten und Bücherfreunde die Bibliothek Vogler, die für ihre alten und auch wertvollen Schriften und Bücher berühmt war.

Alexa mochte zwar keine alten Bücher, aber die Geschichte der Familie beeindruckte sie. Es gab ein Bild vom Eingang der Bibliothek. Sie vergrößerte das Bild, um mehr zu erkennen. Ein Spruch schien über der Tür eingraviert. Noch einmal vergrößerte sie das Bild. Es wurde zwar unscharf, aber sie konnte den Satz lesen.

Bücher sind ein Teil der Seele derer, die sie geschrieben haben.

Alexa lief es plötzlich kalt den Rücken hinunter.

Das Haus, in dem die Bibliothek untergebracht war, stand im Waldstraßenviertel. Beeindruckt stieß sie einen leisen Pfiff aus. Das Waldstraßenviertel war früher als Nobelviertel bekannt. Wer dort Eigentum besaß, gehörte nicht zu den Ärmsten der Stadt.

Kapitel 2

Am Samstagmittag nach Geschäftsschluss machte sich Alexa auf den Weg zur Bibliothek Vogler. Laut Internet war sie bis sechzehn Uhr geöffnet. Genug Zeit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Nur ungern erinnerte sie sich an ihren ersten und letzten Besuch in einer Bibliothek. Damals hatte sie noch die Schule besucht, siebte oder achte Klasse. Ihre Deutschlehrerin dachte, mit der gesamten Klasse einen Ausflug in die Zentralbücherei zu machen, sei eine gute Idee. Einen langweiligeren Tag hatte Alexa selten erlebt.

Und der Geruch, der dort geherrscht hatte, war auch nicht dazu angetan gewesen, positive Erinnerungen in ihr zu wecken. Es roch nicht nach Papier oder Druckertinte, wie sie damals angenommen hatte, wie es in einer Bibliothek zu riechen hatte, sondern es stank nach Kantinenessen und alter, verbrauchter Luft.

Die Leute, die dort vertieft über irgendwelchen alten Schinken hingen, warfen der Schulklasse vorwiegend böse Blicke zu, obwohl sich alle still verhielten. Sogar die Jungs, die eher durch ihr schlechtes Verhalten als durch ihre Intelligenz auffielen, benahmen sich. Das brachte ihnen anschließend sogar ein Lob der Lehrerin ein. Als sie dann noch mit ansehen musste, wie jemand zuerst in ein Buch nieste, dann seine Nase mit der Hand abwischte, und danach wieder das Buch anfasste, empfand sie nur noch großen Ekel. Der Ort hatte sich in Alexa für den Rest ihres Lebens als etwas Negatives in ihre Erinnerung eingebrannt.

Kurz nach zwölf wartete Alexa bereits an der Straßenbahnhaltestelle. Die Tram kam bald. Die Fahrt war nur kurz, denn sie musste nur ein paar Haltestellen fahren.

Wenig später stand sie vor dem alten Haus. Es war viel imposanter, als es auf dem Bild im Internet gewirkt hatte. Langsam ging sie darauf zu. Betrachtete aufmerksam die Fassade mit dem Stuck, schaute sich die hohen Fenster an, und war beeindruckt. Etwas forscher betrat Alexa dann die große Treppe, die zu der zweiflügligen Eingangstür führte. Als sie den Kopf hob, konnte sie die Inschrift erkennen, die sie auch schon im Netz gelesen hatte.

Bücher sind ein Teil der Seele derer, die sie geschrieben haben.

Hatte sie schon zu Hause eine Gänsehaut bekommen, so wirkte der Spruch jetzt noch heftiger auf sie. Alexa spürte regelrecht, wie sich ein Schauer von den Waden nach oben schob, ihren Rücken und die Arme erreichte und auch ihr Gesicht nicht ausließ. Kurz schüttelte es sie.

Die große Tür öffnete sich, und zwei junge Mädchen kamen selig lächelnd heraus. Sie hielten beide jeweils ein Buch an ihre Brust gedrückt. Freundlich grüßten sie Alexa, bevor sie an ihr vorbei die Treppe hinuntereilten.

Noch einmal holte Alexa tief Luft, dann stieg sie die letzte Stufe hoch und stemmte sich gegen die schwere Tür.

Eine andere Welt empfing sie, kaum dass sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Ihre Augen benötigten einen Moment, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Doch was sie dann zu sehen bekam, verschlug ihr fast den Atem.

Diese Bibliothek hatte mit der, die sie in ihrer Schulzeit besucht hatte, nicht viel gemeinsam.

Hier roch es auch. Aber nicht unangenehm, wie Alexa sofort feststellte. Im Gegenteil. Tief atmete sie ein und schloss dabei ihre Augen. Dass sie noch immer vor dem Eingang stand und andere Besucher am Hereinkommen oder Hinausgehen behindern könnte, war ihr in diesem Moment nicht bewusst. Sie gab sich ganz dem Duft hin, der ihre Nase umschmeichelte.

