Zwei Wochen mit dir - J.J. Schurr - E-Book

Zwei Wochen mit dir E-Book

J.J. Schurr

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Beschreibung

Jeder hatte vermutlich schon einmal das dringende Bedürfnis, seinem Alltag eine Zeit lang entfliehen zu müssen. Was würde sich da besser eignen, als ein zweiwöchiger Urlaub in Lake Louise. Doch weder Stella noch Christopher rechnen bei ihrer Flucht in die malerische Idylle mit einem lebensverändernden Aufeinandertreffen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

KAPITEL 1

Mit etwas Mühe, stopfte ich die letzten Tops in meinen großen, dunkelblauen Wanderrucksack und zog an den Nylonschnüren, um den Kunststoffverschluss bis zum Anschlag zu schieben. Dann klappte ich die Deckelklappe darüber und schloss mit einem leisen Klicken die Schnellverschlüsse.

Jane saß mit dem Rücken an das Kopfende gelehnt auf meinem Bett, streckte ihre langen, schlanken Beine, die sie an den Knöcheln überkreuzt hatte, von sich und beobachtete mich mit ihren blauen Augen. „Es wird hier ganz schön einsam sein, so ganz ohne dich“, meinte sie und zog eine Schnute.

„Das glaube ich kaum. Schließlich wird Brain meinen Platz einnehmen, solange ich weg bin“, widersprach ich.

„Ach komm schon, Stella, du weißt genauso gut wie ich, dass ein Mann nicht die beste Freundin ersetzen kann. Männer sind für andere Dinge gut“, erklärte sie mir mit einem frechen Grinsen auf ihren rosa geschminkten Lippen.

Jane war schon immer die Hübschere von uns beiden. Mit ihrer perfekt gebräunten und makellosen Haut, dieser unglaublichen Ausstrahlung, der blonden, gelockten Mähne und ihrem schlanken Körper, konnte sie jeden Mann um den kleinen Finger wickeln. Zumindest kam es mir immer so vor. Kaum betrat sie einen Raum, drehten sich alle Kerle nach ihr um. Und hatte sie einen für sich auserkoren, konnte sich dieser ihrem Bann nicht mehr entziehen. Sie war einfach eine echte Erscheinung. Auch Brain, den sie vor einem dreiviertel Jahr in einer Bar kennen und lieben gelernt hatte, war ihr sofort verfallen gewesen und himmelte sie seitdem an.

Im Gegensatz zu Jane kam ich mir, mit meinen langweiligen braunen Haaren und den dunklen Augen, immer ein wenig wie das unbedeutende Mauerblümchen vor. Nicht, dass ich hässlich wäre. Auch Eifersucht war zwischen meiner Freundin und mir kein Thema, denn dazu gab es keinen Grund. Ich beneidete Jane zwar für ihr vollkommenes Aussehen und wäre durchaus froh, wenn ich selbst zehn Zentimeter größer und vier Pfund leichter wäre, aber man konnte sich bei der Geburt ja leider nicht aussuchen, wie man später einmal aussehen würde.

Wir beide waren seit unserer Kindheit die besten Freundinnen und hatten von Anfang an jede freie Minute miteinander verbracht, was uns fest zusammenschweißte. Jane war für mich wie eine Schwester. Dazu der einzige Mensch in meinem Leben, dem ich blind vertraute und mit dem ich über alles reden konnte, was mir auf der Seele lag. Mit ihr teilte ich alles. Sogar unsere gemeinsame Wohnung, was sehr praktisch war. So sparte sich jede von uns bei der Miete eine Menge Geld und wir sahen uns sogar schon morgens nach dem Aufstehen. Ich liebte die gemeinsame Zeit mit meiner besten Freundin und war schon oft froh gewesen, sie an meiner Seite zu haben.

„Und ich bin mir sicher, dass du dir mit genau diesen Dingen die Zeit mit Brain vertreiben wirst“, reagierte ich auf Janes Aussage und wandte mich zu meinem weißen Kleiderschrank um. Der Duft von Frühlingsblumen strömte mir entgegen, welcher dem Duftsäckchen, das darin hing, zuzuschreiben war. Ich griff nach den Türen und schloss den Schrank.

„Das mag schon sein und ich freue mich auch, dass Brain hier sein wird, aber er kann bei weitem nicht so gut kochen wie du. Und ein Shoppingmuffel ist er auch.“

Ich lachte auf und sah sie über ihr Spiegelbild des Spiegels, der sich auf meiner rechten Schranktür befand, an. „Tja, Jane, man kann bei einem Mann wohl kaum erwarten, dass er in allen Lebenslagen perfekt ist. Das sind wir Frauen schließlich auch nicht. Zudem ist es doch nur für zwei Wochen. Ich hätte mich ja auch gefreut, wenn du mitgekommen wärst. Aber du hast nun mal erst nächsten Monat Urlaub und so lange kann ich nicht mehr warten. Ich brauche dringend eine Pause und das weißt du. Die letzten Monate waren die Hölle für mich und ich bin wirklich froh, dass meine Chefin mir erlaubt hat, oder nennen wir es eher dazu gedrängt, meine Überstunden mitsamt dem Resturlaub von letztem Jahr auf einen Schlag abzubauen.“

Sie seufzte und rutschte vor bis zur Bettkannte. „Du hast ja Recht!“, stimmte sie mir zu und erhob sich. „Du hast diese Auszeit bitter nötig. Ich kann es immer noch nicht fassen, was du in so kurzer Zeit alles durchmachen musstest. Aber sei optimistisch und blicke nach vorn. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Nur besser. Ich bin mir sicher, dass das Schlimmste hinter dir liegt.“

Ich wandte mich von ihrem Spiegelbild ab, drehte mich um und blickte sie traurig an. Jane trat auf mich zu und schloss mich in ihre Arme.

