Verhext & Zugebissen - J.J. Schurr - E-Book

Verhext & Zugebissen E-Book

J.J. Schurr

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Beschreibung

Vor Verlangen zu einem Mann zu vergehen, ist nicht das größte Problem, das die junge Hexe Chloé Moreau aus der Ruhe bringt. Es ist wohl eher die Tatsache, dass Luke Wiliams, alleinerziehender Vater der kleinen Mia, um die Chloé sich als geschultes Kindermädchen kümmern soll, ein Vampir ist. Doch bevor Chloé begreift, was das alles für sie zu bedeuten hat, steckt sie schon mitten im Chaos.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

KAPITEL 1

„Bist du sicher, mein Schatz, dass du das tun willst?“

„Ja, Mama, das bin ich. Glaube mir, es ist besser so. Es wird Zeit, dass ich mich weiter in die Welt hinauswage, als nur von Varengeville-sur-Mer bis Paris und wieder zurück. Da kommt es mir gerade recht, dass die Familie Dubois meine Dienste nicht länger benötigt“, versuchte ich meine Mutter zu beruhigen.

Ich hatte die vergangenen Jahre als Kindermädchen bei der Familie Dubois in Paris gearbeitet. Dazu lebte ich unter der Woche dort und verbrachte meine Wochenenden zu Hause. Doch inzwischen waren ihre beiden Jungs aus dem Kindsalter herausgewachsen und zu jungen Männern herangereift. Deshalb kamen sie sehr gut ohne ein Kindermädchen an ihrer Seite zurecht. Ich vermisste Jules und Clément, wusste aber, dass der Abschied zu meinem Beruf dazugehörte.

Als gelernte Erzieherin hätte ich mich zwar ebenso in einem Kindergarten anstellen lassen können, um dort den Rest meines Lebens zu arbeiten, doch selbst dort wurde man auf kurz oder lang von seinen Schützlingen verlassen. Spätestens dann, wenn sie eingeschult wurden. Zudem hatte so ein Stellungswechsel als privates Kindermädchen durchaus seine Vorteile. Denn dadurch bekam ich ein bisschen was von der Welt zu sehen. Auch wenn sich die Welt bei mir bis jetzt nur auf Frankreich selbst beschränkt hatte. Das würde sich jedoch jetzt ändern.

„Aber du könntest doch noch etwas länger suchen. Es wird doch sicher auch einen Job in unserer Nähe geben. Du musst doch nicht gleich das erstbeste Jobangebot annehmen. Zudem noch eins, das auf der anderen Seite des Ärmelkanals liegt“, jammerte meine Mutter weiter.

„Jetzt lass deine Tochter doch ihren Weg gehen, Emma“, schaltete sich meine Tante Louanne ein. „Sie ist ein großes Mädchen, welches mit fast dreißig sicherlich ohne uns zurechtkommt.“

Meine Mutter begann zu schniefen und murmelte: „Die Zeit ist viel zu schnell vergangen und mein kleines Mädchen einfach zu schnell groß geworden.“

Tröstend zog ich sie in meine Arme und hielt sie für einen Moment fest umschlungen. Dabei atmete ich den vertrauten Duft nach Kräutern ein, der ihr grundsätzlich anhaftete.

Meine Mutter, Emma Moreau, war eine sogenannte Heilerin. Sie beherrschte die Kunst Tinkturen, Salben und andere heilende Mixturen herzustellen, die sie gezielt gegen Krankheiten und allerlei Gebrechen einsetzte. Sie war bei uns bekannt für ihre gut wirksamen, pflanzlichen Heilmittelchen und daher sehr gefragt. Doch ihre größte Gabe war die des Heilens selbst. Es war ihr möglich einfach die Hand aufzulegen und Krankheiten zu absorbieren und somit zu heilen. Voraussetzung war jedoch, dass es sich nicht um tödliche Erkrankungen handelte, denn den Tod auszutricksen war selbst uns Hexen nicht möglich. Hatte Gevatter Tod erst einmal seine knochigen Hände nach einer Person ausgestreckt, waren selbst Hexen wie meiner Mutter die Hände gebunden. Dazu kam, dass sie beim Anwenden ihrer Gabe auf der Hut sein musste, weil aufgrund des Unverständnisses niemand wissen durfte, dass wir Hexen waren. Die Erkenntnis, dass meine ganze Familie aus Hexen und Hexern bestand, würde für Aufsehen sorgen, was wir um jeden Preis verhindern wollten. Ein weiteres Problem am Heilen bestand darin, dass es meine Mutter eine Menge Kraft kostete und sie danach selbst immer sehr geschwächt war. Ihr Körper musste die absorbierte Krankheit verarbeiten, was je nach Schwere der Krankheit Stunden oder auch Tage dauern konnte. Aus diesem Grund wand sie diese Gabe nur mit Bedacht und im äußersten Notfall an.

Ich seufzte. Auch ich würde meine Familie sehr vermissen. Doch andererseits war ich auch ganz froh, mal etwas Abstand zu unserem verrückten Haufen zu bekommen. Wir lebten alle gemeinsam in Varengeville-sur-Mer und mit allen meinte ich alle. Meine Mutter besaß ein altes Landhaus, jenes am Ortsrand des verschlafenen Dorfes in der Normandie direkt am Ärmelkanal lag. Das bewohnte neben mir, meiner Mutter und meiner ledigen Tante Louanne noch meine Tante Zoé, die als einzige liiert war, mein jüngerer Bruder Gabriel und mein Onkel Hugo, der sich vor Jahren von seiner ersten Frau hatte scheiden lassen, nachdem er sie mit dem Gärtner des Nachbarn im Bett erwischt hatte. Sie alle waren Verwandte mütterlicherseits.

