Verirrungen - Yupag Chinasky - E-Book

Verirrungen E-Book

Yupag Chinasky

0,0

Beschreibung

Verloren im Labyrinth: Ein Mann geht durch ein Bahnhofsviertel auf der Suche nach einem schnellen Glück, das er, etwas unerwartet, auch findet. Verspätung: Eine Frau spricht einen Mann auf der Straße an. Er geht mit ihr und erlebt eine höchst unangenehme Überraschung. Er wird nicht nur ausgeraubt, sondern nackt im Wald abgesetzt. Für diese Schande will er sich unbedingt an der Frau und deren Mann rächen, aber dadurch gerät er in noch mehr Komplikationen. Am Ende bootet die Frau beide Männer aus, um sich ihren Traum vom Leben zu erfüllen. Oder gelingt ihr das doch nicht? Wind: Ein Mann wird in einer sehr stürmischen Gegend von einem heftigen Windstoss in ein Gebüsch geworfen. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich zu säubern, geht er zu einem einsamen Haus. Die Frau, die allein hier lebt, ist von seinem Besuch durchaus angetan und bietet ihm mehr als nur eine Badewanne mit warmem Wasser an.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verirrungen

Drei Erzählungen

von

Yupag Chinasky

Impressum

Yupag Chinasky

Verirrungen

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis
Verirrungen
Verloren im Labyrinth
Verspätung
Die Anmache
Der Waldweg
Auf Spurensuche
Die erneute Annäherung
Die Rache
Die Reaktion
Die Krise
Die Entscheidung
Showdown
Epilog
Wind

Verloren im Labyrinth

Der große Bahnhof war zu der Zeit, als er gebaut wurde, in den frühen fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, ein architektonisches und technisches Meisterwerk. Heute ist er weder schön noch funktional, aber immer noch eine wichtige Drehscheibe des Verkehrs. Die Freude an der nostalgischen Architektur, die sich einstellt, wenn man davor steht und die immer noch anhält, wenn man die große Halle betritt, wird von einer Beklemmung abgelöst, wenn man zu den Zügen hinab steigt. Sie nimmt zu, je tiefer man in den Untergrund vordringt, bis zu der funktionalen Ebene, den Bahnsteigen und Gleisen. Jeder Meter abwärts auf den altmodischen, holzverkleideten Rolltreppen steigert dieses Gefühl. Der klaustrophobe Höhepunkt ist erreicht, wenn man den Perron betritt, das reinste Inferno. Die Röhren, in denen die Rolltreppen verlaufen, sind eng und schmal, aber die Bahnsteige erscheinen noch enger, noch schmaler, noch schmutziger. Man wundert sich geradezu, dass sich hier Menschen aufhalten dürfen. Der kreischende Lärm der Züge, die in kurzem Takt aus den Tunnelröhren kommen, rattern, abbremsen, nur wenige Augenblicke verweilen und dann wieder ächzend und stöhnend anfahren, malträtiert die Ohren. Die Schwärze der ewigen Nacht wird nur durch den Schein der kalten Neonröhren unterbrochen, die statische Spots auf den Beton werfen und durch die gelben Lichter der Lokomotiven und der Wagenfenster, die mit den Zügen auftauchen und wieder verschwinden. Es stinkt nach Staub, Ruß, Dreck, Desinfektionsmittel und Menschenmassen. Zu den Stoßzeiten ist dieser Vorhof der Hölle von Hunderten von Menschen bevölkert. Sie laufen und rennen, schieben und stoßen, drängen sich in die Abteile, drängen sich auf die Rolltreppen, zerren Koffer hinter sich her und benutzen ihre vorgestreckten Aktentaschen als Waffe, um sich einen Weg durch die anderen zu bahnen, die genau dasselbe wollen. Jeder scheint nur einen Wunsch zu haben, weg von hier, raus aus diesem Chaos, diesem düsteren Orkus, hoch zum Licht und zur Luft oder wenigstens hinein in ein sicheres Zugabteil.

Oben, in der Bahnhofshalle, ist es in der Tat hell und erträglich und durch die Drehtüren strömt frische Luft herein. Hier kann man die nostalgische Architektur genießen, die kühnen Konstruktionen der damaligen Zeit, die lichte Höhe der Halle, das viele Glas in der Hauptfront und den Blick in Richtung Stadtzentrum. Auch wenn an manchen Stellen der Verputz von den Wänden bröckelt und die einstmals weißen Kunststoffpaneele der Decken gelb und schmutzig geworden sind, versteht man, warum dieses Gebäude Architekturgeschichte geschrieben hat. In der großen Halle kann man süße Waffeln kaufen, scharfe Würstchen essen, diverse Sorten Bier trinken, ja sogar an einem viel belagerten Stand Austern schlürfen – dégustation des fruits de mer. Es gibt Läden mit Blumen und Reisebedarf, Kioske mit Zeitschriften und Tabakwaren und einen Drogeriemarkt.

Man sieht alle möglichen Leute, Menschen jedweder Couleur und Hautfarbe. Hier der Geschäftsmann im gestreiften, schwarzen Nadelanzug oder sein weibliches Pendant im gedeckten Kostüm. Um den Bierausschank herum, eine Gruppe Touristen mit exotischen Kopfbedeckungen und Bergen von Koffern, die wohl direkt aus einem Urlaubsparadies gekommen sind. Zu Stoßzeiten bevölkern Massen von Pendlern die Halle, die rasch zum Arbeitsplatz oder noch rascher zurück nach Hause eilen. Die herumalbernden Schüler und die trödelnden Rentner scheinen es dagegen nicht eilig zu haben. Sie lungern herum, genauso wie manche unangenehme Typen, die betteln und ein paar Cent schnorren, indem sie vorgeben unbedingt eine Fahrkarte kaufen zu müssen oder wer weiß wie lange, nichts mehr gegessen hätten.

Das Chaos des Untergrunds setzt sich fort, wenn man das Gebäude durch den Hintereingang verlässt. Während der Haupteingang den Weg direkt in das Zentrum weist, in das pulsierende, gepflegte Herz der Stadt, öffnet sich ein neues Labyrinth, kaum dass man den Hintereingang durchschritten hat. Man irrt durch Unterführungen, steigt auf schmalen Treppen hinab zur Ebene der Gleise und hinauf zur Ebene der Hochstraßen, die die Bahnhofsanlage überqueren, umrundet gewaltige, betonierte Pfeiler, kommt an Laderampen und Eisentoren vorbei. Schwach beleuchtete Tunnel scheinen ins Ungewisse zu führen, an ihren Wänden abgerissene Plakate, aber auch Streetart, Kunst an einem Ort, wo man sie nicht erwartet. Verlässt man die unmittelbare Nähe des Bahnhofs, beginnt das Labyrinth der Wohn- und Geschäftsstraßen. Die Hausfronten sind heruntergekommen und hässlich, die Eingangstüren alt, die Briefkästen verlottert, die Türklingeln ein Wirrwarr, die Fenster aus billigem Glas mit altmodischen Klappläden oder ausgeblichenen Jalousien. Man geht an billigen Kneipen und an Ein-Euro-Läden vorbei, sieht aber auch nostalgische Tante-Emma-Läden und gelangt schließlich in das Gebiet der Sexshops, Spielhöllen und Wettbüros. Man eilt auf schmalen Bürgersteigen an stinkenden Autoschlangen entlang, umrundet falsch geparkte Wagen, die den spärlichen Platz weiter verengen, steigt über Fahrradständer, die das Trottoir versperren und ekelt sich vor den schwarzen, manchmal aufgeplatzten Müllsäcken vor den Haustüren, willkommene Edelfreßlokale für Ratten. All die Straßen, Gassen, Sackgassen, Plätze, Einfahrten scheinen kein logisches Muster zu bilden, sie scheinen ohne Plan entstanden zu sein, eine kongeniale Fortsetzung des Labyrinths im Keller des Bahnhofs, dem man nur scheinbar entronnen ist.

