Verheiratete Frauen - Cristina Campos - E-Book
SONDERANGEBOT

Verheiratete Frauen E-Book

Cristina Campos

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Diese Frauen fühlen sich an wie eigene Freundinnen: der mitreißende Roman über Freundschaft, Ehemänner und Liebhaber, vor der flirrenden Kulisse von Barcelona »Es geht um Frauen wie uns. Frauen ab vierzig. Berufstätige, engagierte Frauen. Um Liebe, Leidenschaft, Lust und Lustlosigkeit. Um unsere Männer. Unsere Ehemänner.« Gabriela hielt inne und setzte lächelnd hinzu: »Um die Liebhaber, die wir nicht haben, aber gerne hätten.« Gabriela ist Journalistin. Nach fünfzehn Jahren Ehe beginnt sie eine Affäre mit einem Mann, den sie schon lange liebt. Silvia ist Fotografin und schwanger von ihrem Ehemann, der sie eigentlich nicht glücklich macht. Stylistin Cósima ist frisch verheiratet und spürt, dass ihr Mann sie nicht mehr begehrt. Die Frauen geben einander Halt, während sie Jahr um Jahr ihr Leben führen, auch wenn sie sich das so nie vorgestellt hatten – drei Freundinnen in ihren Vierzigern, die entdecken, dass verheiratet sein kein Zustand ist, sondern ein tiefer, langer Fluss. Der Bestseller aus Spanien, nominiert für den Premio Planeta.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cristina Campos

Verheiratete Frauen

Roman

 

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

 

Über dieses Buch

 

 

Gabriela ist verheiratet, mit einem Mann, den sie liebt. Den sie wunderbar findet. Den Vater ihres Sohnes. Ein Mann, der einmal im Monat mit ihr schlafen will. Und Gabriela, weil sie ihn liebt, weil sie ihren Mann wunderbar findet, schläft mit ihm, ohne ihn zu wollen. Aber jeden Morgen begegnet Gabriela auf ihrem Weg zur Arbeit einem Bekannten, einem Mann, den sie unbegreiflicherweise begehrt.

Gabriela ist Journalistin und arbeitet mit ihren Kolleginnen Silvia und Cosima zusammen, Frauen, mit denen sie seit Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Wie Gabriela haben auch sie kleine Geheimnisse, die sie vor ihren Ehemännern verbergen. Gegenseitig unterstützen sich die drei Freundinnen und suchen immer wieder nach Wegen, die langen Beziehungen, die sie mit ihren Männern verbinden, neu und anders zu gestalten.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Cristina Campos stammt aus Barcelona, machte ihren Abschluss in Geisteswissenschaften an der dortigen Universität und ging dann an die Universität in Heidelberg, wo sie auch das Filmfestival mitorganisierte. Seit ihrer Rückkehr nach Spanien arbeitet sie als Castingagentin für Film und Fernsehen. Ihre Romane sind internationale Bestseller. Mit »Verheiratete Frauen« war sie Finalistin beim Premio Planeta.

Inhalt

Prolog

1 Von Männern und Frauen

2 Freundinnen

3 Liebende

4 Wilde Geschichte

5 Narben

6 Die Wunde

7 Kleine wahre Lügen

8 Die Noblesse des Ehemanns

9 Begehren

10 Schwarze Strümpfe auf weißer Haut

11 Es wird ernst

12 Auslassung

13 Der erste Tag vom Rest meines Lebens

14 Liebe

15 Die Ewigkeit und ein Tag

Filmtitel

Songtitel

Danksagung

Ich bin nackt. Mein Kopf ruht auf der Brust meines Geliebten. Des Mannes, den ich liebe. Ich verschränke meine Beine mit seinen, während er mit seinen starken, warmen Händen über mein Haar streicht.

Heute war er es, der mich langsam liebte. Manchmal ist es umgekehrt. Fast immer sind es wir beide.

Das Schweigen zwischen uns ist tief. Tief und dicht.

Wir wissen beide, dass die Geschichte zwischen uns zu Ende geht. Diese verbotene Liebe, die wir seit einem Jahr füreinander empfinden. Es war ein intensives Jahr. Voller Leben, voller Sex, Liebe und Zärtlichkeit. Vor allem war es ein Jahr voller Gedankenlosigkeit. Dreihundertfünfundsechzig Tage sind eine lange Zeit. So viele Tage, an denen wir uns heimlich geliebt haben.

Wir könnten einfach so weitermachen. Ich könnte weiter meinen Mann betrügen und Pablo seine Frau. Das ist es, was Pablo möchte. Er kann zwei Frauen gleichzeitig lieben, aber ich kann das umgekehrt nicht: zwei Männer gleichzeitig lieben. Wahrscheinlich bin ich unfähig, Sex und Liebe zu trennen. Sex und Gefühle.

»Was quält dich so, Gabriela? Dass du nicht mit mir zusammenleben kannst?« Pablo wartet einige Sekunden, bevor er weiterspricht. »Bist du sicher, dass du für mich deine Familie zerstören willst? Und ich meine?«

Ich höre schweigend zu. Ich weiß nicht, was ich will.

»Du liebst deinen Mann. Und ich verstehe mich gut mit meiner Frau.«

Ich weiß, dass er nicht von Liebe zu seiner Frau spricht, um mich nicht zu verletzen. Jedes Mal, wenn er von seiner Frau redet, gibt es mir einen Stich ins Herz. Ich glaube, Pablo ist nicht klar, welches dramatische Gewicht jeder Satz, den er sagt, für mich und mein Leben hat.

»Willst du zwei Wochen im Monat auf deinen Sohn verzichten? Willst du, dass er vierzehn Tage bei seinem Vater lebt und vierzehn Tage mit mir? Und willst du dich um meine Töchter kümmern? Willst du das wirklich?«

Ich gebe keine Antwort. Pablo weiß, wie mir das alles zusetzt, und streicht mir übers Haar.

»Und außerdem, Gabi … Wenn ich tue, was du von mir verlangst, werde ich zu dem, was du schon hast.«

Der Satz hallt in meinem Kopf nach.

»In einem Jahr wirst du aufhören, mich zu begehren, und nichts wird mehr so sein wie jetzt.«

Ich höre, was er sagt, aber es erscheint mir unmöglich, dass die Leidenschaft, die ich für ihn, für Pablo, meinen Geliebten, empfinde, jemals enden könnte. Ich begehre ihn so sehr … so sehr. Ich verstehe nicht, wie man mit fünfundvierzig Jahren so intensive Gefühle haben kann. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so tief empfunden zu haben. Oder vielleicht war es mit meinem Mann genauso, aber das ist schon lange her. Zu lange. Ich weiß gar nicht mehr, ob wir inzwischen seit neunzehn oder zwanzig Jahren verheiratet sind, weil mein Leben mit einem Mann verbunden ist, den ich als Partner liebe, als Vater meines Sohnes, als Freund, als meinen besten Freund. Einem Mann, den ich zutiefst wertschätze, aber den ich nicht liebe. Den ich nicht begehre.

Manchmal, wenn ich allein bin, denke ich an dieses tiefe Gefühl, das in mein Leben zurückgekehrt ist, und finde kein besseres Wort dafür als Wiedergeburt. Ein ganz neues Leben.

Insgeheim wiederhole ich manchmal leise dieses eine Wort: LEIDENSCHAFT.

Die Leidenschaft hat mein ruhiges Leben durcheinandergewirbelt. Mein angenehmes, behagliches Leben mit meinem Mann. Die Leidenschaft hat meine emotionale Stabilität ins Wanken gebracht. Die Leidenschaft hat mich verraten. Manchmal frage ich mich, warum. Warum habe ich das getan? Die Antwort ist einfach: Abenteuerlust. Die Abenteuerlust hat mich gepackt. Zwanzig Jahre Ehe. Mein Leben war ein ruhiger, stiller Fluss.

Es begann wie ein unterhaltsames Spiel, bei dem ich meinen Körper hingab und mir einredete, dass es nur darum ging. Es dauerte keinen Monat, bis ich auch mein Herz verlor.

»Gabi, willst du wirklich deine Ehe für mich aufgeben?«, fragt er erneut.

Ich zögere immer, auf seine direkten Fragen zu antworten.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich dir antworten soll. Aber ich kann so nicht leben. Ich kann das nicht. Das bin nicht ich. Ich versuche es seit dem Tag, als ich zum ersten Mal diese Wohnung betreten habe.« Ich zögere kurz, bevor ich weiterspreche. »Manchmal denke ich, ich hätte nie herkommen sollen.«

Ich weiß, dass meine Worte Pablo verletzen. Denn Pablo liebt mich, auch wenn ich nur seine Geliebte bin und nicht seine Frau.

Ich schaue zur Wohnungstür und denke an den Tag zurück, als ich zum ersten Mal über diese Schwelle trat. Als ich zum ersten Mal sein Studio unterm Dach betrat, wo er jeden Tag schreibt. Eine Mansardenwohnung voller Bücher und Jazzplatten. Unser Versteck. Der Ort, an dem wir uns heimlich lieben. Wo ich meinem Mann untreu bin und er seiner Frau.

Ich hätte damit aufhören können, aber ich wollte nicht. Ich allein bin schuld an diesem Wirbelsturm der Gefühle, der über mein Leben hereinbrach.

»Pablo, sieh mich an«, bitte ich ihn.

Ich bin sehr schlank. Alle Frauen in meiner Familie sind schlank. Und seit ich ihn kenne, habe ich noch drei Kilo verloren. Für viele Frauen ist das nichts; für meinen Körper ist es zu viel.