Mein Vater, der als Waise ohne Eltern und Geschwister in einem Waisenhaus aufgewachsen war, starb vor einigen Jahren bei seinem liebsten Hobby, dem Segeln. Er war in einen heftigen Sturm geraten und darin ums Leben gekommen. Als normal Sterblicher, ohne besondere Fähigkeiten, wie wir Hexen sie besaßen, hatte er keine Chance gehabt zu überleben und konnte nicht einmal mehr tot geborgen werden. Das Meer hatte ihn einfach verschluckt, als wäre er ein Teil von ihm.

Nach diesem tragischen Unglück, zogen die Geschwister meiner Mutter zu uns, um uns unter die Arme zu greifen. Heute wäre das zwar nicht mehr nötig, aber sie waren trotzdem geblieben. Schließlich waren wir eine Familie, die sich sehr liebte, auch wenn wir uns manchmal gegenseitig auf den Keks gingen. Doch ich wage zu behaupten, dass das in jeder Familie hin und wieder der Fall war.

Der Aufruf, der aus den Lautsprechern hallte, bewegte mich dazu, mich von meiner Mutter zu lösen.

„Es ist so weit, ich muss los, sonst fährt der Zug noch ohne mich nach England.“

„Pass auf dich auf, meine Kleine, und melde dich, wenn du angekommen bist“, bat sie und küsste mich liebevoll auf die Wange.

„Das werde ich machen. Versprochen.“

„Jetzt mach mal Platz, Emma, du beanspruchst Chloé mal wieder für dich ganz allein“, nörgelte meine Tante und drängte ihre Schwester zur Seite, um mich ebenfalls ein letztes Mal zu umarmen.

Vom Rest meiner Familie, hatte ich mich bereits am Vorabend verabschieden müssen, da es ihnen durch ihre Arbeit unmöglich gewesen war, mich zum Bahnhof nach Coquelles bei Calais zu begleiten, wo ich in den Eurostar steigen und die Distanz zwischen Frankreich und England überbrücken würde. Doch so war es meiner Ansicht nach besser, sonst wären am Bahnhof vermutlich noch mehr Tränen geflossen.

„Lass es dir gut gehen und sag mir Bescheid, wie die Männer in England so sind. Wenn es sich lohnt, komme ich dich besuchen und wir machen die Gegend unsicher“, gab sie kund und küsste mich herzhaft auf die Wange, bevor sie sich wieder von mir löste.

Ich begann zu lachen. „In Ordnung, Tante Louanne, aber versprich mir, dass du nicht wieder anfängst, alle Männer im Umkreis von einem Kilometer mit einem Liebeszauber zu belegen.“

„Ach, kommt schon“, brummte sie und warf genervt ihre Arme in die Luft, weil meine Mutter ebenfalls zu lachen begann. „Das war ein Versehen und das wisst ihr ganz genau. Der Zauber war nur für Henry gedacht gewesen. Dass dieser blöde Zauberspruch so stark ist, dass er alle Männer im Umkreis von einem Kilometer miteinschließt, konnte ich doch nicht ahnen“, verteidigte sie sich zum gefühlt hundertsten Mal.

Meine Tante Louanne war eine Meisterin auf dem Gebiet der Zaubersprüche. Doch keine Hexe lernte je aus. Auch sie nicht, denn nach diesem missglückten Liebeszauber musste sie sich zwei Wochen in unserem Haus verstecken. Alle Männer, die sich zu diesem Zeitpunkt, als sie den Zauber aussprach, im Radius von einem Kilometer befunden hatten, waren hinter ihr her gewesen wie Hunde hinter einer läufigen Hündin. Ich will erst gar nicht wissen, zu wie vielen Ehestreitigkeiten es deshalb gekommen war. Schließlich hatten in diesem Zeitraum alle Männer ein Desinteresse an ihren eigenen Frauen. Wir rechneten schon mit einem Ansturm von wütenden Frauen vor unserem Haus, doch der blieb glücklicherweise aus. Erst nach zwei Wochen war die Wirkung des Zaubers soweit verflogen, dass sich Louanne wieder auf die Straße trauen konnte, was für uns alle eine große Erleichterung war. Mit dieser Geschichte zogen wir meine Tante bis heute immer wieder gerne auf, was sie uns nie wirklich krummnahm.

„Deshalb spielt man nicht mit der Liebe“, maßregelte sie meine Mutter und sah sie tadelnd von der Seite an.

„Danke, Schwesterherz“, gab Louanne mürrisch zurück. „Ich habe meine Lektion daraus gelernt. Ihr braucht mich nicht ständig daran zu erinnern.“

„Tja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, piesackte ich sie, schenkte ihr ein Lächeln und wandte mich schließlich endgültig ab.

„Nur kein Mitgefühl, Mädchen“, rief sie mir noch hinterher, doch ich hörte an ihrer Stimme, dass auch sie selbst gegen das Lachen ankämpfen musste, das diese Erinnerung heraufbeschwor.

So war das, in der Familie Moreau. Wir nahmen fast alles mit Humor, denn wir vertraten die Ansicht, dass Humor den Alltag, der hin und wieder doch sehr anstrengend war, um vieles leichter machte. Zudem war Lachen ja angeblich gesund.

Mit meinem Koffer in der Hand und die Reisetasche geschultert, lief ich zum Entwertungsautomaten, steckte meine Fahrkarte hinein, zwängte mich durch das Drehkreuz und bahnte mir meinen Weg durch die Menschen, um den Zug zu erreichen. Noch ein letztes Mal blickte ich zurück, um mir die Personen einzuprägen, die mir alles bedeuteten.

Meine Tante hatte ihr blondes Haar zusammengebunden und kramte in ihrer engen Jeans nach einem Taschentuch, welches sie an ihre Schwester weiterreichte. Auf dem engen, rosa Shirt, das Louanne heute trug, war eine Hexe zu sehen, die auf einem Besen ritt. Darüber stand Vollbluthexe! Zum Glück war niemandem klar, dass dies der Wahrheit entsprach.