Gedanklich stimmte ich ihr zu. Das Schlimmste war überstanden und es konnte nur noch bergauf gehen. Ich würde die zwei Wochen Urlaub nutzen und den Kummer der letzten Monate verarbeiten, um dann mit neu gewonnener Kraft mein Leben wieder zu leben. Schließlich konnte ich, an dem was passiert war, nichts mehr ändern. Auch wenn der Schmerz noch immer tief saß, würde ich lernen müssen, damit zu leben. Darum ging es doch im Leben. Solche Erfahrungen zu verarbeiten, daran zu wachsen, daraus zu lernen und dann weiterzumachen. Und genau das würde ich tun.

Entschlossen erwiderte ich Janes Geste, drückte sie an mich und gönnte mir für einen kurzen Augenblick, mich ihrem Trost hinzugeben. „Wann kommt Brain eigentlich?“, wollte ich wissen, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, um von dem traurigen Thema abzulenken.

„Er wollte heute Abend direkt nach der Arbeit hierherkommen“, antwortete Jane. „Apropos Arbeit, wenn wir noch zusammen frühstücken wollen, sollten wir allmählich einen Gang zulegen. Ich muss in einer Stunde in der Boutique sein, sonst bekommt Harper wieder einen Wutanfall und hält mir ihre berühmte Predigt über Pünktlichkeit.“

„Steht sie immer noch mit der Uhr in der Hand hinter der Tür und schaut, ob du auch ja nicht zu spät bist?“, hakte ich nach, denn so war es zu Beginn von Janes Anstellung in Harpers Modeladen gewesen.

Harper war eine leicht spießige Frau in den Fünfzigern und Janes Arbeitgeberin. Sie verabscheute Unpünktlichkeit, selbst wenn es sich nur um ein paar Sekunden handelte. Doch ich war der Ansicht, dass man nach sieben Jahren treuen Dienstes, nicht wegen jeder Sekunde Stress machen musste. Zudem juckte es Harper ja auch nicht, wenn es abends später wurde, weil kurz vor Ladenschluss noch jemand durch die Tür kam und meinte, sich noch in aller Ruhe umschauen zu müssen. Aber so war Janes Chefin nun mal. Sie hatte seit Gedenken einen Pünktlichkeitsfimmel, der unumstößlich war.

„Nein, ganz so schlimm ist es zum Glück nicht mehr. Aber auf ihr Gerede, über Disziplin und Pünktlichkeit, kann ich trotzdem verzichten“, grummelte Jane.

Ich nickte verständnisvoll, nahm meinen Rucksack, der eine Tonne zu wiegen schien und schleppte ihn in den Flur, wo ich ihn neben der Haustür abstellte. „Dann lass uns noch schnell etwas essen, bevor wir uns verabschieden müssen. Ich wollte schließlich vor Einbruch der Dunkelheit in der Hütte sein.“

„Ich decke freiwillig den Tisch, wenn du für uns dein sagenhaftes Omelett machst“, schlug Jane vor.

„Klar, damit kann ich leben“, stimmte ich zu und folgte ihr in die Küche.

Jane wuselte durch den Raum und deckte den kleinen, rechteckigen Holztisch, der mit vier unterschiedlichen Stühlen bestückt war.

Da wir uns vor Jahren, als wir in die Wohnung eingezogen waren, nicht so viel leisten konnten, hatten wir auf Flohmärkten nach günstigen Möbeln gesucht. Daher wurde unser Zuhause zu einem bunten durcheinander aus Neu und Alt. Die drei Zimmer mit Küche und Bad waren vor unserem Einzug neu saniert worden. Die nagelneue, beigefarbene Einbauküche mit Granitarbeitsplatte hatte unser Vermieter schon vorab einbauen lassen. Auch die LED-Deckenbeleuchtung war schon installiert gewesen, wofür wir beide mehr als dankbar waren. Keine von uns beiden hätte das nötige technische Know-how besessen, um eine Deckenlampe zu montieren. Am meisten begeistert hatte uns aber das schneeweiße Badezimmer. Durch die angenehme Größe, konnten wir uns nämlich zur gleichen Zeit darin aufhalten, ohne uns gegenseitig in die Quere zu kommen.

Trotz, dass wir uns inzwischen neue Möbel hätten leisten können, wollte keine von uns etwas in unserer Wohnung verändern. Wir liebten diesen Stil aus Alt und Neu und waren weder gewillt, uns von dem etwas verblichenen, roten Samtsofa zu trennen, das die rechte Hälfte des Wohnzimmers einnahm und so wahnsinnig bequem war, oder sonst irgendein Möbelstück auszutauschen, nach dem wir so mühselig die Flohmärkte abgegrast hatten.

Ich ging zum Kühlschrank und nahm die Packung mit den Eiern heraus. Dazu etwas Schinken, geriebenen Käse, Champignons und eine Paprika.

„Weißt du überhaupt, ob die Hütte noch steht? Ich meine nur, weil du schon eine ganze Weile nicht mehr dort warst.“

„Das letzte Mal zusammen mit dir. Im Winter vor eineinhalb Jahren. Weißt du noch?“, erinnerte ich sie, schlug dabei die Eier in eine Edelstahlschüssel und rührte sie schwungvoll mit einem Schneebesen durch.

„Oh mein Gott, wie könnte ich diesen Winterurlaub vergessen. Der sagenhaft viele Schnee. Und weißt du noch Josh und…“ Jane blieb der Satz im Hals stecken und sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Tut mir leid, Stella. Ich wollte nicht schon wieder das leidige Thema aufwärmen.“

Ich sah kurz von meinem Schneidbrett auf, wo ich gerade den Schinken würfelte und schenkte ihr ein Lächeln. „Schon okay und da du gerade Josh erwähnst. Ja, die Hütte steht noch. Josh hat immer wieder nach ihr gesehen, wenn er zwischendurch dazu Zeit hatte.“

„Arbeitet er denn immer noch dort als Skilehrer und Tourguide?“

„Ja und wir schreiben uns immer noch in regelmäßigen Abständen Nachrichten. So bleibt jeder auf dem Laufenden und ich weiß, dass vor Ort alles in Ordnung ist.“ Ich griff nach der Petersilie, die auf dem Fenstersims stand und zupfte mir ein paar Stiele davon ab, um sie kleinzuhacken.

