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Eine verheiratete Frau zwischen Wäschebergen, Schuldgefühlen und der verbotenen Sehnsucht nach ihrem viel älteren Chef – eine Dark-Romance, so intensiv wie zerstörerisch.
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Seitenzahl: 256
Veröffentlichungsjahr: 2025
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„Verloren in deinen Jahren“
Ich war Mutter. Ehefrau. Und plötzlich: Sünderin.“
Helena führt ein Leben wie aus dem Bilderbuch – zwei Kinder, ein treuer Ehemann, ein gemütliches Vorstadthaus. Doch alles gerät ins Wanken, als sie ihren neuen Chef kennenlernt: Dr. Victor Arendt – charismatisch, kultiviert, doppelt so alt wie sie … und verboten.
Zwischen Akten, Blicken und stummer Sehnsucht beginnt eine gefährliche Affäre, die alles bedroht, was Helena jemals wichtig war.
Wie viel Schuld kann Liebe ertragen? Und wie lange kann Leidenschaft schweigen?
Ein düsterer Liebesroman über Sehnsucht, Moral und den schmalen Grat zwischen Begehren und Zerstörung.
Kapitel 1 – Der neue Chef Erster Tag im neuen Job. Victor betritt das Büro. Helena spürt sofort etwas – und schämt sich.
Kapitel 2 – Zwischen Wäschebergen und Versuchung Familienleben. Helena wirkt perfekt – aber leer. Gedanken schweifen zu Victor.
Kapitel 3 – Der erste Blick, der zu lange dauert Ein Meeting. Eine Berührung. Ihre Grenzen beginnen zu verschwimmen.
Kapitel 4 – Späte Mails, zu viele Gefühle Sie beginnt, mit ihm zu kommunizieren – außerhalb der Arbeit. Heimliche Nachrichten.
Kapitel 5 – Der erste Kuss Verboten. Verheerend. Und unvergesslich.
Kapitel 6 – Doppelleben Helena führt ein gefährliches Spiel. Schuldgefühle, aber auch Ekstase. Ihre Ehe leidet.
Kapitel 7 – Er will mehr Victor will nicht länger heimlich lieben. Helena steht vor der Entscheidung: Familie oder Gefühl?
Kapitel 8 – Die Entdeckung Ihr Mann erfährt davon. Eskalation. Kinder, Tränen, Schmerz.
Kapitel 9 – Was bleibt Victor zieht sich zurück. Helena steht allein zwischen Trümmern. Doch eine unerwartete Wahrheit kommt ans Licht.
Kapitel 10 – Wenn Liebe nicht reicht Letzte Entscheidung. Kein kitschiges Happy End – sondern ein echtes, bitter-süßes.
Epilog: Zeit ist vergangen. Was wurde aus ihr? Aus Victor? Aus ihrer Familie?
Kapitel 1 – Der neue Chef
Der Regen klatschte monoton gegen die Windschutzscheibe, während Helena mit beiden Händen fest das Lenkrad umklammerte. Die Straße vor ihr war grau, fast so farblos wie ihr Leben in den letzten Monaten. Ihre Gedanken kreisten nicht um das Ziel, zu dem sie unterwegs war – das neue Architekturbüro in der Innenstadt –, sondern um das, was sie zurückgelassen hatte: zwei Kinder mit verschmierten Mündern vom Frühstück, ein Ehemann, der kaum von seinem Handy aufgesehen hatte, und ein Haus, das schon am frühen Morgen zu eng wirkte.
Sie atmete tief durch. Heute war ihr erster Arbeitstag nach fast acht Jahren. Acht Jahre Muttersein. Acht Jahre zwischen Kita, Windeln, Fiebernächten, Spielplatzdramen und Familienurlauben, bei denen sie sich immer gefragt hatte, wann genau sie aufgehört hatte, eine Frau zu sein, und nur noch Mutter war.
Ihr Blick glitt kurz in den Rückspiegel. Die Mascara saß, ihre Haare ebenfalls. Ein Hauch Lippenstift – unauffällig, aber bewusst gewählt. Sie wollte kompetent wirken. Erwachsen. Nicht wie jemand, der sich zwischen Pausenbroten und Tupperdosen selbst verloren hatte.
Das Bürogebäude war modern, mit viel Glas und Beton. Der Empfangsbereich empfing sie mit kühler Eleganz. Eine junge Frau mit zu rotem Lippenstift und perfekt sitzendem Dutt begrüßte sie mit einem Lächeln, das ebenso professionell wie leer war.
„Frau Berendt? Willkommen. Dr. Arendt erwartet Sie bereits.“
Dr. Arendt. Der neue Chef. Von ihm hatte sie nur gelesen. Architekt, international erfahren, kürzlich aus der Schweiz zurückgekehrt. Fünfundsechzig Jahre alt, wie ihr die HR-Dame bei der Einstellung beinahe entschuldigend gesagt hatte. Sie hatte es registriert und weggelächelt. Alter war ihr egal. Ein Chef war ein Chef.
Bis sie ihn sah.
Er stand am Fenster seines Büros, den Rücken ihr zugewandt. Groß, gerade Haltung, dunkelgrauer Anzug, silbernes Haar. Die Aura eines Mannes, der an sich und die Welt klare Erwartungen stellte.