Meine Mutter nahm das Taschentuch entgegen, um der Flut, die sich aus ihren smaragdgrünen Augen drängte, entgegenzuwirken. Sie und ich glichen uns wie ein Ei dem anderen. Ich hatte das gleiche rubinrote, lange Haar, das in seichten Wellen über meine Schultern fiel. Dieselben auffällig grünen Augen und auch die schlanke Figur mit Kurven an den richtigen Stellen hatte ich von ihr geerbt.

Zur Zeit der Hexenverfolgung wären wir schon allein für unser Aussehen auf dem Scheiterhaufen gelandet. Doch glücklicherweise mussten wir dies heute nicht mehr fürchten, da niemand mehr an Hexen glaubte und so auffällige Haar- oder Augenfarben nichts Besonderes mehr waren. Die meisten dachten vermutlich, meine Haare seien gefärbt und ich würde Kontaktlinsen tragen, was aber nicht der Fall war. Alles an mir war von Mutter Natur so vorbestimmt, beziehungsweise durch die Gene meiner Eltern. Das einzige was mich von meiner Mutter unterschied war das Alter, welches ihr nur anhand von kleinen Lachfalten an den Augen anzusehen war.

Ich hob ein letztes Mal die Hand und formte mit meinen Lippen ein Ich hab euch lieb, während die beiden winkten und mir Handküsschen zuwarfen. Schweren Herzens wandte ich mich ab, lief weiter über den Bahnsteig und stieg in den Eurostar.

Nachdem ich mein Gepäck verstaut hatte, nahm ich auf dem freien, mit blauem Polsterstoff bezogenen Sitz, direkt am Fenster Platz und sah auf den Bahnsteig hinaus. Menschen mit Gepäckstücken huschten umher und auch Mitarbeiter des hiesigen Bahnhofs waren hier und da zu sehen, die geschäftig ihren Aufgaben nachgingen. Die Türen des Zugs schlossen sich und nur Sekunden später setzte sich der Eurostar in Bewegung, um mich mit rasanter Geschwindigkeit nach England zu bringen.

Ich nutzte die Fahrzeit im Zug und sah mich um. Mein Abteil war nicht besonders voll. Das war nur in der Hauptsaison der Ferien der Fall. Doch diese neigten sich bereits dem Ende zu. Bei uns in Frankreich waren die Sommerferien bereits vorbei und in England würde die Schule ab nächster Woche wieder starten. Somit saßen ein paar Pendler, eine Mutter mit ihrem Kind und nur wenige Touristen im Abteil. Der hochmoderne Zug war vorbildlich sauber. Der Duft von Kunststoff und Polsterstoff, angereichert mit dem Geruch nach männlich-markantem Parfüm, welches von dem Herrn, der vor mir saß, zu stammen schien, lag in der Luft. Ich rümpfte meine Nase und wünschte, der gute Mann hätte am Morgen einmal weniger auf sein Parfümfläschchen gedrückt, um nicht zu riechen, als hätte er darin gebadet.

Entspannt lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und schloss für eine Weile die Augen.

Seit den frühen Morgenstunden war ich auf den Beinen, um rechtzeitig meinen Zug zu erreichen. Zweieinhalb Stunden hatte die Fahrt von meinem zu Hause nach Calais gedauert. Dagegen war die Fahrt durch den Eurotunnel, für die der Zug gerade einmal fünfunddreißig Minuten benötigte, ein Klacks.

Mir ging einiges durch den Sinn, denn in Kürze würde ich meinem neuen Arbeitgeber und seiner fünfjährigen Tochter gegenübertreten. Ich war im Internet auf die Anzeige gestoßen, in der der alleinerziehende Vater ein Kindermädchen für seine Tochter gesucht hatte. Auf den ersten Blick schien dieser Job perfekt. Das Gehalt war angemessen, die Anforderungen die gestellt wurden für mich kein Problem und die Sonderbedingungen akzeptabel, weshalb ich mich sofort per E-Mail beworben hatte. Nur einen Tag später bekam ich bereits eine Antwort und zu meiner Überraschung eine sofortige Zusage. Die Sonderbedingungen bestanden daraus, dass ich sofort anfangen sollte bei ihnen zu arbeiten und dass ich mit ihnen im selben Haushalt wohnen müsse, um im Notfall immer verfügbar zu sein. Etwas mulmig war mir schon, angesichts der Tatsache, dass ich mit einem fremden Mann und dessen Kind in einem fremden Land in ein und demselben Haus leben sollte. Da ich aber eine Hexe war, wäre es kein Problem mich in gegebenem Fall zu verteidigen, wovon ich hoffte, dass es nicht nötig sein würde. Doch das würde sich bald zeigen und ich könnte sehen, ob wir miteinander zurechtkämen. Sollte Gegenteiliges eintreten, wäre da noch die vierwöchige Probezeit, auf die ich mich berufen dürfte. Ich hätte das Recht ohne weiteres sofort wieder nach Hause zu fahren und mir etwas anderes zu suchen, was mich etwas beruhigte. Schließlich hatte ich kein Interesse daran mit jemandem unter einem Dach zu leben mit dem ich nicht zurechtkam.

Als der Zug seine Geschwindigkeit drosselte, schob ich meine Gedanken beiseite und öffnete meine Augen. Ich war in England angekommen und würde bald erfahren, ob mein neuer Job dem entsprach was ich hoffte oder nicht. Ich schnappte mir mein Gepäck, stieg aus dem Zug und lief Richtung Ausgang. Auf meinem Weg dorthin stoppte ich noch an einer Reihe von Snackautomaten, wo ich mir einen Kaffee gönnte zu dem ich das belegte Brötchen aß, das ich mir als Proviant eingepackt hatte.

Vor dem Bahnhof ging ich schnurstracks auf den Taxistand zu, der sich in unmittelbarer Nähe befand, um mir für meine letzte Etappe ein Taxi zu leisten.

