Verloren in der Schule - Ross W. Greene - E-Book

Verloren in der Schule E-Book

Ross W. Greene

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Beschreibung

Strafarbeiten, Nachsitzen, Verweise - die üblichen Strategien zur Disziplinierung von schwierigen Kindern und Jugendlichen in unseren Schulen haben ein zentrales Manko: Sie funktionieren nur begrenzt oder gar nicht. Basierend auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften entwickelt Ross W. Greene einen neuen Ansatz, wie Eltern und Lehrer besser mit herausfordernden Kindern umgehen können. Greene legt anschaulich dar, dass manipulierendes, störendes oder destruktives Verhalten von Kindern in der Schule hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass ihnen die entscheidenden Fähigkeiten für angepasstes Verhalten fehlen. Ross W. Greene zeigt Eltern und Lehrern einen praktischen und einleuchtenden Weg, wie sie konstruktiv mit herausforderndem Verhalten umgehen können - bevor Kinder durchs Raster fallen. Die zweite Auflage wurde überarbeitet und aktualisiert: Es wurde unter anderem das Beurteilungsinstrument des in diesem Buch beschriebenen Modells überarbeitet und mit umfangreicheren Hilfestellungen für seine Anwendung versehen, zudem finden sich neue Vorgaben zum schriftlichen Formulieren ungelöster Probleme sowie Strategien zum "Nachbohren", die Betreuungspersonen durch den Prozess der Informationsbeschaffung führen.

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Seitenzahl: 537

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Verloren in der Schule

Ross W. Greene

Ross W. Greene

Verloren in der Schule

Wie wir herausfordernden Kindern helfen können

2., überarbeitete AuflageAus dem amerikanischen Englisch von Karin Beifuss und Angelika Pfaller

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien und Vervielfältigungen zu Lehr- und Unterrichtszwecken, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.hogrefe.ch

 

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Herstellung: Daniel Berger

Umschlagabbildung: Getty images/Flying colours Ltd

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s. r. o., Český Těšín

Printed in Czech Republic

 

German Translation Copyright © 2019 by Hogrefe AG

„Lost in School – Why Our Kids with Behavioral Challenges Are Falling Through the Cracks and How We Can Help Them“. © by Ross W. Greene.

All Rights Reserved.

Published by arrangement with the original publisher, Scribner, a Division of Simon & Schuster, Inc.

 

2., überarbeitete Auflage 2019

© 2019 Hogrefe AG, Bern

© 2012 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

 

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95980-1)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75980-7)

ISBN 978-3-456-85980-4

http://doi.org/10.1024/85980-000

Viele von uns haben Lehrer gehabt, an die sie sich gern als Menschen erinnern, die an sie geglaubt und die ihnen geholfen haben, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen. Dieses Buch ist meinem Lehrer Marshall Stearns gewidmet, der mich 1968 an der North Miami Elementary School in der 6. Klasse unterrichtete.

Nutzungsbedingungen

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audio­dateien.

Anmerkung

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur überarbeiteten und aktualisierten Auflage
Einführung
1 Die harte Schule des Lebens
2 Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie können
3 Von Plänen lernen
4 Packen wir’s an
5 Stolpersteine
6 Das Sahnehäubchen
7 Gedankenaustausch
8 Eine Schule wandelt sich
9 Es stehen Leben auf dem Spiel
Anhang
Fragebogen zur Beurteilung von Kompetenzdefiziten und ungelösten Problemen (ALSUP; Version 11-12-12)
Plan für das Problemlösen (Flussidagramm zum Plan B)
Spickzettel für das Nachbohren
Literaturverzeichnis
Zitierte Bücher und weitere Lektüreempfehlungen
Danksagungen
Über den Autor

I hope that someday we will learn the terrible cost we all pay when we ignore or mismanage those people in society who most need our help.

Sandra Hamilton, Ehrenwerte Richterin am Amtsgericht Alberta, Kanada

The finest hour I have seen

Is the one that comes between

The edge of night and the break of day …

It’s when the darkness rolls away.

Kate Wolf (Songschreiberin), in „Across the Great Divide“

Vorwort zur überarbeiteten und aktualisierten Auflage

Herzlich willkommen zur überarbeiteten und aktualisierten Auflage von Verloren in der Schule. Seit seiner ersten Veröffentlichung haben mir zahllose Eltern und Lehrer davon berichtet, wie ihnen das Buch geholfen hat, die Schwierigkeiten von verhaltensauffälligen Schülern aus einer verständnisvolleren, treffenderen und produktiveren Perspektive zu betrachten. Es freut mich, dass viele solcher Schüler nun von einer ihnen gegenüber aufgeschlossenen, nicht strafenden, proaktiven, kollaborativen und beziehungsfördernden Betreuung profitieren.

Das in diesem Buch beschriebene Modell, das nun Kollaborative und Proaktive Lösungen (KPL) genannt wird, entwickelt sich weiter, und diese neue Auflage berücksichtigt alle seit 2009 vorgenommenen Änderungen und Verbesserungen. Hier einige der wichtigsten Punkte: Der ALSUP-Bogen (Akronym für Assessment of Lagging Skills and Unsolved Problems), das zentrale Beurteilungsinstrument im KPL-Modell, wurde überarbeitet, und das Buch enthält jetzt viel umfangreichere Hilfestellungen für seine Anwendung. Wie sich herausgestellt hat, spielt die Formulierung der ungelösten Probleme eine entscheidende Rolle dafür, ob sich die Schüler selbst am Problemlösungsprozess beteiligen. Wenn ein ungelöstes Problem auf auffälliges Verhalten des Schülers zurückgeführt wird, wenn es Theorien der Erwachsenen über die Ursache für die Probleme des Schülers enthält und wenn es zu breit oder zu vage gefasst ist, besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass der Schüler sich am Lösungsprozess beteiligt. Sie werden in der Neuauflage daher neue Vorgaben zum schriftlichen Formulieren der ungelösten Probleme finden. Wenn Sie sich an diese Vorgaben halten, können Sie die Wahrscheinlichkeit einer Beteiligung des Schülers am Lösungsprozess deutlich steigern.

Es hat sich außerdem herausgestellt, dass die Betreuungspersonen mehr Anleitung dafür benötigen, wie Probleme gemeinsam gelöst werden können. Viele haben Schwierigkeiten dabei, von den Schülern Informationen über ihre Anliegen in Bezug auf bestimmte ungelöste Probleme einzuholen. In dieser neuen Auflage werden Sie deshalb Strategien zum „Nachbohren“ finden, die Sie durch den Prozess der Informationsbeschaffung führen. Außerdem werden Sie mehr Informationen darüber finden, wie Sie die Anliegen der Erwachsenen zum Ausdruck bringen und mit den Kindern beim Zusammentragen und Auswählen realistischer, für beide Seiten zufriedenstellender Lösungen zusammenarbeiten können.

Soweit die Formalitäten, die durchaus wichtig sind. Aber noch viel wichtiger ist das Gesamtbild. Leider leben wir in einer Zeit, in der sich viele Lehrer wie Prüfungsvorbereitungsroboter fühlen, sie von Schulleistungsmessungen vereinnahmt und der Ansicht sind, es sei zu zeitaufwendig, Probleme zu lösen und helfende Beziehungen zu ihren Schülern aufzubauen. Doch die erschreckende Zahl tragischer Schießereien an Schulen und die zunehmende Anzahl desillusionierter, entrechteter und gefährdeter Schüler gibt uns zu verstehen, dass da etwas komplett falsch läuft … etwas, gegen das Verhaftungen, Suspendierungen, Schulverweise, Metalldetektoren und verstärkte Polizeipräsenz an Schulen nichts ausrichten werden können. Noch nie war es so wichtig wie heute, positive Beziehungen zu den Kindern aufzubauen, sicherzustellen, dass die Kommunikationswege offen sind, und die Probleme zu lösen, die zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten beitragen. Ja, Lehrpläne sind äußerst wichtig, doch entscheidend ist es, zu den beiden wesentlichen Funktionen zurückzukehren, welche Erzieher immer im Leben der Kinder innehatten: Helfer und Problemlöser. Ich hoffe, dass dieses Buch weiterhin als Anleitung dafür dient, die Dinge in diese Richtung zu lenken. Mit den Worten des berühmten Propheten: Wenn nicht jetzt, wann dann?

 

Ross Greene

Portland, Maine

Einführung

Was für eine Tragik, wenn menschliches Potenzial verschwendet wird! Und doch gibt es immer noch viele Schulen, in denen Kinder mit sozialen, emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten ungenügend verstanden und auf eine Weise behandelt werden, die völlig im Widerspruch dazu steht, was wir heute über die Gründe für diese Auffälligkeiten wissen. Unter Lehrern und Eltern herrschen spürbare Frustration und Verzweiflung. Viele Lehrer, die tagtäglich einem ungeheuren Stress ausgesetzt sind, der mit Verhaltensproblemen im Klassenzimmer und dem Umgang mit betroffenen Eltern in Zusammenhang steht, erhalten nicht die Unterstützung, die sie benötigen, um ihren verhaltensauffälligen Schülern helfen zu können. Die Hälfte der Lehrer gibt ihren Beruf innerhalb der ersten vier Jahre auf und nennt als einen der Hauptgründe für diesen Schritt verhaltensauffällige Kinder und ihre Eltern.1 Eltern wissen, dass ihre Kinder Ärger in der Schule haben, und sie wissen, dass man ihnen die Schuld dafür gibt. Sie haben das Gefühl, dass ihre Kinder missverstanden und falsch behandelt werden, sehen sich aber außerstande, einen Beitrag zur Verbesserung dieser Situation zu leisten. Zudem sind sie durch das, was sie mit den Schulmitarbeitern erleben, entmutigt und abgeschreckt.

