Verführung - Der Geiger David Garrett öffnet die klassische Musik - Maria L. Schöner - E-Book

Verführung - Der Geiger David Garrett öffnet die klassische Musik E-Book

Maria L. Schöner

2,1

Beschreibung

Klassik in der Krise? Für den Geiger David Garrett gilt das nicht. Ausverkaufte Konzerthallen, ein Sturm auf die Klassikcharts und eine riesige Fangemeinde zeugen vom Erfolg seines Engagements für den Erhalt der klassischen Violinmusik. Was ist sein Geheimnis? Er hat ein Konzept. Diesem Konzept nachzuspüren ist spannend und aufregend.

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Inhalt

Der Geiger David Garrett öffnet die klassische Musik

The Stuff Of Legend

Verführung mit Bach und Beethoven

Der Weltspitze-Violinist: ein Popstar

Die Geige: Magie und Erotik

Der klassische Verführer

Auch Erfolg verführt

Die Geige singt wie eine Menschenstimme

Verwurzelungen

Moskauer Träume

Klassische Romantik

Garrett vs. Paganini

Kreisleriaden

Liebeserklärungen mit der Geige

Das Vermächtnis: Ludwig van Beethoven Konzert für Violine und Orchester, D-Dur, op. 61

Zeitlose Schönheiten: »Timeless«

Zeitlose Schönheit I: Max Bruch Konzert für Violine und Orchester Nr. 1, G-Moll, op. 26

Zeitlose Schönheit II: Johannes Brahms Konzert für Violine und Orchester, D-Dur, op. 77

Barock-Barock vs. Rock-Barock Vivaldi vs. Vertigo

Dieser Geiger traut sich was!

Kammermusik für alle

Repertoire (Auszug)

Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen

Windmühlen

Chinesisches Sprichwort

Der Geiger David Garrett öffnet die klassische Musik

D er Geiger David Garrett verführt seit Jahren mit seiner Violine mehr Menschen zu klassischer Violinmusik als jeder andere Geiger. Um die Verführung erfolgreich zu machen, setzt er alles ein, was ihm zur Verfügung steht: sein spielerisches Können, seinen Sexappeal und seine altersmäßige Zugehörigkeit zu den Jungen, mit dem Ergebnis, dass seine Konzerte regelmäßig ausverkauft sind.

Der Erfolg belegt, dass er einen unschätzbaren Beitrag zur Öffnung dieser Musik für ein breites, vor allem junges Nachwuchspublikum leistet. Dass diese Öffnung dringend nötig ist, zeigt die Bestandsaufnahme des Zustandes der klassischen Musik1. Denn die Bilanz fällt trotz vielfacher Anstrengungen negativ aus. Als Hauptursache für die Krise dieser Musik wird das Altern des Traditionspublikums angesehen, für das kaum ein junges Publikum nachwächst. Diese Entwicklung bereitet den Betroffenen des klassischen Musikbetriebes zunehmend Sorge. Sie suchen deshalb nach Wegen, die klassische Musik für ein junges Publikum zu öffnen.

Die Kernfrage ist, warum es dem Geiger Garrett entgegen dem Trend gelingt, für klassische Violinmusik ein neues, Klassik ungeübtes, vor allem junges Publikum zu gewinnen. Er hat einen eigenen Weg eingeschlagen. Sein Werdegang unterscheidet sich deutlich von dem seiner nationalen und internationalen Kollegen. Zwar durchlief auch er eine klassische Geigenausbildung mit hochkarätigen Geigenlehrern und wurde als Wunderkind bezeichnet. Danach verschrieb er sich aber nicht der Traditionskarriere, sondern ging seinen eigenen Weg.

Fasziniert von den Technologiespielzeugen der Jungen überlegte er, wie er auf Geige und Smartphone gleichzeitig spielen könnte. Seine Idee des Crossover war geboren. Ludwig van Beethovens The 5th und Johann Sebastian Bachs Toccata auf dem iPod und dem Smartphone – das war’s! Er wurde der Rockgeiger, der die Arenen der Welt mit Zuhörern und deren Smartphones mit rockiger Klassik füllt. Seine Ursprungsidee ging auf. Er hatte mit seiner rockenden Violine tatsächlich den Schlüssel für die Öffnung der klassischen Musik gefunden, denn sein neues Publikum folgte und folgt ihm auch in seine klassische Heimat. Der Blick in diese Heimat zeigt, dass ein Klassik demokratisiertes Publikum seine klassischen Violinkonzerte in den großen Konzertsälen stürmt und seine Klassik-CDs regelmäßig an die Spitze der Klassik-Charts setzt.