Vom Bahnhof bis nach Denton, einem kleinen Dorf in der Nähe von Canterbury, waren es nur circa fünfzehn Kilometer. Da erschien mir die Wahl eines Taxis die angenehmste, anstatt mich mit dem schweren Gepäck abzumühen, nach dem richtigen Bus zu suchen, mit jenem dann dorthin zu fahren und dann die letzten Meter noch zu Fuß das Haus der Familie Williams zu suchen. Nein, danke! Da opferte ich liebend gern die paar Pfund, die mich die Fahrt mit dem Taxi kosten würde.

Ich bewegte mich auf das erste Taxi in der Reihe zu und war froh, dass ich ganz gut Englisch sprechen konnte, um mich hier problemlos verständigen zu können.

„Guten Tag, Miss“, begrüßte mich der ältere Herr mit Brille und Halbglatze. Er nahm mir mein Gepäck ab, um es im Kofferraum zu verstauen.

„Guten Tag“, antwortete ich höflich, stieg in das typisch schwarze Auto und machte es mir auf dem Rücksitz bequem.

Einen Augenblick später schob sich auch mein Fahrer hinter das Steuer, wandte sich mir zu und fragte: „Wohin soll es gehen?“

Ich zog einen kleinen Zettel aus meiner Hosentasche, worauf ich mir die Adresse der Familie Williams notiert hatte, und zeigte sie dem Fahrer.

„Könnten Sie mich bitte zu dieser Adresse bringen?“

„Selbstverständlich!“, versicherte er mir etwas verwundert und startete den Motor.

Den Zettel schob ich wieder zurück in meine Hosentasche und sah aus dem Fenster zu meiner Rechten.

„Und, machen Sie hier Urlaub?“, wollte der Herr von mir wissen, wohl um etwas Konversation zu betreiben.

„Nein, ich habe hier einen Job gefunden“, erklärte ich und riss meinen Blick von den vorbeihuschenden Häusern los.

Er nickte verstehend. „Für eine Französin sprechen Sie sehr gut Englisch“, lobte er mich, setzte den Blinker, bog ab und fuhr stadtauswärts.

„Vielen Dank, aber woher wissen Sie, dass ich aus Frankreich komme?“, hakte ich verdutzt nach.

„Ihr Akzent hat Sie verraten“, meinte er und warf mir über den Rückspiegel einen freundlichen Blick zu. „Sie verbergen ihn zwar sehr gut, doch ich fahre so viele Touristen durch die Gegend, dass ich ein Gehör dafür entwickelt habe.“

„Muss ein interessanter Job sein, wenn man auf so viele unterschiedliche Menschen trifft“, gab ich meine Vermutung preis, woraufhin er nur mit den Schultern zuckte.

„Es gibt Tage an denen ich meinen Job liebe und welche an denen ich ihn hasse. So, wie es wohl bei jedem ist“, antwortete er und fügte hinzu: „Darf ich fragen, was Sie beim Williams-Anwesen wollen?“

„Dort werde ich arbeiten“, erwiderte ich und sah wie er entsetzt die Augen aufriss. „Kennen Sie die Familie Williams?“, wollte ich wissen.

„Nicht persönlich, doch man hat schon einige Geschichten über sie gehört. Ich an Ihrer Stelle, würde dort nicht arbeiten wollen und vielleicht sollten Sie es sich auch noch einmal durch den Kopf gehen lassen.“

Verwirrt zog ich die Stirn kraus und beugte mich meinem Gesprächspartner etwas entgegen. „Ach ja, was für Geschichten werden denn erzählt?“, hakte ich nach.

Nicht, dass ich auf das Gerede von fremden Leuten etwas gab. Manche Menschen waren dazu geboren sich Geschichten zusammenzuspinnen und sich über andere Personen das Maul zu zerreißen. Vermutlichen haben sie nichts Besseres zu tun und diese Freizeitbeschäftigung zu ihrem Hobby erkoren. Doch rein aus Neugierde wollte ich schon hören, was der Fahrer zu erzählen hatte. Zudem war es immer vernünftiger, auf alles Unvorhergesehene vorbereitet zu sein. Und sei es nur das dumme Gerede von irgendwelchen Leuten.

„Man erzählt sich, dass dort unheimliche Dinge vorgehen. Es wird gemunkelt, dass Mr. Williams immer wieder Leute mit zu sich nimmt, die er von der Straße aufliest. Doch wenn sie einmal das Haus betreten haben, kommen sie nie wieder heraus. Niemand hat die Menschen je wiedergesehen.“

Ich musste ein Lachen unterdrücken, schließlich wollte ich nicht unhöflich sein. Doch die Aussage, es würde dort Menschen verschwinden, war doch zu lustig.

„Ach wirklich, das ist ja seltsam“, brachte ich deshalb mühselig hervor und biss mir auf die Unterlippe, um mich im Zaum zu halten.

„Ja, aber das ist noch nicht mal das Schlimmste“, fuhr er fort.

Innerlich stöhnte ich auf. Noch schlimmer, na prima.

„Er soll vor ein paar Jahren seine Frau ermordet haben.“

Wow, schoss es mir durch den Kopf. Warum zum Teufel war ich nicht mit dem Bus gefahren? Ach ja, mein Gepäck und meine Faulheit. Na toll, das hatte ich jetzt davon. Ich saß in dem Taxi eines Mannes, der auf das irre Gerede der Einheimischen einging.