»Du bist wunderschön«, antwortet er aufrichtig.

Er findet mich immer schön.

An Donnerstagen, denn das ist unser gemeinsamer Tag, fühle ich mich immer geliebt. Zutiefst geliebt. Er liebt mich mehr als seine Frau. Viel mehr. Seine Frau schätzt er. Sehr sogar. Ich glaube, er ist ehrlich zu mir, wenn er das sagt. Er müsste nicht ehrlich sein, aber ich glaube ihm, weil ich ihn verstehe. Ich empfinde genauso für meinen Mann. Den Mann, mit dem ich seit zwanzig Jahren durchs Leben gehe.

»Du bist wunderschön«, sagt er noch einmal.

Ich lächle dankbar und sehe ihn an. Sein wettergegerbtes Gesicht verrät den Lauf der Zeit. Er ist ein interessanter, charismatischer Typ trotz seiner introvertierten Art. Pablo ist zurückhaltend, genau wie mein Mann. Ich mag zurückhaltende Männer. Mein Vater war genauso. Manchmal versuche ich, mich von diesen Gefühlen zu distanzieren, die mein Leben überschatten, und vergleiche insgeheim beide. Mein Mann und mein Liebhaber sind sich ähnlich. Mehr in ihrem Wesen als vom Aussehen her. Manchmal kommen sie mir beinahe gleich vor. Aber den einen begehre ich. Den anderen nicht.

Ich lasse meine Hand über Pablos Gesicht gleiten. Kraule seinen ergrauenden Bart, den er nicht gerne rasiert und mit dem ich immer spiele, wenn wir uns lieben. Pablo ist fünfundfünfzig, und obwohl ich zehn Jahre jünger bin, denke ich manchmal verunsichert, dass er auch mit einer Dreißigjährigen zusammen sein könnte. Mit einer Frau, die jünger ist als ich, mit straffer Haut und festen Brüsten. Die frei und ungebunden ist.

Ich bin eine reife Frau, die die Veränderungen ihres Körpers akzeptiert. Manchmal allerdings stelle ich mit Bedauern fest, dass meine kleinen Brüste erschlaffen. Bemerke die Fältchen rund um die Augen.

Pablo könnte mit einer jüngeren Frau zusammen sein, denke ich dann, denn er ist nicht nur ein attraktiver Mann, sondern auch ein bekannter Schriftsteller. Und hier kommt die Erotik der Macht ins Spiel. Er reist mit seinen Romanen durch die Weltgeschichte, und die Presse reißt sich darum, ihn zu interviewen. Seine Lesungen finden nicht länger in Buchhandlungen statt; vor einigen Jahren hat sein Verlag beschlossen, seine Bücher im Círculo de Bellas Artes und im Centro de Cultura Contemporánea in Barcelona zu präsentieren. Wenn er auf der Buchmesse in Madrid signiert, werden Absperrgitter aufgestellt, damit seine Leserinnen und Leser nicht die Allee im Retiro-Park blockieren. Und ja, tatsächlich wird er von Zwanzig- und Dreißigjährigen umschwärmt, insbesondere dann, wenn ein neuer Roman von ihm erscheint. Natürlich gibt es die Erotik der Macht. Die Erotik des Ruhms. Er weiß das. Pablo ist ein intelligenter Mann. Hochintelligent. Aber für Pablo ist ein scharfer Verstand interessanter als ein makelloser Körper, und ich weiß, dass er meine Klugheit liebt. Sie ergänzt ihn. Sie inspiriert ihn. Er ist großzügig mit seinen Worten, wenn ich seine Manuskripte lese und Wörter, Adjektive und Kommata ändere. Ich streiche ganze Szenen oder Figuren. Dann schreibt er die Stellen um, nicht ohne mich vorher zu küssen und sich jedes Mal zu bedanken. Pablo gibt mir eine Sicherheit, die ich normalerweise nicht empfinde, selbst wenn ich nackt in seinen Armen liege, den Kopf auf seiner Brust.

»Ich will mein Leben lang mit dir zusammen sein, Gabi. Das ganze Leben, das uns bleibt.«

Diese Worte flüsterte er mir vor einigen Monaten zu, während er in mir versank. Ich antwortete, dass ich mehr wolle. Dass ich jeden Abend neben ihm einschlafen wolle.

Darauf gab er keine Antwort.

Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen.

»Pablo, zu Hause merken sie, dass irgendwas mit mir nicht stimmt«, sage ich. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.« Ich halte kurz inne, weil es mir schwerfällt, das Wort auszusprechen, dessen Klang ich verabscheue. »Wie lange ich diese Lüge noch aushalte.«

Ich sehe ihn forschend an und hoffe auf eine Antwort, von der ich weiß, dass sie nicht kommen wird. Wir haben schon öfter darüber gesprochen. Er ist immer ehrlich zu mir gewesen. Immer. Während ich auf seine Antwort warte, werden meine Augen feucht.

Ich weiß, dass meine Tränen ihn entwaffnen. Immer.

Denn Pablo liebt mich. Und er hasst es, mich leiden zu sehen.

»Gabi, hör auf«, sagt er leise, aber bestimmt. Er küsst mich auf den Mund. »Hör auf, Gabi, bitte. Hör auf.«

Er umarmt mich, weil er es nicht erträgt, mich weinen zu sehen.

»Ich habe viel darüber nachgedacht«, sage ich mit sanfter Stimme. »Ich weiß nicht, ob wir Frauen dafür geschaffen sind, ein Doppelleben zu führen.« Da er nicht antwortet, rede ich weiter. »Du wirkst so ruhig. Du bist ein paar Tage mit deiner Frau zusammen, dann mit mir. Ich weiß nicht … Ich kann das nicht. Die Donnerstage mit dir verbringen und den Rest der Woche mit meinem Mann. Ich versuche es jetzt seit einem Jahr, aber ich kann das einfach nicht. Vielleicht gibt es Frauen, die das können, aber ich habe noch keine kennengelernt. Ich glaube, das ist was Männliches.«

Ich setze mich auf die Bettkante und hebe den schwarzen Spitzenslip vom Fußboden auf. Den habe ich nur für ihn gekauft. In einer Stunde müssen wir zum Abendessen bei unseren jeweiligen Familien sein.

»Wie lange noch?«, frage ich ihn und sehe ihn an. »Wie lange noch, Pablo?«

Er antwortet nicht.

Eine Träne rollt über meine Wange.

Pablo zieht mich an sich. Er küsst die Träne weg, während er seine Hände langsam in meinem Haar vergräbt.

»Hör auf, Gabi. Hör auf. Ich möchte nicht, dass du so gehst.«

Er legt seine Hände an meine Schläfen und streichelt mein Gesicht. Seine Finger zeichnen meine Lippen nach. Er küsst mich sanft.

»Wie lange noch, Pablo? Bitte, antworte mir.«

Und Pablo antwortet, was er schon öfter geantwortet hat: »Solange du willst.«

Er küsst mich erneut. Sucht meine Zunge. Ich weiche ein wenig zurück. Er sieht mich an. Sein Mund nähert sich wieder. Ich drehe mich weg. Doch das Verlangen kehrt zurück. Das Verlangen spielt meinem Körper immer wieder einen Streich. Es ist stärker als mein Verstand. Vor nicht mal zwanzig Minuten haben wir uns geliebt. Er ist in mir gekommen, ich spüre noch seinen Samen in mir. Trotzdem ist das Verlangen stärker als ich. Pablo weiß das. Langsam spielt er mit meiner Zunge.

»Pablo, hör auf«, flüstere ich ohne Überzeugung.

Er gehorcht und geht ein wenig auf Abstand. Unsere Blicke versinken ineinander, und Pablo spürt mein Verlangen. Er kommt wieder näher und sucht meine Lippen. Ich schließe die Augen und lasse ihn gewähren. Lasse ihn das tun, was er tun will.

Er liebkost meinen Hals, meine Schultern und wandert dann tiefer, zu meinen Brüsten. Dort verweilt er. Er umkreist meine Brüste mit den Fingerspitzen, nähert sich langsam den Brustwarzen. Widmet sich erst der einen, dann der anderen. Ich lasse die Augen geschlossen, weiß, dass er beobachtet, wie sich die Nippel aufrichten. Ich weiß, dass er die Schönheit seiner Geliebten betrachtet. Das sind die Worte, die er in einem seiner Texte verwendete, um mich zu beschreiben. Sätze in Times New Roman und Kursivschrift auf seinem Computer. Unzusammenhängende Sätze, lose, einzelne Wörter. Gedanken, denen er Gestalt verleiht und die wir gemeinsam lesen. Die letzten, die er schrieb, haben sich in meine Erinnerung eingegraben. Sätze, von denen er sagt, dass er sie irgendwann publizieren wird: »Ich liebe es, meine nackte Geliebte anzuschauen. Zu sehen, wie sie meinetwegen erschaudert. Sich windet. Wie sie die Beine spreizt und mich bittet, in ihr zu versinken.«