Es gibt keine Schuldisziplin mehr. Die Daumenschrauben anzuziehen hat nicht funktioniert. Das dürfte aber kaum überraschen. Eine Arbeitsgruppe der American Psychological Association ist jüngst zu dem Schluss gekommen, dass Nulltoleranzstrategien, die Gewalt und Verhaltensprobleme in unseren Schulen reduzieren sollten, genau den gegenteiligen Effekt haben. Wie in einem Übersichtsartikel über die Forschung der letzten zehn Jahre auf diesem Gebiet festgestellt wurde, ist es nicht gelungen, die Sicherheit an unseren Schulen und die Effektivität im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern durch diese Strategien zu verbessern. Verhaltensprobleme und Schulabbruchraten haben sogar zugenommen.2 Noch immer werden in den Vereinigten Staaten an den staatlichen Grund- und weiterführenden Schulen jedes Jahr sage und schreibe 230 000 Schläge ausgeteilt, 110 000 Schulverweise erteilt und drei Millionen Suspendierungen verhängt, abgesehen von zig Millionen Fällen von Nachsitzen.3

Hinter diesen Zahlen, hinter jedem Schlag, jedem Schulverweis, jeder Suspendierung und jedem Nachsitzen stehen menschliche Wesen – Kinder, Lehrer und Eltern –, die angesichts der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ihr Bestes geben. Um ihnen allen zu helfen, bedarf es drastischer Veränderungen. Und meine Erfahrungen sagen mir, dass diese Veränderungen weniger schmerzhaft und schwierig sein werden, als viele es befürchten. Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher und dabei weiterhin Kinder verlieren – in einem Ausmaß, das wahrlich erschreckend ist. In diesem Buch geht es darum, es anders zu machen.

Ich habe jedes Jahr mit Hunderten von verhaltensauffälligen Kindern zu tun. Nichts wäre diesen Kindern lieber, als die Anforderungen im sozialen, im emotionalen und im Verhaltensbereich, die in der Schule und im Leben an sie gestellt werden, in den Griff zu bekommen, aber das können sie anscheinend nicht . Viele von ihnen haben schon so lange Schwierigkeiten, dass sie den Glauben daran, dass irgendeinem Erwachsenen vielleicht einfällt, wie er ihnen helfen könnte, inzwischen wohl verloren haben.

Ich arbeite auch jedes Jahr mit Hunderten von Lehrern zusammen. Der überwältigenden Mehrheit von ihnen liegen Kinder wirklich sehr am Herzen, und sie widmen denen, die sie unterrichten, ungeheuer viel Zeit und Energie. Doch die meisten geben auch bereitwillig zu, dass dem Verständnis und der Unterstützung von verhaltensauffälligen Kindern in ihrer eigenen Ausbildung kein großer Stellenwert beigemessen wurde und sie bei einigen ihrer Schüler und deren Eltern ernstzunehmende Hilfe gut gebrauchen könnten. Und die meisten sind so von ihren täglichen Lehrverpflichtungen und all den neuen Initiativen, die ihnen aufgebürdet werden, in Anspruch genommen, dass sie einfach keine Zeit haben, darüber nachzudenken, wie sie den verhaltensauffälligen Kindern in ihren Klassen besser helfen können.

Schließlich arbeite ich jedes Jahr auch mit Hunderten von Eltern verhaltensauffälliger Kinder zusammen. Die meisten von ihnen sind nur allzu gern bereit, die Lehrer hinsichtlich der Verhaltensprobleme ihrer Kinder effektiv und teilnahmsvoll zu unterstützen, sie wissen aber nicht , wie sie das anstellen sollen.

Vor fünfzehn Jahren habe ich unter dem Titel Das explosive Kind ein Buch veröffentlicht, das in erster Linie an die Eltern gerichtet war. Seit damals wurde das Modell, das ich in diesem Buch beschrieben und jetzt in KollaborativeundProaktiveLösungen (KPL) umbenannt habe, nicht nur in Tausenden von Haushalten, sondern auch in Dutzenden von stationären psychiatrischen Einrichtungen, in der stationären Jugendhilfe, in Jugendstrafanstalten und in allgemeinen sowie sonderpädagogischen Schulen eingeführt. Und dabei wurde deutlich, dass dringend ein Buch nötig war, in dem dargelegt wird, wie das KPL-Modell in Schulen angewendet werden kann.

Nun wissen Sie, warum und für wen ich dieses Buch geschrieben habe. Lassen Sie mich nun ein wenig über das Wie erzählen.

Kindern mit sozialen, emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten zu helfen ist keine mechanische Übung. Kinder sind keine Roboter, und auch Erwachsene sind keine Roboter, und sie bei ihrer Zusammenarbeit zu unterstützen ist ebenfalls keine roboterhafte Tätigkeit. Es ist harte, knifflige und unbequeme Arbeit, die Teamwork, Geduld und Ausdauer verlangt, zumal sie auch die Infragestellung herkömmlicher Erfahrungen und Praktiken beinhaltet. Dieses Buch enthält umfangreiches Material und zahlreiche Beispiele, die Ihnen helfen sollen, verhaltensauffällige Kinder besser zu verstehen, das KPL-Modell zu implementieren und partnerschaftlich (kollaborativ) auf das gemeinsame Ziel hinzuarbeiten, das darin besteht, diese Kinder wirksamer zu unterstützen.

Zudem gibt es in diesem Buch eine Fortsetzungsgeschichte, in deren Mittelpunkt einige verhaltensauffällige Kinder, ihre Lehrer und Eltern sowie die Leiter ihrer Schule stehen … und ihre chaotischen, unbequemen, gemeinsamen Versuche, die Dinge zum Besseren zu wenden. Diese Fortsetzungsgeschichte verfolgt mehrere Zwecke. Erstens bringt sie uns von der Idee rasch zur Wirklichkeit, wie sie uns in der Praxis begegnet. Zweitens hilft sie uns, die Anforderungen, Belastungen, Stressoren, Zweifel, Hindernisse und Ängste aller betroffenen Personenkreise mit Leben zu füllen. Drittens gibt sie dem Leser die richtigen Worte und Äußerungen an die Hand, die er unter jeweils verschiedenen Bedingungen einsetzen kann. Denn oft sagen die Leute: „Ich verstehe das KPL-Modell ja, aber ich muss wissen, wie es tatsächlich eingesetzt aussieht und sich anhört!“ oder: „Ich muss erst noch ein Gefühl für die Sprache des KPL-Modells bekommen.“ Und sie fragen: „Ist die Annahme, dass eine ganze Schule das Modell umsetzen kann, wirklich realistisch?“ Zu diesem Zweck enthält die Geschichte eine Fülle von Beispielen und Dialogen, die direkt aus dem Leben gegriffen sind.

Alle vorkommenden Charaktere basieren auf tatsächlich existierenden Pädagogen, Eltern und Kindern, die ich gekannt und mit denen ich gearbeitet habe; ich beschreibe die wirklichen Herausforderungen, die sie zu überwinden hatten, und wie sie das geschafft haben. Einige Charaktere stellen Mischungen verschiedener Personen dar, und natürlich wurden Namen und andere persönliche Angaben geändert, um die Identität der Betroffenen zu schützen. Ich hätte die Charaktere auch im bestmöglichen Licht präsentieren können, doch dann wären sie nicht mehr authentisch gewesen. So verkörpert die Schulleiterin in unserer Geschichte beispielsweise auch nicht alle Schulleiter; sie ist eben die Leiterin der Schule in dieser Geschichte. Dasselbe gilt natürlich für die Kinder, die Eltern, die Lehrer und all die anderen Charaktere. Es sind weder Stereotype, noch sind sie als Repräsentanten ihrer Gruppen gedacht. Es sind lediglich Charaktere, die ich ausgewählt habe, um die Schwierigkeiten und die komplexen Prozesse demonstrieren zu können, die dem Wandel der Disziplinarkultur in Klassenzimmer und Schule innewohnen.

Ich wollte mich auch nicht auf einen bestimmten Schultyp festlegen. Es handelt sich eindeutig um eine staatliche Schule, und ein Großteil der Handlungen spielt in der sechsten Klassenstufe. Auch was die jeweilige Klasse, die ethnischen Hintergründe und den sozioökonomischen Status der Schülerpopulation betrifft, bin ich absichtlich vage geblieben. Und selbst wenn diese Details am Rande manchmal eine Rolle spielen mögen, haben sie doch keinen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse, wenn das KPL-Modell angewendet wird. Der einfacheren Darstellung halber halte ich mich bei den verhaltensauffälligen Kindern meist an das männliche Geschlecht, obwohl auch viele Mädchen in der Schule auffälliges Verhalten zeigen. Und auch wenn das Buch von Kindern mit sozialen,emotionalenundVerhaltensauffälligkeitenhandelt, beziehe ich mich mit den Begriffen Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und (obwohl ich mich bemühe, die Person an erste Stelle zu setzen) verhaltensauffällige Kinder, die ich in diesem Buch benutze, auf alle drei Bereiche. An verschiedenen Stellen im Text gehe ich auch auf die Arbeiten anderer Autoren ein; Angaben zu diesen Quellen finden Sie in einem gesonderten Abschnitt am Ende des Buchs.

In diesem Buch geht es nicht um schulische Leistungen. Im pädagogischen Bereich gibt es zahlreiche Initiativen, die sicherstellen sollen, dass der schulische Informationsbedarf von Kindern gedeckt wird. Dieses Buch handelt von Kindern, die von diesen Initiativen unverständlicherweise im Stich gelassen werden. In diesem Buch werden die Lehrer weder kritisiert noch angeklagt. Und auch nicht die Kinder oder ihre Eltern. Es geht darum, dass drastische Veränderungen an einem System vollzogen werden müssen, das weder aus der Sicht der Lehrer und Eltern noch der verhaltensauffälligen Kinder funktioniert, und wie diese Veränderungen bewerkstelligt werden können. Dazu bedarf es dreier massiver Veränderungen: (1) einer deutlichen Verbesserung unseres Verständnisses der Faktoren, die den Nährboden für Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern bilden; (2) der Schaffung von vorwiegend proaktiven statt reaktiven Mechanismen, die diesen Kindern helfen können, und (3) der Bereitstellung von Prozessen, die ein partnerschaftliches (kollaboratives) Herangehen an Probleme be­günstigen.