„Frau Berendt“, sagte er, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme war tief, leicht rau, wie von einem Mann, der mehr erlebt als erzählt hatte. „Treten Sie ein.“
Sie gehorchte, mit einem flüchtigen Lächeln, das sie sich selbst vor dem Spiegel eingeübt hatte. Er drehte sich langsam zu ihr um. Und Helena spürte es.
Ein Flackern. Ein Ziehen irgendwo tief in ihr, so unerwartet wie unwillkommen.
Seine Augen waren grau. Hellgrau, fast durchsichtig, aber durchdringend. Als könnten sie durch Worte hindurchsehen, durch Gesten, durch Fassaden.
„Willkommen im Büro Arendt & Partner.“
Er reichte ihr die Hand. Groß, warm, fest. Kein Händedruck wie aus dem Lehrbuch, sondern einer, der etwas sagte. Helena schluckte.
„Danke. Ich freue mich, hier zu sein.“
„Ich hoffe, das bleibt so.“
Ein kurzer Moment der Stille. Keine unangenehme, sondern eine, die zwischen zwei Menschen entsteht, die einander abtasten, ohne es zu zeigen. Helena wusste sofort: Dieser Mann war anders. Keine kumpelhafte Führungskraft, kein jovialer Manager. Er war distanziert. Kontrolliert. Und doch – da war etwas unter der Oberfläche. Etwas, das sie nicht benennen konnte.
„Sie werden zunächst mit Frau Wegener zusammenarbeiten. Sie bringt Sie in die Abläufe ein. Ab nächster Woche betreuen Sie dann das Projekt 'Wolfswinkel'. Haben Sie sich eingelesen?“
„Natürlich“, antwortete sie, beinahe zu eifrig.
Ein kurzes Nicken seinerseits.
„Gut. Sie dürfen Fehler machen, Frau Berendt. Aber nur einmal.“
Ein Lächeln. Oder war es nur ein Zucken seiner Lippen? Sie konnte es nicht deuten. Ihre Knie waren plötzlich weich. Warum nur? Er war alt genug, ihr Vater zu sein. Und doch – er war da. In ihrem Kopf. In ihrer Haut.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Helena lernte Kolleg:innen kennen, wurde durch Flure geführt, bekam einen Arbeitsplatz, der modern, aber kühl wirkte. Immer wieder wanderte ihr Blick durch die Glaswand zu seinem Büro. Und immer wieder traf sie dort seine Augen. Kurz. Direkt. Wie eine unsichtbare Linie zwischen ihnen.
Als der Arbeitstag endete, fühlte sie sich erschöpft – aber lebendig. Wie lange war es her, dass jemand sie angesehen hatte? Nicht als Mutter, nicht als Ehefrau. Als Frau.
Als sie das Gebäude verließ, prasselte der Regen noch immer auf die Straßen. Helena hob das Gesicht in den Himmel und ließ sich einen Moment lang einfach nassregnen.
Etwas war passiert.
Etwas hatte begonnen.
Am nächsten Morgen erwachte sie vor dem Weckerklingeln. Das Haus war still, ein seltener Moment, bevor die Routine losbrach. Sie saß am Esstisch mit ihrem Kaffee, als Tom ins Zimmer kam. Ihr Mann trug noch Schlafshirt und blickte kaum auf.
„Du bist aber früh.“
„Ich wollte nicht wieder hetzen.“
„Mhm.“
Mehr kam nicht. Kein ‚Wie war dein erster Tag?‘ Kein Interesse. Sie sah ihm hinterher, als er wortlos ins Bad verschwand. Da war wieder dieses Gefühl – als wäre sie durchscheinend.
Im Büro wartete ein Stapel Akten. Helena arbeitete sich konzentriert durch Tabellen, E-Mails, Projektpläne. Gegen Mittag klopfte es an ihrer Glastrennwand. Sie blickte auf – und da stand er.
Dr. Arendt.
„Hätten Sie einen Moment?“
Sie nickte und folgte ihm. In seinem Büro herrschte gedämpftes Licht, eine Schreibtischlampe war die einzige Lichtquelle. Aktenstapel, ein Modell aus Holz, leise klassische Musik im Hintergrund.
Er zeigte ihr ein Grundrissmodell. Sie trat näher, betrachtete Details.
„Was würden Sie hier verändern?“
Seine Stimme war leise, aber fordernd. Sie beugte sich über das Modell. Er trat einen Schritt näher. Nicht zu nah – und doch fühlte sie ihn. Die Wärme. Die Spannung.
„Ich würde die Fensterfront hier vergrößern. Es wirkt sonst zu geschlossen.“
Er nickte langsam. „Gute Beobachtung.“
Sein Blick ruhte auf ihrem Profil. Und dann – nur ein Moment – berührte seine Hand flüchtig ihren Arm. Wie zufällig. Doch sie spürte es wie Strom.
Als sie sich wieder erhob, sah sie ihn an. Länger als notwendig. Länger, als es sich gehörte.
„Sie haben ein gutes Gespür für Räume, Frau Berendt.“
„Und Sie für Menschen, Dr. Arendt.“
Ein Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen.
