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In den neun Erzählungen begegnet man Menschen, deren Charakterzüge den neun Grundtypen des Enneagramms entsprechen. In ihrem Umfeld entwickeln sie sich aber weiter, wobei sie neue Möglichkeiten in den Beziehungen zu ihren Mitmenschen entdecken.
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Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2021
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1 Und ewig wäre er dann mein
2 Verführung zur Güte
3 Ich bin Spitze
4 Der Mensch denkt
5 Die fünf Weisen
6 Jahresabschluss und Steuern
7 Der Überzählige
8 Der Outperformer Anton Fehr
9 Nach Seinem Ebenbild
In einem langen Leben kommt es zu vielen Begegnungen, Begegnungen mit Freunden und Konkurrenten und auch zu Begegnungen mit sich selbst. Über die Einen erzählt man gerne, die Anderen möchte man am liebsten vergessen und über die Schönsten soll man schweigen. Auch wenn Ort und Zeit stark verändert wurden, so erzählen die nachfolgenden Geschichten über solche Begegnungen mit Menschen. Sie haben hohe Ziele und Erwartungen, die sie aber nie ganz erreichen können. Die Schicksale der handelnden Personen nehmen dabei ihren eigenen Verlauf und führen zu überraschenden Erkenntnissen und zu mehr Mitmenschlichkeit.
„Eigentlich hat der Pfarrer die Abdankungsfeier für Tante Olga schön gestaltet“, dachte ich bei mir. Die Schar der Leidtragenden war auch ganz beachtlich, obwohl Olga in den letzten Jahren kaum noch mit jemandem Kontakt pflegte. Eine Tante Olga vergisst man halt nicht so schnell! - Es lag nun an mir, dem von ihr bestimmten Testamentsvollstrecker, ihre Sachen zu ordnen und ihren Nachlass aufzuräumen. Besser gesagt, was von ihrem Nachlass übrigblieb, hatte doch alles in einer Katastrophe geendet.
Die schwierigste Arbeit hatte ich bereits erledigt. Als ich im Pfarrhaus vorbei ging, bat mich der Pfarrer, einen Lebenslauf für Tante Olga zu verfassen. Ich sagte ihm, dass ich das nicht könne, da der Lebensverlauf von Tante Olga etwas wirr und unverständlich sei. Tante Olga war nie verheiratet und hatte immer alleine gelebt. Sie hatte kaum Besuch empfangen und wenn, dann nur nach genauer Voranmeldung. Auch mich, ihren Lieblingsneffen, hat sie höchstens einmal im Jahr besucht, um ihre ‚Lieblingsschätzeli’ zu sehen. Damit meinte sie meine Kinder, die aber Tante Olga kaum kannten und Angst vor ihr hatten. Der Pfarrer sagte, er hätte gerade etwas Zeit, ich solle einfach von ihr erzählen, dann bekomme er einen Eindruck von der Person und er würde dann schon einige passende Worte für die Abdankung finden. So ging ich vor zwei Tagen zum Pfarrer und erzählte von Tante Olga.
Eine Geschichte aus der Jugendzeit von Olga kannte ich von ihrer Freundin Margrit, die ich ausfindig machen konnte und die ich vor etwa fünf Jahren zusammen mit Olga eingeladen hatte. Margrit war seit kurzem verwitwet, war aber trotzdem voller Lebenslust und Tatendrang. Tantchen hat mir diese Einladung zwar übelgenommen und gesagt, ich solle nicht in ihrer Vergangenheit wühlen. Überhaupt wolle sie mit dieser Margrit nichts mehr zu tun haben.
Olga war in Sursee aufgewachsen. Sie besuchte zusammen mit eben dieser Margrit das Lehrerinnenseminar, eine Internatsschule im nahe gelegenen Menzingen. Die beiden Mädchen waren sehr musikalisch. Olga hatte eine wunderbare Sopranstimme, Margrit einen fast männlich wirkenden Alt. Olga, die eher ernst wirkte, spielte Geige, Margrit, die durchaus auch den heiteren Seiten des Lebens zugetan war, Gitarre. Beide waren damals in der Abschlussklasse. Margrit hatte von einem Studentenball in Zug erfahren und überredete Olga, mitzukommen. Einige der jungen Herren hätten noch keine Begleiterin. Auf diesem Ball lernte Olga Gino kennen. Für sie, die Unerfahrene, war Gino das Traumbild von einem Mann: gross, stattlich, mit leuchtenden Augen, kreativ, ein Künstler, der Konzertpianist werden wollte. Er versprach, ihr zu schreiben und sie mahnte ihn, ihr auch ein Foto mitzuschicken.