Garretts Methode, ein junges und neues Publikum für klassische Musik zu gewinnen, ist erfolgreich wie kaum eine andere. Im Laufe der Recherchen wurde es immer spannender, den Ursachen und Hintergründen dieses Erfolgs nachzuspüren. Das Ergebnis soll als eine Würdigung von Garretts Leistung für den lebendigen Erhalt der klassischen Musik vorgestellt werden.

1 Wolfgang Schreiber: Wunderwelt in der Krise, Süddeutsche Zeitung, 22. Januar 2015, Nr. 17, S. 14

The Stuff Of Legend

Den Geiger David Garrett hörte ich zum ersten Mal im Jahr 2011 im Rundfunk. Er spielte das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven. Weil mich sein Spiel an Menuhin erinnerte, blieb mir der Name David Garrett im Gedächtnis haften. Über den Geiger selbst wusste ich nichts.

Das änderte sich schlagartig. Ich saß mit einigen Freunden nach dem Finale der Beethoven Competition für Klavier in Bonn zusammen. Bei dem Gedanken, einen solchen Wettbewerb in der Beethovenstadt auch für die Violine zu verankern, erzählte ich von meinem musikalischen Hörerlebnis mit dem Geiger David Garrett. Die Reaktion glich einer Explosion der Ablehnung. Ich war verblüfft. Was geschah hier? Hatten die Leute keine Ohren? In diesem Moment erwachte eine gewaltige Widerspruchslust in mir. Vor allem aber wurde ich neugierig darauf, wer dieser Geiger war und warum Menschen so leidenschaftlich auf ihn reagierten. Ich begab mich auf Spurensuche.

War ich in den Bann der Violine geraten, als ich Beethovens Violinkonzert mit Garrett hörte, so geriet ich bei meinen Recherchen in den Bann seiner Person. Dieser Bann steigerte sich, als ich ihn live auf den Bühnen spielen sah. Es geht einem durch und durch, wenn er so greifbar nah vor einem steht, sagte eine Freundin im Opernhaus von Neapel, als wir vorne im Parkett wenige Meter entfernt das Violinkonzert von Max Bruch mit ihm hörten.

Mehr und mehr wurde mir klar, was die klassische Musikwelt bei diesem Geiger bewegt. Er fordert zum Widerspruch geradezu heraus, denn er ist ein außergewöhnlicher Geiger und ein ungewöhnlicher Mensch.

Er macht wahr, was andere sich nicht trauen. Er setzt seinen Sexappeal ein, um sein Ziel zu erreichen: möglichst viele Menschen in seine Konzerte zu locken und sie für klassische Geigenmusik zu gewinnen. Wie dereinst Paganini. Nicht teuflisch wie dieser, sondern erotisch. Versinnbildlicht auf dem Foto der Rückseite der CD Virtuoso: kniend mit weit ausgebreiteten Armen, triumphierend die Geige in der hoch erhobenen linken Hand, den Bogen in der hoch erhobenen Rechten, mit offenem Hemd und fliegenden Haaren, aber mit geschlossenen Augen und einem entrückt begeisterten Gesichtsausdruck, in schwarzem Jackett und schwarzen Hosen, die das weiße Hemd strahlend hell leuchten lassen.

Ein Sinnbild der Öffnung Ein Sinnbild der Verführung.