Jane ließ sich auf einen der Stühle sinken und säuselte verträumt: „Josh, er war wirklich süß.“

„Das war er und wird es mit Sicherheit auch noch immer sein. Aber du hast jetzt Brain. Und wenn ich dich daran erinnern darf, warst du diejenige, die mit Josh Schluss gemacht hat“, tadelte ich sie, stellte eine Pfanne auf den Herd und gab einen Tropfen Öl hinein, um sie zu erhitzen.

„Man wird ja wohl noch in Erinnerungen schwelgen dürfen. Ich würde es auch heute nicht anders machen. Er war süß und es war eine tolle Zeit. Trotzdem wäre ich nie und nimmer in eine so ruhige Gegend gezogen, um eine dauerhafte Beziehung mit ihm führen zu können. Ich bin ein Mensch der Action braucht. Der abends durch die Bars tingeln oder spontan einfach mal shoppen gehen will. Dazu möchte ich nicht erst eine Stunde fahren müssen, um die Zivilisation zu erreichen. Missoula mag zwar auch nicht gerade eine Weltstadt sein, aber trotzdem noch besser als Lake Louise“, schnaubte Jane.

„Du übertreibst mal wieder ein bisschen. Es ist ja nicht so, dass Josh mitten im Banff Nationalpark wohnt. Aber mir ist schon klar, was du meinst. Schließlich kenne ich dich lange genug, um zu wissen, dass du Trubel brauchst. Außerdem glaube ich, dass das mit dir und Brain besser passt. Vielleicht sogar so gut, dass ich mir nach meiner Rückkehr eine neue Mitbewohnerin suchen muss.“

„Na ja, er ist schon toll und bis jetzt hätte ich auch keinen Grund vorzubringen, warum es mit uns nicht klappen sollte. Trotzdem will ich hier eigentlich nicht ausziehen. Bei dem Gedanken, dich hier alleine zurückzulassen, fühle ich mich unwohl.“ Sie machte ein besorgtes Gesicht und presste ihr Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

„Du machst dir zu viele Gedanken um mich“, meinte ich, während ich anfing meine kleingeschnittenen Zutaten für das Omelett in die heiße Pfanne zu geben, um sie anzudünsten. „Wir sind nun beide dreißig und es wird langsam Zeit, dass wir der Tatsache ins Auge sehen. Eine von uns, und das wirst wohl eher du sein, wird sich auf kurz oder lang um ihre eigene kleine Familie kümmern. Ich würde mich für dich freuen und lasse mich auch gerne als Brautjungfer und Patentante missbrauchen, aber bitte nimm keine Rücksicht auf mich. Ich will deinem Glück wirklich nicht im Wege stehen oder der Grund sein, dem du dich verpflichtet fühlst. Du hättest es verdient und Brain ist ein toller Kerl. Vielleicht sogar der beste, den du dir je geangelt hast“, mutmaßte ich. „Seht doch diese zwei Wochen als Testphase, ob ihr auch miteinander glücklich seid, wenn ihr ständig zusammen rumhängt. Schließlich ist es nochmal ein anderes Level, sich die Wohnung zu teilen, als sich nur an den Wochenenden oder mal am Abend zu sehen.“ Mit einem Zischen schüttete ich das Ei in die Pfanne, bedeckte dadurch das gedünstete Gemüse und den Schinken, würzte mit Pfeffer, Salz und der gehackten Petersilie und gab zum Abschluss den Käse darüber, der durch die Hitze wunderbar zerfloss.

„Eigentlich hättest du die Erste sein sollen, die eine Familie gründet“, murmelte Jane.

Seufzend schaltete ich den Herd aus, teilte das Omelette in zwei Hälften, legte es auf die Teller und trug das Essen zum Tisch. Mit einem leisen Klappern, stellte ich Janes Teller vor ihr ab und nahm mit meinem eigenen ihr gegenüber Platz. „Hör zu, Jane. Das, was zwischen mir und Mason geschehen ist, sollte dich in deinem Glück nicht ausbremsen. Ich konnte ihm nicht geben, was er wollte und er ist gegangen. Thema erledigt. Du und ich haben oft genug darüber gesprochen und hatten beschlossen, dass es so besser ist. Natürlich hat er mich damit verletzt, da ich immer dachte, er würde mich lieben, aber anscheinend habe ich mich getäuscht. Oder zumindest war diese angebliche Liebe nicht stark genug, um über mein Manko, für das ich nichts kann und von dem ich bis dahin selbst nichts wusste, hinwegzusehen. Er hat sich wie ein riesen Arsch verhalten und ich bin froh, dass er nicht mehr zu meinem Leben gehört.“ Ich griff nach meiner Gabel und piekte sie ins Omelett. „Ich will, dass du mir versprichst, auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Du hast dein Glück mehr als verdient und darum musst du mir schwören, dass du dich wegen mir nicht zurückhältst.“

„Na schön“, grummelte sie, stopfte sich wie ein trotziges Kind den Mund mit Essen voll und kaute unzufrieden darauf herum.

„Na schön was?“, ermahnte ich sie und zeigte mit meiner Gabel, auf der bereits etwas Ei steckte, auffordernd in ihre Richtung.

Grimmig verengte sie die Augen und fügte hinzu: „Na schön, ich schwöre es.“

„Ich kann deine Finger nicht sehen“, bemerkte ich mit einem Grinsen im Gesicht.

„Oh Stella“, schimpfte sie, legte ihr Besteck zur Seite, hob ihre Hand und legte die andere auf ihre Brust. Direkt auf die Stelle, wo ihr Herz schlug, so, wie wir es schon als Kinder taten, wenn wir uns etwas geschworen hatten. „Ich schwöre hiermit feierlich, in Sachen Liebe und Beziehung keine Rücksicht auf dich zu nehmen.“ Sie ließ die Hände sinken und griff wieder nach ihrer Gabel. „Bist du jetzt zufrieden?“, knurrte sie.