Mitten in diesem heruntergekommenen Viertel, liegen die Straßen mit den beleuchteten Schaufenstern. Die Lichter schimmern meist rot, aber auch blau, violett oder gelb und wenn es geregnet hat, spiegeln sich die Farben auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Das bunte Licht stammt von kurzen Neonröhren, die an den Fenstern angebracht sind, meistens horizontal am oberen oder unteren Rand, manchmal aber auch vertikal an den Seiten. Hinter den Fensterscheiben sitzen die Frauen auf Hockern, Lehnstühlen und sogar in Polstersesseln. Junge, alte, dicke, dünne, meist allein, manchmal zu zweit, manche hübsch, andere unauffällig. Einige sind richtiggehend hässlich und das bei diesem Beruf, der vom schönen Schein lebt. Fast alle tragen sehr knappe Arbeitsbekleidung: Dessous, Korsetts, Ledermonturen, Netzstrümpfe, High-heels, Stiefel mit Schäften bis über die Knie. Viel nackte Haut wird zur Schau gestellt, herausgepresste Brüste, freie Pobacken, lange Beine. Manche erscheinen vulgär und nuttig, viele könnten aber aus jeder Reihenhaussiedlung kommen, aus den Vororten der Großstadt oder aus irgend einem Provinznest. Wenn er bei seinem Herumstreunen durch das Viertel die Straßen mit den bunten Lichtern aufsuchte, reizte ihn die Atmosphäre, der Widerschein der farbigen Lichter auf den Pflastersteinen, die Schatten der Männer, die von Fenster zu Fenster gingen, die Blicke der gelangweilt wartenden oder aggressiv fordernden Frauen. Er selbst näherte sich den Fenstern nicht, vor den Frauen hatte er Angst und wagte nicht, sich mit einer einzulassen.

Aber eines Tages ist er doch über seinen Schatten gesprungen und hat das getan, was ein Mann tut, wenn er hierherkommt. Er war in eine Gasse gelangt, in die sich kaum jemand verirrte und in der es nur ein einziges, schwach erleuchtetes Fenster gab. Er war in sicherer Entfernung vorbei gegangen und hatte in dem gelben Licht einer Stehlampe nur ein paar lange, schlanke Beine in schwarzen Leggins und roten Pumps gesehen. Der Rest des Körpers der Frau auf einem Hocker, befand sich im Schatten und war von seinem Standpunkt aus nicht zu erkennen. Die Frau saß ganz ruhig da und sandte keine Signale aus, die einen Mann kirre machen und in das Zimmer locken sollten. Genau diese ungewöhnliche, fast demonstrative Zurückhaltung faszinierte ihn und so beschloss er, endlich doch einmal einen Besuch zu wagen, endlich doch einmal seinen geheimen Wünschen nachzugeben. Er überquerte die Straße und stellte sich vor das Fenster, doch nichts geschah. Er meinte schon, die Frau hätte ihn nicht bemerkt, doch dann beugte sie sich schließlich etwas vor und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Sie schien fast unwillig über die Störung zu sein, als sie sagte, sie würde eigentlich nur Stammkundschaft empfangen und ihn hätte sie noch nie gesehen. Aber heute sei nichts los und sie erwarte auch niemanden mehr und er könne hereinkommen.

Dann erhob sie sich, schloss das Fenster, zog die Vorhänge vor, um anzuzeigen, dass das Etablissement besetzt war, und öffnete die Tür. Sie begrüßte ihn freundlich und führte ihn in ihren Arbeitsraum, ein schummeriges Zimmer mit einem großen Bett. Sie war sehr schlank, aber trotz der langen Beine deutlich kleiner als er. Wie sie da stand, eine selbstbewusste Autorität ausstrahlend, hätte man sie nicht für eine Nutte gehalten. Sie sah durchaus seriös aus, wie eine Geschäftsfrau, die in einem unkonventionellen, vielleicht in einem künstlerischen Bereich tätig war. Sie unterstrich diesen Anschein der Seriosität noch dadurch, dass sie seltsamerweise schwarze Netzhandschuhe trug, die ihm erst jetzt auffielen. Als er sie genauer taxierte, fiel ihm weiter auf, dass ihr leidlich hübsches Gesicht dick, wenn auch recht kunstvoll, geschminkt war und dass es dadurch einen starren, maskenhaften Ausdruck angenommen hatte. Er meinte auch zu erkennen, dass ihre langen, schwarzen Haare nicht ihre eigenen waren, es musste eine Perücke sein. Und er nahm einen Duft wahr, der zwar angenehm, aber doch schon leicht penetrant wirkte, das einzig Aufdringliche an dieser Frau. Während er sie anstarrte, war er sich nicht sicher, ob er eher enttäuscht oder doch lieber angenehm berührt sein sollte. Enttäuscht, dass sie ihn so gar nicht anmachte, dass sie alles andere als eine „femme fatale“ war, keine geborene Verführerin. Erleichtert, dass sie all das gerade nicht war, dass sie wie eine Frau wirkte, mit der man ins Theater ging oder die man vom Elternbeirat her kannte. Er war erleichtert, weil ihr „normales“ Aussehen und Verhalten seine Urängste über käufliche Liebe und die Gefahren, die von Prostituierten ausgingen, nicht bediente. Bevor er es sich doch noch anders überlegte, kramte er rasch die verlangte Summe aus seinem Geldbeutel, ziemlich viel Geld, wie er fand, und gab sie ihr und sie verstaute sie in ihrem Schrank. Dann fragte sie ihn, der keine Anstalten machte, sich auszuziehen und noch nicht einmal seine Jacke abgelegt hatte, was denn los sei, ob er nun wolle oder nicht. Sie selbst zögerte jedoch ebenfalls, sich zu entkleiden. Schließlich begann er seine Kleidung Stück für Stück abzulegen. Dabei zitterten seine Hände ein wenig, der Atem ging ein bisschen schneller und der Mund war auf einmal ganz trocken. Als er endlich fast nackt auf der Bettkante saß, nur die Unterhose hatte er noch an, begann auch sie, sich zu entkleiden. Der dabei angedeutete Striptease war wohl Teil ihres Programms. Sie wiegte sich in den Hüften, drehte und wendete ihren Oberkörper, streckte ihn vor und zurück und streifte dabei langsam ihre Bluse ab. Der rote BH war klein und was darin steckte, vermutlich auch, in dem rötlichen Dämmerlicht musste er mehr ahnen, als dass er sehen konnte. Dann wackelte sie ein paarmal mit dem Po, ließ den Minirock hinab gleiten und setzte sich dicht neben ihn auf die Bettkante.