Die Wahrnehmungen von Garrett und die Reaktionen auf sein Violinspiel sind zahllos. Was Musik einem Menschen geben kann, Freude, Glück, Träume, aber auch Zielstrebigkeit, Ernsthaftigkeit, Rückschläge, Arbeit und Einsamkeit gibt er mit der Violinmusik an seine Zuhörer weiter. Sein kometenhafter Aufstieg zum weltweit bekannten Violinisten wurde als Phänomen wahrgenommen und enthusiastisch beschrieben. »David Garrett is already the stuff of legend – in him is enshrined an entire Corpus of virtuoso violin art, expounded with a fearsome beauty beyond comprehension« schrieb das BBC Music Magazine in seiner Ausgabe im Januar 20142. Mit dieser poetischen (an entire Corpus of virtuoso violin art), fast religiös-ehrfürchtigen (in him is enshrined) und staunend-bewundernden (a fearsome beauty beyond comprehension) Beschreibung versuchte das BBC Magazine, diesem Musikphänomen nahezukommen, denn Garrett wurde und wird tatsächlich von vielen als die Verkörperung einer »umfassenden virtuosen Violinkunst« wahrgenommen, die sich mit einer »erschreckenden Schönheit über das Begreifbare hinaus« ausdrückt. Mit 34 Jahren hatte er nicht nur den Stoff zur Legende, sondern er war bereits eine Legende. Bis heute »klingeln die Kassen, hagelt es Preise, jubeln Zehntausende«, wo immer er auftritt. Beide, der Crossover-Star und der klassische Geiger Garrett, üben eine große Anziehungskraft auf viele Menschen weltweit aus. Viele nehmen Geigenunterricht, und manche Ältere kramen sogar ihre alten Violinen hervor, um wieder Etüden zu üben.

In einer Zeit, in welcher der Zustand der klassischen Musik allgemein als kritisch gilt, sticht dieser Geiger hervor. Denn beim Blick in seine Violinkonzerte kommt man nicht auf die Idee, dass sich die Musik, die er spielt, in einer Krise befindet. Die großen Konzertsäle sind voll und ausverkauft, das Publikum aus einem Gemisch aller Alters- und sozialen Klassen steht Schlange. Das gilt für alle seine Konzerte, nicht nur für seine Crossover-Konzerte, sondern auch für seine klassischen einschließlich seiner kammermusikalischen Konzerte. Er demokratisiert klassische Musik und macht sie Klassik-Neulingen mit scheinbar leichter Hand zugänglich. Sein Ziel sind besonders die jungen Leute.

Die Konzerte Garretts sind im klassischen Musikbetrieb immer noch eine Ausnahme. Denn ein Blick in die Zuhörerreihen der »normalen« klassischen Konzerte lehrt viele klassische Musiker das Fürchten. Ihre Musik ergraut. Der Blick in Konzerthallen und Opernhäuser zeigt: Grau in Grau, mit weißen Einsprengseln und ein bisschen Farbe. Das Publikum klassischer Musikveranstaltungen ist grauhaarig. Vor dem inneren Zukunfts-Auge passieren die nächsten Stationen der Entwicklung: Die Grauflächigkeit weicht der Weißflächigkeit, die freigehaltenen Plätze für Rollstühle nehmen erst zu und dann wieder ab, dann breiten sich Lücken in den Sitzplatzreihen aus, zum Schluss blickt man ins Leere.

Diese Entwicklung bereitet den Betroffenen des klassischen Musikbetriebes zunehmend Sorge. Viele suchen deshalb nach Wegen, die klassische Musik für ein junges Publikum zu öffnen. Auch die Medien nehmen sich seit längerem verstärkt dieses Themas an und machen Reklame. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung legte am 15. November 2014 als Verlagsspezial Nr. 8 ihrer Samstagsausgabe ein Heft mit dem Titel bei: »Taktvoll. Das Magazin für Ereignisse und Klänge«. Gleich auf den Seiten 4 und 5 sieht man ein großes Foto mit jungen Musikern. Es wird folgendermaßen kommentiert: »Die Zukunft vor Augen: Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, dirigiert den philharmonischen Nachwuchs der Orchesterakademie.« Das Foto und dieser Kommentar zeigen einen Musikbetrieb, der sich in den Reihen der Orchestermusiker um jungen Nachwuchs sorgt. Die Alterfahrenen, in diesem Fall der Dirigent Simon Rattle, fungieren als Mentoren oder lenken sogar noch aus dem Jenseits ihre Rekrutierung wie Herbert von Karajan, nach dessen Qualitätsvorgaben die jungen Musiker in diese Kaderschmiede des klassischen Musikernachwuchses aufgenommen werden.

Der Kommentar verheißt den jungen Musikern und damit auch der klassischen Musik eine hoffnungsvolle Zukunft. Verheißungen jedoch gehören in den Bereich der Hoffnung, nicht in den der Realität. Ein realistischer Blick in die Zukunft geht in drei Richtungen: zu der Musik, zu den Musikern und zum Publikum. Sicher lebt klassische Musik von denen, die sie machen. Aber Musik zu machen ist kein Selbstzweck. Denn nach der Freude über den Erfolg, in diese Kaderschmiede der Exzellenz mit einer monatlichen Unterstützung von 950 Euro aufgenommen worden zu sein, kommt die Ernüchterung der Lebenswirklichkeit, also die Frage nach einer Anstellung und einem Einkommen, mit dem sich auch mit einer Familie überleben lässt. Das aber werden die jungen Musiker nur erhalten, wenn sie ein Publikum haben, vor dem sie ihre Kunst zeigen können.