„Ja, wobei… du könntest dein erstes Kind nach mir benennen. Vorausgesetzt, es wird ein Mädchen.“

Jane sah verblüfft von ihrem Essen auf. Erkannte dennoch Sekunden später, dass ich zumindest in puncto Namensgebung nur Spaß gemacht hatte und sie aufzog. Sie begann zu lachen, zerknüllte ihre Papierserviette, die noch sorgfältig gefaltet neben ihrem Teller lag, und warf sie in meine Richtung. Mit einer geschickten Handbewegung konnte ich ihren Angriff abwehren, weshalb die Serviette quer durch die Küche flog.

„Du bist unmöglich, weißt du das eigentlich?“, kicherte sie.

„Du erwähnst es ab und zu, aber danke, dass du mich wieder daran erinnerst“, antwortete ich ebenfalls lachend und widmete mich wieder meinem Essen.

Ein Blick auf die Küchenuhr, die an der Wand über dem Tisch hing, trieb mich zur Eile an, da es bereits zwanzig Minuten nach acht war. Ich sollte mich langsam sputen, denn ich hatte noch über sieben Stunden Autofahrt vor mir. Zudem musste Jane um neun in der Boutique sein.

Schnell schob ich mir die letzten Stücke von meinem Omelett in den Mund, stand auf und brachte meinen Teller in das leere Spülbecken. Auf dem Weg dorthin, klaubte ich die zerknüllte Serviette auf, die so verloren auf dem Boden herumlag, und warf sie in den Mülleimer unter der Spüle. Um mein Essen hinunterzuspülen, holte ich mir noch schnell eine Tasse aus dem Hängeschrank und goss einen Schluck Kaffee hinein, den Jane nach dem Aufstehen gemacht hatte, gab Milch und Zucker hinzu und trank ihn in einem Zug aus. Jane tat es mir gleich und trank auch noch eine Tasse Kaffee, bevor wir uns zum Aufbruch bereit machten.

Keine zehn Minuten später, standen wir gemeinsam auf dem Gehsteig, vor dem kleinen Mietshaus, in dem wir wohnten. Ich hievte meinen Rucksack auf die Rückbank meines alten Pickups, dem sein Alter anhand der vielen Rostflecken deutlich anzusehen war. Trotzdem liebte ich meinen Wagen, den ich vor drei Jahren von meinem Vater geschenkt bekommen hatte, nachdem er wegen seiner Demenz, die sich immer mehr ausprägte, nicht mehr eigenständig fahren durfte. Seitdem war mir dieser verrostete, armeegrüne Wagen ein treues Gefährt, das mich trotz seines schäbigen Aussehens noch nie im Stich gelassen hatte.

Ich schloss die hintere Tür, ging zur Fahrertür, öffnete diese und warf meine Jacke quer durch die Fahrerkabine auf den Beifahrersitz. Dann wandte ich mich Jane zu, breitete meine Arme aus und schloss sie darin ein.

„Ich werde dich vermissen“, flüsterte Jane.

„Ich werde dich ebenfalls vermissen. Aber es ist ja nur für zwei Wochen und vielleicht gewöhnen wir uns dadurch auch schon mal daran, wie es sein wird, wenn wir nicht mehr zusammenwohnen.“

Wir lösten uns voneinander und Jane verzog angewidert das Gesicht. „Vielleicht will ich mich nicht daran gewöhnen“, meckerte sie.

Wenn ich in diesem Augenblick ehrlich gewesen wäre, dann hätte ich zugeben müssen, dass mir der Gedanke daran, ohne Jane zu wohnen, auch nicht sonderlich gefiel. Doch ich versuchte mir, wie so oft, nichts anmerken zu lassen. Das hätte Jane nur davon abgehalten, ihr Glück zuzulassen und das wollte ich auf keinen Fall. Darum ermahnte ich sie: „Das werden wir aber irgendwann müssen. Denk an deinen Schwur.“

„Ganz ehrlich, Stella, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du mich unter die Haube bekommen willst, um mich loszuwerden. Aber zu deinem Glück, weiß ich, wie du tickst und was in deinem Kopf vorgeht.“

„Dann bin ich aber beruhigt“, erwiderte ich mit gespielter Erleichterung und schenkte ihr ein Lächeln. „Ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Viel Spaß mit Brain und sag ihm liebe Grüße von mir.“

„Das mache ich. Fahr vorsichtig und pass gut auf dich auf“, bat sie mich.

„Klar, wie immer. Hab dich lieb, Jane.“

„Hab dich auch lieb und grüß Josh von mir.“

„Wird erledigt“, versprach ich.

Jeder drückte dem anderen noch ein Küsschen auf beide Wangen. Dann ließ ich mich hinters Steuer gleiten, schloss die Tür, legte den Sicherheitsgurt an und startete den Motor. Vom Vorabend lag noch ein leichter Duft von Pizza in der Luft, die ich von unserem Lieblingsitaliener besorgt hatte, um unseren letzten gemeinsamen Abend vor meiner Abreise entspannt ausklingen zu lassen, weshalb ich das Fenster einen Spaltbreit öffnete. Ein letztes Mal hob ich zum Abschied die Hand, bevor ich mich in den Verkehr einfädelte und mich auf meinen Weg nach Kanada machte. Im Rückspiegel sah ich, wie Jane mit schnellen Schritten in entgegengesetzter Richtung davonging, um noch rechtzeitig ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Als ich um die nächste Ecke bog, verschwand sie völlig aus meiner Sicht.

KAPITEL 2

Ich fuhr denselben Weg, den ich schon mit meiner Familie bestritten hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war und zusammen mit meinem Bruder auf der Rückbank des Autos gesessen hatte. Diese Strecke war mir in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen und ich würde sie vermutlich mit geschlossenen Augen fahren, wenn das möglich wäre.