Jetzt liebkost Pablo meine Brustwarzen mit der Zunge. Erst die eine, dann die andere. Immer abwechselnd. Mein Körper bäumt sich auf. Lässt ihn gewähren. Ich spüre, wie seine Hände meinen Körper entlangwandern. Über meinen Bauch. Meinen Bauchnabel. Meine Schenkel. Er streichelt die Innenseite meiner Beine. Ich erschaudere, weil ich weiß, was gleich passieren wird. Ich merke, wie ich feucht werde. Bemerke den Honig, der zu fließen beginnt. Pablo weiß das, er spürt, wie erregt ich bin. Er will, dass ich ihn darum bitte, und wartet, bis ich es tue. Er wartet, dass ich meine Beine ein wenig öffne und ihm Zugang gewähre. Ich tue, was er erwartet, und öffne die Beine. Pablo schiebt eine Hand in meinen Slip, er liebkost mein Geschlecht, seine Finger dringen in mich ein. Ganz langsam gleiten sie in meinen Körper, rein und raus. Pablo ist immer großzügig beim Sex. Er mag es, meine Lust zu sehen. Zuerst komme ich, dann er. Ohne Eile lässt er seine Finger spielen, während er beobachtet, wie meine Erregung wächst. Seine Finger dringen in mich ein, immer wieder. Ich spüre die Lust durch meinen Körper strömen. Und er macht weiter, wartet, dass ich meine Beine noch ein wenig weiter öffne. Ich tue es. Lasse zu, dass er dieses Stückchen meines Körpers liebkost, an dem sich die ganze Lust konzentriert. Mit dem Zeigefinger übt er sanften Druck aus, und ich stöhne leise. Er drückt nun ein wenig fester, lässt den Finger kreisen. Die Augen immer noch geschlossen, weiß ich, dass er mich beobachtet. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Er spielt eine Minute, vielleicht zwei, drei. Wenn du liebst, verlierst du das Zeitgefühl. Er spielt mit meinen leisen Seufzern. Ich spüre, dass nicht mehr viel fehlt, bis ich komme, und dann liebkost er kräftig das Stückchen meiner Welt, das danach lechzt, sich zu befreien.

»Sieh mich an, Gabi.«

Ich kenne seine Spielchen.

»Mach weiter, Pablo. Bitte«, flehe ich, ohne die Augen zu öffnen.

»Sieh mich an, Gabi«, befiehlt er sanft.

»Bitte lass mich kommen«, stöhne ich leise.

»Mach die Augen auf, Gabriela. Sieh mich an.«

Er sagt das gebieterisch, nennt mich bei meinem vollständigen Namen, den er nur benutzt, wenn wir uns lieben oder wenn ich zu viel von ihm fordere. Sonst nennt er mich Gabi, diese Koseform, mit der ich durchs Leben gehe, den Namen, den alle verwenden, die mich lieben.

Pablo gewinnt immer. Weil er die Kontrolle über meinen Körper hat. Über meinen Sex. Meine Lust. Aber ich will diesen Zustand nicht verlassen, der mich die Welt vergessen lässt. Als Pablo merkt, dass ich nicht gehorche, hält er inne und verweigert mir, wonach ich mich sehne.

Ich kann nicht anders, als zu tun, was er will. Erregt, Sekunden vor dem Höhepunkt, öffne ich die Augen, und sein Blick versinkt in mir. Seine Hände lösen sich von meinem Geschlecht und wühlen sich in mein Haar. Umfassen meine Schläfen. Er weiß, dass er in diesem Moment, in diesem Stadium der Lust, in dem ich mich befinde, alles von mir verlangen könnte. Ich würde es tun. Ich bin ihm längst verfallen.

Er küsst mich und spielt mit meiner Zunge, überflutet meinen Körper mit Empfindungen, wartet, dass mein Begehren mich allmählich an diesen Ort bringt, den ich herbeisehne. Aber er weiß, dass ich allein dazu nicht imstande bin. Er muss mich weiterstreicheln. Nur ein bisschen noch. Und ich überlasse mich diesem Zustand, in dem Lust in Verlangen übergeht. Ich will endlich kommen, aber Pablo spielt weiter, lässt mich weiter warten. Er leckt meine Brustwarzen, knabbert daran, und ich stöhne in süßer Erwartung.

»Lass mich kommen, bitte«, flehe ich.

Ungeduldig biege ich ihm meinen Körper entgegen und schlinge meine Beine um ihn. Der Stoff meines Slips berührt seine Haut, und ich lasse meine Hand zu seinem Geschlecht gleiten, denn auch ich kenne seinen Körper. Ich kenne den Körper meines Geliebten. Pablos Körper. Ich spüre seine Erektion und streichle sie. Er lässt mich einige Sekunden gewähren, doch dann greift er sanft nach meiner Hand und schiebt sie weg.

»Nur du, Gabi. Aber warte. Keine Eile«, flüstert er.

Ich stöhne, weil ich es nicht mehr aushalte. Er weiß das, und seine Hand gleitet erneut meinen Körper entlang. Über meine Brüste, meinen Bauch, meine Schenkel, meine Scham. Unter meinen Slip, zu meinem Geschlecht. Ich seufze, als er mit seinen Fingern in mich eindringt und gleichzeitig mit sanftem Druck die Stelle berührt, an der sich die ganze Lust konzentriert. Ich kann ein tiefes Stöhnen nicht unterdrücken. Ich bin kurz davor, und Pablo weiß das. Er verstärkt den Druck. Ich wimmere. Und eine Sekunde, bevor ich explodiere, hört er auf.

»Pablo«, flehe ich und öffne die Augen.

Aber er macht nicht weiter. Er streichelt mein Geschlecht durch den Slip hindurch.

»Bitte, Pablo«, flüstere ich, weil mein Körper das nicht aushält. Ich halte das nicht aus.

»Du bist so schön, Gabi …« Er streicht mein Haar zurück, um mein Gesicht vollständig freizulegen. »So wunderschön … Ich will dich nicht verlieren.«

Seine Worte rühren mich, weil ich weiß, dass sie aufrichtig gemeint sind. Ich höre sie, und ich liebe ihn noch viel mehr, als er glaubt. Mein Körper fleht darum, endlich loszulassen. Die Lust überrollt mich, genau wie der Schmerz und die Sehnsucht. Und ich denke, aber spreche es nicht aus: Mir ist nicht nach Spielchen heute, Pablo. Streichle mich, bitte, und lass mich kommen. Ich bin eine Frau mit gebrochenem Herzen. Ich darf ihn nicht länger sehen, obwohl ich das nicht will. Ich muss aufhören, ihn zu begehren. Ich muss mit diesem Doppelleben aufhören, mit dem ich nicht umgehen kann.

»Mach weiter«, bitte ich ihn und suche seinen Mund.

Er küsst mich, während er seine Hand wieder in meinen Slip schiebt und mein Schamhaar streichelt. Mit geschlossenen Augen lege ich meine Hand auf seine und führe sie. Er bewegt seine Hand langsam rein und raus, um die Lust zu dosieren.

»Wirst du wieder herkommen?«, fragt er leise.

Und da breche ich unerwartet in Tränen aus, aber nicht wegen dieser sanften Folter, die die Verweigerung der Lust bedeutet, nein. Nicht deshalb, sondern wegen der Angst, nicht wiederzukommen, ihn nie wieder zu sehen, weil ich nicht untreu sein kann, wegen dieser Entscheidung, die ich gegen meinen Willen getroffen habe und die Pablo nicht versteht, nur deshalb breche ich in Tränen aus.

Beschämt öffne ich die Augen. Ich fühle mich wie ein kleines Kind, und ich sehe Pablos Ratlosigkeit angesichts meiner Tränen. Ich umarme ihn ganz fest, weil ich ihm nicht sagen will, dass ich nicht mehr herkommen werde. Ich zittere – vor grenzenloser Lust, und gleichzeitig bricht es mir das Herz.

»Gabi, verzeih mir. Bitte, nicht weinen. Das wollte ich nicht …«, sagt er leise, aufrichtig erschrocken.

Seine Hand wandert zu der Stelle meines Geschlechts, an der sich die Lust konzentriert und die auf ihn wartet. Die ihm gehört. Er übt sanften Druck mit seinen Fingern aus, beschreibt kleine Kreise. Und endlich, innerhalb von Sekunden und mit tausend Tränen in den Augen, lässt mein Körper los, an diesen Mann geklammert, den ich so sehr begehre, zerspringt in diesen zehn Sekunden endloser Lust, während Pablo seine Arme um mich schlingt und mir mit der Überzeugungskraft seiner Worte ins Ohr flüstert: »Ich liebe dich.«

 

Vor meiner Wohnungstür atme ich tief durch. Ich habe mich im Aufzugspiegel betrachtet. Man merkt kaum, dass ich geweint habe. Ich fühle mich schwach, kaputt, erschöpft. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn um.

Als ich reinkomme, höre ich meinen Sohn in der Badewanne spielen. Er macht Motorgeräusche, während er mit seinem Playmobil-Boot im Wasser planscht. Ich ziehe den Mantel aus und hänge ihn an die Garderobe in der Diele. Ich seufze. Dann gehe ich den Flur entlang.

Ich wäre in diesem Moment lieber nicht hier, weil ich mein gesamtes Leben als Last empfinde. Meinen Mann. Meinen Sohn. Oder doch. Ich wäre gerne in meiner Wohnung, aber allein. Würde mich nackt unter der Bettdecke verkriechen, die Knie an die Brust ziehen und die Arme darum schlingen. Mich zusammenkauern. Allein.

Mein Sohn hört meine Schritte.

»Mama?«, ruft er fröhlich durch die angelehnte Badezimmertür. »Mama ist da!«

Ich gehe hin und schaue ins Bad.

Germán, mein Mann, sitzt mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und in Anzughose auf dem Badewannenrand.

»Mama!«

Mein Sohn sieht mich strahlend an. Was ist das für eine grenzenlose Liebe, die Kinder für ihre Mütter empfinden? Sie rührt mich so sehr … Ich gehe kaum fünf Stunden aus dem Haus, und wenn ich zurückkomme, strahlt dieses Riesenbaby, das vor drei Jahren aus meinem Bauch gekommen ist, und sieht mich mit einer Freude an, als hätte es mich monatelang nicht gesehen.