„Nennen Sie mich Victor. Zumindest, wenn wir unter uns sind.“
Sie nickte langsam, unfähig, den Blick zu lösen.
Er hatte etwas geöffnet in ihr. Etwas, das sie längst vergessen glaubte.
An einem Donnerstagnachmittag, als die Sonne bereits tief stand und das Büro sich langsam leerte, ertönte wieder ein Klopfen an Helenas Scheibe. Sie war allein im Großraumbüro. Victor stand da, eine Akte in der Hand.
„Ich brauche Ihre Meinung. Kommen Sie bitte.“
Sie folgte ihm – wieder. Im Besprechungsraum lagen Pläne ausgebreitet. Doch ihre Aufmerksamkeit lag auf ihm. Wie er sich bewegte. Wie selbstverständlich er Raum einnahm.
„Setzen Sie sich.“
Sie tat es. Ihre Knie waren angespannt. Sie trug heute einen schmalen, schwarzen Rock – zu mutig? Ihre Bluse war halb geöffnet, ein Knopf mehr als sonst. Hatte sie das unbewusst getan?
Er reichte ihr einen Plan, doch seine Finger berührten dabei ihre – absichtlich? Sekunden nur. Und doch…
„Was ist das da für ein Fehler?“ fragte er ruhig.
Sie beugte sich vor. Er tat es auch. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt.
„Hier“, flüsterte sie. Ihre Stimme war rau. Seine Augen verharrten auf ihrem Mund.
„Sie haben recht“, sagte er leise. Doch er sah sie nicht an. Sondern an – mit einer Intensität, die ihr den Atem nahm.
Dann – ein Geräusch. Schritte im Flur. Er trat zurück. Als wäre nichts gewesen.
„Danke, Frau Berendt.“
Sie nickte, stand auf. Ihre Hände zitterten. Sie war aufgewühlt. Verloren.
Auf dem Heimweg fuhr sie Umwege. Wollte nicht sofort zurück. Zurück in die Normalität. Zurück zu Tom, der fragen würde, was es zu essen gab. Der nicht sehen würde, was in ihr tobte.
Sie dachte an Victors Stimme. An seinen Blick. Seine Nähe.
Und an das, was sie niemals hätte fühlen dürfen.
Zwei Tage später fand sie nach der Mittagspause eine Nachricht auf ihrem Schreibtisch. Handschriftlich, in schnörkelloser, männlicher Schrift: „Heute Abend, 18:15 Uhr, Bibliothekszimmer.“
Ihr Herzschlag setzte aus. Das konnte nur einer geschrieben haben.
Sie warf einen verstohlenen Blick zu Victors Büro. Die Tür war zu. Die Jalousien halb geschlossen. Sie konnte ihn nicht sehen – aber sie spürte ihn. So wie man einen Gewitterhimmel spürt.
Der Rest des Arbeitstages verging wie im Rausch. Zahlen, Worte, Tastenschläge. Alles wie durch Watte. 18:00 Uhr – sie blieb. Alle anderen verließen das Gebäude. Um 18:13 Uhr stand sie auf. 18:14 Uhr ging sie den Gang entlang. 18:15 Uhr öffnete sie die Tür.
Das Bibliothekszimmer lag im hinteren Teil des Gebäudes. Dunkles Holz, eine schwere Tür, Bücherregale bis zur Decke. Er stand am Fenster, genau wie am ersten Tag. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.
„Sie sind gekommen.“
„Ich weiß nicht, warum.“
Er wandte sich um. „Doch. Sie wissen es.“
Ein Schweigen zwischen ihnen, dicht wie Nebel. Dann trat er auf sie zu. Langsam. Und Helena machte keinen Schritt zurück.
„Victor …“, flüsterte sie.
„Sagen Sie es noch einmal.“
„Victor.“
Sein Name klang wie ein Versprechen. Und ein Verrat.
Dann war da keine Distanz mehr. Kein Raum. Nur noch seine Hände an ihrem Gesicht. Seine Stirn gegen ihre. Sein Atem an ihrem Mund.
„Wenn Sie jetzt gehen“, sagte er leise, „werde ich es akzeptieren. Wenn nicht…“
Aber sie ging nicht.
Sie konnte nicht.
Später, im Wagen, hielt Helena die Finger fest um das Lenkrad, während ihre Gedanken rasten. Ihre Lippen brannten noch immer von seinen. Ihre Haut war noch heiß, aufgeladen von seinen Berührungen, seinem Atem. Nichts war geschehen – und doch war alles geschehen.
Sie hatte ihn geküsst. Oder er sie. Vielleicht hatten sie sich gefunden in der Mitte.
Nicht lange, nicht wild. Nur ein Hauch. Eine Ahnung. Aber einer, der ihr Innerstes erschüttert hatte.
Wie war sie hierher gekommen? Eine verheiratete Frau. Mutter. Moralisch erzogen. Verlässlich. Vernünftig. Und nun … glühte sie vor Verlangen nach einem Mann, der doppelt so alt war wie sie, ihr Vorgesetzter, ihr Tabu.