Verspätung

Die Anmache

„Like it?“

Die Worte hatte sie nur halblaut hervorgestoßen, aber sie waren nicht zu überhören gewesen und der, für den sie bestimmt waren, hatte sie gehört und auch ihren Sinn verstanden. Als die Frau direkt auf ihn zu kam, ihm direkt in die Augen sah und dann so dicht an ihm vorbei ging, dass er nicht nur die beiden Worte hörte, sondern auch ihren Geruch wahrnahm, ja wahrnehmen musste, eine Mischung aus billigem Parfüm und strengem Schweiß, wusste er, was sie wollte. Der Geruch irritierte ihn mehr als die Worte und der Blick, aber es war kein Wunder, dass sie bei dieser Hitze eine solche intensive Aura um sich verbreitete. Als er sie in dem kurzen Moment des Vorbeigehens anstarrte, hatte er die Schweißtropfen auf ihrer Stirn gesehen, wasserhelle Perlen, in denen sich die Sonne spiegelte, genauso wie in den Gläsern der übergroßen Sonnenbrille. Er wusste, was sie wollte und sie hatte wohl auch gespürt, dass er für ihre Reize empfänglich sein würde, spätestens als er sie diese halbe Sekunde lang anstarrte. Aber vermutlich hatte sie das schon geahnt, als sie ihn auf dem leeren Platz ortete wie er dastand, mit seinem Handy beschäftigt. Nur deswegen war sie so nahe an ihm vorbei gegangen. Er konnte gar nicht anders, er musste sie anschauen und als sie dann seinen hungrigen Blick mehr spürte als wirklich sah, war sie sich sicher. Sie kannte diese Blicke, dieses auf sie gerichtete Starren zu genüge und sie empfand es nicht einmal als Belästigung. Es gefiel ihr, es stärkte ihr Selbstbewusstsein, es gab ihr Sicherheit. Solange Männer sie anstarrten, war sie immer noch attraktiv und das wollte sie sein, das musste sie sein. Sie wusste sehr wohl, dass sie auf Männer wirkte, besonders auf Typen wie diesen, die ständig mit ihren Blicken auf der Suche nach Frauen waren, süchtige Männer in ihren besten Jahren, die keine Gelegenheit ausließen, Frauen zu taxieren, mit Blicken abzutasten und zumindest in Gedanken zu vernaschen. Sie wusste genau, wo diese Männer hinstarrten, erst auf die Beine, dann hoch über die Hüfte zur Taille und zum Busen. Das Gesicht kam zum Schluss dran. Selbst wenn sie von hinten beäugt wurde, spürte sie, wie die Blicke über die wohlgeformten Waden, die strammen Oberschenkel zu dem ausgeprägten Po wanderten, dort kurz verweilten, dann über die Taille und den Rücken zu den schwarzen, halblangen, etwas wuscheligen Haaren. Sie hatte diese Blickabfolge schon so oft beobachtet und gefühlt, an sich selbst, an anderen attraktiven Frauen, manche Männer hatten ihr das auch gesagt, wenn sie zusammengekommen waren. Auch bei diesem Mann hatte sie gemerkt, wie seine Augen fickerig wurden, wie die Pupillen sich weiteten, ein sicheres Zeichen, dass sie es geschafft hatte, seine Gier zu erwecken, seine Geilheit anzustacheln. Dann war sie auch schon an ihm vorbei, blieb aber nach ein paar Metern stehen und drehte den Kopf zu ihm zurück. Der Mann stand immer noch wie festgenagelt, aber er hatte sich voll zu ihr hin gedreht, mit dem ganzen Körper und seine Augen flatterten immer noch, als er sie jetzt, wie vorausgesagt, von hinten abtastete, die Füße, die Waden, die Oberschenkel, den Hintern und nun auch das Gesicht. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und war sich jetzt ganz sicher, dass sie sein Typ war, dass er sie wollte.

Sie dreht sich langsam um, wendet sich ihm zu, nimmt ihre Sonnenbrille ab, schaut ihm direkt in die Augen und wiederholt ihre Frage.

„Like it or not? Like it to come with me?“

Doch der Angesprochene bleibt stumm, gibt keine Antwort, regt sich nicht, starrt sie weiter an, direkt, unverhohlen, das Handy immer noch in der Hand, aber es ist nicht mehr interessant. Da er sich gar nicht rührt und keine Antwort gibt, ist sie sich auf einmal doch nicht mehr ganz sicher, ob er bereits angebissen hat. Um ihre Attraktivität zu erhöhen, setzt sie ihr verführerischstes Lächeln auf, ihr unwiderstehliches, nicht ganz perfektes Lächeln, denn zwischen ihren oberen Schneidezähnen klafft eine deutliche Lücke. Diese Lücke ist ihr unangenehm, passt nicht zu der Schönheit, die sie verkörpern möchte, aber sie ist da, war von Geburt an da. Es ist kein Zahn, der fehlt, sondern eine natürliche, breite Lücke, die ihr aber nicht gefällt und wenn sie merkt, dass ihr jemand auf den Mund schaut, zieht sie die Oberlippe über die Zahnreihe und verdeckt so diese Lücke. Aber sie denkt nicht immer dran und wenn sie lächelt oder wenn sie spricht, sieht man die Zähne und natürlich auch die Lücke. Der schwitzende Mann stört sich nicht an der Lücke, obwohl sie ihm auffällt, denn alles andere ist verdammt verführerisch an dieser Frau. Sie ist groß und schlank, hat ausgeprägte Körperformen, lange, nackte Beine, die Füße in roten High-heels, kräftige Hüften, einen ausgeprägten Po, eine schmale Taille, einen formidablen Busen und wilde Haare. Das Schönste aber ist, findet der Mann, dass diese ganze Pracht aus feinster Schokolade besteht: Schoko mit Sahne, Edelbitter und zugleich extra süß, genau sein Geschmack. Er ist verrückt nach solchen Frauen und diese hier kommt seiner Traumfrau verdammt nahe.

„Why you not come with me?“

fragt sie ihn nun mit einer leicht rauchigen Stimme und dabei tänzelt sie ein wenig auf der Stelle, macht ein Schrittchen vor, dreht sich halb von ihm weg, wackelt mit dem Hintern. Was für ein Hintern in diesen engen, kurzen Jeans, fest, rund, nicht zu groß, nicht zu klein, einfach perfekt. Dann wieder ein Schrittchen zurück, die halbe Drehung zurück, zu ihm hin, um ihm nun den Oberkörper provokativ hinzurecken und den Busen vorzustrecken. Diesen formidablen, festen Busen in dem schwarzen T-Shirt mit dem großen, pinkfarbenen Dreieck auf der Brust, dessen Spitze nach unten zeigt und um das herum in in großer Schrift steht: „Have you yet done it today? If not – come“. Doch auch das Busenrecken bewirkt immer noch nicht, dass er reagiert, obwohl sie genau sieht, wie sein Blick auf ihren Brüsten hängen bleibt. Sie verstärkt ihre provokativen Bewegungen, ein erneutes Zucken mit dem Oberkörper, ein zusätzliches Wackeln mit dem Hintern und ihr Lächeln ist noch einen Tick verführerischer. Jetzt endlich, grinst er zurück, ein wenig dämlich, so wie Männer grinsen, wenn die Traumfrau ihnen unerwartet gegenüber steht und sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Sein Blick ist nun ganz auf ihrem Gesicht angekommen. Es ist schmal, mit hohen Backenknochen, aber nicht ganz so attraktiv wie ihre Figur. Sie sieht etwas verlebt aus, denkt er, nicht mehr ganz taufrisch, aber durchaus hübsch, keine Frage. Sie hat eine überraschend gerade Nase, schmale Lippen, eine hohe Stirn und sehr schöne, sehr dunkle, sehr geheimnisvolle Augen mit langen Wimpern und gezupften Brauen. Jetzt, nachdem sie die große Brille abgenommen hat, fallen ihm auch die beiden kleinen, parallelen Narben auf der Stirn über dem linken Auge auf. Sie sind deutlich zu sehen stören ihn aber nicht, genauso wenig wie die Zahnlücke, die jetzt auch deutlich sichtbar ist, weil die Frau nun ständig lächelt. Äthiopien denkt er oder Somalia, ein Gesicht wie diese Wüstenblume in dem Film, den er erst neulich gesehen hat. Was das wohl für Narben auf ihrer Stirn sind? Sie sind symmetrisch angeordnet, vielleicht Schönheitsnarben oder doch Messerstiche, Unfallverletzungen? Vielleicht musste sie aus ihrer Heimat fliehen und hat sich die Verletzungen auf der Flucht zugezogen. Vielleicht wurden sie ihr von einem dieser Schlepper verpasst, von denen man so viel liest. Die Narben und die Zahnlücken sind kleine Makel, die diese Frau noch rätselhafter, noch interessanter machen.