»Badest du mit mir?«

Das machen wir oft: Wir legen uns in die Wanne, mein Mann setzt sich auf den Rand, und während ich unserem Sohn die Haare wasche, schrubbt mir mein Mann sanft mit dem Schwamm den Rücken. Aber das letzte Mal ist schon eine Weile her.

»Heute nicht, mein Schatz.«

Mein Sohn sieht mich flehend an.

»Ach komm, Mama. Bitte.«

Ich kann nicht nein sagen, weil ich es ihm schuldig bin. Sogar ihm gegenüber war ich distanziert.

»Na gut, okay. Ich ziehe mich aus, und dann komme ich.«

Ich betrachte die beiden Männer in meinem Leben, die mich um meine Gesellschaft bitten. Mit seinem Schweigen bittet mich auch Germán, mich auszuziehen und in die Badewanne zu steigen.

»Alles okay?«, fragt er mich.

Ich schlucke die Traurigkeit runter. Seit Monaten schlucke ich die Traurigkeit runter. Zwanzig Jahre Ehe, zwanzig Jahre Zusammenleben, wie sollte er da nichts merken? Er weiß, dass es mir seit einiger Zeit nicht gut geht, auch wenn ich das Gegenteil behaupte. Er weiß, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Verschlossen, unterkühlt, distanziert: Das sind die drei Adjektive, die er bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen wir reden, verwendet, um mich zu beschreiben. »Ich fühle mich allein, Gabi«, sagte er vor einigen Monaten.

Ich beantworte seine Frage so wie immer: »Ja, Germán, alles okay. Ich bin ein bisschen müde, das ist alles.«

»Dann komm«, sagt er liebevoll.

Es tut mir weh, wenn er liebevoll zu mir ist, denn das habe ich nicht verdient, und die Schuldgefühle, die ich seit Monaten empfinde, machen mich hilflos. Manchmal wäre es mir lieber, mein Mann würde mich anschreien, so richtig anbrüllen. Aber Germán wird nie laut.

Germán fragt nicht weiter nach. Ich glaube, er will nicht mehr wissen.

Angespannt zwinge ich mich zu einer Normalität, die ich nicht empfinde, und gehe durch den Flur ins Schlafzimmer. Ich betrachte mich in dem Spiegel, der über dem kleinen Sekretär hängt. Das Licht im Aufzug war trügerisch: Meine Augen sind ein bisschen verquollen. Ich versuche, nicht an Pablo zu denken. Aber es gelingt mir nicht.

»Mama!«

»Ich komme, mein Schatz.«

Ich streife die Schuhe ab. »Verschwinde aus meinem Kopf, Pablo. Los, verschwinde. Bitte verschwinde aus meinem Leben.« Ich stelle mir vor, wie er mit seiner Frau und seinen Töchtern zu Abend isst, als ob nichts wäre, und es tut mir weh. »Verschwinde aus meinem Kopf. Los, verschwinde.«

Ich knöpfe die Bluse auf und streife sie ab. Den BH. Die Jeans. Den schwarzen Spitzenslip, den ich nur für ihn trage.

»Mama!«

Ich schließe die Augen und seufze. Ich lege die Hand auf meinen Brustkorb, um zur Ruhe zu kommen, obwohl ich weiß, dass es mir nicht gelingen wird. Ich hole ein Handtuch aus dem Schrank und wickle mich darin ein. Dann gehe ich ins Bad zurück.

Mein Sohn strahlt mich an. Ich lege das Handtuch ab und stehe nackt vor den beiden. Germán betrachtet schweigend meinen nackten Körper. Ich fühle mich unwohl, wenn er mich so ansieht. Ich habe das Gefühl, dass er weiß, dass mich ein anderer Mann berührt hat.

»Los, Mama, komm rein!«

Ich gehe zur Badewanne, steige rein und bleibe stehen. Ich spüre das warme Wasser an meinen Füßen, doch statt mich zu entspannen, macht es mir Angst. Ein dunkler Gedanke schießt mir durch den Kopf und wird Wirklichkeit, als mir bewusst wird, dass Pablos Samen noch in mir ist. Ich sehe, wie mein Sohn lächelnd zu mir hochschaut und mich bittet, mich zu ihm zu setzen.

Ich würde am liebsten weglaufen. Ich bin innerlich so aufgewühlt, dass ich gar nicht darauf geachtet hatte. Ich dusche immer in Pablos Dachwohnung, nachdem wir uns geliebt haben. Immer. Nur heute hatte ich keine Zeit dafür.

Mein Sohn streckt mir sein Händchen entgegen.

Ich spüre, wie Pablos Sperma aus meinem Geschlecht läuft.

Ich will hier weg. Fliehen. Ich schaue zur Tür.

Ich fühle mich schwach, meine Beine geben nach. Ich kneife alles zusammen. Vielleicht ist es nur der Wasserdampf, der dieses Schwächegefühl verursacht. Ich will mich nicht zu ihm setzen.

»Komm schon, Mama«, sagt er und zupft vorsichtig an mir.

Ich fühle mich schmutzig, sehr schmutzig. Ich setze mich ins Wasser zu meinem Sohn, während mein Mann mir zärtlich über den Rücken streicht.

1Von Männern und Frauen

Ein Jahr, bevor Gabriela in die Arme ihres Liebhabers sank, treffen wir sie dabei an, wie sie entspannt und glücklich im Bett liegt und ihren schlafenden Mann betrachtet.

Sie sind seit zwanzig Jahren zusammen. Zwanzig Jahre, in denen sie sich lieben oder vielmehr zutiefst schätzen. Zwan-zig Jahre gegenseitiger Achtung. Zwanzig Jahre, in denen sich kleine alltägliche Diskussionen abgespielt haben, die manchmal beinahe zur Trennung geführt hätten, doch da sind sie noch immer, kämpfen um ihre Liebe, um ihre Familie.

Germán ist Ingenieur, ein zurückhaltender, schweigsamer Ingenieur. Das sind die beiden Adjektive, die Gabriela verwendete, um ihn bei einem Essen ihren beiden besten Freundinnen Silvia und Cósima zu beschreiben, als sie kichernd Vertraulichkeiten über ihre Partner austauschten.

Auch die Sache mit dem Ingenieur muss unbedingt erwähnt werden, denn ohne Germáns Beruf hätten sich ihre Wege nicht gekreuzt. Damals, Ende der neunziger Jahre, war Gabriela eine zwanzigjährige Journalistin, die gerade ihren Universitätsabschluss gemacht hatte, und Germán ein junger Ingenieur, den sie als einen der fünf Gewinner des Fulbright-Stipendiums interviewen sollte. Das war ein Programm des US-Außenministeriums in Zusammenarbeit mit dem spanischen Bildungsministerium, auf das man nur mit Bestnoten im Studium, zwei Jahren Berufspraxis und hervorragenden Englischkenntnissen in Wort und Schrift hoffen konnte. Das Stipendium beinhaltete eine großzügige finanzielle Unterstützung und erlaubte es Germán, einen Masterabschluss in Schiffbau und Meerestechnik am renommierten University College in Boston zu machen. Gabriela interviewte ihn für die Stadtteilzeitung des Raval-Viertels, wo sie ein Praktikum machte. An diesem Tag vor nunmehr zwanzig Jahren begann ihre Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte von Gabriela und Germán. Die Geschichte ihrer Ehe.

 

Es ist Samstagmorgen. Ihr Sohn hat bei Gabrielas Mutter übernachtet. Sie werden ihn erst am Nachmittag abholen. Es kommt nicht oft vor, dass sie für sich sind. Sie weiß, dass Germán mit ihr schlafen will, wenn er wach wird.

Es bewegt Gabriela, dass er sie auch nach zwanzig Jahren noch schön findet. Dass er sie immer noch genauso begehrt wie am ersten Tag oder sogar noch mehr. Manchmal fragt sie sich, wie es sein kann, dass seine Begeisterung für sie nicht verflogen ist.

»Was schaust du so?«, fragte Gabriela ihn neulich, als sie ihn dabei ertappte, wie er sie stumm ansah, als sie aus der Dusche kam.

»Ich betrachte meine Frau.«

Gabriela bewegt die Langmut ihres Mannes. Sie weist ihn so oft zurück unter dem Vorwand, ihr Sohn könnte etwas mitbekommen, oder mit der Ausrede, sie habe einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Und dann sind da noch ihre Menstruationsbeschwerden, die eine Woche anhalten. Das allerdings ist keine Lüge, so ist es wirklich. Aber an diesem Samstag ist ihr Sohn nicht da, sie hat nicht ihre Periode, es gibt keine Ausrede.

Gabriela setzt sich geräuschlos auf, um ihn nicht zu wecken, und schlüpft unter dem Daunenbett hervor. Sie trägt lediglich eines dieser dünnen Trägerhemdchen, in denen sie das ganze Jahr hindurch schläft. Sie mag es, die Kälte zu spüren, wenn sie sich ins Bett legt, und sich an den Mann zu kuscheln, der sie durchs Leben begleitet.

Sie nimmt einen alten Kaschmirpulli von Germán, der auf einem Sessel liegt. Am Ärmel ist ein Brandloch von den Zigaretten, die er seit fünfundzwanzig Jahren raucht. Germán brennt überall Löcher rein. Gabriela kauft die Pullover; wenn es nach ihm ginge, würde er die ganze Zeit in löchriger Kleidung rumlaufen. Es würde ihm nichts ausmachen. Er ist Schiffbauingenieur, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Meerestechnik und Teilhaber der US-amerikanischen Firma ASCE Naval Engineering. In einem Kaschmirpulli mit Brandlöchern rumzulaufen würde nichts für ihn ändern, also bewahrt Gabriela diese Pullis in Größe XL auf, um sie über ihre Baumwollhemdchen zu ziehen.