Zuhause war es still. Tom war mit den Kindern bei seiner Schwester. Ein glücklicher Zufall – oder ein Wink des Schicksals?
Sie duschte lange, ließ das heiße Wasser über ihren Körper strömen, als könne es das Begehren abspülen. Doch sie wusste es besser.
In dieser Nacht lag sie wach. Starrte an die Decke. Dachte an seine Stimme, seine Hände. Seinen Blick, der sie durchdrang.
Und sie wusste: Dies war der Anfang.
Nicht von einer Affäre.
Sondern von ihrem Untergang.
Kapitel 2 – Zwischen Wäschebergen und Versuchung
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Helena in der Küche stand und die Spülmaschine einräumte. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft, doch ihr war nicht danach. Ihre Gedanken waren woanders. Genauer gesagt: bei einem Mann, der nichts in ihrem Kopf zu suchen hatte.
Victor.
Seit dem Abend im Bibliothekszimmer war ihr Inneres ein Schlachtfeld. Zwischen dem, was richtig war, und dem, was sie fühlte. Zwischen Pflicht und Verlangen. Zwischen Tom und Victor. Ihr Mann hatte keine Ahnung, was sich in ihr abspielte – und das war gut so. Oder?
Sie hob den Kopf, als Kinderlachen durch das Haus hallte. Paul jagte Emma durchs Wohnzimmer, beide noch im Schlafanzug, die Haare zerzaust, die Gesichter verschmiert mit Marmelade. Helena sollte lächeln. Das hier war ihr Leben. Zwei gesunde Kinder, ein eigenes Haus, ein Ehemann, der nicht trank, nicht schlug, der einfach nur … da war. Immer da. Verlässlich. Berechenbar.
Aber nicht mehr als das.
Sie stellte die letzte Tasse in die Maschine und drückte sie mit etwas zu viel Kraft zu. Der dumpfe Schlag hallte durch die Küche. Paul blieb stehen und blickte sie erschrocken an. „Mama?“
„Alles gut“, sagte sie rasch, zwang sich zu einem Lächeln. „Nur müde.“
Tom kam gerade die Treppe herunter, das Handy in der Hand. „Die Waschmaschine piept. Kannst du das übernehmen?“
Kein Blickkontakt. Kein Guten Morgen. Kein Kuss.
„Klar“, sagte sie. Und fragte sich gleichzeitig, wie viele Jahre sie diesen Satz schon sagte, ohne ihn wirklich zu meinen.
Der Wäschekeller war kühl. Sie beugte sich über die Trommel, zog nasse Jeans und bunte T-Shirts heraus, schüttelte sie aus, hängte sie auf die Leine. Mechanisch. Wie eine Maschine. Wie jemand, der lebt, aber nicht fühlt.
Während ihre Hände arbeiteten, drifteten ihre Gedanken ab. Zu dem Moment, als Victors Stirn ihre berührte. Zu seinem Atem auf ihrer Haut. Zu seinem Blick – dieser tiefe, undurchdringliche Blick, der ihr mehr gesagt hatte als tausend Worte.
Was wäre passiert, wenn sie ihn geküsst hätte?
Oder wenn sie nicht aufgehört hätten?
Der Gedanke ließ sie erschauern. Vor Angst. Vor Sehnsucht.
Ein lautes Scheppern ließ sie zusammenzucken. Paul hatte oben offensichtlich etwas umgeworfen. Sie hörte Tom schimpfen. Ihre Welt rief nach ihr. Und doch wollte sie nicht zurück.
Sie blieb noch einen Moment im Keller, hielt sich am Türrahmen fest und schloss die Augen.
Morgen war wieder Montag. Und sie würde Victor wiedersehen.
Montagmorgen begann wie jeder andere – zu früh, zu hektisch, zu laut. Helena stand in der Küche, während der Toaster brannte und Paul heulte, weil seine Lieblingssocken nicht auffindbar waren. Tom blätterte in der Zeitung, einen Kaffee in der Hand, und bemerkte nichts davon. Oder tat zumindest so.
„Kannst du Emma ihre Zöpfe machen?“ rief Helena und blickte zu ihm. Doch Tom war bereits aufgestanden. „Ich muss los. Frühmeeting.“
Kein Kuss. Kein Blick. Kein ‚Viel Erfolg‘.
Stattdessen schloss sich die Tür mit einem dumpfen Geräusch. Es hallte in ihrem Brustkorb nach.
Helena atmete tief durch. „Mamaaaa, Paul hat meine Mütze genommen!“
„Dann nimm eine andere, Schatz.“
„Die ist aber hässlich!“
Sie kniete sich zu Emma runter, strich ihr die blonde Strähne aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. „Du bist so hübsch, da macht jede Mütze dich schön.“
Emma lächelte, zumindest für den Moment.
Später, als sie die Kinder bei Schule und Kita abgeliefert hatte, blieb sie einen Moment im Auto sitzen. Ihre Hände ruhten auf dem Lenkrad, die Musik lief leise im Hintergrund – ein melancholischer Jazzsong, der ihre Stimmung punktgenau traf. Ihre Gedanken schweiften wieder zu Victor.