Schon zu Zeiten der Hexenverfolgung waren es genau solche Dinge gewesen, die dazu geführt hatten, dass Unschuldige in Gefangenschaft landeten. Viele von ihnen hatte man gefoltert. Andere fanden den Tod durch Enthauptung, den Strick oder den Scheiterhaufen. Ich meine, man muss sich mal vorstellen, wie engstirnig die Menschen damals waren und was für Auswirkungen das hatte. Man schätzt, dass während dieser ganzen Zeit in Europa rund drei Millionen Menschen der Prozess gemacht wurde und man zwischen vierzig- bis sechzigtausend Menschen hinrichtete und das nur aufgrund von Gerede, Unverständnis gegenüber Unbekanntem und manchmal auch durch falsche Beschuldigungen. Nur weil man einen Groll gegen einen anderen hegte und das die einfachste Art war, die verhasste Person loszuwerden. Hierfür setzte derjenige einfach ein paar abstruse Geschichten in die Welt, feuerte diese mit Hilfe anderer weiter an und schon war die Kacke am dampfen. Natürlich gab es tatsächlich Hexen, das wusste ich besser wie jeder andere, doch wir waren nicht böse. Wir hatten keinen krummen Rücken, auf unserer Schulter saß kein schwarzer Rabe und wir verspeisten auch keine kleinen Kinder zum Abendessen. Doch die Menschen hatten kein Verständnis, für etwas, das sie nicht kannten, oder ihnen unerklärlich schien. Deshalb war es auch an uns Hexen, nach den Vorkommnissen von Mitte des fünfzehnten bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, uns ins Verborgene zurückzuziehen und dort zu bleiben. Wir hatten uns seit dieser Zeit angewöhnt, uns nicht mehr der Öffentlichkeit Preis zu geben und dadurch unsere Existenz zu schützen. Nur die engsten Vertrauten wurden in das Geheimnis eingeweiht. Das Privileg, den eigenen Nachwuchs in Sachen Hexenkunst zu unterrichten, lag alleinig bei den eigenen Familienmitgliedern. Sie lehrten schon die Allerkleinsten mit allem, was es zu wissen gab. Zudem erzählte man ihnen die grausamen Geschichten von damals, um ihnen vor Augen zu führen, was geschehen könnte, wenn sie ihre Gabe frei ausleben würden.

Genau aus diesem Grund musste ich auch an mich halten, um den Mann am Steuer nicht anzuschreien, ob er verrückt sei, über jemanden, den er nicht persönlich kannte, solche Behauptungen zu verbreiten. Denn schließlich erzählte er nur weiter was er selbst aufgeschnappt hatte. Doch dazu kam ich nicht mehr, denn im nächsten Moment hielt er an und meinte: „Wir sind da, Miss.“

Ich sah mich um und konnte kaum glauben, was ich hier sah. Sprachlos tastete ich nach dem Türgriff und wollte aus dem Wagen steigen, doch der Fahrer hielt mich prompt zurück.

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Miss, aber ich möchte hier ungern aussteigen. Es wäre mir sehr recht, wenn Sie Ihr Gepäck selbst aus dem Kofferraum holen könnten.“

Ein abfälliges Schnauben entglitt mir, während ich meinen Geldbeutel aus meinem smaragdgrünen Blazer zog, der so toll mit meiner Augenfarbe harmonierte, und dem Mann sein Geld reichte. Mit einem kurzen Dank und einer schnellen Verabschiedung stieg ich aus, lief nach hinten, öffnete den Kofferraum und hievte meine Sachen heraus. Kaum hatte ich den Kofferraum wieder geschlossen, drückte der Kerl doch tatsächlich auf das Gaspedal und fuhr mit Karacho davon. Mich hingegen ließ er hustend und prustend in einer Wolke aus Staub zurück.

KAPITEL 2

Die Staubwolke lichtete sich und ich bekam meinen Hustenanfall unter Kontrolle. Verärgert stellte ich mein Gepäck neben mir ab, klopfte mir den Staub von meinem Lieblingsblazer und fluchte in meiner Muttersprache vor mich hin.

War das denn die Möglichkeit, einen Fahrgast so zu behandeln, nur weil man die Hose gestrichen voll hatte? Zumindest konnte man dies glauben, denn er war so schnell von dannen gefahren, als sei der Leibhaftige höchstpersönlich hinter ihm her.

Kopfschüttelnd, griff ich erneut nach meinem Koffer, schulterte meine Reisetasche und hob den Blick, um meine Umgebung zu inspizieren.

Ich würde von mir behaupten, dass es nicht oft vorkam, dass es mir die Sprache verschlug, doch dies war einer jener Momente. Durch die Ablenkung des Gesprächs mit dem Taxifahrer, war mir nicht aufgefallen, dass wir von der Straße abgebogen und auf einen hell geschotterten Weg gefahren waren. Dieser hatte uns zu einem prächtigen Herrenhaus geführt, welches so groß war, dass man vermutlich ein Hotel darin hätte eröffnen können. Das aus hellem Stein gemauerte Haus, schien aus einem Haupthaus und einem Ost- und Westflügel zu bestehen. Am linken und rechten Ende des Hauptgebäudes reckten sich turmförmige Erker gen Himmel. Die vielen Sprossenfenster des Hauses wurden von dunklem Holz gehalten. Aus dem mit dunklen Ziegeln eingedeckten Dach, ragten mehrere Schornsteine heraus. Die Fassade war mit Figuren versehen, die aus demselben Stein gehauen worden waren wie der Rest des Hauses. So wachten mehrere Gargoyles auf steinernen Dachvorsprüngen. Auf der Höhe der ersten Etage waren vier menschliche Skulpturen zu sehen, die ebenfalls auf kleinen Vorsprüngen standen. Zwei auf der linken und zwei auf der rechten Seite des Eingangs. Ich konnte erkennen, dass es sich pro Seite jeweils um eine männliche und eine weibliche Figur handelte. Über dem riesigen, aus massivem Holz gefertigten, doppeltürigen Eingang, prangte ein großes Wappen, auf dem ein Drache abgebildet war, vor dessen Brust sich zwei Schwerter kreuzten, dass es so aussah, als wolle er in die Schlacht ziehen. Um diesen Eingang zu erreichen, musste man über eine steinerne, breite Treppe mehrere Stufen erklimmen. Das dazugehörige massive, steinerne Geländer wurde am oberen und unteren Ende zu jeder Seite von bunt bepflanzten Steintrögen flankiert.