Bevor sie das Schlafzimmer verlässt, schaut sie auf den Digitalwecker. 7.05 Uhr. Sie hat schätzungsweise eine Stunde für sich. Vielleicht zwei.

Gestern Abend sind sie spät ins Bett gegangen. Gabriela hatte einen Tisch im Restaurant Ca La Mariona reserviert, einem der wenigen Lokale im Zentrum von Barcelona, die noch traditionelle katalanische Küche servieren. Sie mögen Trinxat de la Cerdanya, Kohl mit Kartoffeln und Speck, und Escudella amb carn d’olla, ein deftiger katalanischer Eintopf mit Wurst und Nudeln. Die japanische oder thailändisch-vietnamesische Fusionküche, die sich überall in der Stadt ausbreitet, ist nicht ihr Ding.

Sie machten sich ausgehfertig. Gabriela stand gerade unter der Dusche, als Germán, der genau wusste, dass sie nicht gerne abends ausging, sein Ass aus dem Ärmel zog: »Im Fernsehen kommt Short Cuts.«

»Wirklich?«, antwortete Gabriela. »Es kommt mir vor, als hätten wir den erst gestern gesehen.«

Dieser Film von Robert Altman hatte eine ganz besondere nostalgische Bedeutung für sie.

Während das Wasser auf ihren Körper prasselte, dachte Gabriela an den Abend zurück, als sie ihn gemeinsam gesehen hatten. Es war im August 1998 im Somerville Theater in Boston, Massachusetts, gewesen. Dieser Abend vor zwanzig Jahren hatte ihr Leben verändert.

 

Sie waren die Elm Street entlang in Richtung Somerville Avenue geschlendert, zurück zum Campus, wo sie wohnten. Sie lebten seit vier Wochen gemeinsam in dieser beschaulichen Stadt an der amerikanischen Ostküste, wo Germán mit einem Studentenvisum zwei Jahre verbringen würde, um seinen Master in Ingenieurswesen zu machen. Gabriela blieben noch drei Tage, dann würde sie nach Barcelona zurückfliegen. Sie kehrte ohne konkreten Plan nach Spanien zurück. Mit fünfundzwanzig stand sie vor der schwierigen Aufgabe, eine Stelle als Journalistin zu suchen. Das geschriebene Wort war ihre Stärke, Sprechen vor Publikum hingegen war ein Horror für sie. Deshalb verwarf sie die Optionen Radio und Fernsehen und sandte ihren Lebenslauf an sämtliche Printmedien. Sie begann mit den überregionalen in Madrid und Barcelona, und als sie keine Antwort erhielt, machte sie mit den übrigen achtundvierzig spanischen Provinzen weiter. Schließlich schickte sie Bewerbungen an kleine Zeitungsredaktionen in katalanischen Dörfern und sogar an die Lokalzeitung auf ihrem geliebten Formentera. Von den kleinen Redaktionen erhielt sie freundliche Absagen, in denen man ihr mitteilte, dass es im Moment keine freien Stellen gebe, man ihre Unterlagen aber aufbewahre. Von den großen hatte sie noch keine Antwort bekommen, und das würde sie auch nicht mehr.

Während des Studiums hatte sie fünf Jahre lang bei Zara am Paseo de Gracia gejobbt und sich sehr gut mit Zaira, der Shopmanagerin, verstanden. Wenn sie keine Zusage von irgendeiner Zeitung bekam, konnte sie jederzeit dorthin zurück.

Mit ihrem doppelten Abschluss in Geisteswissenschaften und Journalismus träumte Gabrielas nicht unbedingt davon, Pullover zu falten und Kunden zu bedienen, aber sie wäre sich auch nicht zu fein dafür, wenn es sein musste.

Als sie aus dem Kino kamen, hatte Germán seinen Arm um ihre Schulter gelegt und war schweigend neben ihr hergegangen, während sie von der gelungenen filmischen Umsetzung schwärmte. Sie hatte darauf gedrängt, den Film anzusehen. Im Grunde hatte Gabriela diesen ganzen Monat organisiert: den Ausflug nach Vermont, das Wochenende in Cape Cod, die Schiffstouren auf dem Mystic River. Und sie hatte Kontakte mit Germáns Kommilitonen und vielen anderen Studierenden der Bostoner Uni geknüpft.

In Boston war Germán nicht Germán, sondern »Gabriela’s boyfriend«. Für Gabriela klang das nicht gut, Germán hingegen war es völlig egal.

»Das kommt daher, weil du nie redest, Germán. Woher sollen sie deinen Namen kennen?«

»Ich habe kein Bedürfnis zu reden, Gabi. Und die beiden, die meinen Namen kennen, nennen mich ›Dschörmen‹.«

Beide lachten über die mangelnde Sprachbegabung der Amis.

»Ich weiß nicht, Germán, normalerweise reden die Leute miteinander … Ich fliege in ein paar Tagen nach Spanien zurück, und du wirst das ganze Jahr mit ihnen studieren. Willst du dich den ganzen Tag in deinem Zimmer einschließen, um mathematische Formeln aufzustellen und auf der E-Gitarre rumzuschrammeln?«

Dazu muss man sagen, dass Germán zwei Lieben hatte, die ihn durchs Leben begleiteten: Gabriela und seine E-Gitarre, eine Fender Mustang.

»Warum nicht? Deswegen bin ich hier«, hatte er ganz ruhig geantwortet, während er über die Saiten der Gitarre strich. »Und das mit dem Geschrammel war nicht nötig.«

»Vielleicht findet sich irgendjemand unter den sechshunderttausend Bostonern, der dir zusagt.«

»Es ist ja nicht so, dass ich was gegen sie hätte, Gabi. Aber jetzt gerade … Ich weiß nicht«, sagte er, ohne sie anzusehen, während er weiter über die Fender strich. »Ich sehe sie mit ihren umgedrehten Red-Sox-Caps, wie sie Spareribs futtern und Bier in sich reinschütten, und was soll ich sagen? Ich habe nicht viel mit ihnen gemeinsam, da können sie tausendmal Ingenieure sein.« Er wartete einen Moment, um dann hinzuzusetzen: »Aber ich habe auch nichts gegen sie.«

Es stimmte, er hatte nicht viel mit diesen Typen gemeinsam. Gabriela konnte auch nur wenig mit den Mädchen anfangen, mit denen sie zusammen waren, aber sie war ein Chamäleon, das überall zurechtkam. Damals wusste sie es noch nicht, aber im weiteren Leben würde Gabriela die Verbindung ihres Mannes zur realen Welt sein. Immer dann jedenfalls, wenn es keine Veranstaltungen waren, die etwas mit seiner Arbeit zu tun hatten, denn bei der Arbeit war Germán ein anderer Mensch.

Nach den zwei Jahren Masterstudium ging sie zur Präsentation seiner Doktorarbeit, in der es um Bohrinseln in der Nordsee im Vergleich zu den Ölfeldern im Golf von Mexiko ging. Gabriela war so nervös, dass sie sich in der Nacht davor unruhig hin und her wälzte, während Germán, nachdem sie sich geliebt hatten, seelenruhig einschlief, als würde am nächsten Tag nichts auf dem Spiel stehen. So war Germán. Gabriela hatte die Nacht vor ihrer Aufnahmeprüfung als die längste ihres Lebens in Erinnerung; Germán hatte sie aus seinem Gedächtnis gestrichen. Germán bestand mit Bravour. Gabriela kam gerade so durch.

Die Verteidigung der Doktorarbeit nahmen der Dekan der Universität Boston und eine Kommission aus fünf Ingenieuren für Meereswissenschaften ab. Im Publikum – Gabriela zählte ungefähr zweihundert Personen, der Audimax der Fakultät war vollständig besetzt – saßen sämtliche Kommilitonen des Studiengangs sowie Headhunter großer amerikanischer Unternehmen, um neue Kräfte für ihre Firmen zu gewinnen. WSP aus New York, Arup aus Seattle und schließlich ASCE Naval Engineering mit Sitz in Boston, bei der Germán Jahre später einer der Mehrheitsgesellschafter sein würde.

Gabriela nahm ganz oben im Hörsaal Platz. Ihr Puls raste, ganz so, als müsste sie und nicht er vor dem Publikum sprechen. Als Germán aufstand, um seinen Vortrag zu halten, musste Gabriela sich zusammenreißen, um sich nicht die Augen zuzuhalten. Fünfundvierzig Minuten lang stellte er seine Doktorarbeit mit beeindruckender Gelassenheit und in tadellosem Englisch vor. Darüber hinaus brachte er immer wieder den Dekan, die Kommission, die Headhunter und die Studierenden im Publikum zum Lachen. Er steckte alle Anwesenden in die Tasche und verließ den Raum mit Auszeichnung und vier Jobangeboten. Das von ASCE Naval Engineering war am großzügigsten. Der zurückhaltende Typ, den sie kennengelernt hatte und den sie in diesem Moment noch hundertmal mehr liebte als am Tag zuvor, verwandelte sich im beruflichen Umfeld, sobald er sich unter seinesgleichen befand, in einen eloquenten, selbstbewussten Redner.

Diese beiden Extreme seines Charakters verwirrten Gabriela immer wieder aufs Neue.