Durch das hohe Verkehrsaufkommen, brauchte ich über sieben Stunden, bis ich die Provinz Alberta erreichte und noch fast eine weitere, bis ich das rautenförmige Ortsschild von Lake Louise passierte, auf dem ein brauner Grizzly vor einem See mit dahinterliegenden Bergen abgebildet war. Es handelte sich dabei um das Abbild des Lake Louise, in dessen Hintergrund sich die mächtigen Berge des Mount Tempel, Mount Whyte und Mount Niblock erhoben. Dieser wunderschöne Ort lag im Banff Nationalpark, welcher auch als die kanadischen Rocky Mountains bezeichnet wurde. Bis heute galt er als der älteste und größte Nationalpark Kanadas. Der Ort Lake Louise wurde in der Vergangenheit zu einem immer beliebteren Urlaubsziel für Wanderer und, in der kalten Jahreszeit, für Wintersportfans, was durch den wachsenden Tourismus auch so geblieben war.

Mein Vater hatte hier vor vielen Jahren eine wunderschöne Ferienhütte erstanden, die etwas abseits vom Haupttourismus lag. Sie befand sich am Ende einer Straße, die auf eine Anhöhe führte und wo es im Umkreis der nächsten dreihundert Meter keine weitere Hütte gab. Da diese Hütte damals nicht im besten Zustand gewesen war und nicht zentral lag, hatte mein Vater sie zu einem Schnäppchenpreis bekommen und über die Jahre wiederhergerichtet. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir damals in den Ferien immer hierhergefahren waren und mein Vater mit Werkzeug und neuen Holzbrettern der alten Hütte zu Leibe gerückt war. Als gelernter Zimmermann hatte er daran großen Spaß gehabt und besaß auch das nötige Fachwissen, um die Hütte zu restaurieren. Nach und nach erstrahlte unser zukünftiges Feriendomizil wieder in neuem Glanz und bot uns immer wieder einen gemütlichen Rückzugsort, wenn wir Urlaub machen wollten. Meine Mutter ging meinem Vater bei den Reparaturarbeiten zur Hand oder kümmerte sich um den Haushalt, während mein Bruder und ich in Sichtweite spielten.

Ich seufzte schwer, als ich an die alten Zeiten dachte. Es war schon so lange her und doch hatten sich diese Bilder so stark in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich sie so klar vor meinem inneren Auge sah, als sei es erst gestern gewesen. Ich konnte noch immer das Hämmern meines Vaters hören, wenn er die Bretter mit Nägeln befestigte. Ebenso die sanfte Stimme meiner Mutter, wenn sie uns ermahnte, nicht so schnell zu rennen, damit wir nicht stürzten und uns die Knie aufschlugen. Und auch das ausgelassene Lachen meines jüngeren Bruders hallte noch durch meinen Kopf, obwohl das schon zwei Jahrzehnte zurücklag.

Mit gesetztem Blinker bog ich in die Straße ein, die bis zu dem Grundstück der Hütte führte, und nahm die Steigung im zweiten Gang. Das Radio, das bis eben Hits aus den Neunzigern durch meinen Wagen geschallt hatte, drehte ich unterdessen leiser. Als ich mein Ziel erreichte, war ich etwas überrascht, denn es stand ein royalblauer Honda Accord auf dem gekiesten Parkplatz vor der Hütte, den ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte. Doch dann kam mir in den Sinn, dass es Josh sein könnte. Schließlich hatte ich ihm letzte Woche eine kurze Textnachricht geschickt, dass ich heute Abend anreisen würde. Vielleicht wollte er mich überraschen, indem er mich empfing. Wir hatten uns immerhin seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen und ich freute mich schon sehr darauf, ihn endlich wiederzusehen.

Ich parkte mein Auto neben dem Honda, stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Mit meiner Jacke in der Hand stieg ich aus, öffnete die hintere Tür und hievte meinen Rucksack heraus, um ihn auf den Rücken zu nehmen. Nachdem die Tür wieder geschlossen war und mein Wagen verriegelt, gönnte ich mir einen kurzen Augenblick und atmete die saubere, klare Bergluft ein. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die zauberhafte Kulisse in sanfte Orange- und Rottöne. Der kühle Abendwind, der auch jetzt im Juli des Nachts auf zehn Grad absinken konnte, verursachte mir eine leichte Gänsehaut. Deshalb wandte ich mich um und lief auf den Eingang der Hütte zu.

Im Vergleich zu Missoula in Montana war es hier extrem ruhig. Nur das Knirschen des Kieses unter meinen Schuhen und das ferne Bellen eines Hundes war zu hören, als ich auf die Haustür zulief. Über zwei Stufen gelangte ich auf die Veranda, die sich über die komplette Länge der Hütte erstreckte und von einem breiten Vordach beschattet wurde. Ein solides Geländer umgab das ganze Konstrukt. An einem der massiven Dachbalken hing noch immer die hölzerne Hollywoodschaukel, die mein Vater für meine Mutter dort aufgehängt hatte und auf der sie so oft den Abend entspannt hatten ausklingen lassen.

Licht schien durch die Fenster nach draußen, was meine Vermutung, dass Josh hier sein musste, noch zusätzlich stützte. Da ich schon damit rechnete, dass die Tür nicht verschlossen sein würde, zog ich meinen eigenen Schlüssel erst gar nicht aus der Tasche. Tatsächlich behielt ich recht, denn als ich den Türknauf drehte, sprang die Tür mit einem leisen Klicken auf. Ich ging hinein, schloss die Tür hinter mir und sah mich nach Josh um, den ich aber nirgends erblickte.

„Josh?“, rief ich und sah mich verwundert um. Bei dem Anblick, der sich mir bot, während ich meinen Rucksack von meinem Rücken gleiten ließ und ihn neben der Tür abstellte, bildete sich zwischen meinen Augenbrauen eine tiefe Furche. Alles war noch so, wie Jane und ich die Hütte im vorletzten Winter verlassen hatten. Allerdings mit einem kleinen, nicht ganz unbedeutendem, Zusatz. Hier und da lag wahllos Männerkleidung herum. Auf dem Esstisch stapelten sich Farbtuben und Pinsel. Auch das Sofa, vor dem mit Stein ummauertem Kamin, war mit Klamotten übersät. Hier und da waren Leinwände gegen die Möbel und die dunklen Holzwände gelehnt. Dazu lag ein unangenehmer Geruch von Terpentin in der Luft.