Klassische Musik wird von vielen als Musik für die Ewigkeit empfunden, als zeitlos, ein Empfinden, wie es David Garrett in dem CD-Titel Timeless für die Violinkonzerte von Max Bruch und Johannes Brahms zum Ausdruck bringt. Ohne Zuhörer schrumpft diese Ewigkeit aber rasant, denn mit dem entschwindenden alten Publikum entschwindet auch die klassische Musik, selbst in hehren Musiktempeln wie der Berliner Philharmonie. Ohne Publikum wird sie in die Mülltonne gestoßen oder landet als Anlageobjekt in den Safes der Wohlhabenden, neben den anderen Kulturschätzen der Welt. Zurück bleiben all die hochqualifizierten Nachwuchs-Pianisten, Geiger, Sänger, Dirigenten und Orchestermusiker. Wohin mit ihnen ohne ein neues, junges Publikum? Betroffene des klassischen Musikbetriebes nehmen diese Frage zunehmend ernst. Immer mehr setzt sich die Einsicht durch, dass zur Nachwuchsförderung für klassische Musik nicht nur die Förderung junger Musiker, sondern auch die Förderung eines jungen Publikums gehört. Die Frage ist nur, wie man das bewerkstelligen kann. An der Musik liegt es nicht, denn die Schönheiten klassischer Musik erschließen sich auch den Jungen. Auch für sie gilt, dass schön ist, was wir sehen, schöner noch, was wir kennen, bei weitem am schönsten aber, was wir nicht begreifen.

Der Geiger Garrett blieb nicht zurück.

Er fand das Zauberwort des »Sesam öffne dich« aus Tausend und einer Nacht, er fand den Zauberschlüssel, um die Felsentore der klassischen Musik für ein neues und junges Publikum zu öffnen und es zu den Wundern ihrer verborgenen Schätze zu führen. Als junger Geiger hatte er eine Vision, wie dieser Zauberschlüssel aussehen könnte: Klassische Musik im Crossover-Gewand. Mit ihm sah er Musikhallen voller Menschen, drei Generationen in einem bunten Gemisch unter einem Dach. Mit Enthusiasmus, Begeisterung, Freude und Leben. Seine Vision ist lebendig geworden. Die Arenen und Konzertsäle der Welt werden von Besuchern bis auf den letzten Platz besetzt. Die Medien sind voll von Berichten und Kommentaren über den Geiger und den Menschen David Garrett. Seine klassischen Aufnahmen werden bis heute nicht nur »aus Versehen gehört«3, denn sie verkaufen sich hunderttausendfach.

2www.weigold-boehm.de/kuenstlerliste Januar 2014 bzw. BBCMusic-Magazin, Januar 2014

3www.LAUT.de Kritik, 6. Nov. 2010

Verführung mit Bach und Beethoven

Sein Ziel, einem breiten, vor allem jungen Publikum den Zugang zu klassischer Musik zu öffnen, brachte ihn zu der Einsicht, jungen Menschen entgegenzukommen. Nur so konnte er sie für Violinmusik gewinnen. Mit dieser Einsicht war und ist er nicht der einzige, aber der erfolgreichste Geiger unserer Gegenwart.

Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch wenn der Name David Garrett inzwischen als Markenzeichen mit einem Superbrand versehen ist, kann man es drehen und wenden, wie man will, der allgemeine Zustand der klassischen Musik ist trotz eines großen Medienrummels wie bei einer ECHO-Klassik-Verleihung und aufgemotzter Klassik-Chart-Hierarchien kritisch. Der junge Publikumsnachwuchs ist dünn. Der amerikanische Dirigent Kent Nagano beschreibt die Situation in den USA so: Dort »gibt es bereits zwei Generationen, die nie mit klassischer Musik in Berührung gekommen sind«. Nagano sieht, wie viele andere Musikschaffende, diese Entwicklung nicht nur in den USA. Auch in Deutschland nimmt sie für ihn zusehends einen ähnlichen Verlauf. Er fasst seine Erfahrungen mit den Worten zusammen, dass viele junge Menschen keinen Zugang mehr zu klassischer Musik haben. Doch »wenn (sie) heute keinen Zugang mehr zu klassischer Musik haben, woher sollen sie dann wissen, ob sie diese Musik mögen oder nicht?«4

