Verqueres Denken - Andreas Speit - E-Book

Verqueres Denken E-Book

Andreas Speit

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Beschreibung

Sie gehen für »die Freiheit« auf die Straße: Bei den Querdenken-Demonstrationen und Corona-Protesten laufen Impfgegner:innen neben QAnon-Anhänger:innen, Esoteriker:innen neben Rechtsextremen, die Peace-Fahne flattert neben der Reichsflagge. Dieses Miteinander kommt jedoch nicht zufällig zustande. Wer sich für den Schutz von Natur und Tieren einsetzt,
vegane Ernährung und Alternativmedizin bevorzugt, seine Kinder auf Waldorfschulen schickt oder nach spiritueller Erfüllung sucht, muss nicht frei von rechtem Gedankengut und Verschwörungsfantasien sein. Andreas Speit zeigt, dass in alternativen Milieus Werte und Vorstellungen kursieren, die alles andere als progressiv oder emanzipatorisch sind.

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Andreas SpeitVerqueres Denken

Andreas Speit

VERQUERES DENKEN

Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus

Ch. Links Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der Ch. Links Verlag ist eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

1. Auflage, Juni 2021

entspricht der 1. Druckauflage vom Juni 2021

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Umschlaggestaltung: Kuzin & Kolling – Büro für Gestaltung, Hamburg

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-110-7

eISBN 978-3-86284-490-6

Inhalt

Einleitung

Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality

Die soziale Struktur der Bewegung

Regenbogen- und Reichsfahnen

Mitte der Gesellschaft

Verschwörungnarrative und -mentalitäten

Fake News und antisemitische Muster

Compact und Querdenken

QAnon und Anti-Establishment

Demokratischer Widerstand und Rubikon

Reichsbürger:innen und Querdenker:innen

Emotionale Gemeinschaften

Verklärungen und Verharmlosungen. Impfkritik und Alternativmedizin

Bio-Boheme und neue Spiritualität

Fake News über Impfungen

Impfskeptische Traditionen und völkische Implikationen

Homöopathie und Alternativmedizin

Die Grünen und die Alternativmedizin

Das alternative Selbst und der Abschied vom rationalen Denken

Verunsicherung und Versteinerungen. Ambivalenzen der Anthroposophie

»Geisteswissenschaft« und Praxis

Waldorfschulen und die Ordnung der Gesellschaft

Anthroposophie und Nationalsozialismus

Ressentiments und Debatte

Steiner-Schulen und Extrem-Rechte

Selbstreflexion

Rück- und Einkehr. Anastasia-Bewegung und rechte Esoterik

»Weda Elysia«

Der Siedlungsgedanke

»Goldenes Grabow«

Kritik und Kontroverse

Retten und Richten. Vegan- und Tierrechtsbewegung

Tier- und Menschenrechte

Holocaustvergleiche – und PETA

Anstrengende Menschenrechtsfragen – Anonymous for the Voiceless

Der Mensch als Schädling – Sea Shepherd

Ziviler Ungehorsam und Endzeitstimmung – Extinction Rebellion

Anhang

Quellen- und Literaturverzeichnis

Dank

Der Autor

Einleitung

Sie kamen trotz Verbot. Am Samstag, den 17. April 2021, waren die selbsternannten Freiheitskämpfer:innen in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg wieder auf der Straße. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte zwei Tage zuvor zwei geplante Demonstrationen gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen untersagt. Das Bundesverfassungsgericht wies noch am Samstag die eingereichten Eilanträge zur Aufhebung der Verbote ab. In der Innenstadt zogen dennoch an die 1000 Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen durch Straßen und Fußgängerzonen. Sie skandierten Parolen wie »Freiheit«, trugen Regenschirme mit dem Aufdruck »FREISEINmitHerz«, schlugen auf Trommeln und schwenkten Regenbogenfahnen. Mitten unter ihnen: Michael Ballweg, der Initiator von »Querdenken 711«. Mehr als 700 Demonstrantinnen nahm die Polizei kurzzeitig fest – auch Ballweg. Platzverweise wurden erteilt und mehr als 1000 Verstöße gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Maske geahndet.

Das »Freiheitsvirus« der Corona-Leugner:innen war erneut in der Stadt ausgebrochen, wo die Querdenken-Bewegung begonnen hatte. Die Verbote dämmten den »Ausbruch« aber ein. Zwei Wochen zuvor, am Karsamstag, hatten an einer genehmigten Demonstration von Querdenken mehr als 10 000 Menschen teilgenommen. Die Missachtung von Masken und Mindestabstand gehörte an diesem 3. April schon längst zum festen Ritual der kollektiven Staatsverachtung. Eine Verachtung aus der Mitte der Gesellschaft mit alternativem Habitus.