Zurück im Institut begann sie, die Bildnisarie aus Mozarts Zauberflöte in der weiblichen Form zu singen: „Dies Bildnis ist bezaubernd schön, nie hat mein Aug’ es je gesehn, ich fühl’ es, wie dies Götterbild, mein Herz mit neuer Sehnsucht füllt... Ach wenn er dann so vor mir stände, ich würde ihn, voll entzücken, an diesen heissen Busen drücken, und ewig wäre er dann mein, und ewig wäre er dann mein!“ - Margrit war die Veränderung, die mit ihrer Freundin Olga vorging, nicht verborgen geblieben und sie konnte es nicht lassen, sie gelegentlich zu necken. Dann schlüpfte sie in die Rolle des Papagenos, oder sollte am besser sagen, der Papagena hinein und sang: „Die Vogelfäng’rin bin ich ja, stets lustig, heissa, hopsasa... Wenn alle Männer wären mein, dann sperrte ich sie bei mir ein.... Dem, welcher mir der Liebste wär’, dem gäb’ ich gleich die Zucker her, und küsste er mich zärtlich dann, wer ich sein Weib und er mein Mann!“ - So hatten die beiden Mädchen ihr aufregendes Geheimnis.
Olga sah zuversichtlich den Examen und den Abschlussfeiern entgegen. Irgendwann musste nun das ‚wirkliche’ Leben beginnen. Leider wurde aus dem Wiedersehen mit Gino nichts. Kurz vor der Abschlussfeier in Menzingen erhielt Olga eine Postkarte, auf der er ihr mitteilte, dass er den zweimonatigen Sommerkurs für Konzertpianisten, der in der Nähe von Florenz abgehalten werde, besuchen wolle. Er hoffe so, die richtige Technik zu erlernen und viele wertvollen Bekanntschaften zu machen. – Für Olga gab es nur eins: sie schlug Margrit vor, im Sommer eine Kulturreise durch Italien zu machen: Venedig, Florenz, Rom. Margrit willigte gerne ein und so waren die Freundinnen bald unterwegs in Italien.
Leider schien die Zeit in Florenz nicht unter einem guten Stern zu stehen. Sei es, dass Gino sich mehr für die Musik als für Olga interessierte oder ob er als schöner Mann auch für andere Frauen Augen hatte, in Florenz endete die Beziehung, die nie richtig gelebt und die nie intim geworden war. Umso mehr genoss Margrit die Italienreise und Olga ärgerte sich über ihre Freundin, die sich vor allem von den Papagalli angesprochen fühlte. – Olga aber, die Jungfrau, behielt das Bildnis von ihrem Traummann für ihr ganzes Leben.
„Gab es dann später keine Männer, die in ihrem Leben eine Rolle spielten“, wollte der Pfarrer wissen. Als ich bemerkte, dass mir davon nichts bekannt sei, meinte er, dass sie wohl zur Jungfräulichkeit berufen gewesen sei. „Aber warum verbrachte sie dann ihr Leben einsam und nicht etwa in einer klösterlichen Gemeinschaft?“, sagte er mehr zu sich selbst. „Sie war doch eine eifrige Kirchgängerin, auch wenn sie sich nie bei Pfarreianlässen zeigte!“ Dann fügte er hinzu: „Sie lebte wohl wie Diana, die jungfräuliche Göttin der Jagd“. - Da fiel mir ein, dass sie bei sich viele Motive aufgehängt hatte, die Jagdszenen darstellten. Ihre Wohnung war übervoll mit Bildern und Sammelobjekten, so dass die Tapeten oft kaum mehr zum Vorschein kamen. Tante Olga war keine Sammlerin, sie war eine Jägerin, die ihre Trophäen zur Schau stellte!