Er war anders. Nicht nur wegen seines Alters oder seiner Autorität. Es war die Art, wie er sie sah. Wie er ihre Gedanken erriet, bevor sie sie aussprach. Wie er sie berührte, ohne sie wirklich zu berühren.
Sie betrat das Büro fast widerwillig, gleichzeitig aber mit einem Kribbeln in der Magengegend. Der Empfangsbereich war ruhig, das Licht noch schwach, die ersten Kolleg:innen kamen gerade erst an. Sie nahm den Aufzug in den dritten Stock. Ihr Herzschlag beschleunigte sich automatisch, als sie die Glastür zu ihrer Abteilung öffnete.
Da war er.
Victor stand am Ende des Flurs, ein Kaffeebecher in der Hand, vertieft in ein Gespräch mit einem Kollegen. Doch als Helena den Raum betrat, wandte er den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber es reichte.
Sie senkte den Blick, zwang sich zur Ruhe, ging zu ihrem Platz. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Laptop aufklappte.
Kurze Zeit später stand Victor neben ihr. Ohne Ankündigung. Ohne Klopfen.
„Könnten Sie bitte später kurz zu mir kommen? Ich hätte gern Ihre Einschätzung zur Präsentation für das Wolfswinkel-Projekt.“
Seine Stimme war ruhig. Neutral. Doch da war ein Unterton. Einer, den nur sie hörte.
„Natürlich“, sagte sie, bemüht gelassen.
Der Vormittag verstrich zäh. Helena arbeitete konzentriert, beantwortete Mails, telefonierte, machte Notizen. Doch alles lief nebenbei, als ob ihr Verstand nur zur Hälfte anwesend war. Die andere Hälfte war bereits in Victors Büro. Wartete. Hoffte. Fürchtete.
Kurz nach elf klopfte sie an seine Tür. Er antwortete nicht sofort. Dann: „Ja.“
Sie trat ein. Victor saß an seinem Schreibtisch, Brille auf der Nase, die Präsentation vor sich. Der Raum roch nach Leder, Kaffee und diesem speziellen Parfüm, das sie inzwischen erkannte, ohne es benennen zu können.
„Schließen Sie die Tür.“
Ihre Hand zögerte nur einen Moment. Dann tat sie es.
Er winkte sie näher, zeigte auf den Bildschirm. „Was halten Sie von der Anordnung der Visuals auf dieser Folie?“
Helena trat hinter ihn, beugte sich leicht vor. Ihre Schultern berührten fast seine. Sie roch seinen Duft intensiver, spürte die Hitze seines Körpers.
„Die rechte Spalte wirkt überladen. Vielleicht die Bilder reduzieren und den Text klarer platzieren.“
Er nickte langsam, drehte sich zu ihr – und nun waren sie sich wieder viel zu nah.
„Sie sehen Dinge, die anderen entgehen.“
„Vielleicht, weil ich Dinge fühle, die ich nicht fühlen sollte.“
Die Worte waren draußen, bevor sie sie stoppen konnte. Sie biss sich auf die Lippe, erschrocken über sich selbst.
Victor sah sie an. Lange. Ohne zu blinzeln.
„Sie bereuen es nicht.“
Es war keine Frage. Es war eine Feststellung. Und sie wusste, dass sie nicht widersprechen konnte.
„Nein“, flüsterte sie.
Sein Blick wanderte zu ihrem Mund, dann wieder zu ihren Augen. Er stand auf, ging langsam um den Tisch herum. Blieb direkt vor ihr stehen.
„Es gibt eine Grenze, Helena.“
„Ich weiß.“
„Und wir stehen direkt davor.“
Sie nickte. Ihr Herz pochte wie wild.
„Aber du wirst sie nicht überschreiten. Noch nicht.“
Das „du“ war neu. Es traf sie wie ein Blitz.
Dann trat er einen Schritt zurück. Wieder der Chef. Wieder distanziert.
„Danke für Ihre Einschätzung. Das ist alles für den Moment.“
Sie nickte, drehte sich um, ging zur Tür. Ihre Hand lag schon auf der Klinke, als er sagte:
„Helena?“
Sie sah zurück.
„Es war gut, dass du gekommen bist.“
Und dann verließ sie das Büro. Ihre Knie waren weich, ihr Herz ein Trümmerfeld. Sie hatte nichts getan – und doch war alles geschehen.
Die restliche Woche verging in einer merkwürdigen Mischung aus Alltag und elektrisierender Spannung. Helena versuchte, sich zu konzentrieren, auf Projekte, auf die Kinder, auf Termine. Doch unter jeder Schicht von Normalität lauerte etwas Anderes. Etwas, das sich nicht wegdrücken ließ.
Victor war höflich. Professionell. Distanziert. Aber er mied sie nicht. Im Gegenteil – ihre Wege kreuzten sich auffällig oft. In der Kaffeeküche. Am Aufzug. In Besprechungen. Und jedes Mal war es da: dieses Flackern in der Luft, diese wortlose Verbindung, die stärker wurde, je mehr sie sie zu ignorieren versuchte.