Immer noch völlig überwältigt, lief ich langsam die Stufen empor und blieb vor der gewaltigen Tür stehen. Zögerlich setzte ich meinen Koffer ab und atmete tief durch. Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Sollte das wirklich das Haus der Familie Williams sein? Als sich in meinen Gedanken das Wort Haus formte, musste ich ein hysterisches Kichern unterdrücken. Das wirkte auf mich nicht wie ein Haus, sondern eher wie ein Palast.

Um noch etwas Zeit zu schinden, wand ich mich von der Tür ab und sah mir das Grundstück an, das ich von meiner erhöhten Position nun noch besser überblicken konnte. Wohin ich auch spähte waren bunte Blumenbeete zu sehen. Hier und da standen Heckentiere in den verschiedensten Formen. Mein Blick blieb an einem besonders außergewöhnlichen Exemplar hängen. Einem Einhorn. Echt jetzt, schoss es mir durch den Kopf, ein Einhorn? Nicht, dass ich was gegen Einhörner hatte, aber auf dem Dach Gargoyles und im Garten Einhörner? Wie gegensätzlich war das denn?! Hinter den Beeten strahlte das saftige Grün des Rasens und durch all das schlängelte sich der Weg, über den ich hergebracht worden war.

Erneut versuchte ich mich zu sammeln, indem ich tief durchatmete und mich noch ein paar Sekunden von den Sonnenstrahlen streicheln ließ, bis ich mich endlich der Tür zudrehte, um meinem neuen Arbeitgeber gegenüberzutreten. Ich fand nirgends eine Klingel, nur ein großer, gusseiserner Türklopfer in Form eines Drachenkopfes hing in der Mitte der Tür. Langsam hob ich die Hand, um zu klopfen, ließ sie dann aber doch wieder sinken.

Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Natürlich war das nicht mein erster Job als Kindermädchen und es fehlte mir bestimmt auch nicht an Selbstbewusstsein, doch wem solch ein Anwesen gehörte, der musste einer gewissen Sorte von Menschen angehören. Jene, für die nur Geld im Vordergrund stand. Solche, die sich nur mit Ihresgleichen abgaben und unsereins als Unterschicht betrachteten. Wollte ich für so jemanden wirklich arbeiten? Jemand für den ich mit ziemlicher Sicherheit nichts weiter darstellte, als eine mickrige Angestellte, die jederzeit ersetzbar und nicht mal den Dreck unter dem Fingernagel wert war.

In meinem letzten Job bei der Familie Dubois war ich sehr herzlich behandelt worden. Man hatte mich nach kürzester Zeit zur Familie gezählt und mich immer mit Respekt behandelt. Doch es beschlichen mich eindeutige Zweifel, ob dies hier ebenfalls der Fall sein würde. Plötzlich sah ich Mr. Williams vor meinem inneren Auge aufblitzen. Er stand in Bundfaltenhose, Lackschuhen und einem Polohemd vor mir und schenkte mir ein gehässiges Grinsen. Sein sehr unsympathisches Gesicht wurde durch die Geheimratsecken an seinem leicht ergrauten Haaransatz noch betont. Die tiefen Falten, die seinen Gesichtsausdruck verstärkten, ließen darauf schließen, dass er wohl nicht viel zu lachen hatte, sondern immer so böse und gehässig dreinschaute wie er es gerade tat.

Jetzt geht wirklich die Fantasie mit dir durch, ermahnte ich mich im Stillen, als ich spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in mir breitmachte und stieß frustriert die Luft aus. Das konnte ja wirklich heiter werden. Doch da ich jetzt schon mal hier war, würde ich mir den Job und die dazugehörigen Menschen auch genauer ansehen. Gedanklich klammerte ich mich dabei an meine vierwöchige Probezeit, die mir im Notfall dazu verhelfen würde, mich von heut auf morgen wieder vom Acker zu machen.

Somit hob ich erneut die Hand, um den Türklopfer zum Einsatz zu bringen, als auch schon beim ersten Laut die Tür geöffnet wurde. Ich stand einer rundlichen, kleinen Frau gegenüber. Ihr weißes Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden und unter ihrer weißen Arbeitsschürze trug sie eine braune Hose mit einer gleichfarbig abgestimmten Bluse. Sie schenkte mir ein freundliches Lächeln.

„Ich hatte mich schon gefragt, wie lange Sie noch hier draußen herumstehen wollen, bevor Sie sich entscheiden zu klopfen“, meinte sie und streckte mir zur Begrüßung ihre Hand entgegen. „Sie müssen Mrs. Moreau sein. Mias neues Kindermädchen.“

„Ja, die bin ich. Tut mir leid, ich war von den ganzen Eindrücken etwas überwältigt“, erklärte ich mein Zögern und erwiderte ihre Geste.

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie sind nicht die erste Person, die etwas länger braucht, bis sie den Türklopfer betätigt. Das Anwesen der Familie Williams ist ja auch beeindruckend. Ich bin Anora Davies, die Köchin, aber nennen Sie mich einfach Nora, wie es hier alle tun. Kommen Sie doch herein“, bat sie höflich und trat einen Schritt zurück, um mir Platz zu machen.

Ich schob den Riemen meiner Tasche in eine angenehmere Position, griff nach meinem Koffer und trat ein.

„Warten Sie, Mrs. Moreau, ich nehme Ihnen Ihren Koffer ab“, meinte Nora und machte einen Schritt auf mich zu.

„Bitte einfach nur Chloé“, bat ich und fügte hinzu: „Das ist nicht nötig. Ich schaffe das schon. Er sieht schwerer aus als er in Wirklichkeit ist“, schwindelte ich, um zu vermeiden, dass sich die nette Frau mit meinem schweren Koffer abmühen musste.

„In Ordnung, Chloé, wie du möchtest“, erwiderte sie und schloss hinter mir die Tür.