Verschiedene Leser werden aus diesem Buch verschiedene Dinge mitnehmen. Für einige wird die Tatsache ein Novum sein, dass auffälliges Verhalten auf unzureichend entwickelte kognitive Fertigkeiten zurückzuführen ist. Anderen werden die Augen durch die Grenzen geöffnet, die der Ahndung von Fehlverhalten durch Konsequenzen innewohnen. Wieder andere werden die speziellen Bestandteile des KPL-Modells erhellend finden und wie sie sich von anderen Möglichkeiten des Gesprächs mit verhaltensauffälligen Kindern und ihrer Betreuung unterscheiden (und oftmals auch produktiver sind als diese). Und nochmals anderen – vielleicht denjenigen, die mit der Zeit abgestumpft oder zynisch geworden sind – wird dieses Buch eine neue Perspektive eröffnen und neue Hoffnung geben.

Wie immer, wenn man aus einer Lektüre das Optimum herausholen will, gilt auch hier: Die wichtigsten Voraussetzungen sind Unvoreingenommenheit und Vorstellungskraft.

Kapitel 1Die harte Schule des Lebens

Es war Anfang Oktober, und die Schüler in Frau Schmitts 6. Klasse arbeiteten fleißig an einem Gemeinschaftskundeprojekt – alle außer Adrian. Frau Schmitt hatte schon verschiedentlich Probleme mit ihm gehabt, vor allem, was seine Mitarbeit bei Klassenprojekten betraf. Dass Adrian eindeutig nicht an seiner Gemeinschaftskundeaufgabe arbeitete, war unangenehm genug; als er nun aber auch noch zwei Mitschüler ablenkte, sah Frau Schmitt sich zum Eingreifen gezwungen und ging zu seinem Tisch hinüber.

„Adrian, gibt es ein Problem?“, flüsterte Frau Schmitt ihm zu. „Du störst nämlich deine Nachbarn.“

Adrian sah seine Lehrerin an. „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“

„Adrian, die Arbeitsanweisungen stehen an der Tafel. Warum weißt du dann nicht, was du machen sollst?“

Die beiden Schüler, die neben Adrian saßen, kicherten.

„Ich weiß es eben nicht!“

Inzwischen sahen schon die meisten Schüler zu ihnen hinüber.

„Zurück an die Arbeit, alle!“, ließ sich Frau Schmitt vernehmen und wandte sich wieder Adrian zu: „Adrian, lass uns an meinem Pult darüber reden, damit wir deine Mitschüler nicht stören.“ Sie begann nach vorn zu gehen, doch Adrian rührte sich nicht vom Fleck. Frau Schmitt drehte sich wieder um.

„Adrian, komm bitte nach vorn an mein Pult.“

„Ganz bestimmt nicht“, murmelte Adrian vor sich hin, doch laut genug, um erneut die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler auf sich zu lenken.

„Wie bitte?“

Adrian wurde rot. „Ich komme nicht nach vorn.“

Jetzt wartete die ganze Klasse gespannt auf die Reaktion der Lehrerin.

„Adrian, wenn du nicht augenblicklich nach vorn kommst, muss ich dich zu Herrn Mittelstedt schicken.“

„Da gehe ich auch nicht hin.“

„Adrian, komm sofort hierher!“

„Ich denke gar nicht daran.“

Frau Schmitt ging zu einer der Schülerinnen hinüber, die in der Nähe der Tür saßen: „Hannah, geh bitte ins Sekretariat und richte Frau Westermann aus, dass wir hier in der Klasse ein Problem haben und dass Herr Mittel­stedt unbedingt herkommen soll.“ Frau Schmitt hoffte, die Drohung mit dem stellvertretenden Schulleiter würde Adrian dazu bewegen, seine Haltung noch einmal zu überdenken.

Pflichtbewusst sprang Hannah von ihrem Stuhl auf und lief ins Sekretariat. Frau Schmitt stellte sich im Gang auf und wandte sich an die übrigen Schülerinnen und Schüler. „Ich möchte das nicht noch einmal sagen müssen: Macht euch wieder an eure Aufgaben.“

„Was gibt es?“, fragte Herr Mittelstedt, als er – ein wenig außer Atem – ankam. Herr Mittelstedt war seit zwölf Jahren stellvertretender Schul­leiter (und hatte davor 16 Jahre lang Naturwissenschaften unterrichtet); im Kollegium war er als sympathischer, ausgeglichener Mensch be­­kannt.

„Adrian hat die Klasse gestört, also habe ich ihn gebeten, nach vorn zu kommen. Er hat sich geweigert. Daraufhin habe ich ihn aufgefordert, sich in Ihr Büro zu begeben, was er ebenfalls abgelehnt hat. Und da sitzt er nun.“ Frau Schmitt zeigte in Adrians Richtung.

Herr Mittelstedt blickte über den Rand seiner Brille hinweg in die Klasse.

„Mal sehen, was ich ausrichten kann.“

Er ging zu Adrian hinüber, beugte sich zu ihm und sagte freundlich: „Adrian, ich höre, wir haben hier ein Problem. Warum sprechen wir nicht in meinem Büro darüber?“

Da explodierte Adrian. Er sprang von seinem Stuhl auf, wobei er mit seinem Kopf Herrn Mittelstedts Unterkiefer traf. „Ich komme ganz bestimmt nicht mit in Ihr verdammtes Büro!“, schrie er und rannte zur Tür. Die anderen Schüler hielten den Atem an. Von dem Schlag gegen seinen Kiefer noch ganz benommen, versuchte Herr Mittelstedt, Adrian festzuhalten. Vergeblich. Adrian schubste Frau Schmitt beiseite und schrie: „Ich hasse euch wie die Pest!“ Als er an Hannahs Pult vorbeikam, platzte er heraus: „Und dich mach ich kalt!“ Hannah sprang zurück, während Adrian aus dem Klassenzimmer stürzte.

Er lief den Gang hinunter, der zum vorderen Schuleingang führte, und aus dem Gebäude hinaus, wobei er von Herrn Mittelstedt verfolgt wurde. Als Herr Mittelstedt am Rektorat vorbeikam, rief er der Sekretärin, Frau Westermann, zu: „Holen Sie Frau König!“ Frau Westermann eilte in das Büro von Frau König, der Schulleiterin, um ihr zu sagen, dass Adrian das Schulgebäude gerade verlassen hatte und Herr Mittelstedt ihm auf den Fersen war. Frau König stürzte aus ihrem Büro und nahm nun ihrerseits die Verfolgung der beiden auf. Herr Seiffert, einer der Sportlehrer, hörte vom Kopierraum aus die Aufregung und sprintete ebenfalls hinter Adrian her.

Herr Mittelstedt und Herr Seiffert fanden Adrian auf dem Schulparkplatz, hinter einem Auto versteckt, und brachten ihn gewaltsam wieder in das Schulgebäude zurück.

Die beiden Männer verfrachteten Adrian in Frau Königs Büro in einen Sessel. „Rufen Sie seine Mutter an“, wies Frau König, als sie schwer atmend in ihr Büro zurückkehrte, die Schulsekretärin an.

Dann sah sie Adrian, der noch immer von Herrn Seiffert und Herrn Mittelstedt festgehalten wurde, streng an. „Wirst du in diesem Sessel sitzen bleiben, auch ohne dass die beiden dich festhalten?“

Adrian kämpfte gegen den festen Griff der beiden Männer an. „Sagen Sie diesen Fieslingen, sie sollen mich loslassen.“

„Sie werden dich loslassen, wenn du dich beruhigst und mir versprichst, dort sitzen zu bleiben, bis deine Mutter kommt.“

Adrian, der ganz rot im Gesicht angelaufen war, versuchte, sich dem Griff der beiden Männer zu entziehen; die Tränen strömten nur so über sein Gesicht. „Sagen Sie Ihnen, sie sollen mich loslassen!“

Frau König war noch immer ganz außer Atem. „Sie werden dich loslassen, wenn du dich beruhigst. Ein solches Benehmen wird hier an unserer Schule nicht geduldet.“

Adrian kämpfte noch immer gegen die beiden Männer. „Jetzt beruhig’ dich doch, Adrian“, versuchte Herr Mittelstedt ihn trotz der Schmerzen in seinem Kiefer zu besänftigen.

„Leck mich!“, erwiderte Adrian, setzte sich nun aber schon nicht mehr ganz so heftig zur Wehr.

„Adrian, auch diese Ausdrucksweise und diesen Tonfall dulden wir an unserer Schule nicht“, ermahnte ihn Frau König.

„Sie können mich auch mal!“, erwiderte Adrian und starrte seine Schulleiterin an. Seine Gegenwehr hatte weiter nachgelassen.

„Komm schon, Adrian, entspann dich“, sagte Herr Mittelstedt. „Ich habe keine Lust, dich festzuhalten.“

„Dann lassen Sie mich doch los!“ Adrian schäumte vor Wut. „Mein Arm tut schon ganz weh.“

„Wir wollen dir nicht weh tun“, meinte Herr Mittelstedt, „aber wir können es nicht zulassen, dass du wieder aus der Schule rennst. Das ist gefährlich. Bitte beruhig’ dich doch, damit wir dich loslassen können.“

Zehn Minuten später erschien Frau Liebertz, Adrians Mutter: „Was ist hier los?“, wollte sie ganz außer Atem wissen.

„Die haben mir weh getan“, rief Adrian und funkelte Frau König an.

Frau Liebertz warf einen Blick auf Adrians Arme, sah dann Frau König an und verlangte eine Erklärung. Frau König war eine Beamtin, die gern Tacheles redete und sich etwas darauf zugutehielt, dass sie ihren Laden fest im Griff hatte und dafür sorgte, dass die ihr anvertrauten Kinder eine gute Schulausbildung erhielten.