Kommen Musiker den jungen Leuten nicht entgegen, sind die meisten von ihnen kaum für klassische Musik zu gewinnen, zumal es normalerweise auch wenige Gelegenheiten gibt, sie mit Klassik zu reizen. Denn sie finden diese Musik unverständlich, abgehoben, alt und langweilig, fast schon tot. Sie lehnen sie deshalb ab. Wie sollen junge Leute also erfahren, dass sie lebt und Freude am Leben vermittelt? In der Regel fehlt eine realistische Chance, diese Musik kennenzulernen, stellte auch der Pianist Lars Vogt in einem Interview mit dem WDR 3 im August des Jahres 2014 zu Recht fest5.

Daran ändern auch die Imagepflege und die Aktionen sehr renommierter Orchester wie die der Berliner Philharmoniker und ihres scheidenden Chefdirigenten Simon Rattle wenig. Ein Interviewer der FAZ fragte ihn, ob sich das Image der Berliner Philharmoniker wirklich verändert habe. »Geöffnet? Gelockert? Finden heute mehr und andere, jüngere Leute in die Konzerte?« Rattle antwortete zwar optimistisch, was er im Hinblick auf seinen Wechsel zum London Philharmonic Orchestra und auf den Bau eines neuen Konzertsaals in London auch tun muss, aber er blieb zurückhaltend. Er sieht zwar bei den Lunchkonzerten und auch bei den Kinderkonzerten in Berlin Änderungen. Aber »den Kampf, die Philharmonie als Gebäude zu öffnen, der mit ‚Rhythm Is It‘ begann, haben wir noch nicht gewonnen«. Und auch die »neuen Konzertsäle, die überall gebaut werden, während das Publikum schrumpft«, sieht er nur unter besonderen Bedingungen als Hilfe gegen die Krise der Klassik6.

Die Ursachen für das Fehlen dieser Chance sind nicht nur den Dirigenten Kent Nagano und Simon Rattle, sondern allseits bekannt. Sie liegen im Desinteresse der politisch Verantwortlichen aus Kultur und Bildung an klassischer Musik. Dieses Desinteresse zeigt sich vor allem darin, dass sie deren finanzielle Unterstützung in den Schulen rigoros zusammenstreichen7, aber auch in den Orchestern und in der Ausbildung8. Wie aber kann man jungen Menschen trotz dieser Widrigkeiten den Zugang »zu großartigen Erfahrungen von der Komplexität und Vielschichtigkeit klassischer Musik, zu Inspiration, zu spirituellen Momenten und der Erfahrung ermöglichen, etwas zu erleben, das größer ist als man selbst, zum Beispiel einer Bruckner-Symphonie«, einem Brahms-Konzert oder einer Beethoven-Sonate geben? Naganos Antwort ähnelt der Antwort des Geigers David Garrett. Die Musiker müssen die Sache selbst in die Hand nehmen. Der Zugang zu klassischer Musik für breite Bevölkerungsschichten und besonders für junge Menschen ist denen überantwortet, die in der Klassik beheimatet sind, und die Rettung dieser Musik ist ihrer persönlichen Initiative überlassen.

Garrett nahm die Sache selbst in die Hand. Zwar äußert er sich klassischer Musik gegenüber immer als verantwortlich und konzertiert sie auch entsprechend. Dennoch verrockte er viele Stücke, aus eigener Freude und um sie Menschen nahezubringen, die diese Musik nicht kennen. Er wurde als Missionar bezeichnet, der seinen Zuhörern klassische Musik wie eine Religion nahebringt. Doch er ist kein Priester, der seine Schäfchen zum rechten Glauben führt. Sein Publikum sind auch keine Schulkinder, die man dazu erziehen muss, in klassische Musik überhaupt einmal hineinzuhören. Sein Publikum besteht aus Menschen, die neugierig auf seine Musik sind, weil sie ihn als jungen und lebendigen Geiger erleben. Sie strömen ihm einfach zu. Wo gutes Zureden nicht hilft, um eine Beethoven-Sonate anzuhören, braucht man sie nur mit einem Konzert von David Garrett zu locken. Neugierde und Begeisterung weisen den Weg in den Konzertsaal von alleine, und es kommen mehr, als die Hallen fassen.