Es roch nach Holz, Politur, Druckerschwärze und noch etwas, das sie nicht benennen konnte. Es war zu vielfältig, um es genauer bestimmen zu können. Sie glaubte, Zimt oder Sandelholz zu riechen, vielleicht auch etwas Vanille, die Mischung gefiel ihr auf jeden Fall sehr. Ein Räuspern ließ sie erschrocken die Augen öffnen. Vor ihr stand ein junger Mann und lächelte sie an.

„Zum ersten Mal hier?“

Alexa konnte nur nicken und lächelte verlegen.

„Macht nichts. Das ergeht jedem so, der noch nie bei den Voglers war. Dann viel Spaß noch.“ Der junge Mann nickte ihr noch einmal zu. Lächelnd schob er sich an ihr vorbei. Mit wenigen Schritten ging sie ein Stück von der Tür weg und stellte sich so, dass sie niemandem mehr im Weg stand. Staunend schaute sie sich um.

Ihr Blick wanderte nach oben. Als sie das Deckenbild über ihrem Kopf sah, war sie begeistert. Ein gigantisches Blumenornament wurde von vier verschiedenen Seiten so angeleuchtet, dass der Betrachter einer optischen Illusion verfiel und tiefe Schatten zwischen den plastisch scheinenden bunten Blüten zu erkennen glaubte. Nach einigen Minuten löste sie ihren Blick und ließ ihn weiter nach unten wandern. Dort entdeckte sie das Geländer einer Galerie, die das obere Stockwerk der Bibliothek gut zur Geltung brachte.

Große Regale gefüllt mit unzähligen Büchern standen in gleichen Abständen zueinander. Alexa drehte sich im Kreis, um der Galerie mit ihren Blicken zu folgen. Sie war beeindruckt. Die Galerie verlief tatsächlich einmal rundherum und wurde nur von einer Holztreppe unterbrochen.

Im unteren Bereich dienten ebenfalls große Bücherregale als Raumteiler, allerdings nur in zwei Dritteln des Raumes. Dazwischen standen in unregelmäßigen Abständen kleine Tische mit Stühlen. Sie entdeckte auch zwei kleine Sofas, auf denen es sich junge Leute bequem gemacht hatten. Sie musste lächeln, als sie sah, wie vertieft die in ihre Bücher waren.

Langsam ließ sie ihren Blick weiterwandern. Ihr Blick blieb an der rechten Seite an einem großen Tisch aus Holz hängen. Er sah sehr alt aus. Darauf stand eine sehr schöne, ebenfalls alte Lampe, die ihr Licht auf einen Laptop warf. Der passte so gar nicht zu dem Tisch, eigentlich auch nicht zu dem ganzen Raum. Ein paar Bücher und ein Notizblock waren alles, was noch auf dem Tisch lag, der noch viel mehr hätte tragen können. Am Tischrand entdeckte sie ein kleines dreieckiges Schild. „Bücherausleihe und Rückgabe“ war in historisch anmutenden Buchstaben darauf zu lesen.

Hinter dem Schreibtisch stand ein hoher Stuhl, der allerdings leer war. Alexa fragte sich, ob dort Herr Vogler normalerweise saß, wenn er seine Kunden bediente. Im Moment war der Platz jedenfalls leer. Sie ließ ihren Blick weiter schweifen. Doch sie entdeckte ihn nicht, zumindest nicht hier unten. Auch dann nicht, nachdem sie jeden Gang zwischen den Regalen abgelaufen war.

Blieb ihr noch das Obergeschoss. Eine geschwungene Holztreppe führte hinauf. Das Holz war dunkel und der Handlauf fühlte sich warm und glatt an. Alexa entdeckte nicht das kleinste Stäubchen in der reichhaltigen Verzierung, die das Geländer so wertvoll aussehen ließ.

Dann stand sie oben, und wieder blieb sie stehen und konnte nur staunen.

Langsam wandte sie sich nach links. Die Regale hier waren nicht so hoch und wuchtig wie unten. Auch schienen hier die Bücher viel älter zu sein. In den Zwischenräumen stand jeweils ein kleiner Tisch mit einer Leselampe und einem kleinen gepolsterten Stuhl, der gemütlich aussah. Wie kleine Separees, in denen man ungestört sein konnte. Das gefiel Alexa. Hier war auch der Duft wieder präsenter, der sie beim Eintreten umfangen hatte. Ihrer Meinung nach mussten alte Bücher so riechen. Die Fenster waren hinter dunklen Vorhängen verborgen, die kaum Tageslicht hindurch ließen.

Alexa hatte sich die dunklen Ornamente des dicken Teppichs angeschaut und wollte gerade weitergehen, als plötzlich jemand um die Ecke bog und direkt vor ihr stehenblieb. Erschrocken holte sie Luft. Bevor sie sehen konnte, wer da so direkt vor ihr aufgetaucht war, hörte sie eine vertraute Stimme.