Als er ihr jetzt direkt in die Augen schaut, weiß sie, dass sie gewonnen hat. Er hat angebissen, denkt sie und nun erst taxiert sie ihn genauer. Passt er? Ist er einer, den sie sucht? Mittleres Alter, schlank, gut angezogen. Trotz der Hitze trägt er einen dunklen Anzug und hat dazu noch eine Krawatte umgebunden, pink mit einer lächerlichen Figur. Sie sieht seine teure Armbanduhr, die Ringe an den Fingern. Er hat bestimmt Geld und einen ordentlichen Beruf und ordentliche Manieren. Sonst hätte er doch wenigstens die Jacke ausgezogen bei dieser Affenhitze und die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Ja, er passt. Den will sie. Sie muss ihn nur noch ein ganz klein wenig anstoßen, noch ein kleiner Kick, dann hat sie ihn, diesen geilen Typ, dem gleich der Sabber aus dem Maul triefen wird und dessen Blick sich wieder von ihren Augen gelöst hat und über ihre nackten Arme, den steilen Busen, zur Taille, zur Hüfte, zu den braunen Beinen hinab wandert, auf der verführerischen Haut verweilt: Ritter Sport Vollmilch Nuss oder doch eher Zartbitter?

Während er sie immer noch abtastet, wartet sie, dass er endlich zustimmt, ihr Werben annimmt, ein Kopfnicken, ein bestätigender Blick, eine eindeutige Handbewegung, ein Schritt auf sie zu, ein Wort. Sie stemmt nun die Hände in die Hüften, schlanke Hände mit kunstvoll bemalten Nägeln und etlichen Ringen und deutet damit eine gewisse Ungeduld an. Sie ist irritiert, weil er offensichtlich immer noch nicht so recht weiß, dass auch er will. Dieser Lahmarsch, dieser Penner, denkt sie, traut sich einfach nicht am helllichten Tag.

Auch der Mann weiß, dass er sich entscheiden muss, dass er nicht ewig so dastehen und dieser Frau nachsehen kann. Soll er sie ansprechen, soll er auf ihre eindeutige Aufforderung eingehen? Sie will doch, dass er mitgeht, irgendwo hin, in ein abgedunkeltes Zimmer, in ein billiges Hotel oder in eine Absteige, für eine halbe Stunde oder noch weniger. Sie will, dass er mitkommt, sie will sein Geld, das ist doch klar, nicht ihn, nur sein Geld und eigentlich will er auch, seine Hormone, die in ihm wallen, drängen. Aber es geht nicht, nein, jetzt geht es nicht, denn eigentlich hat er gar keine Zeit für so was, für so eine. Er schaut auf seine Omega. Es ist kurz vor vier. Okey, er hat noch ein wenig Zeit, um diese Frau noch ein Weilchen anzuglotzen, aber nicht genug, um mit ihr zu gehen, nicht, um das zu machen, was sie will, was er will, was beide wollen. Denn eigentlich ist er auf dem Weg zum Bahnhof, um seine Frau abzuholen. Er muss nur noch durch die Unterführung zu den Gleisen und dann auf den Bahnsteig. Es ist nicht mehr weit, keine fünf Minuten. Er hatte seiner Frau dummerweise versprochen, selbst zu kommen, statt ihr zu sagen, sie solle ein Taxi nehmen. Seine Frau verlässt sich darauf, dass er sie abholt. Er kennt sie ja zu genüge, sie legt großen Wert auf solche Dinge, abgeholt oder weggebracht, begrüßt oder verabschiedet zu werden. Diese Rituale sind immer noch wichtig, obwohl es sonst nicht mehr zum allerbesten steht zwischen ihnen beiden. Aber das erwartet sie jetzt, sie wartet auf ihn und er muss rechtzeitig am Zug sein, sonst gibt es Ärger und Ärger kann er sich nicht leisten, nicht mit seiner Frau. Schade. Tschüss Schokomietze.

Er dreht sich langsam um, setzt seinen Weg fort in Richtung Bahnhof, aber seine Gedankenkreisen nur noch um die Schokomietze, die so verführerisch, so verdammt verführerisch da stand und wohl immer noch da steht und ihn einlädt, sie am hellen Nachmittag zu vernaschen. Er schaut noch einmal auf die Uhr, immer noch kurz vor vier, wie könnte es auch anders sein. Dann merkt er, dass er das Handy immer noch in der Hand hat. Was wollte er eigentlich? Die Uhrzeit kannte er doch. Ach ja, den Bahnsteig, den kannte er noch nicht. Doch anstatt das Handy nun zu benutzen, dreht er sich im Gehen noch einmal kurz um, ein letzter Blick, ein letztes kurzes visuelles Vergnügen und tatsächlich wartet sie immer noch, mittlerweile ein Dutzend Meter entfernt. Soll sie warten, diese schwarze Nutte, denkt er, die ja doch nichts anderes will, als ihn zu verführen, abzuschleppen und vermutlich auch auszunehmen. Das tun doch solche Weiber. Die stellen sich doch nicht bei dieser elenden Affenhitze auf die Straße, nur um ein paar müde Euro zu kassieren. Die wollen doch mehr als ein paar Kröten für eine schnelle Viertelstunde. Warum treibt sie sich um diese Zeit überhaupt hier herum? Abends, nachts, ja, okey, da verirren sich schon mal ein paar Bordsteinschwalben auch in diese Gegend, obwohl sie es nicht dürften, aber das einschlägige Viertel ist ja ganz nahe. Dort sitzen sie in den Bars, stehen an den Straßenecken und in den Hauseingängen. Aber jetzt, hier? Am helllichten Tag, am sonnigen Nachmittag, direkt hinter dem Bahnhof? Wenn die Polizei merkt, dass sie Passanten anmacht, ist sie rasch weg, ganz fix geht das, und wenn die sehen, dass er mit ihr anbandelt, kriegt auch er noch Ärger. Aber den Cops ist es jetzt auch zu heiß. Die kommen bestimmt nicht. Überhaupt, was glaubt die eigentlich, wer um diese Zeit Lust auf sie hat.