Er brachte und bringt junge Menschen an klassische Musik, bei denen diese Musik nicht zuhause ist und die kein musikalisches Elternhaus haben, das im Bildungsbürgertum verankert ist. In denen keine Violinsonaten, keine Klavierkonzerte, keine Beethoven-Symphonien und keine Bach-Partiten gehört werden. In deren elterlicher Wohnung kein Klavier steht, in der es keine Violine, keine Oboe und kein Fagott gibt, geschweige denn, dass ein Familienmitglied ein solches Instrument spielen kann. In denen Noten Fremdwörter sind. Die den Besitzanspruch der Bildungsbürger auf klassische Musik verinnerlicht haben, sodass sie sich davor fürchten. Selbst wenn die Neugierde siegt, sind gerade für junge Leute bürgerliche Rituale wie der Kleidungskodex oder die zur Schau gestellte Kenntnis über klassische Musikstücke so abschreckend, dass sie lieber auf den Gang in einen Konzertsaal verzichten. Garrett schafft für diese Kinder und die Jugendlichen und die Eltern einen Zugang in die klassischen Konzerthallen.

Wie schafft er das? Er schafft es, indem er seinen eigenen Weg geht. Dieser Weg unterscheidet sich deutlich von dem seiner nationalen und internationalen Kollegen. Zwar durchlief auch er eine klassische Geigenausbildung mit hochkarätigen Geigenlehrern und wurde als Wunderkind bezeichnet. Danach verschrieb er sich aber nicht der Traditionskarriere eines klassischen Geigers, sondern wandte sich dem Leben und der Zukunft zu, besonders den jungen Menschen. Denn in ihnen sieht er die Hoffnung für die Zukunft der klassischen Musik.

Vor zehn Jahren machte sich der junge Geiger auf, seinen Traum von einem jungen Publikum für seine Geigenmusik, den er nach seinem Musikstudium hatte, zu verwirklichen. Der 24-Jährige glaubte daran, dass man junge Leute für klassische Musik interessieren und sie in klassische Musikhallen bringen könnte. Alles hinge von der Art der Präsentation ab. Der Anstoß kam von den jungen Leuten selbst und von ihren Technologiespielzeugen, dem Smartphone und dem iPod. Fasziniert von diesen Spielzeugen überlegte er, wie man auf ihnen und der Geige gleichzeitig spielen könnte. Als Beispiel dient ein Auftritt des 26-Jährigen in einem Apple Store in Japan. Er spielte kurze Stücke, unter anderem eine Variation von Nothing Else Matters von Metallica, und hoffte, dass die Teenager diese Musik auf ihre iPods aufnehmen und anhören würden. Für junge Leute Popmusik mit der klassischen Violine und klassische Musik auf rockige Weise zu spielen, schien ihm eine interessante und originelle Initiative9, von der er hoffte, dass sie das Mittel sei, jungen Leuten klassische Musik näherzubringen, weil sie Freude an der poppig-klassischen Musik bekämen. Seine Idee des Crossover war geboren. Beethovens The 5th und Johann Sebastian Bachs Toccata auf dem iPod und dem Smartphone – das war’s! Garrett wurde der Rockgeiger, der die Arenen der Welt mit Zuhörern und deren Smartphones mit rockiger Klassik füllt.

Er erreicht die jungen Leute mit seiner Geige, indem er auf sie zugeht, sich unter sie mischt und sich von ihrer Musik und ihrer Begeisterung für iPods und Smartphones faszinieren lässt. Von ihnen lernte er, Geigenmusik in einer Weise zu präsentieren, die sie verstehen. Umgekehrt verhält er sich für die jungen Leute wie einer von ihnen, als ein junger Mensch mit einem jungen Lebensgefühl. Er wird von vielen als ein junger Musiker empfunden, der seine Begeisterung für Musik immer und überall zeigt, der als klassischer Geiger authentisch wirkt und dennoch offen für Neues ist. Dass er einer der besten Geiger unserer Gegenwart ist, setzt ihm die Krone auf.