„Er hat eine seiner Mitschülerinnen bedroht“, erwiderte die Schulleiterin. „Das ist einfach nicht tragbar. Anschließend hat er das Schulgebäude unerlaubt verlassen und musste unter Einsatz körperlicher Gewalt in die Schule zurückgebracht werden. Deshalb sind seine Arme leicht gerötet.“

Frau Liebertz war bemüht, ihre Stimme nicht zu erheben. „Adrian, du hast eine Mitschülerin bedroht?“

„Ich habe das nicht so gemeint.“

„Warum bist du aus der Schule gerannt?“, fragte Frau Liebertz.

„Ich habe nicht gewusst, was ich bei der Gemeinschaftskundeaufgabe machen sollte“, brummelte Adrian.

Frau Liebertz begriff nicht, was er meinte. „Was hast du nicht gewusst?“

„Er hat sich wohl geweigert, an seiner Aufgabe zu arbeiten“, meinte Herr Mittelstedt. „Frau Schmitt hat ihn daraufhin gebeten, zu ihr ans Lehrerpult zu kommen, was er ebenfalls verweigert hat. Daraufhin hat sie ihn aufgefordert, sich ins Sekretariat zu begeben, und auch dieser Aufforderung ist er nicht nachgekommen. Anschließend habe ich versucht, mit ihm zu reden, woraufhin er aus dem Klassenzimmer gestürmt ist.“

„Ich wusste nicht, was ich machen sollte!“, beharrte Adrian.

„Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, dass Adrian erst Herrn Mittelstedt einen Kinnhaken verpasst und Frau Schmitt danach aus dem Weg geschubst hat“, fügte Frau König hinzu. „Das nennt man einen tätlichen Angriff, und so etwas wird an dieser Schule erst recht nicht geduldet.“ Adrian sackte auf seinem Stuhl zusammen und murmelte wieder: „Das war ein Unfall.“

„Adrian, das glaube ich einfach nicht …“, meinte seine Mutter. Tränen traten in Adrians Augen.

„Absicht hin oder her: Adrian wird die nächsten fünf Tage zu Hause verbringen“, schaltete sich Frau König ein.

Frau Liebertz sah die Schulleiterin mit großen Augen an: „Wie meinen Sie das?“

„Ich meine damit, dass er für die nächsten fünf Tage von der Schule suspendiert wird. Diese Art von Verhalten dulden wir an unserer Schule nicht. Adrians Klassenkameraden haben ein Recht auf eine sichere Lernumgebung, und dieses Recht ist heute verletzt worden. Außerdem werde ich noch mit dem Schulrat zu reden haben, ob weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen.“

„Weitere Maßnahmen? Was denn zum Beispiel?“

„Wenn in diesem Schulsystem ein Schüler einen Lehrer tätlich angreift und anderen damit droht, sie umzubringen, verlangt unsere Schulordnung, dass wir die Polizei davon in Kenntnis setzen. Und Herr Mittelstedt und Frau Schmitt werden entscheiden müssen, ob sie Anzeige erstatten wollen.“

„Die Polizei?“, rief Adrians Mutter aus. „Wegen eines Unfalls?“

„Nach dem, was ich gehört habe, kann ich Adrians Ansicht, dass es sich um einen Unfall handelt, leider nicht teilen“, erwiderte Frau König.

„Zunächst werden Sie Adrian erst einmal mit nach Hause nehmen müssen. Über die weitere Entwicklung werden wir reden können, wenn mir mehr Informationen zur Verfügung stehen. Adrian muss begreifen, dass diese Art von Verhalten nicht akzeptabel ist.“

„Er weiß bereits, dass ein solches Verhalten nicht akzeptabel ist“, entgegnete Frau Liebertz. Diese Bemerkung blieb unkommentiert. Frau Liebertz hatte genug gehört. „Lass uns gehen, Adrian.“ Sie sah Herrn Mittelstedt an.

„Es tut mir sehr leid, dass Adrian Ihnen wehgetan hat.“ Adrian folgte seiner Mutter aus dem Büro, die Hände tief in die Taschen seiner Jeans vergraben, den Kopf gebeugt.

Die beiden Schulleiter sahen aus dem Fenster zu, wie Adrian und seine Mutter zu ihrem Auto gingen und davonfuhren.

***

Was sollen wir mit Adrian machen?

Das ist mehr denn je die große Frage. Denn mit Sicherheit gibt es da draußen eine Menge Adriane: Kinder, die in der Klasse nicht „funktionieren“, die Schwierigkeiten haben, mit anderen Kindern zurechtzukommen, die scheinbar keine Autorität anerkennen und auch nicht auf schulische Disziplinarmaßnahmen ansprechen – Kinder, deren Probleme sich nicht bessern. Gelegentlich liest man etwas in der Zeitung, oder wir hören davon im Fernsehen, vor allem wenn jemand schwer verletzt oder in Handschellen aus der Schule abgeführt wurde. Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir den Adrianen nicht helfen, verlieren wir sie.

Und wie sollen wir Frau Schmitt helfen? Auch das ist eine große Frage. Frau Schmitts Klassenzimmer ist voll von Kindern mit den verschiedensten schulischen, verhaltensbedingten, emotionalen und sozialen Problemen. Nichts wäre ihr lieber, als jedem von ihnen genau die Hilfe zukommen zu lassen, die es braucht. Sie hat im Laufe der Jahre eine Menge Zeit und Energie aufgewandt, um ihren schwierigeren Schülern zu helfen, hat – gemessen an diesem Aufwand – häufig aber nicht sehr viel vorzuweisen. Zumindest muss sie irgendwie sicherstellen, dass die schwierigen Kinder in ihrer Klasse die anderen Kinder nicht beim Lernen stören. Aber sie muss sich auch Gedanken um die am Schuljahresende anstehenden Leistungsmessungen machen, bei denen viel auf dem Spiel steht; sie muss ihren Unterricht planen, an zahllosen Konferenzen teilnehmen, sich mit den neuesten bildungspolitischen Initiativen auseinandersetzen und sie in ihren Klassen umsetzen. So wie die Dinge liegen, steht sie also unter Zeitdruck. Wenn wir Frau Schmitt nicht helfen, werden wir auch sie verlieren.

Wie sieht es mit Frau Liebertz aus? Für die Eltern verhaltensauffälliger Kinder ist die Welt da draußen beängstigend, einsam, herzlos und frustrierend. Das gilt erst recht, wenn das Kind in der Schule Probleme hat. Frau Liebertz hat sich daran gewöhnt, dass sie für die Probleme ihres Sohnes verantwortlich gemacht wird; sie ist daran gewöhnt, von Leuten angestarrt zu werden, die sie als die Mutter „dieses Jungen da“ erkennen. Sie kennt sich mit den verschiedenen Medikamenten, die zur Behandlung von verhaltensauffälligen Kindern angewendet werden, nur allzu gut aus, auch mit den Büchern und Fernsehsendungen, die sie als passive, zu nachgiebige, gleichgültige, unmotivierte, ungebildete Mutter abstempeln. Da draußen gibt es Millionen von Müttern wie Frau Liebertz, die sich alle nichts mehr wünschen, als dass es eine bessere Lösung gebe – eine, die auch funktioniert.

Wenn wir Adrian, Frau Schmitt und Frau Liebertz helfen wollen, dann müssen wir uns endlich stärker auf unser Wissen darüber besinnen, wie es kommt, dass Kinder auffällig werden. Und dabei gilt es, ein paar wichtige Fragen zu bedenken. Ist die Art und Weise, wie wir die Kinder in unseren Schulen disziplinieren, geeignet, um den eigentlichen Faktoren, die den Boden für soziale, emotionale und Verhaltensauffälligkeiten bereiten, zu begegnen? Wenn nicht, was sollten wir stattdessen tun?

In den meisten Fällen liegen wir mit unseren Ansichten über verhaltensauffällige Kinder – dass sie nämlich manipulativ, aufmerksamkeitsheischend und unmotiviert sind, andere unter Druck setzen und die Grenzen austesten und dass diese Charakterzüge auf eine passive, nachgiebige, inkonsistente und inkonsequente elterliche Erziehung zurückzuführen sind – ziemlich weit daneben. Deswegen liegen wir auch mit unseren Maßnahmen, die sich aus dieser Einstellung ergeben, ziemlich weit daneben. Denn sehen Sie: Wenn Sie der Meinung sind, dass passive, nachgiebige, inkonsistente, inkonsequente elterliche Erziehung dafür verantwortlich ist, dass ein Kind mangelnde Anpassung zeigt, dann werden Sie bemüht sein, sich streng, unnachgiebig, konsistent und konsequent zu verhalten – üblicherweise durch das Umsetzen von Konsequenzen, die durch Erwachsene auferlegt wurden. Wir leben in einer Kultur, in der viele Erwachsene in Bezug auf Kinder, die ihre Erwartungen nicht erfüllen, nur an ein Wort denken, an eine Maßnahme: Konsequenzen. Konsequenzen können etwa Belohnungen für angemessenes Verhalten sein [in der Schule könnten damit besondere Privilegien oder Aufkleber wie lachende Gesichter (Smileys) und Wertmarken oder Pluspunkte verbunden sein, die gegen materielle Prämien/Belohnungen eingetauscht werden können] oder Bestrafungen für unerwünschtes Verhalten (Ausschluss von Privilegien, Verteilung von Extraaufgaben, Verhängung von Auszeiten, Suspendierung, Nachsitzen, Schulverweis). Wenn sie funktionieren, sind Konsequenzen etwas Wunderbares. Weniger wunderbar sind sie, wenn sie nicht funktionieren. Und oft funktionieren sie bei den Kindern nicht, bei denen sie am häufigsten eingesetzt werden.1

Das liegt daran, dass wir mit dem Auferlegen von Konsequenzen lediglich zwei Ziele erreichen: (1) Wir erteilen den Kindern eine Grundlektion über richtiges und falsches Verhalten, und (2) wir geben ihnen Anreize, sich richtig zu verhalten. Aber – und das ist wichtig – die überwältigende Mehrheit der verhaltensauffälligen Kinder weiß bereits, wie sie sich nach der Vorstellung von uns Erwachsenen verhalten sollten. Sie wissen, dass wir von ihnen erwarten, dass sie das tun, was wir ihnen sagen. Sie wissen, dass sie ihre Klassenkameraden nicht beim Lernen stören sollen oder dass sie das Klassenzimmer oder das Schulgebäude nicht verlassen dürfen, wenn sie aufgebracht oder peinlich berührt sind. Und sie wissen, dass sie andere nicht schlagen, dass sie nicht fluchen oder in die Klasse schreien sollen. Es nützt ihnen also nichts, wenn wir jede Menge Energie aufwenden, um ihnen beizubringen, wie sie sich unserer Meinung nach verhalten sollen. Und auch wenn das vielleicht schwer zu glauben ist: Die meisten verhaltensauffälligen Kinder möchten sich gern richtig verhalten. Es nützt ihnen nichts, wenn wir weiterhin Sticker austeilen, ihnen ihre Pause nehmen oder sie von der Schule suspendieren; sie sind bereits motiviert. Sie brauchen von uns etwas ganz anderes.