Den Beruf als Lehrerin hatte sie nur kurz ausgeübt. Der Umgang mit den Kindern war ihr zu anstrengend und sie hasste es, wenn ihr jemand Widerstand entgegensetzte. Sie besuchte einen Fortbildungskurs und wurde Fürsorgerin bei der Amtsvormundschaft in Luzern. Hier hatte sie Menschen zu betreuen, die halb verwahrlost waren und die ihre normalen Angelegenheiten nicht selbst erledigen konnten. Besonders gerne nahm sie sich lediger Mütter und ihrer Kinder an, wobei sie stets das Ziel verfolgte, gute Pflegeplätze für die Kleinen zu finden. Meine Mutter versuchte ihr oft beizubringen, dass sie die Kinder doch bei ihren leiblichen Müttern lassen und diese finanziell unterstützen solle. Die stolze Göttin der Jagd jedoch liess nicht locker: Die jungen Mütter, die ungewollt schwanger geworden waren, seien nicht fähig, ihren Kindern ein Vorbild zu sein und ihnen ein intaktes zu Hause zu geben! Es gebe viele kinderlose Paare, die sich nichts Sehnlicheres als ein Kind wünschten und die den Kleinen die Wärme geben könnten, die sie zum Gedeihen bräuchten. - Wenn jemand Schwierigkeiten machte, dann griff sie zu Pfeil und Bogen.
„Gab es dann nie Probleme mit Aufsichtsbehörden?“, wollte der Pfarrer wissen. „Mit den Aufsichtsbehörden nie!“, antwortete ich, „sie war klug, korrekt und auch charmant, so dass alle meinten, sie wisse schon, was das Richtige sei. Sie war eben eine perfekte Beamtin!“ – „War es echte Fürsorge und Liebe zu den Menschen, die sie so handeln liess oder war das Bild der intakten Familie so stark in ihr verankert, dass sie es stets zu realisieren trachtete?“, sinnierte der Pfarrer. Dann fragte er mich direkt: „Sehen Sie vielleicht nicht alles etwas negativ?“ – Ich versuchte dann ihre Charakterzüge zu schildern.
Olga war sehr gewissenhaft und hatte einen ausgeprägten Sinn für Recht und Unrecht. Sie war eine logisch klar denkende, vernünftige Frau, diszipliniert und mit hoher Moral. Das konnte so weit gehen, dass sie dabei selbstgerecht, intolerant und dogmatisch wirkte. „Tante Olga hat immer recht!“, sagten ihre Nichten und Neffen.
Dass sie mit ihrer Eigenart zwar bei ihren Arbeitskolleginnen hohe Achtung genoss, sie aber wenig geliebt wurde, lag auf der Hand. Einige Male wurde sie dann richtig gehend gemobbt. Dann suchte sie Trost in der Bibelstelle, die da heisst: ‚Selig sind die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, den ihrer ist das Himmelreich!’ Sie wusste, dass ihr Lebensweg auch ein Leidensweg war. Manchmal spielt sie dann auch auf ihrer Geige, obwohl sie doch langsam aus der Übung gekommen war.
Ihre Ferien verbrachte Olga auch später mit Vorliebe in der Toskana. Florenz, Pisa und Siena waren ihre Lieblingsstädte. Die italienische Art, auch wenn sie ihren Ansprüchen an Ordnung und Perfektion nicht genügen konnte, hatte es ihr irgendwie angetan. Hier konnte sie ausschalten und entspannen. Mit Leidenschaft suchte sie in kleinen Läden, auf Märkten und bei den Händlern, die Andenken feilboten, nach Kostbarkeiten und Schätzen. Sie freute sich, dass sie all ihren Nichten und Neffen etwas nach Hause bringen konnte, was man hier zu lande nicht fand. – Eines Tages, sie war damals 55 Jahre alt, brachte sie ein Bild aus Florenz mit, das sie stolz allen Verwandten und Bekannten zeigte. Auf dem Bild sah man ein Männergesicht, es konnte ein Porträt, die Darstellung eines Heiligen oder gar das Bild Christi sein. Es war schon von einer Patina überzogen, wobei ich nie wusste, ob dies vom Alter des Bildes herrührte oder ob es der moderne Künstler auf alt gemacht hatte. Langsam fand ich heraus, was sie in diesem Bild sah. Der junge Mann auf dem Bild trug genau die in ihrer Erinnerung fest verankerten Züge von Gino. Sie sagte mir mal, dass sein Charakter und Wesen in diesem Bild sogar besser festgehalten sei, als auf dem inzwischen vergilbten Foto ihrer Jugendliebe.