Langsam lief ich auf die massive Küche aus amerikanischem Nussbaum zu, die den rechten Teil des Raumes einnahm. Auf der Kochinsel, die die Küche optisch vom Wohnzimmer trennte, standen Töpfe und Pfannen herum, die benutzt worden waren. In der Spüle türmte sich noch mehr schmutziges Geschirr und selbst der Mülleimer in der Ecke quoll über.

Was zum Teufel war hier los? Dieses Durcheinander konnte doch unmöglich von Josh sein. Er hatte mir doch hoch und heilig versprochen, sich gewissenhaft um meine Hütte zu kümmern.

Die alte Mrs. Martin war vor drei Jahren verstorben und hatte sich bis dahin immer zuverlässig um alles gekümmert, solange meine Eltern und ich nicht vor Ort gewesen waren. Josh kannte ich seit meiner Jugend. Er war drei Jahre älter als ich und hatte damals hier einen Job als Skilehrer und Tourenguide angenommen. So lernten wir uns auch kennen. Auf der Skipiste, als er versuchte, mir das Snowboardfahren beizubringen, was sich als sinnloses Unterfangen entpuppte. Trotz des gescheiterten Versuchs, hielt ich Josh vom ersten Augenblick an für eine verantwortungsbewusste Person und verstand mich super mit ihm. Darum hatte ich, nach Mrs. Martins Ableben, seinen Vorschlag, ihren Job zu übernehmen, dankend angenommen. Doch was ich hier sah, war alles andere als verantwortungsbewusst. Trotzdem bezweifelte ich, dass Josh für dieses Durcheinander verantwortlich war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er vom Skilehrer und Tourenguide zum Künstler übergelaufen war. Also, was war hier passiert und wer war für dieses Chaos verantwortlich?

Da der Vorhang vor dem Küchenfenster meine Sicht versperrte, schob ich ihn zur Seite. Vielleicht würde mir das Kennzeichen des Wagens Aufschluss über die Herkunft des Übeltäters geben. Leider machte es mir das Anbrechen der Nacht unmöglich etwas zu erkennen, weshalb ich den Vorhang wieder schloss. Ich trat einen Schritt von der Küche zurück und drehte mich um, weil ich den Rest der Hütte begutachten wollte, als ich gegen einen nackten, sehr männlichen Oberkörper prallte. Überrascht stieß ich die Luft aus, während mein Blick an dieser stählernen Brust festzuhängen schien. Ein paar dunkle Haare kräuselten sich darauf. Einige Wasserperlen hatten sich darin verfangen. Andere perlten über die leicht gebräunte Haut hinab, weiter über den flachen Bauch, bis sie von dem dunkelgrauen Handtuch aufgesogen wurden, welches den Rest darunter verbarg. Bei diesem Anblick wurde mein Mund trocken und ich betete im Stillen, dass der obere Teil der Person, dem dieser Körper gehörte, nicht annähernd so gut aussah, damit sich diese seltsame Unruhe in meinem Körper wieder legen könnte. Deshalb hob ich langsam den Kopf und… „Heilige Scheiße“, keuchte ich, ohne auf meine Wortwahl zu achten, was die Mundwinkel des Mannes, der mir gegenüberstand, amüsiert zucken ließ. Er hatte wunderschöne, goldbraune Augen, die von einem dunklen Kranz aus Wimpern umrahmt wurden und mich fragend musterten. Ich reichte diesem Traum von einem Mann gerade mal bis zur Schulter. Sein schlanker und definierter Körper war nicht das einzige, was mich um Fassung ringen ließ. Sein markantes Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn, auf dem ein kleines Grübchen zu sehen war, fesselte mich. Ein leichter Bartschatten lag darauf. Sein hellbraunes Haar, das an den Spitzen noch nass war und dort dunkler wirkte, fiel ihm frech ins Gesicht. Im Nacken war es etwas zu lang, so, als sei es schon seit einer Weile nicht mehr geschnitten worden, was ihn noch verwegener wirken ließ. Er roch frisch und männlich, was mich dazu verleitete, tief Luft zu holen, damit ich seinen Duft in mir aufnehmen konnte.

„Darf ich fragen, was Sie in meiner Hütte machen?“

Seine Stimme war rau und männlich und ließ meinen Körper vor Wonne erschaudern.

„Lady, ich habe Sie etwas gefragt oder sprechen Sie meine Sprache nicht?“

Die harschen Worte holten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich benötigte ein paar Sekunden, um meine Stimme wiederzufinden. Als mir jedoch bewusst wurde, was er eben gesagt hatte, wurde ich wütend. „Ihre Hütte?“, rief ich fassungslos. „Von was träumen Sie eigentlich nachts?“

Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht, bevor er antwortete: „Ich glaube nicht, dass Sie das wissen wollen.“

Genervt verdrehte ich die Augen. So eine Antwort konnte nur von einem Mann stammen. „Ihnen ist hoffentlich klar, dass das eine rein rhetorische Frage war. Allerdings könnten Sie mir mal sagen, wer Sie sind, was Sie hier machen und warum Sie meine Hütte so verwüstet haben?“, konterte ich.

„Das sind ganz schön viele Fragen auf einmal“, stellte er fest und trat einen Schritt zurück. „Aber gut, dann mache ich eben den Anfang unserer Begrüßungsrunde. Mein Name ist Christopher Rade. Ich habe diese Hütte für vier Wochen gemietet und hier ist nichts verwüstet, sondern ich bin nur noch nicht zum Aufräumen gekommen, da ich mit meiner Arbeit beschäftigt war. Zufrieden?“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte langsam den Kopf. „Das ist völliger Quatsch und wenn Sie nicht ganz schnell Ihren Krempel nehmen und verschwinden, dann rufe ich die Polizei“, drohte ich ihm, hoch erhobenem Hauptes.