Dieses Buch geht von der Grundvoraussetzung aus, dass verhaltensauffällige Kinder einen Mangel an wichtigen kognitiven Fertigkeiten aufweisen. Dieser Gedanke stützt sich auf Erkenntnisse, zu denen die neurowissenschaftliche Forschung der letzten 30 Jahre zu Kindern gekommen ist, die aggressiv sind, Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen haben und mit ADHS, Angst- und Stimmungsstörungen, oppositionellem Trotzverhalten (oppositional defiant disorder, ODD), Verhaltensstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen und Sprachverarbeitungsstörungen diagnostiziert wurden. Diese kognitiven Fertigkeiten betreffen nicht die herkömmlichen schulischen Domänen wie Lesen, Schrei­ben und Rechnen, sondern liegen vielmehr in Bereichen wie Emotionsregulation, Reflexion der Folgen von Handlungen, bevor man handelt, Einschätzung der Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf andere Menschen, ausdrücken zu können, was los ist, und auf die Änderung von Plänen flexibel zu reagieren. Mit anderen Worten: Diese Kinder haben eine Entwicklungsverzögerung, eine irgendwie geartete Lernschwäche. Genauso wie Kinder, die verzögert lesen lernen, Schwierigkeiten haben, sich die für flüssiges Lesen erforderlichen Fertigkeiten anzueignen, so haben verhaltensauffällige Kinder Schwierigkeiten, die für den kompetenten Umgang mit sozialen, emotionalen und Verhaltensanforderungen im Leben nötigen Fertigkeiten zu erwerben.

Wie können wir Kindern helfen, die an herkömmlichen Entwicklungsverzögerungen leiden? Als Erstes müssen wir die Faktoren beurteilen, die den Erwerb der entsprechenden Fertigkeiten beeinträchtigen, die Kinder dann fachkundig anleiten und ihnen in Schritten, die sie bewältigen können, gezielt die Fertigkeiten beibringen, an denen es ihnen mangelt. Wenn Sie ein verhaltensauffälliges Kind so behandeln, als leide es an einer Entwicklungsverzögerung, und dieselbe Empathie und Vorgehensweise wählen wie bei einem Kind mit jeder anderen Lernschwäche, dann macht es seine Sache sehr viel besser. Wenn Sie es aber weiterhin behandeln, als sei es unmotiviert, manipulativ, aufmerksamkeitsheischend und teste lediglich seine Grenzen aus … wenn Sie sich weiterhin auf Konsequenzen verlassen, um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, nun, dann machen diese Kinder ihre Sache meist eben nicht besser. Das liegt daran, dass Konsequenzen den Kindern nicht die ihnen fehlenden kognitiven Fertigkeiten vermitteln oder die Probleme lösen helfen, die den Nährboden für ihr auffälliges Verhalten bilden. Warum greifen wir bei verhaltensauffälligen Kindern eigentlich so schnell und übermäßig häufig zu Konsequenzen? Weil uns nicht bewusst ist, dass sie eine Entwicklungsverzögerung aufweisen.

Wenn die herkömmlichen schuldisziplinarischen Maßnahmen bei Kindern mit sozialen, emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten versagen, dann wäre der einzige Grund, warum wir sie noch immer anwenden, der, dass sie bei nicht verhaltensauffälligen Kindern funktionieren. In Wirklichkeit aber verhalten sich brave Schüler nicht wegen der Schulordnung so gut. Sie benehmen sich gut, weil sie über Fertigkeiten verfügen, mit denen sich die Anforderungen des Lebens angemessen bewältigen lassen. Daher können wir unseren Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und ihren Problemen – ohne Angst haben zu müssen – ruhig neu überdenken: Schuldisziplinarische Maßnahmen funktionieren bei schwierigen Kindern nicht, und unproblematische Kinder brauchen sie nicht.

Kommen wir zu unseren Ausgangsfragen zurück: Was sollen wir mit Adrian machen? Und wie können wir Frau Schmitt und Frau Liebertz helfen?

Genauso wie bei jeder anderen Entwicklungsverzögerung würden wir Frau Schmitt und Frau Liebertz helfen, Adrians Probleme besser zu verstehen (mit anderen Worten: ihnen helfen, die Fertigkeiten zu identifizieren, an denen es ihm fehlt) und die Situationen genau zu bestimmen, in denen diese Schwierigkeiten (die wir ungelöste Probleme nennen) höchstwahrscheinlich bei ihm auftreten.Und wir werden ihnen helfen zu lernen, wie sie gemeinsam mit Adrian daran arbeiten können, die Probleme zu lösen, ihm die entsprechenden Fertigkeiten zu vermitteln und aus ihm einen weniger verhaltensauffälligen Jungen zu machen.

Nein, es wird nicht leicht werden, und es wird definitiv eine ganze Weile dauern. Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten zu helfen ist niemals einfach und immer zeitaufwendig. Aber mit wirkungslosen Maßnahmen zu arbeiten ist immer noch schwieriger und zeitaufwendiger als mit Maßnahmen, die funktionieren. Vieles hängt natürlich davon ab, was Sie unter „funktionieren“ verstehen. Nur allzu oft geht es bei diesem „Funktionieren“ nur darum, den Einfluss eines verhaltensauffälligen Kindes auf seine Mitschüler erfolgreich zu verringern. Das ist zwar ein nobles Ziel, doch wird es oftmals nur auf Kosten des verhaltensauffälligen Kindes erreicht. Was aber wäre, wenn es uns gelänge, ihm dabei zu helfen, die Probleme zu lösen, die den Nährboden für sein auffälliges Verhalten bilden, und ihm gleichzeitig die ihm fehlenden Fertigkeiten zu vermitteln, den negativen Einfluss auf seine Mitschüler zu vermindern und sein unaufhaltsames Abgleiten in die Entfremdung zu verhindern?

Wir verlieren eine Menge Kinder und eine Menge Lehrer, weil wir noch immer eine falsche Auffassung von verhaltensauffälligen Kindern haben und sie auf eine Art und Weise behandeln, die nicht geeignet ist, ihre tatsächlichen Probleme zu beheben. Dies ist für alle Beteiligten mit Frustration verbunden, und es wird Zeit, dass wir aus diesem Hamsterrad aussteigen.

Kapitel 2Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie können

Kindern mit sozialen, emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten fehlt es an wichtigen kognitiven Fertigkeiten. Zunächst mag dies ein etwas gewöhnungsbedürftiger Gedanke sein. Beginnen wir einfach mit Ihrer Einstellung zu Kindern: worum es bei Kindern geht, warum sie tun, was sie tun, und welche Absicht sie (wenn überhaupt) damit verfolgen.

Viele Erwachsene haben nie richtig über ihre Einstellung zu Kindern nachgedacht. Doch wenn Sie verhaltensauffälligen Kindern zu helfen versuchen, brauchen Sie solch eine Philosophie, denn genau daran orientieren sich Ihre Gedanken und Handlungen im Umgang mit Kindern – vor allem, wenn es hart auf hart kommt. Die Einstellung, auf der dieses Buch gründet, ist die Überschrift dieses Kapitels: „Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie können.“ Diese Philosophie ist vielleicht nicht besonders weltbewegend, doch wenn wir sie mit der weit verbreiteten gegenteiligen Auffassung – „Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie wollen“ – vergleichen, wird ihre Bedeutung klar. Denn diese zwei miteinander unvereinbaren Standpunkte haben extrem unterschiedliche Auswirkungen auf unsere Einstellung gegenüber Kindern sowie auf das, was wir tun, wenn sie unseren Erwartungen nicht entsprechen. Wenn wir mit der Einstellung „Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie wollen“ an ein Kind herangehen, das seine Sache nicht so gut macht, dann nehmen wir an, es läge daran, dass das Kind nicht will. Diese sehr häufig anzutreffende Auffassung ist gewöhnlich falsch und bringt Erwachsene dazu, zu glauben, ihre Hauptaufgabe im Leben eines verhaltensauffälligen Kindes (und das Ziel ihrer Interventionen) sei es, das Kind dazu zu bringen, seine Sache gut machen zu wollen. Üblicherweise wird dies dadurch erreicht, dass man das Kind motiviert, einen Anreiz für gute Leistungen schafft, es für angemessenes (adaptives) Verhalten belohnt und es bestraft, wenn es unangemessenes (maladaptives) Verhalten zeigt.

Im Gegensatz dazu verbindet sich mit der Philosophie „Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie können“ die Annahme, dass ein Kind seine Sache gut machen würde, wenn es nur könnte. Seine Sache gut zu machen, ist immer besser, als seine Sache nicht gut zu machen, aber das geht nur, wenn ein Kind überhaupt die Fertigkeiten besitzt, um seine Sache gut zu machen. Macht es seine Sache nicht gut, dann müssen ihm die Fertigkeiten dazu fehlen.

Wie sieht die Hauptaufgabe eines Erwachsenen im Leben eines solchen Kindes aus? Erstens würde er annehmen, dass das Kind schon motiviert ist, richtig und falsch zu unterscheiden weiß und schon oft genug bestraft wurde. Als Nächstes würde er herauszufinden versuchen, welche Fertigkeiten dem Kind fehlen, um möglichst genau zu verstehen, was mit ihm los ist. Wer versteht, warum ein Kind verhaltensauffällig ist, hat den ersten und wichtigsten Schritt getan, um ihm zu helfen.