Doch während die eine Hirnhälfte alles zusammenkramt, was gegen eine schnelle Viertelstunde spricht, fragt die andere „warum eigentlich nicht“. Er bleibt stehen. Wenn ich mich beeile, könnte es doch etwas werden mit der halbbitteren Schokolade. Aber wirklich maximal eine Viertelstunde, ein rascher Quickie, mehr geht nicht und dann zurück im Schweinsgalopp und auf den Bahnsteig. Dabei wird es ihm bestimmt noch heißer, erst diese vermaledeite Sommerhitze, dann das heiße Weib, das wilde Kopulieren auf dem heißen Bett und anschließend zum Bahnhof rennen, damit er noch rechtzeitig ankommt. Sein Frau wird auf jeden Fall merken, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dass er sich verausgabt hat, total verschwitzt sein wird. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, will zugleich auch seine Gedanken wegwischen, aber er kann nicht verhindern, dass sie pendeln, zwischen Zug und Schoko, hin und her, zwischen Pflicht und Verlangen. Was soll der Quatsch, sagt die Kontra-Hirnhälfte. Du hast doch gar keine Zeit. Der Zug kommt um halb fünf und jetzt ist es schon gleich vier. Wann war das noch genau? Sechzehn Uhr dreiunddreißig? Ja, sechzehn Uhr dreiunddreißig, nur das Gleis musste er noch nachschauen. Also noch eine gute halbe Stunde. Du musst pünktlich da sein, unbedingt. Quatsch, sagt die Pro-Hirnhälfte, du hast genug Zeit für ein bisschen Spaß, für diesen Quickie am Nachmittag. Was ist schon dabei? Das merkt doch niemand, deine Frau schon gar nicht. Außerdem haben die Züge doch regelmäßig Verspätung, bestimmt noch mal eine Viertelstunde und wenn sie ein paar Minuten warten muss, wird sie auch nicht sterben. Du kannst ja behaupten, keinen Parkplatz gefunden zu haben, das stimmt doch immer. Also, die Zeit ist kein Problem und die Hitze auch nicht. Wenn du es erst mal hinter dir hast, kühlst du rasch ab. Tu es einfach.

Während ihm so langsam klar wird, wer verloren hat und dass er nur noch mit dem Kopf nicken muss, wartet die Frau weiter auf genau diese eindeutige Reaktion, auf die längst überfällige Zustimmung. Zunehmend ungeduldig denkt sie genauso wie er, an die Zeit, die verstreicht und den möglichen Ärger, den sie bekommen kann. Hier ist um diese Zeit nicht viel los und es fällt sofort auf, wenn sie sich so provokativ anbietet. Sie hat sich schon viel zu lange um diesen Typ bemüht. Nur noch eine Minute, denkt sie, wenn du dann immer noch nicht weißt, was du willst, geh ich, dann kannst du mich mal am Arsch, du Arsch. Nur noch eine Minute und wenn du dann nicht kommst, suche ich mir einen anderen. Aber wen? Es sind nicht viele geeignete Männer um diese Zeit hier auf der Straße und der hier ist genau der, den ich brauche, so wie der nach mir giert und mich anglotzt, so wie der aussieht und förmlich nach Geld stinkt. Als letzte Aufforderung noch ein Tanzschrittchen, eine kurze Drehung der Hüfte, ein leichtes Arschgewackel, den Busen noch ein wenig weiter vorstrecken und zum wirklich letzten Mal diese rauchige, heisere, verführerische Stimme.

„Schatzi, come on, let's go!“

Die Minute ist um. Das Signal ist ausgeblieben. Sie dreht sich von ihm weg, geht davon, im Catwalk, jedes Bein vorsichtig aufsetzend, wegen dieser bescheuerten High-heels.

„Moment, mach mal langsam. You wait! Understand?“

Sie bleibt stehen, dreht sich wieder zu ihm hin. Er kramt sein Handy aus der Hosentasche. Drückt auf den App mit dem Zugfahrplan. Der Akku ist fast leer, die Anzeige schwach, aber er erfährt noch, dass der Zug tatsächlich Verspätung hat. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten hat er zusätzlich. Müsste eigentlich reichen. Jetzt ist es kurz nach vier, noch eine halbe Stunde, dazu die zwanzig Minuten, macht fünfzig, das ist ja fast eine Stunde, das reicht auf jeden Fall, sonst wird es eh zu teuer. Solche Nutten kommen ja immer schnell zur Sache, die verdienen mit den Quickies mehr als mit stundenlangem Getue. Die haben ja nur Zeit, wenn sie Geld sehen, doch von ihm werden sie nur das Nötigste bekommen, nur das, was unumgänglich ist. Er steckt das Handy wieder ein. Fasst an sein Portemonnaie in der Hosentasche. Gut, dass er noch am Bankautomat war. Was die wohl kostet?

„Wie viel? Wie viel willst du? Understand? How much money?“

„No much money. No problem. Come on. Love first. Business later. Come on Schatzi.”

Jetzt weiß sie, dass sie gewonnen hat. Er wird hinter ihr her schleichen, wie ein Pudel an der Leine. Und wenn er das doch nicht macht, hat sie Pech gehabt. Sie kann und will nicht mehr investieren, weder an Zeit noch an Geduld noch an Überredung. Sie dreht sich um und wackelt davon, mit diesem erotisch unterkühlten, durch die Schuhe bedingten Staksen und Balancieren, diesem ständigen Zwang, auf die Unebenheiten der Straße zu achten, um ja nicht umzuknicken. Schon deswegen kann sie nicht zurückblicken.Es ist aber auch nicht nötig, denn er trottet tatsächlich hinter ihr her, im sicheren Abstand, sich betont unbeteiligt gebend, aber gekettet und mitgezogen von diesem erotischen Magneten, der ein paar Meter voraus, ihn unbeirrt anzieht. Seine Gedanken kreisen nicht mehr um den Zug, den er rechtzeitig erreichen muss, nur noch um diese Frau, die er nun fast erreicht hat und bleiben dort hängen, wo männliche Blicke und Gedanken meistens enden: Arsch, Busen, Beine.

Sie geht, aber nicht dahin, wo er meinte, dass sie hingehen müsse. Nicht in Richtung des Viertels mit den etwas verwahrlosten Häusern, den maroden Hauseingänge, den etwas heruntergekommenen Straßen. Sie steuert keine von den Bars an, in der um diese Zeit vermutlich nur halbtote Fliegen anzutreffen sind und schon gar nicht zu der Gasse mit den Schaufenstern, die er manchmal aufsucht. Dass diese Frau ihn dorthin lotsen würde, hatte er auch nicht erwartet. Das ist keine, die sich in ein Schaufenster setzt, denkt er. Vielleicht würde sie ja gerne dort ihr Geld verdienen, hat aber keinen Platz bekommen oder mit ihren Papieren stimmt etwas nicht. Wenn alles legal und in Ordnung wäre, müsste sie doch nicht am hellen, heißen Nachmittag auf der Straße anbaggern. Sie stelzt weiter vor ihm her, mit diesen roten Waffen, die sich Schuhe nennen und diesen endlosen braunen Beinen, diesem knackigen Hintern, der rhythmisch in den viel zu kurzen Jeans wackelt, mit der schmalen Taille, dem dunklen T-Shirt, der schwarzen Mähne. Sie zieht ihn nach sich, ganz mechanisch, ganz automatisch, wie ein Kind ein Spielzeug auf Rädern an einem Bindfaden hinter sich her zieht. Ihm wird noch heißer. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn. Sein Hemd klebt. Die Anzugjacke ist viel zu schwer. Warum hat er die nicht im Auto gelassen? Warum hat er eigentlich immer noch die pinke Krawatte um mit der lächerlichen Mickymaus? Wo will sie denn hin? Wir kommen ja aus der City raus. Das Viertel ist doch hier schon zu Ende und die Brache fängt an, die Industriegegend. Hierher verirrt sich doch kein Mensch. Aber sie stolziert unbeirrt weiter. Er ist verunsichert, zögert. Soll er doch lieber zurück? Folgt ihr aber dennoch, als sie um eine Ecke biegt. Doch auch dann ist das Ziel noch nicht erreicht. Welches Ziel? Hier gibt es doch kaum noch Häuser. Durch sein Zögern hat sie sich ein beträchtliches Stück von ihm entfernt. Wo hat die nur ihre Bleibe, ihre Wohnung, ihren Arbeitsraum oder nennt man das Atelier? So weit hat er sich den Weg nicht vorgestellt. Und er muss das alles wieder zurück, das wird eng, verdammt noch mal. Wenn er das geahnt hätte, wäre er nicht mitgegangen. Er schaut auf die Uhr. Aber es sind erst fünf Minuten vergangen, es ist erst zehn nach vier. Er hätte gewettet, dass er schon eine Viertelstunde hinter ihr her läuft. Trotzdem ist es lang und dazu diese Hitze. Eigentlich lohnt sich das ganze Unternehmen gar nicht mehr. Wenn er dann noch den Zug verpasst, Mann oh Mann, dann gibt es Ärger. Parkplatz kommt ihm wieder in den Sinn. Kein Parkplatz ist immer gut als Ausrede für das Zuspätkommen. Das muss sie einfach schlucken, selbst bei dieser Hitze sind am Bahnhof alle Plätze belegt und freie Parkplätze kann man nicht einfach herbeizaubern. Er atmet wieder etwas freier, aber das lange Gehen ärgert ihn und die Hitze und dass er sich überhaupt auf das Abenteuer eingelassen hat, anstatt in einem Stehimbiss im Bahnhof ein kühles Bier zu trinken.