„Für eine so kleine Lady haben Sie ganz schön Mumm in den Knochen, das muss man Ihnen lassen. Doch ich muss Sie leider enttäuschen. Ich habe diese Hütte im Voraus bezahlt und werde mit Sicherheit nicht gehen. Aber vielleicht wären Sie mal so freundlich, mir mitzuteilen, mit wem ich die Ehre habe, bevor Sie weiter Forderungen stellen und mir drohen“, meinte er und verschränkte nun ebenfalls die Arme vor seiner Brust, wodurch sich die Muskeln in seinen Oberarmen anspannten und meinen Blick anzogen.

Verdammt, warum musste dieser unverschämte Kerl auch so heiß aussehen.

„Stella Hanson, rechtmäßige Besitzerin dieser Hütte. Und ich kann mich nicht daran erinnern, diese an Sie vermietet zu haben.“

„Stella Hanson?“, wiederholte mein Gegenüber und zog nachdenklich die Stirn kraus. „Sagt Ihnen der Name Nat Hanson etwas?“

Meine Augen weiteten sich bei diesem Namen und es beschlich mich ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend. „Allerdings! Nat ist mein Bruder.“

„Gut, dann sollte sich das Missverständnis sehr einfach beheben lassen. Rufen Sie Ihren Bruder an. Er wird Ihnen bestätigen, dass er mir diese Hütte vermietet und die eintausend Dollar dafür bereits kassiert hat.“ Mr. Rade schien sehr zufrieden mit sich und seinem schlauen Verstand, denn er lehnte sich mit überkreuzten Knöcheln lässig gegen die Kochinsel, die sich direkt neben ihm befand, und stemmte seine linke Hand in die Hüfte.

Ich hingegen fühlte mich wie zu Eis erstarrt. „Eintausend Dollar?“, wiederholte ich wie ein Papagei, was Mr. Rade mit einem Nicken quittierte. Das konnte doch nicht wahr sein. Besaß Nat denn überhaupt keinen Funken Anstand mehr? Bestand sein Leben nur noch aus Lug und Trug, um irgendwie an Geld zu kommen, ohne Rücksicht auf Verluste?

„Ist alles in Ordnung?“, meine Mr. Rade plötzlich, richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf und trat erneut auf mich zu. „Sie sehen auf einmal so blass aus. Wollen Sie sich vielleicht lieber hinsetzen?“

Seine Worte rissen mich aus meiner Versteinerung. Ich wich zurück und stieß dabei mit der Kehrseite gegen die Küchenzeile. Kurzerhand wandte ich ihm den Rücken zu, griff mir aus dem Regal vor mir ein Glas, machte einen Schritt zur Seite und füllte etwas Wasser aus dem Wasserhahn hinein. Scotch wäre mir in diesem Augenblick zwar lieber gewesen, aber in diesem Fall musste wohl Wasser genügen. Nach ein paar großen Schlucken war das Glas leer und ich füllte nochmal nach, bevor ich mich ihm wieder zuwandte. „Sie sagen also, mein Bruder hat Ihnen das Haus vermietet. Darf ich Fragen, wie es dazu kam?“

Er nickte und meinte: „Ich habe ihn rein zufällig kennengelernt. Auf einer Party. Ich kenne Ihren Bruder nicht näher, doch er bekam ein Gespräch mit, als ich mich gerade mit einem Freund über einen kurzzeitigen Tapetenwechsel unterhielt. Da gesellte er sich zu uns, erzählte mir von dieser Hütte, dass er sie vermieten würde, und weckte so mein Interesse. Am Tag darauf trafen wir uns erneut. Er gab mir eine genaue Wegbeschreibung, sagte mir, wo ich den Schlüssel finden würde und ich überließ ihm das Geld. Das ist jetzt zehn Tage her. Vor drei Tagen bin ich hier angekommen. Ende der Geschichte.“

Ich seufzte frustriert, stellte das Glas auf der Kochinsel ab, lief zu meinem Rucksack, zog mein Handy heraus und wählte die Nummer meines Bruders. Ich hatte zwar schon so eine Ahnung, dass dieser Anruf sinnlos sein würde, doch wenn er nur dazu diente, ihm die Hölle heiß zu machen, war es mir das Telefonat schon wert. Nach dem vierten Klingeln, hallte Nats Stimme durch den Hörer.

„Schwesterherz, was verschafft mir die Ehre deines unerwarteten Anrufs?“

„Nat, du weißt genau, warum ich anrufe. Also tu nicht so unschuldig“, knurrte ich.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, tat er völlig unwissend.

„Du verdammtes Arschloch hast einfach meine Hütte vermietet. Also tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede“, erwiderte ich mit erhobener Stimme.

„Ach Schätzchen, es ist in gewisser Weise auch meine Hütte“, säuselte mein Bruder frech zurück.

„Ein Scheiß ist es. Du wurdest schon vor Jahren enterbt, wie du dich sicherlich erinnerst. Und der Grund dafür ist dir auch bekannt.“

„Oh, das muss mir im Eifer des Gefechts glatt entfallen sein“, meinte er und ich hörte das gehässige Lachen in seiner Stimme.

„Du elender Mistkerl. Ich kann kaum glauben, was aus dir geworden ist. Dich überhaupt meinen Bruder zu nennen, ist eigentlich schon zu großzügig.“

„Jetzt reg dich mal wieder ab. Du hast wohl deine Tage oder warum bist du so gereizt?“

Er machte sich doch tatsächlich über mich lustig.