Ich stand in einem riesigen Raum - oder sollte ich besser Halle sagen - dessen Decke so hoch sein musste wie das Haus im Gesamten. In der Mitte hing ein gigantischer Kronleuchter, von dem hunderte von Kristalltropfen herabhingen und das einfallende Licht im Glanz eines Regenbogens reflektierten. Die Decke selbst war mit wunderschönen Malereien verziert. Kleine Engel tollten auf flauschigen Wolken umher, während ein paar andere auf Instrumenten musizierten. Der Blauton der Decke setzte sich in den Wänden fort. Nur die darin eingearbeiteten Säulen hatten ihren natürlichen, hellen Ton behalten. Der Boden war mit einem royalblauen Teppich ausgelegt. In der Mitte des Raums wand sich eine freischwebende, dunkle Massivholztreppe in den ersten Stock des Hauses. Als ich diese musterte, entdeckte ich sie. Hinter den Geländerstreben im ersten Stock saß mein neuer Schützling und musterte mich kritisch.

„Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise.“

„Ja, danke“, erwiderte ich mit einem kurzen Blick zu Nora und sah dann wieder zu dem kleinen Mädchen am Treppengeländer.

Ihr braunes, langes Haar war zu beiden Seiten ihres Kopfes zu Zöpfen geflochten. Aus ihren blauen Augen sah sie zu mir herab, während sich ihre kleinen Hände unsicher an das Geländer klammerten.

„Und du musst die kleine Mia sein“, sprach ich sie vorsichtig an, um sie mit der Situation nicht zu überfordern.

Nora drehte den Kopf, um zu sehen, wo Mia sich auf hielt. „Mia, komm her und begrüße dein neues Kindermädchen“, wies Nora sie an.

Zögerlich erhob sich die Kleine aus ihrer sitzenden Position und kam langsam die Treppe herunter. Ihre Finger spielten dabei nervös mit dem Stoff ihres pinkfarbenen, langärmligen und knöchellangen Kleides. Mit gesenktem Haupt blieb sie schweigend vor mir stehen.

Um es ihr leichter zu machen, ging ich vor ihr in die Hocke und hob ihr meine Hand entgegen. „Hallo Mia, ich bin Chloé.“

Sie griff meine Hand und murmelte ein leises Hallo.

„Mia, ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass es unhöflich ist, sein Gegenüber nicht anzusehen“, wies Nora die Kleine zurecht.

„Lass nur“, setzte ich dagegen. „Ich war in Mias Alter auch etwas schüchtern. Das ist überhaupt nicht schlimm und gibt sich irgendwann.“

Als wäre sie über meine Worte überrascht, hob Mia den Kopf und sah mich an. Ich erkannte eine gewisse Neugierde in ihren Augen und war mir sofort sicher, dass ich mit Mia gut zurechtkommen würde.

„Dann werde ich dir jetzt mal dein Zimmer zeigen. Folge mir bitte“, bat mich Nora und lief auf die Treppe zu.

Ich erhob mich, schnappte meinen Koffer und lief ihr hinterher, um nach ein paar Schritten festzustellen, dass Mia unschlüssig an Ort und Stelle stehen geblieben war. Deshalb hielt ich in meiner Bewegung inne, warf ihr einen Blick über die Schulter zu und fragte sie lächelnd: „Kommst du mit?“

Als hätte sie nur darauf gewartet, erwiderte sie mein Lächeln, holte mich ein und lief mit mir zusammen hinter Nora her.

„Du wirst die einzige Angestellte sein, die im selben Teil des Hauses wohnt, wie Mr. Williams und seine Tochter. Mr. Williams ist es wichtig, dass du für seine Tochter in greifbarer Nähe bist. Außerdem lässt sich Mr. Williams entschuldigen, dass er während deiner Ankunft nicht anwesend sein kann. Leider ist er geschäftlich verhindert und wird sich dir zu einem späteren Zeitpunkt vorstellen.“

„Schon in Ordnung“, keuchte ich.

Wir hatten die Treppen hinter uns gelassen und durchquerten einen langen Gang mit etlichen Türen. Im Gegensatz zur Eingangshalle, war hier alles in dunklen, warmen Rottönen gestaltet. An den Wänden hingen aus Ölfarbe gefertigte Portraits von Frauen und Männern vergangener Zeit, die von barocken, goldenen Rahmen geziert wurden.

„Das hier ist der Ostflügel des Hauses“, erklärte mir Nora. „Dieser ist alleinig der Familie Williams und deren Gäste vorbehalten. Für Gäste dient dieses Stockwerk. Die Familie bewohnt die obere Etage.“

Wir erreichten eine weitere Treppe, über die wir in die obere Etage gelangten, deren Flur dessen Vorgänger glich.

Nora blieb vor einer Tür am Ende des Ganges stehen und öffnete sie. „Das hier ist dein Zimmer. Solltest du etwas brauchen, musst du es nur sagen.“

Ich ging hinein und machte große Augen. Dieses Zimmer war ein Traum aus Pastelltönen. Die großen Fenster mit Blick auf das herrliche Anwesen, ließen jede Menge Licht in das geräumige Zimmer. Das herrliche Himmelbett stand auf einem Podest und war wie die restlichen Möbel im sizilianischen Stil. Das Weiß der Möbel ergänzte sich hervorragend mit den freundlichen, hellen Farben der sonstigen Einrichtung und verschaffte dem Ganzen eine weibliche Note. Ein angenehmer Duft nach Blumen lag in der Luft, der wohl auf den bunten Blumenstrauß auf dem Tisch vor dem Sofa zurückzuführen war.

„Durch die Tür zu deiner Linken gelangst du ins Bad. Die Tür zu deiner Rechten ist die Verbindungstür zu Mias Zimmer“, kommentierte Nora. „Ich lasse dich jetzt allein, damit du auspacken und dich frisch machen kannst. Abendessen gibt es um sechs. Wir Angestellten essen in der Küche. Diese findest du, wenn du zurück in die Eingangshalle läufst und durch die Tür gehst, die sich in der Wand hinter der Treppe befindet.“

Ich nickte verstehend.