Aber als sie an diesem Abend Arm in Arm die Somerville Avenue entlangschlenderten, lag der Vortrag noch in weiter Ferne.

Sie überquerten die Charlestown Bridge, die über den Fluss zur Universität führte, während Gabriela weiter von dem Film schwärmte.

Germán genoss die Gesellschaft dieser begeisterungsfähigen, extrovertierten Frau, die so ganz anders war als er und in die er heftig verliebt war. Ihnen blieben noch drei gemeinsame Tage, und schon jetzt fühlte er die Leere ihrer Abwesenheit. Die Leere der Tage ohne sie. Sie kannten sich erst seit einem Jahr, aber er liebte sie, wie er noch nie zuvor eine Frau geliebt hatte.

Davor hatte er eine Beziehung mit einem Mädchen namens Gina gehabt, eine der wenigen weiblichen Studentinnen in seinem Fachbereich. Sie war intelligent. Intelligenter als er. Schneller im Kopfrechnen. Sie kamen im zweiten Studienjahr zusammen und blieben ein Paar, bis Germán bei dem Interview anlässlich seines Fulbright-Stipendiums Gabriela kennenlernte und Gina verließ. Gabriela war der Trennungsgrund gewesen, das war klar, aber wie Germán ihr irgendwann gestand, hätte er sie früher oder später sowieso verlassen »wegen ihrer dicken Waden«.

Gabriela hatte gelacht, als sie das hörte.

»Aber deswegen verlässt man doch keine Frau, Germán.«

»Ich schon. Ich weiß nicht … Ich mag keine dicken Waden.«

Gabriela lachte und dachte: »Männer …«

Während sie nun über die Brücke gingen, blickte Germán unverwandt Gabriela an, die die Skyline von Boston betrachtete.

»Was schaust du so?«, fragte sie schließlich und wandte sich ihm zu.

Germán schwieg und antwortete dann mit verliebtem Blick: »Ich sehe dich an.«

Gabriela lächelte ein wenig befangen. Dieser schweigsame Mann, der so anders war als die Männer, mit denen sie bisher zusammen gewesen war, schien es ehrlich zu meinen. Bei ihm fühlte sie sich wirklich geliebt. Er hatte ihr nie Anlass zum Zweifeln gegeben und würde es nie tun. Nicht ein einziges Mal in den Jahren ihrer Ehe, die vor ihnen lagen.

Bevor sie Germán kennenlernte, hatte sie drei Liebesbeziehungen gehabt. Sie war eine Frau für längere Beziehungen. Eine erste Schulliebe. Eine zweite, an die sie sich lieber nicht erinnerte, weil der Kerl ihr das Herz gebrochen hatte. Und schließlich eine Liebesgeschichte an der Uni mit einem sehr unterhaltsamen Intellektuellen. Als er nach Madrid ging, um Regie zu studieren, war es aus. Keine dieser drei Beziehungen war so intensiv gewesen wie das, was sie nun mit Germán erlebte.

Germán blieb stehen, zog Gabriela an sich und küsste sie, als wäre es das letzte Mal.

»Alles okay?«, erkundigte sie sich, als sie sich schließlich voneinander lösten, und streichelte ihm übers Gesicht. Er antwortete nicht. »Was ist los mit dir, Germán?«

Die Frage, die Germán seiner Freundin stellen wollte, war zu emotional befrachtet für einen Wissenschaftler, der alles im Leben genau durchgeplant hatte. Die Liebe zu Gabriela kam in seinen Plänen nicht vor. Er würde zwei Jahre allein in Boston bleiben, ohne diese Frau, die unerwartet in sein Leben getreten war.

»Ich möchte nicht, dass du gehst«, sagte er dann, den Blick auf den Fluss gerichtet. »Ich will nicht, dass du nach Barcelona zurückkehrst.«

Gabriela lächelte sanft.

»Ich will auch nicht gehen, aber mein Visum läuft ab, und ich möchte nicht mit der Polizei zu tun bekommen.« Sie küsste ihn auf den Mund. »Die Polizei in Katalonien gibt mir Sicherheit, aber den amerikanischen Cops traue ich nicht über den Weg. Ich weiß nicht, warum, aber ich sehe sie, und sie machen mir Angst.«

»Willst du mich heiraten?«, platzte es aus Germán heraus.

Gabriela wurde blass. Sie antwortete nicht. Ihr Puls beschleunigte sich.

Heiraten war das Letzte, an das sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren gedacht hatte. Aber nach einem Jahr Beziehung wusste sie, dass Germán keinen Scherz machte. Die Frage war ernst gemeint.

Gabriela wollte etwas sagen, aber sie brachte kein einziges Wort heraus. Diese Frage hatte sich ihr nicht gestellt, auch wenn zwei Jahre Trennung mit dem Ozean dazwischen eine lange Zeit für ein junges Paar waren. Sie würden sich an Weihnachten sehen. Im Sommer. Und sie konnte ihn besuchen, falls sie einen Job fand, der es ihr ermöglichte, den teuren Flug nach Amerika zu bezahlen.

Heiraten? Mit fünfundzwanzig?

Sie war zu jung, um sich für immer zu binden.

Germán sah sie an und wartete auf eine Antwort. Er hatte seit Tagen darüber nachgedacht, genauer gesagt seit zwei Wochen. Nachdem er sich informiert hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es keine andere Möglichkeit gab, als zu heiraten und Gabriela auf sein Studentenvisum eintragen zu lassen, damit sie in den USA bleiben konnte.

Germán wartete ungeduldig, bis Gabriela schließlich lächelte und ganz leise »Ja« sagte.

Zwei Wochen später schworen sie sich auf dem Standesamt im Bostoner Park Square Building Office ewige Liebe.

Seit dem Spaziergang über die Brücke und dieser überstürzten, wunderschönen Hochzeit in Boston waren fast zwanzig Jahre vergangen. Nun stand Gabriela unter der Dusche ihrer Wohnung in Barcelona und hing ihren Erinnerungen nach. Sie erinnerte sich voller Nostalgie daran, als wäre es gestern gewesen … Und ja, sie bat ihren Mann, die Reservierung im Restaurant abzusagen. Eine halbe Stunde später saßen sie vor dem Fernseher, um sich Short Cuts anzusehen.

 

Gabriela hat es geschafft, lautlos das eheliche Schlafzimmer zu verlassen. Germán schläft seelenruhig weiter. Er schläft immer länger als sie. Sie zieht leise die Tür zu und geht in die Küche.

Sie genießt es, diese frühen Morgenstunden für sich zu haben. Zum ersten Mal spürt sie, dass draußen Winter ist, obwohl die Sonne bereits ins Wohnzimmer scheint. Ist heute der 4. oder der 5. November? Sie genießt es, die Heizung anzustellen. Diesen endlosen Sommer hinter sich zu lassen, der sie durch das ganze Jahr begleitet hat.

Dem allmorgendlichen Ritual folgend, entzündet sie ein Teelicht auf der Küchenarbeitsfläche, füllt den Wasserkocher, bereitet eine Kanne weißen Tee vor und übergießt ihn mit Wasser. Sie nimmt sich eine Tasse und wärmt ihre Hände daran, während sie durch das Küchenfenster diesen kleinen Ausschnitt von Barcelona betrachtet, der ihr gehört. Es ist eine einzigartige, wunderschöne Aussicht auf die Stadt und das Mittelmeer im Hintergrund. Ein Blick, der nur ihr gehört. Ihr und den beiden Männern in ihrem Leben: ihrem Mann und ihrem Sohn.

Mit ihren vierundvierzig Jahren fühlt sie sich vom Glück begünstigt, hier leben zu können. Dieser süße Tee ganz für sich, der ihre Hände wärmt und den sie jeden Morgen an die Lippen führt, während sie aufs Meer hinausschaut, macht sie zutiefst glücklich. Was die kleinen Freuden angeht, ist sie eine unkomplizierte Person.

Sie verlässt die Küche und geht ins Wohnzimmer.

Den großen kobaltblauen Teppich, der den ganzen Wohnzimmerboden bedeckt, unter ihren kalten Füßen zu spüren ist eine weitere allmorgendliche Freude. Auf dem Teppich steht ein halbrundes lavendelfarbenes Sofa. Es ist so ausgerichtet, dass die Sonne darauf fällt. Nicht zu vergessen die bodenlangen grünen Samtvorhänge. Sie mag den Kontrast zwischen den weißen Wänden, dem Lavendelblau, dem Kobaltblau und dem leuchtenden Grün. Jeden Morgen sitzt sie hier, die Teetasse in den Händen, die Füße auf dem Sofa. Sie mag es, die Wohnung zu betrachten, dieses schöne Zuhause, das sie mit viel Zeit und Liebe eingerichtet hat. Ihr Zuhause fürs ganze Leben.

Gabriela und Germán haben die Wohnung vor zehn Jahren gekauft. Es ist eine Dachwohnung am Paseo del Born im Ribera-Viertel. In fünfundzwanzig Minuten ist man am Meer. So-bald sie die Schlüssel hatten, begannen sie damit, Trennwände einzureißen, entfernten die Deckenverkleidung und entdeckten darunter wunderschöne, mit rosafarbenen Blumenmotiven bemalte Deckenbalken in der ganzen Wohnung. Sie kamen überein, die Balken im Wohnraum abzubeizen und die Bemalung in den Schlafzimmern zu belassen. Es ist wunderbar zu beobachten, wie sich das Sonnenlicht in den Kassetten zwischen den Balken fängt. Zudem ändern die Balken ihre Farbe: Manchmal haben sie die Farbe von Honig, dann wieder leuchten sie mahagonibraun.