Am Donnerstagabend saß Helena mit Tom auf dem Sofa. Die Kinder schliefen bereits. Im Fernseher lief eine Doku über Bergsteiger in Nepal. Tom hatte Chips geholt, Helena nippte an einem Glas Wein. Sie sprach kaum. Ihre Gedanken waren weit entfernt, bei einem Mann, der sicher gerade in einem edlen Ledersessel saß, ein Buch in der Hand, klassische Musik im Hintergrund.
„Ist alles okay mit dir?“ fragte Tom plötzlich.
Helena blinzelte. „Was?“
„Du bist irgendwie ... abwesend in letzter Zeit.“
Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Einfach viel los im Büro.“
Er nickte. Schweigen.
Sie sah ihn an. Diesen Mann, den sie einst so sehr geliebt hatte. Der ihr Halt gegeben hatte, als ihre Eltern starben. Der ihr durch die erste Schwangerschaft geholfen hatte. Der mit ihr das Haus gebaut hatte, jede Tapete ausgesucht, jedes Möbelstück mitgeschleppt hatte. Und jetzt? Er war noch da. Aber das Band zwischen ihnen – es war ausgeleiert. Brüchig.
Sie erinnerte sich an ihre ersten Küsse. An das Zittern, das sie dabei durchfuhr. Und fragte sich, wann genau dieses Zittern verschwunden war.
Freitag. Letzter Arbeitstag der Woche. Die Stimmung im Büro war entspannt. Einige planten schon fürs Wochenende, andere hatten sich für den Casual Friday in Jeans geworfen. Helena trug einen dunkelblauen Hosenanzug. Dezent. Elegant. Fast schon ein Schutzpanzer.
Sie saß über einer Kalkulation, als ein neues Projektbriefing im Intranet auftauchte. Betreff: Wettbewerbsentwurf "Rheinufer-Süd". Zuständig: Dr. Arendt und Helena Berendt.
Sie starrte auf die Anzeige. Nur sie beide.
Ihr Puls raste. Es war offiziell. Ein gemeinsames Projekt. Stunden intensiver Zusammenarbeit. Diskussionen. Abstimmungen. Nähe.
Kaum eine Minute später erhielt sie eine Nachricht. Kurz, knapp, wie immer:
Besprechung zum Projektstart. Heute 17:30 Uhr. Büro 3.17. – V.
Helena las die Nachricht mehrfach. Dann löschte sie sie sofort. Niemand durfte sie sehen. Nicht einmal sie selbst.
Der Tag verging in einem seltsamen Schwebezustand. Sie erledigte ihre Aufgaben mechanisch, nickte in Meetings, sprach über Budgetrahmen und Designvorgaben – doch alles war Hintergrundrauschen. Ihr Fokus lag auf 17:30 Uhr.
Als der Zeiger sich der vereinbarten Zeit näherte, blieb sie auf ihrem Platz sitzen, obwohl die meisten Kolleg:innen bereits ihre Sachen packten. Ihre Hände zitterten leicht. Sie wischte sich die Handflächen an der Hose trocken, atmete tief durch.
Dann stand sie auf und ging.
Büro 3.17 lag am Ende des Flurs, abseits der Hauptbüros. Es war ursprünglich als Rückzugsraum für kreative Arbeiten gedacht, wurde aber selten genutzt. Als sie die Tür öffnete, war der Raum schwach beleuchtet, die Jalousien halb geschlossen. Victor saß an einem der langen Tische, Skizzen und Pläne vor sich ausgebreitet.
„Kommen Sie rein“, sagte er, ohne aufzublicken.
Sie schloss die Tür hinter sich. Der Klang schien lauter, bedeutungsvoller als nötig.
„Setzen Sie sich. Möchten Sie Wasser oder Kaffee?“
„Nein, danke.“
Er sah sie an, lange. Dann deutete er auf die Pläne. „Wir haben drei Wochen Zeit. Der Wettbewerb ist anspruchsvoll. Viele Teilnehmer. Viel Prestige.“
Sie nickte. „Ich bin bereit.“
„Das weiß ich.“
Wieder diese Pause. Diese Momente, in denen nur Blicke sprachen. Sein Gesicht war ruhig, beherrscht. Aber seine Augen – sie glühten. Nicht vor Hitze, sondern vor Klarheit. Als wüssten sie längst, was unausgesprochen bleiben sollte.
Sie beugte sich über die Pläne. Er erklärte, zeigte, markierte Details mit einem Bleistift. Ihre Schultern berührten sich flüchtig. Ein Stromstoß. Sie hielt die Luft an.
„Sie riechen nach Jasmin“, sagte er plötzlich.
Helena erstarrte.
„Ihr Shampoo?“ fragte er, fast beiläufig.
„Ja … ich glaube.“
Er sah sie nicht an. Doch seine Stimme war weicher.
„Es passt zu Ihnen. Leicht. Aber intensiv.“
Sie sagte nichts. Konnte nichts sagen.
Er legte den Stift beiseite, schob die Pläne zur Seite. „Es wird nicht einfach, so weiterzuarbeiten.“
„Ich weiß.“
„Aber ich werde mich beherrschen.“
„Und wenn ich das nicht kann?“
Ein langer Blick. Ein offenes Geständnis.
„Dann wird einer von uns verletzt. Vielleicht beide.“
Sie schwieg.