Er ist drauf und dran, einfach umzudrehen, doch da biegt die Frau auf einen Platz ein, einen kleinen, verlassenen Platz mit vielen Büschen und Bäumen am Rand, ein Platz, der wohl als Parkplatz dient, aber jetzt weitgehend leer ist. Sie dreht sich um und wartet, bis er bei ihr ist.

„Alles klar? We are here.“

Sie fasst seine Hand an. Fasst ihn zum ersten Mal an. Er ist baff. Parkplatz. Um diese Zeit. Parkplatz ist doch nur nachts gefragt, bunte Neonröhren an Wohnwagen oder auf dem Dach von Kleinwagen. Sie lässt ihm keine Zeit zum Nachdenken, zieht ihn an der Hand mit, steuert ein Wohnmobil an. Älteres Modell, Typ Kastenwagen, sehr schmutzig, voller Sand und Lehm. Vielleicht war das Fahrzeug einmal weiß. Das Kennzeichen ist total verdreckt, Buchstaben oder Zahlen sind nicht zu erkenne. Auffällig ist nur ein Aufkleber am Heck mit einem Elch, so einer, wie sie Urlauber aus Skandinavien mitbringen. Er ist leicht verwirrt. Will die, dass ich mit ihr in diesem alten Kasten bumse? Glaubt die, dass ich da rein gehe? Liebe im Campingwagen, so etwas hat er sich nicht vorgestellt. Da drin muss es doch verdammt eng und unbequem und erst recht heiß sein. Hat er es nötig, in einem Campingwagen zu ficken? Aber die Gier hat ihn wieder fest im Griff, nachdem die Frau ihn an die Hand genommen hat und er ihre überraschend raue Handfläche in seiner spürt. Und außerdem sollte der ganze Aufwand, der ganze Anmarsch umsonst gewesen sein? Während er noch zögert, hat „die“ einen Schlüssel aus ihren Jeans gekramt und öffnet die Schiebetür auf der Beifahrerseite, steigt ein, reicht ihm wieder die Hand und zieht ihn die kleine Treppe hoch. Beim Einsteigen fällt ihm noch etwas an dem Campingbus auf, aber es bleibt ihm keine Zeit, es sich einzuprägen. Er weiß später nicht einmal genau, was es war, denn die Frau, die ihn zu sich hoch gezogen hat, begrüßt ihn nun sehr freundlich.

„Come in Schatzi. Welcome in my home.“

Innen ist tatsächlich noch heißer, dazu ist die Luft stickig und es müffelt irgendwie, vielleicht nach alten Klamotten oder ungewaschenen Socken. Nach dem hellen Sonnenlicht ist es zudem sehr dunkel, anfangs sieht er gar nichts und er beginnt noch stärker zu schwitzen. Sein Taschentuch, das er sich an die Stirn hält, kann den Schweiß schon längst nicht mehr aufnehmen. Die Frau hat seine Hand losgelassen, knipst eine Lampe an und schließt die Tür. Rotes Licht natürlich. Er schaut sich um. Direkt gegenüber der Schiebetür ist ein ziemlich schmales Bett, in Richtung der Fahrerkabine eine Art Küchenzeile und am Heck ein Fenster mit einem dichten Vorhang. Von außen dringt kein Licht in den Raum. Aber das vorhandene Licht reicht aus, um sich jetzt auf die Frau zu konzentrieren. Die hat sich auf das Bett gesetzt. Sie weiß wohl, dass sie keine Zeit verlieren dürfen, dass es jetzt flott gehen muss. Hat er ihr eigentlich schon gesagt, dass er nur ganz wenig Zeit hat? Er sieht nun ganz deutlich, dass sie auch schwitzt, fast noch mehr als er. Er sieht die Schweißperlen auf ihrer Stirn und auf dem üppigen Dekolletee.

„Get off cloths. So hot here.“

Sie selbst macht keine Anstalten, die paar Sache abzulegen, die sie an hat. Stattdessen fragt sie.

„Some drink?“

Er schüttelt den Kopf. Er hat zwar Durst, will aber nicht mit überhöhten Preisen verarscht werden. Er denkt an den teuren, minderwertigen Sekt, der in mittelmäßigen Nachtbars ausgeschenkt wird und den man gefälligst spendieren muss, um mit einer der Damen überhaupt zu reden und den man reichlich bestellen muss, um vielleicht ein bisschen zu knutschen. Das kennt er, das hat er schon mitgemacht, diese Erfahrung reicht. In einer Nachtbar ist der Sekt teuer, aber wenigstens kalt. Hier, in dem heißen Bus, kann sich doch kein Getränk der Hitze entziehen. Andererseits plagt ihn der Durst, sein Mund ist trocken, nicht nur wegen der Hitze. Die unmittelbare Nähe der Frau, der Geruch ihres Parfüms, ihres Schweißes, die Berührung ihrer Hand, die Erwartung, was gleich geschehen wird, das alles macht ihn noch heißer, noch durstiger. Als sie die Frage wiederholt und noch ein „really“ dran hängt, nickt er und wischt sich wieder die Stirn ab. Wie kann man es bei dieser Hitze nur in so einer Karre aushalten, geht es ihm durch den Kopf. Wie kann man es überhaupt in so einer Karre aushalten? Dann fällt ihm ein, dass er eine wichtige Sache immer noch nicht geklärt hat.