Gabriela fröstelt. Es dauert, bis die Heizkörper die Wohnung richtig wärmen. Also kuschelt sie sich in die riesige weiße Kaschmirdecke, die immer auf dem Sofa liegt. »Gabi, ich begreife einfach nicht, was so schwierig daran ist, sie vor dem Schlafengehen zusammenzufalten. Ich begreife es wirklich nicht«, wiederholt ihr Mann tagtäglich.

In dieser Wohnung herrscht eine verkehrte Welt: Gabriela ist für das Chaos zuständig, die Unordnung, die Disziplinlosigkeit. Germán für Ordnung, Struktur, Disziplin.

Gabriela schlürft ihren Tee und lässt den Blick über das Wohnzimmerregal wandern, in dem ihre Bücher stehen, gerahmte Illustrationen, Fotos.

Schließlich bleibt ihr Blick an ihrem Hochzeitsfoto hängen. Auf dem Foto küsst Germán Gabriela auf die Wange. Hinter ihnen ist das Grün des Public Garden von Boston zu erkennen. Gabriela lächelt darauf und sieht jung aus. Sehr jung und sehr verliebt. Dieses Foto erinnert sie an einen Moment in ihrem Leben, der sie wehmütig stimmt. Ein glücklicher Moment, der sie nun aus einem Grund, den sie nicht versteht, traurig macht.

Vor einigen Tagen wollte sie das Fotos aus dem Rahmen nehmen und in das Fotoalbum kleben, das im Regal steht. Warum sollte sie jeden Morgen diese junge Frau mit reiner Haut und dunklem, schulterlangem Haar ansehen? Diese Frau, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat, der tausend Möglichkeiten offenstehen und die sich an eine davon klammert. Gabriela fühlt sich ihr so fremd, seelisch und körperlich … Sie wundert sich über ihre eigenen Gedanken. Denn sie ist eine glückliche Frau mit einem wunderbaren Leben. Einem ruhigen, sicheren, unbeschwerten Leben.

Sie trinkt den Tee aus, legt das MacBook auf ihren Schoß, klappt es auf und fährt mit dem Finger über das Trackpad, um Safari aufzurufen. Als Startseite erscheint die Website von La Femme, der auflagenstärksten Frauenzeitschrift des Landes, für die sie seit fast zwanzig Jahren als Journalistin arbeitet und seit 2014 eine wöchentliche Kolumne schreibt.

Jede Woche ist eine ganze Seite für sie reserviert, ob sie eine zündende Idee hat oder nicht. Jede Woche bemüht sie ihre Kreativität, um dreitausendfünfhundert Zeichen zu schreiben. Manchmal fließen die Ideen nur so aus ihr heraus. Und manchmal ist da auch gar nichts.

Sie staunt selbst über den Erfolg ihrer Kolumne. Vielleicht liegt es nicht zuletzt am Titel: »Geschichten von verheirateten Frauen«. Wer möchte nicht in die geheime Welt der Frauen in einer Ehe eintauchen?

Der Titel der Rubrik stammt nicht von Gabriela. Sie hätte etwas Poetischeres bevorzugt. Sie hatte Titel vorgeschlagen, die sich auf Gedichte von Sylvia Plath, Emily Dickinson oder Gabriela Mistral bezogen. Ihr Favorit war »Die Liebe, die schweigt«. So sollte ihre Kolumne heißen, doch Eugenia, ihre Chefin, hatte sich rundheraus geweigert.

»Du brauchst einen griffigen Titel, der die Leserinnen gefangennimmt, Gabriela. Was du vorschlägst, ist schön, aber kryptisch.«

»Wieso kryptisch?«, fragte Gabriela zurück.

Eugenia, die Chefredakteurin von La Femme, ist nicht nur ihre Vorgesetzte, sondern trotz zwanzig Jahren Altersunterschied auch eine gute Freundin. Ihre Freundschaft reicht bis ins Jahr 1996 zurück, als Eugenia Dozentin für Kommunikationspsychologie im Studiengang Journalismus und Gabriela ihre Lieblingsstudentin war. Als Gabriela ihren Abschluss machte, umarmten sie sich zum Abschied. »Ich bin hier, wenn du mich brauchst«, sagte Eugenia. »Aber schau dir zuerst ein bisschen die Welt an, bevor du dich in Barcelona niederlässt. Diese Stadt kann ziemlich eng sein.«

Damals konnte Gabriela sich noch nicht vorstellen, wie schwierig es sein würde, eine Stelle als Journalistin zu finden. Nachdem sie festgestellt hatte, dass es wenig brachte, Bewerbungen zu verschicken, schrieb sie Eugenia eine E-Mail aus Boston, um sich als, wie sie es ausdrückte, »junge, unerfahrene, aber engagierte Korrespondentin« für jede Art von Bericht oder Interview anzubieten, die von der US-amerikanischen Ostküste gebraucht wurden. Und Eugenia hielt Wort. Sechs Monate später schickte sie Gabriela nach New York, um über das dortige Literaturfestival zu berichten, zu dem mehrere lateinamerikanische Schriftstellerinnen eingeladen waren, die Gabriela interviewen sollte. Einen Monat später schickte sie sie an die Brown University in Providence, um eine aus Spanien stammende Architekturprofessorin zu interviewen, dann folgte eine Biologin in Delaware … In den zwei Jahren, die Gabriela in Boston lebte, führte sie insgesamt zehn Interviews mit interessanten Frauen aus dem hispanischen Kulturraum, die in den USA Wurzeln geschlagen hatten. Genug für Eugenia, um den Arbeitseinsatz, die Begeisterung, die Leidenschaft und das Talent der jungen Journalistin zu erkennen.

Als Gabriela im Jahr 2000 nach Spanien zurückkehrte, übertrug Eugenia ihr das Kulturressort von La Femme, bis sie sie mit vierzig dazu ermunterte, eigene Texte zu schreiben und Kolumnistin zu werden.

»Worum geht es in deinen Geschichten?«, erkundigte sich Eugenia, als Gabriela mit ihr über die geplante Kolumne sprechen wollte.

»Um Frauen wie uns. Frauen ab vierzig. Berufstätige, engagierte Frauen. Um Liebe, Leidenschaft, Lust und Lustlosigkeit. Um unsere Männer. Unsere Ehemänner.« Gabriela hielt inne und setzte lächelnd hinzu: »Um die Liebhaber, die wir nicht haben, aber gerne hätten.« Sie zuckte mit den Schultern. Es war so schwierig, einen griffigen Titel zu finden. »Ich weiß nicht, Eugenia. Es sind Geschichten über Frauen wie mich. Geschichten von verheirateten Frauen.«

»Das ist es!« Eugenia schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Da hast du den Titel für deine Kolumne: ›Geschichten von verheirateten Frauen‹. Vergiss deine toten Dichterinnen.«

»Aber das ist viel zu offensichtlich, Eugenia. Das gefällt mir nicht.«

Sie diskutierten eine Zeitlang, aber Diskussionen sind immer eine Frage der Macht, und Eugenia saß gleich zweifach am längeren Hebel, als Freundin und als Chefin, also gab Gabriela schließlich klein bei. Und nach der ersten Kolumne musste sie zugeben, dass der Titel ein Volltreffer war. Es funktionierte. Hunderte Frauen in Barcelona, in Spanien und dank der grenzenlosen Welt des Internets in ganz Südamerika warteten sehnsüchtig auf Gabrielas wöchentliche Kolumne in La Femme.

Eugenia empfahl ihr außerdem, einen charmanten Plauderton zu verwenden. Einfache Geschichten aus dem täglichen Leben. »Wir haben alle schon genug mit der angespannten politischen Lage im Land zu tun, mit der katalanischen Unabhängigkeit und den Schweizer Banken«, sagte sie.

Gabriela drehte die Heizung hoch, bevor sie den Artikel las. Ihr war eiskalt. Sie rieb sich die Hände. Eigentlich kannte sie den Text auswendig, aber sie fürchtete die Änderungen der Korrektorin Consuelo Garza, ihrer Erzfeindin in der Redaktion. Gabriela war nie mit den Änderungen einverstanden, aber Teamarbeit bedeutete, Bündnisse zu schmieden, damit kannte Gabriela sich nach über zehn Jahren in der Redaktion von La Femme aus.

In dieser Woche hatte sie eine Kolumne mit dem Titel »Mamas Freund« geschrieben. Darin ging es um eine untreue Ehefrau, die ihren Mann verlässt und als Grund dafür anführt, dass sie sich nicht ausreichend von ihm wertgeschätzt fühlt. Ein Klassiker. Ein Klassiker immer dann, wenn Frauen sich trennen. Eine Frau, die ihren Mann für ihren Chef verlässt. Wieder die Erotik der Macht. Und ist es nicht fairer, dem Mann, mit dem du zwanzig Jahre deines Lebens verbracht hast, die Wahrheit zu sagen? Ihm zu sagen, dass du ihn wirklich liebst, dich aber in einen anderen verliebt hast? Nur tust du es nicht, sondern lügst weiter, indem du sagst: »Du hast mich nie wertgeschätzt.« Du trennst dich also, und keinen Monat später erzählt dein Kind nach einem langen Wochenende von »Mamas Freund« und bricht damit Papas Herz.

Gabriela betrachtete die Illustration zu »Mamas Freund«, gezeichnet von ihrer Freundin und Kollegin Silvia. Mit leichtem Federstrich hatte sie eine hübsche, zarte Frau aufs Papier geworfen, die nackt zwischen zwei bekleideten Männern steht. Ehemann und Liebhaber. Sehr treffend.