Dann stand sie auf. Langsam. Zog die Schultern zurück. „Ich muss gehen. Die Kinder …“
Er nickte. „Natürlich.“
Sie ging zur Tür. Doch bevor sie sie öffnete, drehte sie sich um.
„Victor?“
„Ja?“
„Ich weiß nicht, wie ich das aufhalten soll.“
„Ich auch nicht.“
Sie ging. Doch diesmal war es schwerer denn je.
Am nächsten Morgen wachte Helena früher als sonst auf. Die Sonne drang in schrägen Bahnen durchs Schlafzimmerfenster, malte helle Streifen auf das weiße Laken. Tom schlief noch, mit dem Rücken zu ihr gedreht, sein Atem ruhig und tief. Sie sah ihn an – diesen Mann, der so viel mit ihr geteilt hatte und dem sie nun immer weniger zu sagen hatte.
Sie schlich sich aus dem Bett, zog sich leise an und ging nach unten in die Küche. Das Haus war still. Noch.
Mit einem heißen Kaffee in der Hand setzte sie sich an den Küchentisch, starrte in den Garten. Der Kirschbaum trug erste Früchte, das Gras war vom Morgentau noch feucht. Alles war so ... normal. So friedlich. Und doch tobte in ihr ein Sturm.
Sie dachte an Victor. An sein Gesicht, als er sagte, er könne sich beherrschen. An den Ausdruck in seinen Augen, als sie ging. So viel Kontrolle – und doch so viel Gefühl. Es war nicht nur eine Affäre, keine bloße Begierde. Zumindest fühlte es sich nicht so an.
Sie erschrak bei dem Gedanken. Was war es dann?
Liebe?
Die Kaffeemaschine piepte. Ein Zeichen, zurück in die Realität zu kehren. Helena atmete tief durch, als die ersten Schritte im Obergeschoss zu hören waren. Emma war aufgewacht.
Später, beim Frühstück, lief alles wie gewohnt. Paul schimpfte über die Cornflakes, Tom las Zeitung, Emma malte mit Marmelade Gesichter auf ihr Brot. Helena lachte, zumindest für den Moment. Sie spielte ihre Rolle gut. Zu gut.
Am Nachmittag rief ihre Freundin Carla an. „Lust auf einen Spaziergang? Ich muss raus aus diesem Haus.“
Helena überlegte kurz. „Gerne. In einer Stunde?“
Sie trafen sich im Stadtpark. Carla trug ein weites Sommerkleid, ihre Haare waren zu einem zerzausten Dutt hochgesteckt. „Wie läuft’s bei dir?“, fragte sie, kaum dass sie losgelaufen waren.
Helena zuckte mit den Schultern. „Viel Arbeit.“
„Und sonst?“
Sie schwieg. Wie konnte sie ihrer besten Freundin sagen, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte? In ihren Chef? Dass sie jeden Morgen mit Schuldgefühl aufwachte – und mit Sehnsucht schlafen ging?
„Tom ist distanziert. Ich auch. Irgendwie ... ist alles eingefroren.“
Carla nickte. „Kinder, Alltag, Verantwortung – das frisst auf Dauer alles auf. Manchmal denke ich, man müsste alles hinschmeißen und ganz von vorne anfangen.“
Helena sah sie an. „Glaubst du, das geht?“
„Vielleicht nicht in der Realität. Aber im Herzen schon.“
Als sie sich später verabschiedeten, drückte Carla sie länger als sonst. „Du wirkst so ... zerrissen. Wenn du reden willst – ich bin da.“
Helena lächelte schwach. „Danke.“
Am Abend, als alle schliefen, lag Helena wach. Ihre Gedanken kreisten. Sie stand schließlich auf, ging leise die Treppe hinunter, setzte sich ins Wohnzimmer. Der Mond stand hoch, warf silberne Schatten durchs Fenster. Sie nahm ihr Handy, öffnete den Messenger.
Ein neues Projekt. Eine neue Chance. Eine neue Entscheidung.
Nach kurzem Zögern schrieb sie:
Ich kann nicht mehr so tun, als wäre nichts. – H.
Sie las die Nachricht dreimal. Dann löschte sie sie.
Stattdessen öffnete sie die Pläne für das Rheinufer-Projekt auf dem Laptop. Ihre Finger glitten über die Linien, die Kurven, die Entwürfe. Und immer wieder dachte sie: Würde ich das auch sehen, wenn Victor nicht beteiligt wäre? Oder ist es nur sein Blick, der all dem Bedeutung gibt?
Sie arbeitete bis tief in die Nacht. Nicht, weil sie musste. Sondern weil sie nicht schlafen konnte. Weil es einfacher war, über Architekturen nachzudenken als über ihr Leben.
Am nächsten Tag schickte Victor ihr eine E-Mail. Sachlich. Geschäftlich. Kein Wort zu ihrem Gespräch, zu ihren Blicken. Und doch spürte sie seine Präsenz zwischen jeder Zeile.
Sehr geehrte Frau Berendt,
vielen Dank für die erste Sichtung der Entwürfe. Ich schlage vor, dass wir am Montag ab 14 Uhr gemeinsam an den Anpassungen arbeiten. Bitte bringen Sie Ihre Skizzen mit.