„Wie teuer, das Vergnügen? Alles zusammen. Drink and sex. How much? Only short time, only a quicky, you understand. No much time. Train is coming. I need go to station. So, hurry up, please!“

„Yes, yes. Alles klar. Softdrink no money. All inclusive. So hot here. Coke? Get off cloths!“

Wenigstens will sie ihm keinen Sekt andrehen. Er zieht endlich die Jacke aus und löst die Krawatte, legt sie aber noch nicht ab. Die Frau steht auf, öffnet einen Minikühlschrank in der Küchenzeile, nimmt eine Cola und zeigt ihm die Dose. Er nickt wieder. Sie verteilt den Inhalt auf zwei Pappbecher und reicht ihm einen. Er nimmt einen tiefen Schluck. Die Cola ist bestenfalls laukalt, schmeckt fade und beschissen. Er weiß gar nicht, wann er seine letzte Cola getrunken hat. Er mag das süße Zeug nicht, besonders dann nicht, wenn es warm ist, aber zumindest ist der Mund nicht mehr so trocken. Die Frau setzt sich wieder auf das Bett, deutet mit der Hand an, dass er sich auch setzen soll und rückt sofort ganz nahe an ihn heran. Eine Hand hält den Pappbecher, die andere wandert auf seinem Rücken herum, hinab zu seinem Gesäß, dann finden sie den Weg auf einen seiner Oberschenkel und tastet sie sich weiter vor, in Richtung seiner Männlichkeit. Die Hand findet sein steifes Glied, ohne aber die Hose zu öffnen, greift, presst, drückt. Es ist ihm schon fast unangenehm, wie sie da an ihm herum grapscht, aber es tut dennoch gut. Doch das Vergnügen ist nur kurz, sie zieht die Hand rasch wieder ab und gibt ihm dafür einen leichten Kuss auf die Wange. So abrupt, wie sie sich an ihn geschmiegt hat, wie sie sich im wahrsten Sinne des Wortes, an ihm vergriffen hat, so plötzlich lässt sie auch wieder von ihm ab und rückt ein Stückchen von ihm weg, dabei fordert sie ihn erneut auf, sich endlich ganz auszuziehen, ohne aber selbst etwas abzulegen. Er nimmt nun die Krawatte vollends ab, streift sein feuchtes Hemd über den Kopf, ohne die Knöpfe zu öffnen, zieht die Schuhe aus, behält aber die Socken an. Schließlich steht er noch einmal auf, zieht die Hose aus und setzt sich wieder auf das Bett. Nun ist er fast nackt bis auf die Unterhose und eine schwere Goldkette um den Hals, die erst zum Vorschein kam, nachdem er das Hemd abgestreift hatte, eine echte Strizzikette, wie sie Zuhälter und Angeber lieben. Außerdem hat er noch vier Ringe an den Fingern, ein Ehering und drei von ähnlicher Scheußlichkeit und natürlich die vergoldete Omega, aber diese Dinge kann man ja nicht zur Kleidung rechnen.

„Und du? Auch nackig, oder? You striptease, please.“

Sie bleibt auf dem Bett sitzen und lacht.

„Yes, wait. We have time. Drink. Good for you, Schatzi. Relax a moment. You will need much power to make me happy.“

Er nimmt noch einen Schluck, dann sagt er laut und scharf:

„No time. No relax. Keine Zeit. Ich muss zum Bahnhof. Verstehst du. Keine Zeit. Next time more time. Aber jetzt not. Also mach schon.“

Sie erschrickt über seine heftige Reaktion, stellt endlich den Becher auf den Boden und streift sich das T-Shirt über eine Schulter, sodass ihr BH zur Hälfte sichtbar wird. Er ist sehr rot, signalrot und sehr knapp, einer vom Typ Push-BH, einer der die Brüste steil nach oben presst. Sie holt eine dieser gepressten Brüste aus dem Körbchen, legt aber sofort ihre Hand darauf, bedeckt sie, als ob sie dieses ausgeprägte Merkmal ihrer Weiblichkeit schützen müsse. Dann regt sie sich erst mal gar nicht, bleibt wie angenagelt sitzen. Er schaut sie erstaunt an und diese kurze Pause, diese erzwungene Konzentration führt dazu, dass er auf einmal ihren Geruch wieder deutlich wahrnimmt. Die Frau riecht noch süßlicher und strenger als beim flüchtigen Vorbeigehen, eine Mischung aus aufdringlichem Parfüm und starkem Schweiß. Der Geruch bewirkt, dass seine Gedanken den engen Bus verlassen und hinaus wandern, zu seiner Frau, die auf ihn wartet, obwohl der Zug noch unterwegs sein müsste. Dieses Scheissparfüm, denkt er einen Moment lang, wie bekomme ich das nur wieder los? Meine Frau riecht das bestimmt sofort. Ich kann mich doch nicht mehr duschen. Auf einmal ekelt er sich fast und denkt nur noch, dass eine Dusche ihnen beiden guttäte. Aber diese Gedanken verdrängt er rasch wieder. Hier gibt es keine Dusche und duschen wäre nur Zeitverzögerung. Er wird sich etwas einfallen lassen müssen, darin ist er ja geübt. So konzentriert er sich wieder auf den Anblick der Frau mit der marginal geschützten Brust und fühlt, wie er sich weiter erregt vielleicht durch diese verdammte Duftmischung oder wegen der Enge und der Hitze, auf jeden Fall aber wegen der direkten Nähe und der Erwartung, dass der Höhepunkt bald auf ihn zukommen wird, auf sie beide zukommen wird. Und tatsächlich wird die Frau wieder aktiv. Sie hält zwar ihre eine Hand immer noch vor die Brust, aber mit der anderen tastet sie erneut nach seinen Oberschenkeln und er spürt, wie ihre raue Handfläche auf seiner nackten, feuchten Haut hin und her fährt. Die Berührung kitzelt ihn und das Gefühl Haut auf Haut erregt ihn zusätzlich. Trotz der leichten Blindheit, die mit dem Zustand der Erregung verbunden ist, fallen ihm nicht nur die Ringe an ihren Fingern auf, sondern auch eine Tätowierung auf dem Handrücken, die ihm bisher entgangen war. Es ist eine Art Insekt, nein, das Vieh hat acht Beine, eine Spinne, eine Tarantel. Schwarze Spinne auf brauner Haut. Die Hand mit der Tarantel ist schmal und die Fingernägel sind lang und kunstvoll lackiert, jeder Nagel hat eine andere Farbe und ein anderes Motiv. Das Nagelstudio muss gut verdient haben, geht es ihm durch den Kopf. Not scheint diese Schöne nicht zu leiden. Sein Blick löst sich von der Hand und wandert wieder in Richtung Busen und zu der zweiten Hand hin. Auch die hat Ringe und lackierte Nägel, aber keine Tätowierung. Aber das interessiert ihn nicht so sehr. Er stört sich, dass er die freie Brust immer noch nicht sehen kann, dass sie sozusagen immer noch nicht freigegeben ist. So kann es nicht bleiben, denkt er und schiebt mit seiner freien Hand das Hindernis beiseite und fasst nach dieser Brust, grapscht nach ihr und beginnt sie zu drücken. Sie lässt es sich gefallen, entzieht sich ihm nicht weiter und auf einmal weiß er, warum sie so zurückhaltend war, sich so schamhaft gab. Der große Busen fühlt sich ohne das Stützkorsett verdammt schlaff an und auch seine hochgeputschte Gier bekommt dadurch einen kleinen Dämpfer. Die Frau lacht bei der Berührung auf, gurrend, kehlig, gekünstelt, verlegen, doch wie zur Ablenkung oder als Wiedergutmachung hat ihre tätowierte Hand erneut den Weg zu seinen „most private parts“ gefunden, zerrt an seiner Unterhose, zieht sie über die Oberschenkel und beginnt sein steil aufgerichtetes Glied zu drücken und daran zu zupfen, es zu massieren und zu karessieren, als ob sie mit einem billigen Handjob rasch zum Ende des Geschäfts kommen wolle.

Damit ist er natürlich nicht einverstanden, stellt den Pappbecher mit dem Rest der lauen Cola auf den Boden, um auch die zweite Hand freizuhaben, um die Frau an sich zu ziehen, um sie zu drücken und seinem Drang nach Nähe, Nähe, Nähe nachzugeben. Zugleich fordert er sie auf, sich endlich auch auszuziehen, damit sie vorankämen. Doch er erreicht das Gegenteil, denn statt auf seine Forderungen einzugehen, wendet sie sich plötzlich von ihm ab, zieht ihre Hand aus seinem Intimbereich zurück und steht auf. Er ist irritiert, noch mehr Schweiß bricht aus und rinnt an ihm herunter, zugleich wird sein Mund wieder trocken. Warum lässt sie ihn ausgerechnet jetzt sitzen, als sein Ziel in greifbarer Nähe ist und sein Verlangen dem Höhepunkt zustrebt, jetzt, da sein Prachtstück ungeduldig wird, an Größe nicht mehr zu überbieten ist und nach Erlösung drängt.