Silvia und Gabriela verstanden sich gut. Ihnen gelang das perfekte Zusammenspiel von Text und Bild. Gabriela nahm ihr Handy und schickte ihr eine SMS.

Silvia, meine Liebe, was für eine hübsche Illustration. Gefällt mir sehr gut. Kommst du morgen zum Essen? Cósima ist auch dabei. Eugenia will uns alle drei gemeinsam sprechen. Bestimmt hat sie uns was Wichtiges zu sagen.

Dann beugte sie sich über den Computer und las den ersten Satz ihrer Kolumne.

»Gabi!«

Die Stimme ihres Mannes drang ins Wohnzimmer. Sie blickte überrascht auf die Uhr auf dem Regal. Es war erst 7.45 Uhr. Warum war er so früh wach?

Die Heizung, dachte sie. Der Heizkessel machte seltsame Geräusche. Das war es gewesen.

Wenn sie nicht antwortete, schlief Germán vielleicht wieder ein. Das hoffte sie jedenfalls.

»Gabi!«, rief Germán erneut, diesmal lauter.

Gabriela seufzte und klappte das Notebook zu. Dann stand sie langsam auf.

Sie hatte wirklich gar keine Lust. Aber sie konnte nicht schon wieder nein sagen.

»Ich komme!«, flötete sie.

 

Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, sagte Germán: »Ich liebe dich«, und küsste sie auf die Wange.

»Wir sollten das öfter tun«, sagte Gabriela und lehnte den Kopf gegen seine Brust.

»Ja. Das hast du mir schon vor drei Monaten gesagt.«

Gabriela lachte, während sie sich unter die Bettdecke kuschelte und ihren nackten Körper an seinen schmiegte.

»Glaubst du, ich schaffe das?«, fragte Gabriela mit der ihr eigenen Fähigkeit, mehrere Dinge auf einmal zu sagen, zu tun, zu denken.

»Was?«

»Na, was schon, Germán? Einen Roman zu schreiben.«

»Wir haben gerade miteinander geschlafen, Gabi. Da komme ich nicht unbedingt auf die Idee, dass du drei Sekunden später an deinen Roman denkst.«

Germán zündete sich eine Camel an. Er dachte immer zuerst nach, bevor er antwortete, anders als Gabriela, die einfach drauflosredete.

»Ein Roman ist was anderes als eine kurze Kolumne. Du wirst viel länger daran sitzen. Du hast ein angenehmes Leben, Gabi. Du gehst jeden Tag schwimmen, triffst dich mit deinen Freundinnen zum Essen, du verdienst gut, schreibst hin und wieder …«

Gabriela setzte sich auf und sah ihn ungehalten an.

»Was soll das heißen, ich schreibe hin und wieder? Ich schreibe jeden Tag.«

Manchmal hatte sie Zweifel, ob ihr Mann ihren Beruf ernst nahm. Sie entwarf keine Konstruktionspläne für Bohrinseln, aber sie schrieb ihre wöchentliche Kolumne und führte Interviews. Das war nichts, was für die Gesellschaft unverzichtbar war, aber es war ihr Beruf.

»Verdammt, Germán, was soll das heißen, ich schreibe hin und wieder?«

»Na ja, du verstehst mich schon«, antwortete er ohne Boshaftigkeit.

»Nein, ich verstehe dich nicht.« Germán wollte etwas sagen, aber seine Frau fiel ihm ins Wort. »Ja, ich habe ein gutes Leben. Du auch. Wir schuften nicht unter Tage, das stimmt. Aber ich schreibe jeden Tag, Germán. Jeden Tag, sieben Stunden. Allein, ganz allein. Es ist nicht leicht, den ganzen Tag allein zu sein und innere Kämpfe mit mir selbst auszutragen.«

»Ich wäre froh, wenn ich das könnte«, warf er ein.

Gabriela antwortete nicht sofort. Sie wusste, dass ihr Mann froh wäre, den ganzen Tag zu Hause zu sein und aus dem Homeoffice zu arbeiten, ohne mit jemandem reden zu müssen.

»Nun, für mich ist es nicht einfach. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mit meinen Figuren rede, und dann denke ich, ich bin verrückt.« Sie schwieg kurz. »Und ich lasse mich nicht eine Minute ablenken. Was auch nicht leicht ist. Und ja, ich fahre zum Schwimmbad, nachdem ich den Jungen in die Kita gebracht habe, schwimme eine halbe Stunde, frühstücke, setze mich um Viertel vor zehn an den Schreibtisch, esse um drei Uhr zu Mittag, schreibe bis um Viertel vor fünf und …«

»Ist ja gut, Gabi«, beschwichtigte er sie. »Du weißt genau, was ich meine. Im Übrigen verstehe ich dich nicht: Wenn dich das Alleinsein so belastet, wirst du noch einsamer sein, als du es sowieso schon bist … Manchmal bist du sehr widersprüchlich. Hat man dir nicht schon zweimal eine Festanstellung in der Redaktion angeboten? Und beide Male hast du abgelehnt.«

Gabriela stand beleidigt auf und ging duschen. Sie hätte gerne ein paar aufmunternde Worte gehört, die ihr die Unsicherheit nahmen, mit der sie sowieso zu kämpfen hatte. Sie hätte gerne ein »Natürlich schaffst du das!« gehört, aber Germán war ein rational denkender Ingenieur. Was hatte sie erwartet? Einen Roman zu schreiben war nicht einfach, und ihr Mann wusste das. Die dreihundert Seiten seiner Doktorarbeit zu schreiben war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Germán dachte nur ungern daran zurück.

In der Tür zum Bad drehte sie sich noch einmal zu ihm um.

»Germán?«

Er sah seine Frau an, und Gabriela sagte mit einem zuckersüßen und zugleich boshaften Lächeln: »Die nächsten drei Monate gibt’s keinen Sex.«

 

Während Gabriela duschen geht, hetzt ihre Freundin Silvia fünfhundert Kilometer von Barcelona entfernt über Gleis 2 am Bahnhof Madrid–Atocha. Vor der Brust trägt sie ihr laut brüllendes, drei Monate altes Baby in einem afrikanischen Tuch, an der Hand ihre bockige zehnjährige Tochter. Auf dem Rücken einen Rucksack mit Windeln, Feuchttüchern, Spucktuch, Wechselkleidung, Schuhen, Büchern, Malstiften und Spielzeug.

»Hör auf zu weinen, mein kleiner Schatz. Gleich sitzen wir, und du kriegst was zu essen«, sagt sie begütigend zu ihrem Baby. »Beeil dich, Prinzessin, sonst verpassen wir den Zug«, sagt sie zu ihrer älteren Tochter.

Silvia hastet an dem Waggon mit den Ruhebereichen vorbei, in denen sie früher gereist ist, als sie noch Salvas Freundin und nicht seine Frau und Mutter seiner Kinder war. Das Weinen ihres Babys hallt über den Bahnsteig, während die Lautsprecheransage ein letztes Mal zum Einsteigen auffordert.

»Gleich, mein Schatz, gleich.« Sie streicht dem Baby über den Kopf, das laut schreiend nach der Brust seiner Mama verlangt. Nach ihrer Milch.

Sie steigt in den Zug und zieht ihre Tochter hinter sich her. Nun hallt das Geplärr durch Wagen sechs. Sie spürt die Blicke der Mitreisenden auf sich. Einige fühlen mit ihr, das weiß sie. Andere stellen sich vor, wie sie die fünfhundert Kilometer von Madrid nach Barcelona mit diesem durchdringenden Geheul in den Ohren durchstehen müssen, und würden am liebsten flüchten.

Gerne hätte sie laut gesagt: »Keine Sorge, das hier ist nicht mein Waggon, ich muss in die Sieben. Ich möchte euch nur daran erinnern, dass ihr auch an der Brust eurer Mütter geweint habt.« Und wenn sie gekonnt hätte, hätte sie noch hinzugesetzt: »Idioten.«

Das denkt sie, aber sie versteht die Leute. Sie hat den Ruhebereich für sich entdeckt, als sie noch nicht verheiratet war und an den langen Wochenenden zu Salva gefahren ist. Er ist Katalane, sie stammt aus Madrid. Bei einer dieser vielen Zugfahrten zwischen Madrid und Barcelona erwischte sie den Platz neben einer Mutter mit Baby, das Koliken hatte. Seit diesem Tag reiste sie nur noch im Ruheabteil.

Sie versteht die Leute, natürlich.

»Gleich, mein Schatz, gleich. Nicht weinen.«

Silvia betritt Waggon sieben, und das Geplärr schallt durch das Abteil. Wieder spürt sie die Blicke der anderen. Verständlich, ja. Jetzt würde sie gerne laut sagen: »Keine Sorge, sobald die fette Kuh, die ich geworden bin, ihr Euter auspackt, ist das Kälbchen still.« Erneut gefolgt von einem: »Idioten!«

Das ist das innere Chaos, in dem Silvia die Mutterschaft durchlebt. Liebe und Hass folgen blitzschnell aufeinander.

Sie hat Platz 14A reserviert. Als sie ihn gefunden hat, setzt sich ihre Tochter ans Fenster, während Silvia versucht, den Tragegurt des Rucksacks von der rechten Schulter zu ziehen. Die Schnallen sind zu fest angezogen. Das Baby brüllt hysterisch.

»Gleich, mein Schatz, gleich. Nicht weinen. Dein Gebrüll macht mich fertig. Ich weiß, du verstehst mich nicht, aber wenn du weinst, ist alles noch anstrengender. Nicht weinen, mein Schatz. Nicht weinen.«