„Los Mia, lassen wir Chloé noch ein bisschen allein, damit sie sich von ihrer Reise erholen kann“, meinte Nora und hob Mia auffordernd die Hand entgegen. Mias Miene verriet jedoch, dass sie nicht sehr begeistert von dem Vorschlag zu sein schien.

„Mia stört mich nicht und ich bin auch nicht besonders müde. Wenn sie möchte, kann sie gerne hierbleiben“, bot ich darum an und schenkte Mia, die immer noch neben mir stand, ein Lächeln.

Mia erwiderte mein Lächeln und meinte mit leiser Stimme: „Das würde ich gern. Darf ich Nora?“

„Also schön“, gab sie nach. „Ich muss mich sowieso um das Abendessen kümmern und wenn du nicht durch meine Küche geisterst, komme ich wesentlich schneller voran.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab, verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

„Dann werde ich mal meinen Koffer auspacken“, verkündete ich und schleppte diesen, zusammen mit meiner Reisetasche, zu meinem zukünftigen Bett. Dann schlüpfte ich aus meinem Blazer und ließ ihn achtlos zu Boden fallen, da er nach der Staubdusche vor dem Haus sowieso in die Wäsche musste.

Mia lief mir nach, kletterte ebenfalls auf das Bett und machte es sich auf der zart geblümten Tagesdecke bequem. Während ich meine Sachen auspackte und verstaute, versuchte ich Mia besser kennenzulernen, da sie immer noch recht schweigsam war.

„Du hast ein sehr schönes Kleid an“, begann ich, um ein Gespräch zum Laufen zu bringen. „Trägst du gerne Kleider?“

„Ja“, gab sie prompt zurück. „Weißt du, ich spiele am liebsten Prinzessin und als Prinzessin trägt man Kleider.“

„Da hast du recht. Eine Prinzessin in Hosen ist unvorstellbar“, stimmte ich ihr zu und eilte zwischen Bett und Schrank hin und her, um meine Kleidung zu verstauen.

„Mein Papa hat mir sogar ein Diadem geschenkt. Magst du es mal sehen?“

„Klar, gerne.“

Sie kletterte vom Bett, flitzte zur Verbindungstür, die sie eilig aufstieß und verschwand in ihrem Zimmer. Nur Sekunden später stand sie mit Stolz erhobenem Haupt vor mir und strahlte mich an. Auf ihrem Kopf thronte ein kleines Diadem, das mit bunten Glassteinchen verziert war.

„Wow, Sie sehen wunderschön aus, eure Majestät“, meinte ich überschwänglich.

Sie kicherte und fragte: „Spielst du nachher mit mir Prinzessinnen?“

„Aber klar. Doch zuerst muss ich noch meine Sachen fertig auspacken.“

Zufrieden über meine Aussage, nahm sie wieder ihren Posten auf meinem Bett ein.

„Nora hat erzählt, dass ihr in Frankreich Frösche und Schnecken esst. Stimmt das?“

Mit einem Lächeln erwiderte ich: „Frösche und Schnecken gelten bei uns tatsächlich als eine Delikatesse. Doch ich muss zugeben, dass ich selbst nie eins dieser Gerichte versucht habe und es auch in Zukunft nicht vorhabe.“

Mia verzog angewidert das Gesicht. „Das ist ja sowas von ekelig. Man isst doch keine schleimigen Schnecken und Frösche.“

„Ganz meiner Meinung“, stimmte ich lachend zu. „Was isst du denn gern?“

„Also, am allerliebsten esse ich Süßigkeiten, aber mein Papa lässt mich nur ab und zu welche essen. Er sagt, sie wären ungesund. Das find ich doof, weil sie doch so lecker sind.“

„Da kann ich dich verstehen, muss deinem Vater aber dennoch recht geben. Gesund sind sie wirklich nicht. Doch ab und zu braucht jeder mal etwas Süßes. Was wäre das Leben ohne Süßigkeiten?! Eine schreckliche Vorstellung.“

Ich schnappte meine Kosmetikartikel, um sie ins Bad zu bringen.

Vielleicht hätte ich damit rechnen sollen, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Bad handeln würde. Dennoch war ich nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich mir bot. Ebenso wie alles andere, was ich bisher gesehen hatte, konnte man auch diesen Raum keinesfalls als gewöhnlich bezeichnen. Der weiße Marmor auf dem Boden und den Wänden, glänzte im Duett mit den goldenen Armaturen. Neben einem großen Waschtisch, einer ebenerdigen Dusche und einer Toilette, was mir durchaus genügt hätte, gab es noch ein Bidet und eine freistehende Badewanne. Wie alle anderen Annehmlichkeiten in diesem Bad, strahlte auch die Wanne in glänzendem Weiß und war überwältigend schön.

Ich räumte meine Sachen in das gläserne Regal neben dem Waschtisch und ging zurück ins Schlafzimmer. Nachdem ich alles verstaut hatte, öffnete ich das Seitenfach meiner Reisetasche und zog ein in buntes Papier gewickeltes Päckchen hervor.

„Schau mal Mia. Ich habe dir ein kleines Geschenk mitgebracht.“

Ihre Augen wurden groß und begannen vor Freude zu strahlen.

„Oh, danke!“, rief sie aufgeregt. „Darf ich es gleich aufmachen?“

„Aber selbstverständlich“, versicherte ich und setzte mich zu ihr aufs Bett.

Ungeduldig riss sie das Papier in kleine Fetzen und beförderte den kleinen, handgehäkelten Teddy ans Tageslicht. „Der ist aber schön“, sagte sie und drückte ihn an ihre Brust. „Dankeschön!“

„Gern geschehen. Die mache ich in meiner Freizeit. Ist ein Hobby von mir.“

„Wirklich? Du kannst Plüschtiere machen?“, hakte sie verblüfft nach.