Olga freute sich auf ihr kommendes Dasein als Rentnerin. Sie dachte, endlich würde sie mal Zeit für sich selber haben und müsste nicht mehr nur für andere herum rennen. Sie richtete sich ihre Wohnung neu ein. Dabei bevorzugte sie antike Möbelstücke, die sie an eine in ihren Augen bessere alte Zeit erinnerten. Das Florentiner Bildnis bekam einen Ehrenplatz an der Wand über einer antiken Kommode. Darauf stellte sie zwei Kerzenleuchter, so dass das Ganze wie ein Altar aussah. Dieser Ort war nun das Zentrum ihres Lebens. Mit der Zeit umrahmte sie das Bild mit Fotos ihrer Familie: die Mutter, die Grossmutter, der Grossvater, ihre Schwester und alle Nichten und Neffen. Einzig der Vater fehlte. Für alle, die an diesem bevorzugten Ort ihren Platz gefunden hatten, stellte sie eine zusätzliche Kerze auf die Kommode, die natürlich etwas kleiner waren als die in den grossen Kerzenleuchtern. Auf den fehlenden Vater angesprochen meinte sie immer, sie hätte halt kein geeignetes Foto gefunden. Wir versuchten ihr dann eines aus unserm Familienalbum zu schenken, sie lehnte es aber höflich ab. – Als ich dies erzählte, murmelte der Pfarrer etwas vor sich hin: „Eidolon – Imago – das Bildnis – das Ideal oder das Götzenbild!“
Ich erwartete, dass mich der Pfarrer jetzt unterbrechen würde. Er aber murmelte nur: „Ja – weiter!“ – Nach ihrer Pensionierung zog sich Olga nun noch mehr zurück. Sie schien gar kein Bedürfnis zu haben, die nun nicht mehr vorhandenen Kontakte mit anderen Menschen zu kompensieren oder Neues zu erleben. Wenn sie normalerweise ausser Haus ging, dann nur, um rasch die nötigsten Einkäufe zu erledigen. Von Zeit zu Zeit jedoch stieg Diana in ihr auf und sie machte sich auf die Jagd nach neuen Trophäen. Zuerst waren es Gegenstände aus dem Biedermeier, später Gläser und Teller. Sie besass Geschirr für gut zwei Dutzend Leute, Besteck aus reinem Silber, die Gläser aus schwerem Kristall und die Teller aus Meissner-Porzellan. Als ich sie mal kurz besuchen durfte, zeigte sie mir ihre Schätze. Ich fragte sie, wann sie dann dies alles brauchen wolle. Und sie sagte mit tiefer Überzeugung: „Dann, wenn mein Bräutigam und ich alle meine Lieben zum himmlischen Hochzeitmahle einladen werden!“ – Dabei sah sie mit verklärten Augen zum Bild des Jünglings, vor dem die Kerzen in den Leuchtern auch am helllichten Tage brannten. Dann sang sie zwar piano, aber immer noch mit sicherer Stimme: „Und ewig wäre ich dann sein!“.
Hier hielt ich für eine Weile inne, wobei mir eine andere Geschichte durch den Kopf ging, die ich aber dem Pfarrer lieber nicht erzählen wollte. Einmal sagte sie zu mir, dass ihr der liebe Gott ein wunderbares Geschenk zu ihrem 70. Geburtstag gemacht habe. Er habe sie ausser Haus geschickt und ihr auf einer Gant eine prächtige Suppenschüssel - echt Meissner – gezeigt. Die habe sie dann ersteigert. ‘Ist das nicht ein lieber Gott!’ – So war Olga: Sie liebte Sachen und Kostbarkeiten mehr als Menschen. Menschen waren nie so, wie sie dachte, dass sie sein müssten; da hielt sie sich besser an den lieben Gott. Als ich ihr dann antwortete, ich wisse nun, warum der liebe Gott keine Zeit habe, sich um die hungernden Kinder in Afrika zu kümmern, wenn er ihr Meissen – Porzellan suchen müsse, war sie beleidigt und meinte, ich verstehe das nicht besser. Nach diesem Vorfall wollte sie mich ein halbes Jahr nicht mehr sehen.