„Nanu? Welch seltene Blüte hat es denn in dieses alte Gemäuer geweht? Ich dachte, Sie mögen keine alten Bücher?“ Obwohl Richard Vogler sehr leise gesprochen hatte, brachte seine tiefe Stimme etwas in Alexa zum Klingen. Normalerweise hätte sie eine entsprechende Antwort für ihn gehabt, doch sie schaffte es kaum, auch nur einen normalen Ton herauszubringen. Stattdessen kam nur ein geflüstertes „Entschuldigung“ über ihre Lippen. Endlich schaffte Alexa es, ihren Kopf zu heben. Jetzt schaute sie ihm direkt in die dunklen Augen. Wieso ist mir nie aufgefallen, was für wunderschöne Augen dieser Mann hat?

Wie lange sie sich wortlos gegenüberstanden, hätte Alexa hinterher nicht zu sagen gewusst. Ihr war in dem Moment jegliches Zeitgefühl verloren gegangen.

„Schön, Sie bei mir begrüßen zu dürfen.“ Jetzt klang seine Stimme wieder ganz normal und Alexa atmete tief ein, als hätte sie die Luft angehalten. Sie reichte ihm die Hand, die er sofort ergriff. Die Wärme seiner Haut fühlte sich angenehm an, und hinterließ ein wohliges Gefühl in ihrem Inneren. Alexa musste sich konzentrieren, um die nächsten Worte ohne stottern auszusprechen.

„Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.“ Sie sah, wie er die rechte Augenbraue hob, was ihm einen leicht fragenden Ausdruck verlieh. „Na ja. Scheinbar habe ich Sie bei Ihrem letzten Besuch in meinem Geschäft mit meinen unbedachten Worten mehr verletzt als mir bewusst war.“ Alexa schaute ihm direkt ins Gesicht, um jede noch so kleine Regung darin zu erkennen. Doch außer seinem amüsierten Gesichtsausdruck bekam sie nichts zu sehen.

„Ich danke Ihnen. Dennoch nein, eigentlich haben sie mich nicht so verletzt, wie sie offensichtlich denken.“

Auch in seiner Stimme klang Belustigung mit. Das verunsicherte Alexa jetzt doch ein wenig.

„Ich hatte in den letzten zwei Wochen sehr viel zu tun und einfach keine Zeit mehr, Blumen zu kaufen.“

„Oh. Dann bin ich beruhigt.“ Das war sie tatsächlich, dennoch fühlte sich Alexa nicht besser. Seltsam.

„Ich kann Ihnen versichern, dass ich mir zu dem Thema alte Bücher und der Umgang damit, schon so einiges anhören musste. Da sind Ihre ehrlichen Worte wirklich harmlos gewesen. Ich kann Sie sogar zum Teil verstehen. Wenn ich sehe, wie manche Leute mit den Büchern umgehen, möchte ich denen am liebsten keine mehr in die Hand geben. Aber das wäre ungeschickt, denn schließlich lebe ich davon.“

Während Herr Vogler immer weiter erzählte, konnte sich Alexa nur noch wundern. Bekam er in ihrem Geschäft kaum ein Wort heraus, schien er hier, in seiner eigenen kleinen Welt, geradezu in Plauderlaune zu sein.

„Ich bin ja so etwas von unhöflich. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?“

Automatisch wollte sie auf ihre Uhr schauen, doch Herr Vogler legte seine warme Hand über ihre und drückte diese leicht. „Nicht. Das brauchen Sie hier nicht. In meiner Bibliothek dürfen Sie sich so lange aufhalten, wie Sie möchten.“

„Machen das alle hier so?“

„Nein, natürlich nicht. Nur meine ganz besonderen Gäste.“

„Oh, danke. Aber ich fürchte, ich muss nach Hause.“ Tatsächlich hatte sie plötzlich das Gefühl, auf der Stelle gehen zu müssen. Etwas in ihrem Inneren drängte sie, zwar nicht direkt davonzulaufen, aber auf Abstand zu gehen.

„Schade. Darf ich hoffen, dass ich Sie demnächst wieder einmal bei mir begrüßen darf? Vielleicht finden Sie ja doch noch Freude an den alten Büchern.“

„Ja, vielleicht. Aber ich verspreche nichts.“

„Nein, natürlich nicht. Dann auf Wiedersehen.“

Herr Vogler hielt Alexa seine Hand hin, die sie ergriff und eigentlich gleich wieder loslassen wollte. Doch er hatte etwas dagegen. Er hielt nicht nur ihre Hand fest, sondern auch ihren Blick mit dem Seinen gefangen. Wieder schien die Zeit unbedeutend zu werden. Ein Lächeln überzog sein Gesicht und gleichzeitig ließ er Alexas Hand wieder los. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und ging nachdenklich die Treppe hinunter. Was, zum Teufel, macht der Kerl mit mir? Das muss an der Luft hier drinnen liegen.