Weil er hartnäckig ist und weiterhin seine Idee des Crossover verwirklicht, überlässt er die klassische Geigenmusik nicht alleine den alternden Klassikeliten. Weil er die alte Musik modernisiert und lebendig macht, verschafft er ihr die Chance, bei der jungen Generation eine Zukunft zu erhalten, nicht nur weil er mit seiner Musik an junge Leute herangeht, sondern weil er die jungen Leute auch an sich heranlässt. Er wirkte und wirkt echt, weil er sich selbst zu deren Lebenswirklichkeit bekennt, obwohl er als klassischer Geiger sozialisiert ist.

Um die Fremdheit und Ablehnung, ja sogar Feindseligkeit gegenüber klassischer Geigenmusik abzubauen, bedarf es einer gehörigen Portion von Enthusiasmus, Mut, Kraft, Ausdauer und Vorurteilsfreiheit. Ausgestattet mit diesen Antriebskräften transportiert Garrett seine Violinmusik überhaupt erst einmal zu den Leuten und in ihren Alltag. Das war und ist trotz aller Bemühungen ein Mammutunternehmen, ganz besonders für die als elitär geltende Geige. Mit ihr werden Violine-Solo-Konzerte von Bach gespielt, wahrhaftig eine Hörspezialität für Geigengourmets. Es ist kein leichtes Unterfangen, sie breiten Bevölkerungsschichten hörbar zu machen. Denn »man muss klassische Musik allgemein schon buchstäblich regelrecht suchen, weil sie aus dem Alltag der Menschen weitgehend verschwunden ist«. Das ist nicht nur Naganos Beobachtung. Die schwindenden Klassikprogramme in den Rundfunkanstalten oder der zusammengestrichene Musikunterricht an den Schulen bestätigen diese Situation sehr eindrücklich. Nur die alternden Klassikzirkel finden diese Programme noch. Die Jungen finden sie nicht. Sie suchen sie aber auch nicht. Denn für junge Leute ist die klassische Musikpraxis vielfach nicht mehr zeitgemäß, sie hat mit ihrem Lebensgefühl nichts zu tun. Sie identifizieren sich nicht mit ihr. Ein lebendiges Musikleben muss aber ein Ausdruck von kultureller Identität sein, wenn es nicht mit dem alternden Publikum ebenfalls altern und letztlich sterben soll.

Deshalb appellierte Kent Nagano an sich und alle klassischen Musiker, die Zuhörer immer wieder aufs Neue davon zu überzeugen, dass große Musik etwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Er brach die erstarrten Rituale auf und gab in Kanada, mit seinem Eishockey als Identität stiftendem Nationalsport, klassische Konzerte in einem Eishockey-Stadion. Die 15 000 Zuhörer, darunter viele junge Leute, die ihre erste Berührung mit klassischer Musik hatten, waren für ihn ein akzeptabler Kompromiss mit der schlechten Akustik des Stadions10.

Als Nagano seinen Appell in Deutschland veröffentlichte, hatte Garrett den lebendigen Nerv junger Leute schon getroffen. Er tourte mit rockiger Klassik, aber auch mit reiner Klassik, und brachte Hunderttausende zum Zuhören. Seine Ursprungsidee war aufgegangen. Er hatte mit seiner rockenden Violine tatsächlich den Schlüssel zur Öffnung der klassischen Geigenmusik für junge Leute gefunden, denn sein neues Publikum folgte und folgt ihm auch in seine klassische Heimat. Der Blick in diese Heimat zeigt, dass ein Klassik demokratisiertes Publikum seine klassischen Violinkonzerte in den großen Konzertsälen stürmt und seine Klassik-CDs regelmäßig an die Spitze der Klassik-Charts setzt. Dank Garrett hat die Violine ein Stück ihrer Elitärheit verloren, und sogar Bach-Solo-Partiten sind für sein Publikum nicht mehr ganz fremd.