Ja und dann kam bald darauf dieser tragische Unglücksfall. Es war an einem schönen Samstag im Sommer und Olga hatte vor ihrem Altar überall neue Kerzen entzündet. Dann ging sie wie gewohnt zur Abendmesse in die Kirche. Der Pfarrer predigte zu einer Stelle im Evangelium, in dem die Jünger am Sabbat Ähren gelesen haben. Auf die Vorwürfe der Pharisäer hatte Jesus geantwortet, dass der Sabbat für die Menschen und nicht die Menschen für den Sabbat da seien. Diese Stelle verband er mit einem Bild des Apostels Paulus, der die Kirche als die Braut Christi bezeichnete. Und der Pfarrer meinte, dass sich die offizielle Kirche sich zu sehr in dieser Rolle gefalle, sich schmücke und allerlei Tand zulege, um dem himmlischen Bräutigam zu gefallen. Dabei seien ihr Dogmen und Gebote wichtiger als die Liebe zu den Mitmenschen. Und er schloss: „Die Kirche ist für die Menschen da, nicht die Menschen für die Kirche!“ – Ob es diese Worte waren oder ob es nur Zufall war: Nach der Messe ging Olga durch die Stadt und gönnte sich einen kleinen Imbiss in einem Gartenrestaurant. Sie wunderte sich über die vielen Leute, die den lauen Sommerabend genossen. Viele Eltern waren mit ihren Kindern da, grössere und kleinere, auch behinderte, die auf dem Spielplatz vor dem Restaurant herumtollten. Sie sah ihnen lange zu und vergass die Zeit. So kam sie erst sehr spät nach Hause. Von weitem sah sie eine grosse Menschenansammlung vor ihrem Haus. Die Feuerwehr war im Einsatz. Sie musste nicht nur den Brand bekämpfen, sie musste auch die gaffende Menge fernhalten. Olga wollte durch und fragte den Mann, der für die Absperrung sorgte, was los sei. „Irgend so eine Alte hat wieder mal Kerzen angezündet, die ihren alten Plunder in Brand gesetzt haben. Wir müssen schauen, ob wir sie noch aus dem Rauch retten können!“ – Olga gelang es, kein Mensch weiss wie, an der Absperrung vorbei zu kommen und in ihre Wohnung zu gelangen. Da sah sie das verkohlte Bild und ihr Meissner – Porzellan, das bei den Löscharbeiten in Brüche gegangen war. Sie hörte nur noch, wie ein Feuerwehrmann sagte: „Sie ist ja doch noch da!“ – Dann schwanden ihr die Sinne.
Sie erwachte im Spital mit einer schweren Rauchvergiftung und einigen Verbrennungen. Obwohl ihr das Reden Mühe bereitete, liess sie rasch einen Notar rufen, dem sie ihr Testament diktieren wollte. Ich musste auch dagegen sein und der Arzt musste bezeugen, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sei. Sie verfügte, dass ich ihr Testament zu vollstrecken habe. Für meine Bemühungen könne ich zu Lasten der Erbschaft Rechnung stellen. Sie fragte, ob 50 Franken als Stundensatz in Ordnung seien. Ich stimmte zu und der Notar notierte ihren Willen. Zuerst sollten alle Unkosten für die Beerdigung gedeckt werden. Es soll eine würdevolle Beerdigung sein mit Musik in der Kirche und einem Festessen für alle, die kommen werden. Dann solle alles verkauft und der Erlös den Armen gegeben werden. „Willst du vollkommen sein, dann verkaufe alles und folge mir nach!“, sagte sie mit fester Überzeugung. Dann wollte sie noch Margrit sehen um sich mit ihrer Jugendfreundin auszusöhnen. Doch dazu blieb keine Zeit mehr. Anderntags verstarb sie völlig unerwartet an einem Herzstillstand. Die Ärzte waren überrascht, war sie doch schon auf dem Weg zur Besserung.
Dies war alles, was ich dem Pfarrer erzählen konnte. Dieser stand auf, ging im Zimmer einige Male hin und her und sagte dann: „Sie war ein spezieller Mensch! Ich muss über diesen Lebenslauf nachdenken!“ – Dann hatten wir noch einige administrativen Dinge zu erledigen, bevor ich das Pfarrhaus verliess.