Für viele Leute bedeutet dies eine radikale Änderung ihrer grundlegenden Einstellung. Aber wir wollen noch nicht das Handtuch werfen! Es steht eine Menge auf dem Spiel, nicht nur für verhaltensauffällige Kinder, sondern auch für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, ihre Lehrerinnen und Lehrer sowie für ihre Eltern. In diesem Kapitel wollen wir Ihnen nahebringen, an welchen Fertigkeiten oder Kompetenzen es verhaltensauffälligen Kindern mangelt und wie Sie die Kompetenzdefizite bei Kindern, denen Sie helfen möchten, erkennen können.

Kompetenzdefizite

Wenn Sie herausfinden, an welchen Fertigkeiten es einem Kind mangelt, werden Sie verstehen, warum es verhaltensauffällig ist. Sie wissen dann auch, welche Fertigkeiten das Kind erlernen muss, und werden besser dazu in der Lage sein, die Situationen vorauszusehen, in denen auffälliges Verhalten höchstwahrscheinlich auftreten wird. Wenn Sie nicht wissen, welche Fertigkeiten dem Kind fehlen, verfügen Sie über kein wirkliches Verständnis seiner Auffälligkeiten. Damit wird es sehr viel schwieriger, seine Ausbrüche vorauszusehen, die fehlenden Fertigkeiten werden ihm nicht vermittelt, das Problemverhalten dauert an (oder verschlechtert sich), und das Kind empfindet zunehmende Frustration, fühlt sich hoffnungslos und entfremdet. So würde es uns wohl allen ergehen, wenn wir ein Problem hätten, das anscheinend niemand zu verstehen imstande ist, und man uns in einer Weise behandeln würde, die das Problem noch verstärkt.

Wann tritt auffälliges Verhalten am ehesten auf? Antwort: Wenn die Anforderungen an ein Kind seine Fähigkeiten, angemessen darauf zu reagieren, übersteigen. Das sind natürlich Situationen, in denen wir alle unangemessenes Verhalten an den Tag legen würden. Das Problem bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten (und für die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung) ist, dass sie sehr viel stärker – und sehr viel häufiger – unangemessen reagieren als der Rest von uns. Es gibt eine ganze Palette von Dingen, die Kinder tun, wenn die Anforderungen des Lebens ihre Fähigkeiten zur angemessenen Reaktion übersteigen. Manche weinen, sind beleidigt oder eingeschnappt, schmollen oder quengeln oder ziehen sich zurück – damit hätten wir das mildere Ende des Verhaltensspektrums beschrieben. Am problematischeren Ende des Spektrums finden wir Schreien, Fluchen, Spucken, Schlagen, Treten, die Zerstörung von Gegenständen, Lügen und Schuleschwänzen. Und wenn wir uns noch weiter zum äußersten Ende des Spektrums hinbewegen, finden wir dort Verhaltensweisen, die den Kindern selbst oder anderen Schaden zufügen: selbstinduziertes Erbrechen, Ritzen, exzessiven Alkohol- oder Drogenkonsum, Messerstechen und Schießen. Alle diese Verhaltensweisen treten unter denselben Bedingungen auf: nämlich dann, wenn die Anforderungen, die an ein Kind gestellt werden, über seine Fähigkeit, angemessen darauf zu reagieren, hinausgehen. Warum reagieren nun einige Kinder mit eher harmlosen, andere dagegen mit heftigeren Verhaltensweisen? Ganz einfach: Manche Kinder verfügen über die Fertigkeiten, um „sich zusammenzureißen“, wenn sie an ihre Grenzen getrieben werden, und andere eben nicht.

Aus diesem neuen Blickwinkel betrachtet, ergeben viele Äußerungen, die man über verhaltensauffällige Kinder hört, nicht mehr viel Sinn. Sehen wir einmal folgende Aussagen an:

„Er will bloß Aufmerksamkeit erregen.“ Wir alle wünschen uns Aufmerksamkeit; diese Erklärung hilft uns also nicht besonders dabei, zu verstehen, warum es einem Kind so schwerfällt, seine Sache gut zu machen. Und wenn ein Kind versucht, durch maladaptives Verhalten Aufmerksamkeit zu erlangen, deutet das dann nicht darauf hin, dass es ihm an der Fähigkeit fehlt, unsere Aufmerksamkeit in angemessener Weise auf sich zu ziehen?„Er will nur seinen Kopf durchsetzen.“ Wir alle wollen unseren Kopf durchsetzen; diese Erklärung hilft uns also auch nicht, die Probleme des Kindes zu verstehen. Sozial angemessenes Verhalten zur Durchsetzung von Wünschen erfordert Fertigkeiten, an denen es verhaltensauffälligen Kindern häufig mangelt.„Er will uns manipulieren.“ Dies ist eine sehr gängige – und irregeführte Beschreibung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Kompetente Manipulation erfordert eine Vielzahl von Fertigkeiten, unter anderem vorausschauendes Denken, Planung, Impulskontrolle und Organisiertheit – lauter Fertigkeiten also, die diesen Kindern typischerweise fehlen. Mit anderen Worten: Gerade Kinder, die sehr häufig als manipulativ beschrieben werden, sind diejenigen, denen diese Manipulation nur selten gelingt.„Er ist nicht motiviert.“ Auch dies ist eine weitere, sehr beliebte Auffassung, die auf die Einstellung „Kinder können, wenn sie nur wollen“ zurückgeht und die uns geradewegs zu Maßnahmen führt, die darauf abzielen, dem Kind eine Belohnung oder einen Anreiz für gute Leistungen zu geben. Doch warum sollte ein Kind seine Sache nicht gut machen wollen? Warum sollte es seine Sache nicht gut machen wollen, wenn es das könnte? Wäre es nicht erstrebenswert, seine Sache immer gut zu machen?„Er trifft die falschen Entscheidungen.“ Sind Sie sicher, dass das Kind über die Fertigkeiten und das Repertoire verfügt, um stets die richtige Entscheidung treffen zu können?„Seine Eltern sind inkompetent.“ Meiner Erfahrung nach ernten die Eltern braver Kinder zu viele Lorbeeren für die Tatsache, dass ihre Kinder brav sind, und den Eltern verhaltensauffälliger Kinder wird viel zu sehr Schuld an der Tatsache gegeben, dass ihre Kinder nicht brav sind. Den Eltern die Schuld zu geben, verhilft niemandem in der Schule während sechs Stunden am Tag, an fünf Tagen in der Woche und während neun Monaten im Jahr zu einem angemessenen Umgang mit einem solchen Kind.„Er hat eine negative Grundeinstellung.“ Wahrscheinlich war das nicht von Anfang an so. Eine „negative Grundeinstellung“ ist in aller Regel das Ergebnis unzähliger Jahre, in denen das Kind von Erwachsenen, die nicht erkannt haben, dass ihm entscheidende kognitive Fertigkeiten fehlen, falsch verstanden und allzu oft bestraft wurde. Doch Kinder sind belastbar; sie rappeln sich wieder auf, wenn wir anfangen, das Richtige zu tun.„Er ist psychisch krank.“ Auch wenn dieses Kind möglicherweise die Diagnosekriterien für eine psychiatrische Störung erfüllt und vielleicht sogar von einer psychotropen Medikation profitieren würde, führt uns diese Annahme in eine pädagogische Sackgasse. Schon vor 50 Jahren hat der Psychiater Thomas Szasz begriffen, dass die Beschreibung von Menschen mit sozialen, emotionalen und Verhaltensproblemen als „psychisch krank“ eine sehr eingeschränkte (potenziell falsche und zynische) Art der Betrachtung ist. Er sprach sich für die Umdeutung von Verhaltensproblemen als „Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ aus – eine sehr viel passendere und produktivere Einstellung.„Sein Bruder war schon genauso.“ Aha, also ist der Genpool schuld! Nun ja, am Genpool können wir nichts ändern, und vermutlich hat es auch dem Bruder dieses Kindes bereits an einigen wichtigen kognitiven Fertigkeiten gefehlt.

Viele dieser Erklärungsversuche erfreuen sich außerordentlich großer Beliebtheit. In den meisten Fällen handelt es sich aber schlichtweg um Klischees. Und solche Klischees führen die Betreuungspersonen der Kinder geradewegs in eine pädagogische Sackgasse. Sobald Sie sich aber mit dem Gedanken anfreunden, dass verhaltensauffälligen Kindern relevante kognitive Fertigkeiten fehlen, ergeben solche Erklärungen nicht mehr besonders viel Sinn. Vielmehr sorgen sie dafür, dass Erwachsene verhaltensauffällige Kinder oftmals als ihre „Feinde“ betrachten und sie zurückzuweisen.