Seine Startposition war eine andere als die Naganos, denn er ist im Verhältnis zu dem amerikanischen Dirigenten noch sehr jung. Er brachte die Frische, Unverbrauchtheit und Begeisterung eines jungen Menschen für seine Sache, die klassische Violinmusik, mit. Seine Freude an seiner Geige und seiner Musik ist bis heute offenkundig, und er teilt weiterhin seine Begeisterung enthusiastisch mit seinem Publikum. Man muss ihm zugestehen, dass ihm sein Vorhaben gelingt, gerade weil er diese Freude mit sehr vielen, auch jungen Menschen teilt. Weil er echt wirkt, gelingt es ihm seit Jahren, die klassischen Formen aufzubereiten und Jugend und Klassik zusammenzubringen. Mit seiner Crossover-Musik bringt er klassische Musik als »cool« an junge Leute »rüber«. Dass er auch mit rein klassischer Musik »cool aussieht«, hängt mit seiner Persönlichkeit zusammen. »Musik ist nicht nur eine Frage der Noten, nicht nur eine Frage der Technik. Musik umfasst Geschichte, sie macht Aussagen über den Menschen, verhandelt existentielle Themen wie Trauer und Freude, Liebe und Hass, Konflikt und Versöhnung, sie enthält Bausteine unserer Identität«, fasst Nagano die Rolle der Musik für uns Menschen zusammen11. Eine Besucherin des Brahms-Violinkonzertes im Mai 2015 im Konzerthaus in Wien drückte die Identität stiftende Ausstrahlung Garretts prosaischer aus. Sie sagte: »David Garrett ist schon ein toller Typ.«

In dem Musiker David Garrett vereinigen sich hörbar die Bausteine seiner Identität, besonders die Ernsthaftigkeit zu seinem Gegenstand, die Liebe zur Musik und Lebensfreude. Er funktioniert nicht nur als Geiger, sondern er lebt emotional seine Musik. Diese Emotionalität wird von vielen seiner Zuhörer als charismatisch empfunden. Gerade die jungen Menschen spüren, dass er für seine Sache brennt. Garretts Gefühle beim Spielen kann man an seinem Gesichtsausdruck ablesen: Freude an der Musik mit unbezähmbarer Musizierlaune, wie es ein Rezensent einmal ausdrückte.

Er steht damit in einer langen Tradition. Denn Bausteine der Persönlichkeit und der Lebensereignisse von Komponisten und Musikern finden sich in vielen Beispielen aus der Vergangenheit. Guiseppe Verdi machte in seinen historischen Opern die Freiheit des geknechteten und zerrissenen Italiens des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand. Eines der berühmtesten Beispiele ist der Gefangenenchor »Va pensiero« (»Flieg, Gedanke«) aus der Oper Nabucco, der zu seiner Zeit fast zur italienischen Nationalhymne avancierte und heute noch ein Gassenhauer ist. Wolfgang Amadeus Mozart ist in zahlreichen seiner Werke hörbar ein spätes Kind des Rokoko, ob man ihn nun wie Goethe einen Meister des Rokoko nennt oder jemanden, der sich mit dem scheinbaren Spätling des höfischen Rokoko, der Oper Così fan tutte, als ironisch distanzierend zeigt. In Niccolò Paganinis Capricen explodiert dessen innere und äußere Unruhe, in Richard Wagners Opern dessen Exaltiertheit, in Frédéric Chopins Kompositionen findet man immer wieder Anklänge seiner polnischen Herkunft, und in Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 27 Nr. 2, der sogenannten Mondscheinsonate, spürt man, besonders in dem sehr gefühlvollen 1. Satz, seine Verliebtheit in seine damals 20-jährige Klavierschülerin, die Gräfin Giulia Guicciardi, der er die Sonate widmete.

Da Garrett ein lebensfroher junger Mensch ist, kleidet und verhält er sich wie ein lebensfroher junger Mensch. Er muss sich nicht ändern. Die Alten müssen sich ändern, wenn auch sie der klassischen Violinkunst eine Überlebenschance geben wollen. Garrett redet wenig über die Musik, er macht sie einfach. Er hat den Mut, Leben in die klassische Musik zu bringen. Dafür bekommt er nicht nur Anerkennung. Er muss bis heute auch Häme und Abschätzigkeit ertragen. In manchen Kritiken schwingt immer noch der Neid auf einen jungen Geiger mit, dessen Ausstrahlung faszinierend ist. Sein selbstverständlicher, offener und nahbarer Umgang mit seinem Publikum einerseits und sein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Auftreten und Verhalten andererseits, basierend auf seinem Wissen um seine praktizierte Geigenkunst, werden ihm von vielen Grauköpfen der Klassik übel genommen. Paganini brachte im Italien des 18. Jahrhunderts die Aristokratie mit Volkstümlichem in Abwehrstellung, als er mit Il Carnevale di Venezia die Massen unterhielt. Aber heute? Garrett jedenfalls lässt sich vom selbsternannten Musikadel und den Alten nicht beherrschen. Seine Kunst dient nicht der »Altenbespaßung«12, und sie dient sich ihr nicht an. Er wendet sich weiterhin erfolgreich an die Jungen.