Beste Grüße, Dr. Victor Arendt
Helena las die Mail mehrfach. Ihre Finger schwebten über der Tastatur, bevor sie antwortete:
Sehr geehrter Dr. Arendt,
ich bestätige den Termin. Skizzen bringe ich mit.
Mit freundlichen Grüßen, H. Berendt
So kühl. So korrekt. Und doch spannte sich ihr ganzer Körper vor Erwartung.
Montag würde kommen. Und mit ihm ein weiterer Schritt in eine Richtung, die sie selbst nicht mehr stoppen konnte.
Montag. Der Tag, an dem Helena mit einem Gefühl aufwachte, das sie nicht genau benennen konnte. Es war keine Angst, keine reine Vorfreude – eher eine elektrisierte Mischung aus beidem. Als würde jede Faser ihres Körpers wissen, dass heute etwas geschehen würde.
Tom war bereits aufgestanden, die Kinder tobten im Badezimmer. Helena schlich sich ins Schlafzimmer zurück, warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sie hatte ein schlichtes, aber elegantes Kleid gewählt – dunkelgrün, tailliert, nicht zu auffällig, aber auch nicht beliebig. Ihre Haare hatte sie glatt zurückgebunden, dezent geschminkt. Als sie das Haus verließ, fühlte sie sich nicht wie Helena, die Mutter, die Ehefrau, sondern wie Helena, die Frau. Die begehrenswerte Frau.
Im Büro angekommen, versuchte sie sich ganz auf ihre Aufgaben zu konzentrieren, doch ihr Blick wanderte immer wieder zur Uhr. 10:14 Uhr. Noch vier Stunden.
Sie trank zwei Kaffee, führte ein Telefonat mit einem Projektleiter in Stuttgart, schrieb drei E-Mails, korrigierte eine Exceltabelle – und plötzlich war es 13:52 Uhr.
Sie griff nach ihrer Skizzentasche, atmete tief durch und ging los.
Büro 3.17 war wie beim letzten Mal ruhig, fast abgeschottet. Als sie ankam, stand die Tür schon offen. Victor war da. Er blickte auf, als sie eintrat, und für einen Moment war die Atmosphäre wie aufgeladen. Kein Wort fiel. Nur ein Nicken. Doch es sagte mehr als jede Begrüßung.
„Sie sind pünktlich“, sagte er schließlich, während er einen zweiten Stuhl zurechtrückte.
„Ich bin gespannt, wie wir die Uferlinie besser integrieren können.“
Sein Mund zuckte leicht. Ein halbes Lächeln. „Dann legen wir los.“
Sie arbeiteten konzentriert. Tatsächlich. Zwei Stunden lang analysierten sie Entwürfe, verglichen Referenzprojekte, diskutierten über Proportionen, Materialien, Lichtachsen. Es war, als würden sie perfekt ineinandergreifen – zwei Gedanken, ein Ziel. Und doch schwang in jedem Blick, jeder Bewegung ein unausgesprochenes Mehr mit.
Um 16:30 Uhr legte Victor den Bleistift zur Seite. „Wollen Sie eine kurze Pause machen?“
„Gerne.“
Er reichte ihr eine Wasserflasche, lehnte sich zurück. „Sie haben ein gutes Auge. Ihr Entwurf zur Uferpromenade ist klar, aber sensibel. Ich habe selten jemanden erlebt, der Emotion so klar in Struktur überführen kann.“
Helena errötete. „Vielleicht, weil ich manchmal mehr fühle, als ich zeigen darf.“
Er sah sie lange an. „Darin ähneln wir uns.“
Ein Moment der Stille. Kein Fluchtweg. Kein Ablenkungsmanöver.
„Ich habe Ihre Nachricht gelesen. Oder besser: Ich habe gespürt, dass Sie sie schreiben wollten.“
Helena atmete flach. „Ich habe sie gelöscht.“
„Aber sie war da.“
„Ja.“
Er stand auf, ging langsam zum Fenster, öffnete es einen Spalt. Die warme Luft des frühen Nachmittags strömte herein. Dann drehte er sich zu ihr um. „Wenn ich Sie berühre, gibt es kein Zurück.“
„Ich weiß.“
„Und doch bin ich jeden Tag kurz davor.“
Sie stand ebenfalls auf. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihrer Rocknaht.
„Warum tust du es dann nicht?“
Er trat näher. Nur ein halber Schritt. Aber genug, dass sie seinen Atem spürte. „Weil ich dich nicht zerstören will.“
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Und wenn ich es schon bin?“
Er legte eine Hand an ihre Wange. Leicht. Fast nicht spürbar. Doch Helena schloss die Augen, als wäre es der erste echte Kontakt seit Jahren. Ihr Körper drängte sich dieser Hand entgegen, suchte Nähe, Wärme, Wahrheit.
„Du hast etwas in mir geweckt, das ich verloren glaubte“, flüsterte er.
Ihre Lippen bebten. „Ich auch.“
Dann – ein Schritt zurück. So plötzlich, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. Er trat an den Tisch, nahm seine Brille, setzte sie auf.