Sehr viel hilfreicher ist da schon die folgende Liste, die viele Fertigkeiten enthält, die – wie man beobachten konnte – bei verhaltensauffälligen Kindern verzögert entwickelt sind:

Schwierigkeiten mit Übergängen, zum Beispiel von einer Denkweise oder Aufgabe zur anderen umzuschaltenSchwierigkeiten, Aufgaben in einer logischen Reihenfolge oder nach einem vorgeschriebenen Ablauf zu erledigenSchwierigkeiten, an einer anspruchsvollen oder mühsamen Aufgabe dranzubleibenein unzureichend entwickeltes ZeitgefühlSchwierigkeiten, fokussiert zu bleibenSchwierigkeiten, sich die Resultate oder Konsequenzen vor Augen zu führen, die das eigene Handeln wahrscheinlich nach sich zieht (Impulsivität)Schwierigkeiten, mehrere Lösungen für ein Problem in Betracht zu ziehenSchwierigkeiten, die eigenen Belange, Bedürfnisse oder Gedanken mit Worten auszudrückenSchwierigkeiten zu verstehen, was gesagt wurdeSchwierigkeiten, emotionale Reaktionen auf Frustration so zu steuern, dass rationales Denken möglich wirdchronische Reizbarkeit und/oder Angst mit erheblicher Beeinträchtigung der Problemlösefähigkeit oder gesteigerter FrustrationSchwierigkeiten, „Grautöne“ zu erkennen/konkretes, buchstabengetreues Schwarz-Weiß-DenkenSchwierigkeiten, von Regeln oder Routinen abzuweichenSchwierigkeiten, mit Unvorhergesehenem, Mehrdeutigem, Ungewissem, Neuartigem zurechtzukommenSchwierigkeiten, von der ursprünglichen Idee, dem ursprünglichen Plan oder der erstbesten Lösung abzulassenSchwierigkeiten, situationsbezogene Faktoren zu berücksichtigen, was bedeuten würde, dass der eigene Aktionsplan angepasst werden müssteunflexible, fehlerhafte Interpretationen/kognitive Verzerrungen oder Vorurteile (zum Beispiel „alle wollen mir nur Böses“, „keiner mag mich“, „immer bin ich schuld“, „das ist unfair“, „ich bin dumm“)Schwierigkeiten, auf zwischenmenschliche Signale angemessen zu reagieren und/oder sie richtig zu deuten/mangelnde Wahrnehmung zwischenmenschlicher NuancenSchwierigkeiten, ein Gespräch anzufangen, sich einer Gruppe anzuschließen, Kontakt zu anderen Menschen herzustellen, Mangel an anderen grundlegenden sozialen KompetenzenSchwierigkeiten, in angemessener Form auf sich aufmerksam zu machenSchwierigkeiten einzuschätzen, wie sich das eigene Verhalten auf andere Menschen auswirktSchwierigkeiten, sich in andere hineinzuversetzen bzw. den Standpunkt oder die Meinung eines anderen Menschen anzuerkennenSchwierigkeiten einzuschätzen, wie man selbst bei anderen Menschen ankommt oder von ihnen wahrgenommen wird.sensomotorische Schwierigkeiten.

Sie werden vielleicht bemerkt haben, dass diese Liste keinerlei Diagnosen enthält. Das liegt daran, dass die meisten Diagnosen uns nichts darüber sagen, über welche kognitiven Fertigkeiten ein Kind möglicherweise nicht verfügt. Anders gesagt: Die Diagnose „bipolare Störung“ gibt uns keine Informationen darüber, welche Fertigkeiten dem Kind konkret fehlen. Dasselbe gilt für die Diagnosen fetales Alkoholsyndrom, Bleivergiftung, Hirntrauma, ADHS, oppositionelles Trotzverhalten und antisoziale oder soziopathische Verhaltensstörung. In der Annahme, eine Diagnose würde ihnen zu der Erkenntnis verhelfen, was sie als Nächstes tun müssen, bleiben Erwachsene sehr oft bei der Suche nach der richtigen Diagnose stecken. Tatsache ist, dass Diagnosen wenig hilfreich sind, wenn es darum geht, ein verhaltensauffälliges Kind zu verstehen oder Erwachsenen ihren nächsten Schritt aufzuzeigen. Hinzu kommt, dass auffälliges Verhalten meist nicht im luftleeren Raum stattfindet. Dazu gehören meist zwei: ein Kind mit defizitären kognitiven Fertigkeiten und ein Umfeld (Lehrer, Eltern, Gleichaltrige), das ihm diese Fertigkeiten abverlangt. Eine dauerhaft wirksame Intervention muss sowohl das Kind fokussieren (das diese Fertigkeiten lernen und seine Probleme lösen muss) als auch die Menschen im Umfeld des Kindes (welche die wahren Gründe für die Schwierigkeiten des Kindes verstehen lernen und die Gelegenheiten zur Lösung seiner Probleme sowie zum Lernen und Üben dieser Fertigkeiten schaffen müssen). Diagnosen spiegeln diese Wirklichkeit nicht wider; sie pathologisieren das Kind bloß.

Auch wenn Diagnosen Erwachsene eher dazu bringen, die Probleme eines Kindes ernst zu nehmen, braucht das Kind, um ein Problem zu haben, weder eine Diagnose noch ein sonderpädagogisches Etikett. Es braucht lediglich ein Problem, um ein Problem zu haben. Wenn das Schulsystem natürlich eine Diagnose verlangt, damit das Kind Zugang zu bestimmten Leistungsangeboten erhält, sind die meisten Psychologen, Psychiater oder Psychotherapeuten nur allzu gern bereit, diesem Wunsch nachzukommen; wir dürfen nur nicht davon ausgehen, dass uns eine solche Diagnose besonders viele nützliche Informationen liefert. Ein Kind sollte keine Diagnose haben müssen, um Hilfe erhalten zu können.

Im Folgenden wollen wir uns nun auf einige der in der Liste genannten Kompetenzdefizite konzentrieren und so den Zusammenhang zwischen verzögert entwickelten kognitiven Fertigkeiten und ihrem Beitrag zu Verhaltensauffälligkeiten verdeutlichen.

Im Fokus

Schwierigkeiten mit Übergängen, zum Beispiel von einer Denkweise oder Aufgabe zur anderen umzuschalten

Diese kognitive Fertigkeit bezieht sich auf den Wechsel zwischen mentalen Aufgaben-Sets; sie wird jedes Mal verlangt, wenn das Kind von einer Aufgabe zur nächsten (zum Beispiel Material und Bücher aus dem Spind holen, um sich anschließend im Klassenzimmer einer Aufgabe zu widmen) oder von einer Umgebung (zum Beispiel Pause auf dem Schulhof) in eine andere (zum Beispiel Stillarbeit im Klassenzimmer) wechseln muss. Jede Aufgabe bzw. Umgebung ist mit unterschiedlichen Normen und Erwartungen sowie mit einer jeweils anderen (Arbeits-)Haltung verbunden: „In der Pause ist es in Ordnung, wenn man herumrennt, Krach macht und spielt“ im Gegensatz zu „Während des Unterrichts sitzen wir an unseren Tischen, lesen still und reden nicht mit den Mitschülern“. Hat ein Kind mit dieser Fertigkeit Probleme, wird es – auch lange nachdem der Unterricht schon wieder begonnen hat – sehr wahrscheinlich denken und handeln, als hätte es noch Pause.

Auch wenn Sie einem Kind sagen, was es tun soll, setzt dies ein Umschalten zwischen mentalen Aufgaben-Sets voraus; dies gilt vor allem, wenn das, was das Kind tun soll, nicht das ist, womit es sich gerade beschäftigt (in der Regel also genau die Situation, in der ein Kind gesagt bekommt, was es tun soll). Paradoxerweise sind es genau die Kinder, denen ein solcher Wechsel Probleme bereitet, die sich am häufigsten aufregen, wenn man ihnen sagt, was sie tun sollen.

Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen mentalen Aufgaben-Sets tragen bei Kindern zu einer ganzen Reihe von unangemessenen Verhaltensweisen bei. Wann ist die Wahrscheinlichkeit für maladaptives Verhalten bei einem Kind, dem diese Fertigkeiten fehlen, besonders stark erhöht? Immer dann, wenn das Umfeld von diesem Kind einen Wechsel zwischen mentalen Aufgaben-Sets verlangt. Das ist genauso wie bei jeder anderen Lernschwäche auch. Kinder mit einer Leseschwäche müssen sich mehr anstrengen, wenn sie lesen sollen. Kinder mit Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen mentalen Aufgaben-Sets müssen sich mehr anstrengen, wenn sie von einer Aufgabe zur nächsten „umschalten“ sollen. Zu den wichtigsten Aufgaben in der kindlichen Entwicklung gehört es, zu lernen, wie man effizient in einen anderen Gang umschaltet, wenn das Umfeld dies verlangt. Dies ist eine Fertigkeit, über die viele verhaltensauffällige Kinder noch nicht verfügen.

Das heißt nicht, dass Erwachsene Kindern nicht mehr sagen dürfen, was sie tun sollen, oder dass sie auf Forderungen, die einen Wechsel von Aufgaben-Sets voraussetzen, völlig verzichten müssen. Vielmehr bedeutet es, dass wir bei einem Kind, dessen Problemverhalten durch den Wechsel zwischen Aufgaben-Sets ausgelöst wird, zunächst erkennen müssen, dass ihm diese Fertigkeit fehlt. Darin besteht der erste Schritt, wenn wir diesem Kind helfen möchten. Als Nächstes müssen wir die spezifischen Situationen (die ungelösten Probleme) identifizieren, in denen dieses Kompetenzdefizit ihm die meisten Schwierigkeiten bereitet. Und dann beginnen wir daran zu arbeiten, diese Probleme zu lösen. Wie Sie das bewerkstelligen, ist in Kapitel 4 und Kapitel 5 nachzulesen. Für den Moment ist es am wichtigsten, zu verstehen, dass das Kind nicht etwa seine Grenzen austestet oder manipulativ oder kontrollsüchtig ist; vielmehr fehlt es diesem Kind an einer relevanten Fertigkeit.

Im Fokus

Schwierigkeiten, mehrere Lösungen für ein Problem in Betracht zu ziehen

Schwierigkeiten, sich die Resultate oder Konsequenzen vor Augen zu führen, die das eigene Handeln wahrscheinlich nach sich zieht (Impulsivität)

Wenn Sie mit einem Problem oder mit Frustration konfrontiert sind, müssen Sie als Erstes das Problem lösen, das für Ihre Frustration ursächlich ist. Um diese Aufgabe zu bewältigen, sind diese drei Fertigkeiten absolut unerlässlich. Das ist der Grund dafür, dass die Lösung eines Problems ein hohes Maß an organisiertem, planvollem Denken erfordert.

Lassen Sie uns einen Moment bei diesem Gedanken verweilen. Um ein Problem zu lösen, müssen Sie das zu lösende Problem zunächst einmal identifizieren. Danach müssen Sie über Lösungsmöglichkeiten nachdenken. Ferner müssen Sie vorhersehen können, zu welchen Ergebnissen die verschiedenen Optionen wahrscheinlich führen werden, damit Sie sich für die bestmögliche Lösung entscheiden können. So trifft der Mensch Entscheidungen.