„Come on. Leg dich hin. Mach schon“, stöhnt er, aber sie legt sich nicht hin, statt dessen verstaut sie die Brust wieder in dem Körbchen, geht zu der Schiebetür und öffnet sie.

„One moment please. Need pipi. Wait please, Schatzi.“

Bevor er protestieren kann, sie zurück halten kann, sie auffordern kann, später zu pinkeln, danach, wenn sie fertig sind, ist sie schon halb draußen, dreht sich aber noch einmal zu ihm um und schaut ihm nun direkt in die Augen.

„Wait a second. Then it will be nice. You and me. Fucky, fucky.“

Der Waldweg

 

„Was soll der Scheiß“, brüllt er und will die Tür öffnen. Doch es geht nicht, sie rührt sich nicht, sie ist abgeschlossen, er ist eingeschlossen. Er geht zum Fenster und zieht einen der Vorhänge zur Seite. Das Fenster ist von außen mit dunkler Folie beklebt, es lässt sich nicht öffnen. Er trommelt an die Wand zur Fahrerkabine. Brüllt sich die Seele aus dem Leib. Als Antwort wird das rote Licht ausgeschaltet und es ist nun stockdunkel in dem Kabuff. Er versucht sich nochmals an der Tür, an dem Fenster. Beide sind sehr stabil. Der Wagen fährt, erst langsam, dann schneller, dann merkt er, dass es kurvig wird. Ein paarmal hält der Bus, fährt kurz darauf wieder an, er hört andere Autos, laute Startgeräusche, es müssen wohl Ampeln gewesen sein. Irgendwann hat der Wagen die Stadt anscheinend verlassen, denn jetzt fährt er gleichmäßig, nur selten Kurven, keine Stopps. Er flucht weiter, trommelt, rüttelt. Die Hitze wird immer unerträglicher. Genauso wie die Gedanken an seine Lage, an die Probleme, die auf ihn zukommen werden, seine Frau, sein Auto, Polizei. Erschöpft setzt er sich auf das Bett. Da fällt ihm sein Handy ein, vielleicht geht es doch noch, vielleicht ist noch genug Saft im Akku, um die Polizei anzurufen. Doch das Display zeigt nur noch einen matten Schein, eine Verbindung zur Außenwelt nicht mehr möglich. Er tastet die Taschen seines Anzugs ab. Es ist noch alles da, der Geldbeutel, die Brieftasche, der Schlüsselbund mit Auto-, Wohnungs-, Büroschlüssel, sogar der Parkschein für sein Auto. Dann zieht er die Hose an, die Socken, die Schuhe, das Hemd, nur das Jackett nicht. Er schaut auf die Uhr, die Leuchtziffern glimmen. Der Zug ist schon längst angekommen, trotz Verspätung, aber das ist im Moment nicht sein Problem.

 

Eine halbe Stunde später, oder war es eine Stunde, fühlt er, wie der Wagen langsamer wird und schließlich in einer engen Kurve abbiegt. Nun wird der Weg erst holprig, aber dann wieder glatt mit sanften Wellen. Wieder dehnen sich die Minuten zu kleinen Ewigkeiten. Der Wagen fährt sehr langsam und dann hält er an. Endlich ist wenigstens diese quälende, ungewisse Fahrerei beendet. Er schreit wieder, trommelt gegen die Fahrerkabine, doch nichts passiert. Erst nach einer halben Ewigkeit hört er, wie eine Tür geöffnet wird, der Wagen schaukelt leicht, jemand hat die Fahrerkabine verlassen. Diese verdammte Frau? Oder ihr Zuhälter? Es dauert wieder ein paar Minuten, dann wird die Tür zu seinem Gefängnis geöffnet. Helles Sonnenlicht dringt ein und blendet ihn. Er muss die Augen zukneifen. Zugleich will er seiner Wut freien Lauf lassen, will eine Erklärung haben, will raus aus der Hitze, der Enge, der Schande. Aber zwei Dinge hindern ihn. Zum einen der Mann, der vor der Tür steht: breit, massig, schwarze Lederjacke. Sein Gesicht ist gegen das Licht nicht zu erkennen und als sich seine Augen an die Helligkeit adaptiert haben, sieht er, dass es von einem Tuch weitgehend verdeckt wird und dass der Mann trotz der Hitze eine schwarze Pudelmütze auf hat. Zum andern das Ding, das der Mann in der Hand hält und das auf ihn gerichtet ist, der dunkle, matt glänzende Lauf einer Pistole. Der Protest bleibt ihm im Hals stecken, die Wut wird von Angst abgelöst, von nackter Angst. Bevor er sich wieder fassen kann, etwas sagen kann, Fragen stellen kann, gar erneut losbrüllen kann, spricht der Mann zu ihm, mit leiser Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

 

„Du hältst jetzt erst mal dein Maul und machst genau, was ich dir sag. Dann bassiert dir nix. Sonst seh ich mich gezwungen, dir Schaden zuzufügen.“

 

Neben die Angst mischt sich nun Erstaunen. Der Mann spricht in gewählten, ja gestelzten Worten. Der Ton der Stimme ist ihm seltsamerweise nicht einmal unsympathisch. Komisch, dieser Gedanke in solch einer Situation. Zwei weitere Dinge fallen ihm auf. Der Mann hat keine schwarze Hautfarbe, wie sein Lockvogel, sondern eine helle, bleiche, wie er an dem bisschen Haut erkennt, das am Hals zu sehen ist und um die Augen herum und natürlich an den Händen. Und der Ort fällt ihm auf, als er an dem Mann vorbei schaut und sieht, dass sich der Wagen in einem Wald befindet, auf einer Lichtung oder einem breiten Waldweg.

 

„Ich seh, dass du dich anzogen hast. Du ziehst dich jetzt wieder aus. Verstanden? Du legst alles ab, was du an hast, alles was an dir dran ist und wenn ich sag alles, mein ich auch alles.“

 

Die Worte prallen an ihm ab. Er starrt weiter sein Gegenüber an, reglos, sprachlos, angsterfüllt, wie gelähmt. Er rührt sich nicht. Er kann sich nicht rühren. Der Mann vor der Tür wartet eine Minute.

 

„So, jetzt ist der Schock vorbei. Fang an. Dalli, dalli. Wir haben kei Zeit.“

 

Dabei fuchtelt er zur Bestätigung seiner Worte mit der Pistole hin und her und stößt den Lauf auffordernd in seine Richtung. Die Lähmung ist vorbei. Er versucht es nun mit Worten, doch noch ehe er etwas sagen kann, noch ehe überhaupt ein Wort über sein Lippen kommt, herrscht ihn der Türsteher an.

 

„Halt's Maul und tu, was ich sag. Oder hast mich noch immer net verstanden. Zieh dich aus und halt's Maul. Also los, mach schon.“

 

Der Angesprochene stößt einen Fluch aus und fängt an, sich auszuziehen. Er verstreut die Kleider auf dem Fußboden, nur die Unterhose behält er an.

 

„Alles hab ich gsagt, hörst schlecht oder glaubst net, was ich dir sag? Alles, aber flott.“

 

Nun liegt auch die Unterhose auf dem Boden.