„Ich habe nicht meine Tage, Nat“, schrie ich jetzt ins Handy, „sondern ich bin stinksauer. Solltest du nochmal so eine linke Nummer abziehen, hörst du von meinem Anwalt. Hast du das kapiert?“

„Uuuh, da bekomme ich ja glatt Angst“, witzelte er. „Und was will dein großer, böser Anwalt dann machen? Mich verklagen? Geld von mir verlangen? Du weißt, dass es bei mir nichts zu holen gibt. Also droh mir nicht mit Dingen mit denen du sowieso nichts erreichst, Schwesterchen.“

„Ich hasse dich, Nat. Von mir aus kannst du in der Hölle schmoren. Bis heute hatte ich immer gehofft, du würdest vielleicht irgendwann die Kurve kriegen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Wie Vater schon vor Jahren gesagt hat: Du bist ein verlogener, egoistischer und herzloser Mensch geworden, der nur sich selbst am Nächsten ist. Du hast die Menschen, die dich von Herzen geliebt haben verletzt und ausgenutzt, nur um deine beschissene Sucht zu befriedigen. Aber ich kann dir nur gratulieren. Du hast dein Ziel erreicht, denn du hast nun auch den allerletzten Menschen, der noch gehofft und an dich geglaubt hat, vergrault. Ich will dich nie wiedersehen. Hast du das verstanden? Nie wieder! Ab heute habe ich keinen Bruder mehr.“ Ich wartete nicht ab, ob Nat noch etwas erwiderte, sondern legte einfach auf und kämpfte gegen die Tränen der Enttäuschung an, die sich ihren Weg bahnten. Mein Handy presste ich dabei an meine Brust, als könnte es mein Herz davon abhalten, in tausend Scherben zu zerbrechen.

Wie konnte sich ein Mensch nur so ins Negative verändern? Als Kinder waren mein Bruder und ich ein Herz und eine Seele gewesen. Und heute war Nat das einen Dreck wert.

Vor Jahren hatte Nat die falschen Leute kennengelernt und geglaubt es wären seine Freunde. Immer weiter war er auf die schiefe Bahn geraten und dadurch vom Weg abgekommen. Bis zum heutigen Tag hatte ich gehofft, dass er irgendwann auf den rechten Weg zurückfinden würde. Doch eben war auch der letzte Funke Hoffnung in mir erloschen, dass er jemals wieder der werden würde, der er einst gewesen war, was ich mir bis zuletzt so sehr gewünscht hatte.

Zwei starke Hände legten sich auf meine Schultern, was mich zusammenzucken ließ. In meiner Wut hatte ich ganz vergessen, dass Mr. Rade immer noch im Raum stand und das komplette Gespräch mitgehört hatte. Hätte ich im Vorfeld vernünftig nachgedacht, wäre ich mit dem Telefon nach draußen gegangen. Zu spät, zuckte es durch meinen Geist.

Langsam drehte er mich zu sich um, so, dass ich wieder seiner nackten Brust gegenüberstand, und sah mitleidig auf mich herab. „Das tut mir wirklich leid. Ich habe nicht geahnt, dass Ihr Bruder die Hütte gar nicht an mich hätte vermieten dürfen. Er wirkte so ehrlich, deshalb habe ich keinen Verdacht geschöpft oder irgendwelche Zweifel gehegt“, beteuerte er.

Ich atmete tief durch und erwiderte: „Schon in Ordnung. Es ist ja schließlich nicht Ihre Schuld. Ich hätte ahnen müssen, dass sowas auf kurz oder lang geschieht. Und dass Sie ihn nicht durchschaut haben, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Nat besitzt ein undurchschaubares Pokerface, was ihn bei seinen Zwängen mehr als nützlich ist. Schon als Kind konnte er lügen, ohne mit der Wimper zu zucken.“ Mit einem Seufzen fügte ich hinzu: „Es ist schon zu spät, als dass ich heute noch zurückfahren könnte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich heute Nacht hier schlafen. Ich gehe mal davon aus, dass Sie nur ein Schlafzimmer für sich benutzen. Morgen früh würde ich mich dann auf den Heimweg begeben, damit Sie wieder ungestört sind. Sie haben für diese Hütte bezahlt und mir ist es nun mal nicht möglich, Ihnen auf die Schnelle die Kosten zurückzuerstatten. Darum werde ich sie Ihnen für den vereinbarten Zeitraum überlassen.“

„Natürlich! Das ist überhaupt kein Problem“, versicherte er mir.

„Danke! Und Verzeihung, dass Sie das mit anhören mussten“, murmelte ich.

„Das macht nichts!“, antwortete er mir und ließ seine Hände von meinen Schultern gleiten.

Mir fiel auf, wie die Wärme verflog, die ich eben noch an meinen Schultern gespürt hatte, und eine unangenehme Kälte zurückkehrte. Um nicht weiter darüber nachzudenken, dass deshalb noch mehr Enttäuschung in mir aufkam, schlug ich vor: „Vielleicht sollten Sie sich mal etwas überziehen.“

Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, während er einen Schritt zurücktrat. „Geht es denn wieder? Kann ich Sie für einen Moment allein lassen?“, wollte er wissen und musterte mich mit einer Besorgnis im Blick, wie ich sie von einem Fremden nicht erwartet hätte.

„Ja, es geht schon. Machen Sie sich wegen mir keine Gedanken.“

Er nickte, wandte sich ab und verschwand durch die Tür in das Schlafzimmer, das meinen Eltern gehört hatte.

Ich verstaute mein Handy wieder im Rucksack und nahm mir vor, nicht weiter über meinen Bruder nachzudenken. Im Prinzip, war nur das eingetreten, womit meine Eltern schon vor Jahren gerechnet hatten. Oder besser gesagt, hatten sie sich damals schon mit dem Umstand, der heute noch herrschte, abgefunden. Man muss loslassen, wenn es nichts mehr zu halten gibt, hatte mein Vater damals mit feuchten Augen gesagt und das notariell beglaubigte Testament unterschrieben, das meinen Bruder vom gesamten Erbe ausschloss. Ich hatte ihm angesehen, wie schwer ihm das fiel. Doch, wenn auch etwas spät, war mir heute klar, dass es so das Beste gewesen war. Und dieser Felsen, der eben binnen von Sekunden mein Herz zerschmettert hatte, habe ich schon vor Monaten auf mich zurasen sehen, also sollte ich nicht allzu überrascht davon sein.

So oft hatte ich meinem Bruder aus der Klemme geholfen, wenn er mich mal wieder um Geld anbettelte, und nie etwas dafür zurückbekommen. Im Gegenteil. Er war nie für mich da gewesen, wenn ich ihn gebraucht