Viele Kinder sind in ihrem Denken so desorganisiert – das heißt, es fällt ihnen schwer, ihre Gedanken zu ordnen –, dass sie nicht imstande sind herauszufinden, was sie frustriert. In diesem Fall bricht der Problemlöseprozess abrupt ab, das Problem bleibt ungelöst, und die Frustration steigt (und setzt dabei häufig eine der Verhaltensweisen aus unserem Spektrum in Gang). Viele Kinder sind so desorganisiert, dass, selbst wenn es ihnen gelingt herauszufinden, welches Problem sie angehen müssen, ihnen nicht mehr als eine Lösung dazu einfällt. Und viele, denen mehr als eine Lösung einfallen würde, sind dermaßen impulsiv, dass sie gleich die erstbeste Möglichkeit, die ihnen in den Sinn kommt, in die Tat umsetzen. Die schlechte Nachricht? Unsere erste Lösungsmöglichkeit ist (nicht immer, aber) häufig die schlechteste. Gute Lösungen fallen uns meist erst ein, wenn wir unsere ersten, weniger hilfreichen Impulse unterdrücken und – mit einem höheren Grad an Organisiertheit – über bessere Möglichkeiten nachdenken. Viele – oftmals die desorganisierten, impulsiven – Kinder sind berüchtigt dafür, dass sie nicht ihr Bestes, sondern ihr „Schlechtestes“ geben. Mit anderen Worten: Es gibt viele Kinder, die auf die Anforderungen des Lebens unangemessen (maladaptiv) reagieren, weil sie nicht gelernt haben, ihre Gedanken zu strukturieren, über alternative Lösungen nachzudenken oder die wahrscheinlichen Auswirkungen ihres Handelns vorherzusehen.

Probleme organisiert anzugehen, sich eine Vielzahl planvoller Lösungsansätze auszudenken und ihre wahrscheinlichen Auswirkungen zu reflektieren, sind wichtige entwicklungsbezogene Fertigkeiten. Bei der Mehrzahl der Zweijährigen sind diese Fertigkeiten noch nicht ausgebildet. Und das trifft auch auf viele der – zumindest chronologisch – deutlich älteren verhaltensauffälligen Kinder zu.

Diese Kinder brauchen eindeutig unsere Hilfe! Doch wenn die Schulordnung Fehlverhalten mit Konsequenzen ahndet, bekommen sie nicht die Hilfe, die sie brauchen. Auch hier gilt: Konsequenzen erinnern Kinder bloß an das, was wir nicht von ihnen wollen, und schaffen den Anreiz, stattdessen etwas Angemesseneres zu tun. Aber sie wissen bereits, was wir nicht von ihnen wollen, und es fehlt ihnen auch nicht an der nötigen Motivation. Sie brauchen etwas anderes von uns.

Übrigens werden viele desorganisierte und impulsive Kinder mit ADHS diagnostiziert. Aber ob ein Kind die Kriterien für eine ADHS erfüllt, ist nicht wirklich wichtig. Das Wissen, dass ein Kind zu den desorganisierten, impulsiven Problemlösern gehört, lässt Sie die Schwierigkeiten dieses Kindes sehr viel besser verstehen und liefert auch sehr viel nützlichere Informationen darüber, welche Art von Hilfe es von Ihnen braucht.

Im Fokus

Schwierigkeiten, die eigenen Belange, Bedürfnisse oder Gedanken mit Worten auszudrücken

In unserem Alltag spielen Fertigkeiten in den Bereichen Sprachverarbeitung und Kommunikation eine große Rolle, daher ist es auch kein Zufall, dass Kinder, denen diese Fertigkeiten fehlen, Probleme mit den an sie gestellten sozialen, emotionalen und Verhaltensanforderungen haben. Beispielsweise fällt es vielen Kindern schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn sie jemandem mitteilen wollen, was mit ihnen los ist oder was ihnen fehlt. Wenn man nicht über die nötigen Mittel verfügt, um seine Mitmenschen wissen zu lassen, dass „einem nicht nach Reden zumute ist“, dass „etwas nicht in Ordnung ist“, dass „man eine Minute braucht, um über etwas nachzudenken“, dass man „nicht weiß, was man machen soll“, dass man „eine kleine Pause braucht“ oder dass man „etwas nicht mag“, drückt man diese Dinge vermutlich auf weniger ideale Art und Weise aus. Die Aufforderung „sprich’s aus!“ hilft überhaupt nicht weiter, wenn einem Kind die Worte fehlen. Manche Kinder fangen an zu weinen oder ziehen sich zurück, wenn sie nicht über die Fertigkeiten für eine effektive Kommunikation verfügen. Andere Kinder drücken ihre Gedanken, Gefühle oder Bedürfnisse mit den Worten „leck mich“, „ich hasse dich“, „halt die Klappe“, und anderen, noch „farbenfroheren“ Ausdrücken aus (richtig: Respektlosigkeit ist meist einfach ein Zeichen dafür, dass einem Kind wichtige Fertigkeiten fehlen … wenn das Kind auf respektvollere Weise kommunizieren könnte, würde es das tun). Wieder andere drücken sich durch körperliche Äußerungen aus (indem sie schubsen, schlagen, Gegenstände werfen oder zerstören, aus dem Klassenzimmer stürzen).

Sprachverarbeitungs- und Kommunikationsprobleme werden leider häufig übersehen. Wenn Erwachsene herauszufinden versuchen, warum ein auffälliges Kind auffällig ist, denken sie oft nicht daran, auch die sprachlichen und kommunikativen Fertigkeiten zu beurteilen. Und manchmal lassen sich subtilere Kompetenzdefizite mit den bei der Bewertung eingesetzten Testinstrumenten gar nicht erfassen; in solchen Fällen sind die Testergebnisse nicht nur nicht geeignet, die Probleme des betreffenden Kindes präzise festzustellen, sondern führen auch noch zu dem falschen Schluss, dass das Kind überhaupt keine Schwierigkeiten bei der Sprachverarbeitung oder Kommunikation aufweise.

Kann man Kindern beibringen, ihre Sorgen, Bedürfnisse und Gedanken effektiver zum Ausdruck zu bringen? Auf jeden Fall. Aber erst, wenn Erwachsene begreifen, dass es der Mangel an diesen Fertigkeiten ist, der den Nährboden für die Verhaltensauffälligkeiten bildet.

Im Fokus

Schwierigkeiten, emotionale Reaktionen auf Frustration so zu steuern, dass rationales Denken möglich wird (Affektunterscheidung)

chronische Reizbarkeit und/oder Angst, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der Problemlösefähigkeit führen

Affektunterscheidung bezieht sich auf die Fähigkeit, Emotionen (Affekte), die man als Reaktion auf ein Problem oder auf Frustration empfindet, vom Denken, das nötig ist, um das Problem zu lösen, zu trennen. Emotionen können zwar von Nutzen sein, um jemanden zur Lösung eines Problems zu motivieren oder ihn darin zu bestärken; doch gelöst werden Probleme durch Denken. Kinder, die Affekte zu unterscheiden gelernt haben, reagieren auf Probleme oder Enttäuschungen in der Regel eher rational als emotional, und das ist gut so. Kinder dagegen, denen Fertigkeiten in diesem Bereich fehlen, neigen dazu, auf Probleme oder Enttäuschungen mehr emotional und weniger (oder gar nicht) rational zu reagieren, und das ist überhaupt nicht gut. Zu lernen, wie man seine Emotionen „beiseiteschiebt“, um rational denken zu können, ist eine sehr wichtige, im Laufe der kindlichen Entwicklung erworbene Fertigkeit, die aber bei vielen verhaltensauffälligen Kindern nicht ausgebildet ist.

Am milderen Ende des Spektrums machen sich Kinder, denen es schwerfällt, Rationales und Emotionales voneinander zu trennen, zuweilen Gedanken, zum Beispiel wenn eine Klassenarbeit bevorsteht oder wenn sie sich auf eine neue soziale Situation einstellen müssen, dass sie eine Aufgabe nicht verstehen oder vor ihren Mitschülern in Verlegenheit geraten. Vielleicht weinen sie auch, weil sie eine schlechte Note bekommen haben, nicht als Erste in eine Mannschaft gewählt wurden oder sich sozial ausgeschlossen fühlen. Doch am extremeren Ende des Spektrums können ihre Emotionen so stark mit ihnen durchgehen, dass sie schreien, fluchen, Gegenstände werfen, jemanden schlagen oder noch Schlimmeres anrichten. Tatsächlich merken diese Kinder gelegentlich, wie es in ihnen „hochkocht“; oft aber sind sie nicht imstande, diese Flut von Emotionen so lange im Zaum zu halten, bis sie sich beruhigt haben und rationales Denken wieder möglich ist. Natürlich wird dieser „Aufheizvorgang“ noch deutlich verstärkt, wenn Erwachsene oder Gleichaltrige durch entsprechende Reaktionen Öl ins Feuer gießen.

Der Begriff Affektunterscheidung bezieht sich mehr auf akute Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen; es gibt aber auch Kinder, die eher chronische Probleme mit der Steuerung ihrer Emotionen aufweisen. Alle Kinder sind gelegentlich einmal traurig, gereizt, erregt, mürrisch, launisch, griesgrämig und erschöpft oder auch ängstlich, bekümmert, furchtsam und nervös. Niemand reagiert auf Probleme oder auf Frustration besonders gelassen, wenn er gereizt ist oder Angst hat, doch manche Kinder erleben diese Emotionen sehr viel häufiger und auch wesentlich intensiver. Kinder, die oft gereizt oder ängstlich sind, reagieren unangemessen auf Probleme und Enttäuschungen. Da die Fertigkeiten, die sie zur Modulierung ihrer Emotionen und zur Problemlösung benötigen, bei ihnen nicht ausgebildet sind, reagieren sie auf Probleme und Enttäuschungen eher wie ein jüngeres Kind. Tatsächlich befinden sich diese Kinder, was die Bewältigung der eigenen Emotionen und die Lösung von Problemen anbelangt, auf einem deutlich früheren Entwicklungsniveau.