Nun sitze ich in Mitten des Chaos, das einst Olgas Wohnung war, und versuche Gegenstände und Dokumente zu ordnen. Ich frage mich, wie viel wohl noch für die hungernden Kinder der Caritas übrigbleiben würde, nachdem alle Tante Olga ausgiebig beim Leichenmahl gefeiert hatten, wobei der beste Wein in Strömen floss. – Der Pfarrer hatte vorher in seiner Abdankungsfeier davon gesprochen, wie wir uns alle für das himmlische Hochzeitsmahl vorzubereiten hätten. Dabei hätten wir lange Zeit zum Wachsen. Keiner wisse genau, was Olga alles gesät habe und was sie wachsen liess. Sie habe Samen auf seinen Acker gesät. Und er fuhr fort: „Es ward Tag und Nacht und der Samen keimt und wächst und keiner weiss wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht. Jetzt ist es Zeit für die Ernte. Und zur Ernte gehört auch der Dank, ein Erntedank. Dazu sollen wir alle auch ein irdisches Gastmahl feiern und uns freuen, dass wir auch mit andern teilen dürfen!“
Es kann sein, dass einige die Worte des Pfarrers etwas zu wörtlich nahmen. Alle wollten nachher beim Leichenmahl das irdische Gastmahl begehen. Alle Verwandten waren dabei, die grosse Zahl ihrer Nichten und Neffen. Viele ehemalige Mündel hatten sich eingefunden und erzählten, wie Tante Olga für sie gesorgt habe und welche Geschenke sie zu Weihnachten erhalten haben. Natürlich war auch ihre Jugendfreundin Margrit da. Sie war inzwischen in zweiter Ehe mit jenem Gino verheiratet, den Olga in ihren Gedanken über all die Jahre als Idealbild verehrt hatte. Margrit liebte aber den Gino aus Fleisch und Blut und sie stellte ihn allen als ihren Papageno vor. Dieser hatte sich bis zu seiner Pensionierung als Klavierlehrer seinen Lebensunterhalt recht und schlecht verdient und sich daneben Wein, Weib und Gesang gewidmet. Margrit und er erzählten dann die Geschichte von der Bildnisarie in verschiedenen Variationen. Plötzlich wollten alle diese Arie nochmals hören, aber es war kein Tenor zur Stelle. Da hatte Gino die passende Idee: „Wir singen einen Kanon, bei dem alle mitmachen können!“. Er sang kurz vor und legte fest, wann welcher Tisch im Restaurant einstimmen sollte. Er dirigierte und die ganze Trauergemeinde stimmte in die Melodie von Mozart ein und sang den folgenden dreistrophigen Kanon:
Und ewig wäre sie dann mein,
ewig wäre sie dann mein,
ewig wäre sie dann mein!
‘Schrecklich ist die Verführung zur Güte!’ - Mit diesen Worten von Bert Brecht versuchte Andreas Becker sich zu trösten. Er war daran, sich eine neue Stelle zu suchen, nachdem er vor zwei Wochen bei seinem bisherigen Arbeitgeber gekündigt hatte. „Nie mehr in einem Hightech – Unternehmen“, sagte er sich, „da versuche ich es besser in einer Non-Profit-Organisation, am besten bei einem Hilfswerk!“ Er kaufte sich zusätzlich ein Exemplar der Neuen Zürcher Zeitung, nachdem er die Stellenangebote des Tages Anzeigers durchstudiert hatte. Und tatsächlich suchte da eine amerikanische Organisation Namens TSI einen Leiter für die Geschäftstelle Zürich, die neu aufgebaut werden sollte. TSI stand für ‚Top Supporter International’, einer Vereinigung von Geschäftsleuten, die nebst geselligen Zusammenkünften sich durch Hilfe für Benachteiligte und Behinderte hervortat. Dies könnte etwas für ihn sein.
Am andern Tag machte sich Andi daran, seine Bewerbungsunterlagen zu schreiben. Als erstes musste er seinen beruflichen Lebenslauf verfassen. „Wie hatte alles angefangen?“, fragte er sich. Es war immerhin die dritte Stelle, die er verlassen musste, weil er ein Mobbing – Opfer wurde.
Andreas Becker hatte sich zum Lehrer ausbilden lassen und unterrichtete einige Jahre an der Oberstufe. Danach nahm er das Studium wieder auf und belegte Psychologie als