Nicht bloß in Stuttgart sind seit über einem Jahr Menschen mit bürgerlichen Werten und alternativen Lebenshaltungen auf der Straße – manche von ihnen finanziell abgesichert, andere ökonomisch prekär lebend. Im Protest verschärft sich die anhaltende Entkultivierung von Teilen des Bürgertums weiter. Rücksicht auf seine Mitmenschen, Einschränkungen ertragen, Regeln ernst nehmen – perdu. Der vermeintliche Protest für die Freiheitsrechte aller ist letztlich ein Protest für das eigene Recht, sich zu verhalten, wie man gerade will. Die Demonstrant:innen denken nicht quer, sie denken egoman. Eine Form der »rohen Bürgerlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer), die mit der Ignoranz gegenüber den Toten und ihren Angehörigen und Freund:innen einhergeht.

An dem Wochenende 17./18. April 2021 musste das Robert Koch-Institut (RKI) vermelden, dass an oder im Zusammenhang mit dem Covid-19-Virus alleine in der Bundesrepublik 79 628 Menschen verstorben sind. Weltweit waren es bis zum 15. April nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) mehr als 2 965 707. Zahlen, hinter denen sich individuelle Schicksale verbergen; Zahlen, die das Leid der Angehörigen nicht erfassen können; Zahlen, die auch das anhaltende Leiden von Überlebenden mit Long-Covid-Erkrankungen nicht abbilden. Dennoch sind es Fakten, und sie werden im postfaktischen Zeitalter schnell als Fake News relativiert.

Im Februar 2021 belegte eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW in Mannheim und der Humboldt-Universität Berlin, dass nach den Querdenken-Kundgebungen am 7. und am 18. November 2020 in Leipzig die Infektionszahlen in den Landkreisen stiegen, in denen Busunternehmer:innen Fahrten zu den Großdemonstrationen angeboten hatten. Dort wuchs die Sieben-Tage-Inzidenz – die Zahl der Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen einer Woche – auffällig stärker an als in Kreisen, in denen die Busunternehmen keine Reisen angeboten hatten. Die Studie legt nahe, dass zwischen 16 000 und 21000 neue Corona-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn die Kundgebungen abgesagt worden wären. Martin Lange, der Studienverfasser vom ZEW, kam zu dem Fazit: »Eine mobile Minderheit, die sich nicht an geltende Hygieneregeln hält, kann so ein erhebliches Risiko für andere Personen darstellen.« Damit benannte er den Konflikt zwischen Freiheits- und Demonstrationsrecht einerseits und dem Recht auf Unversehrtheit und Infektionsschutz andererseits.

Das individuelle Verhalten hat große Auswirkungen auf die Gesellschaft. Am 17. April ging die Polizei in Stuttgart gegen die Verstöße der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung vor. Am 3. April hatte sie die Bewegung gewähren lassen. In vielen Städten schritt die Polizei bei Demonstrationen nicht ein, wenn weder Abstand gehalten noch Masken getragen wurden. Eine Zurückhaltung, die nicht erwidert wurde. Im Gegenteil, die Angriffe in Berlin, Dresden, Leipzig oder Stuttgart auf Polizeibeamt:innen, Gegendemonstrant:innen und Journalist:innen deuten auf eine Radikalisierung der Proteste hin.

Im Alltag führt die Nichtdurchsetzung der Auflagen und Regeln zu einer leisen Erosion der Bereitschaft bei den Nicht-Corona-Leugner:innen, sich selbst an Maßnahmen und Verordnungen zu halten. Wer am Abend im Fernsehen sieht, wie Tausende Pandemie-Maßnahmen-Gegener:innen sich ohne Schutzmaßnahmen versammeln, ohne dass dies rechtliche Folgen hätte, während tags darauf das Treffen von Kleingruppen im Park geahndet wird, könnte auf die Idee kommen, Kindergeburtstage einfach als Demonstration anzumelden. Allein die Vernunft hält einen davon ab. Doch als vernünftig sehen sich gerade jene, die wider die Vernunft handeln. Sie halten sich für berechtigt, Widerstand gegen eine angebliche Hygiene-Diktatur oder einen heraufziehenden faschistischen Staat zu leisten.

In dem einen Jahr der Pandemie hat sich eine äußerst heterogene Bewegung etabliert, die in Groß- und Kleinstädten Demonstrationen ausrichtet, bei Schulleitungen und Verwaltungen wegen der Maskenpflicht protestiert oder in Bahnen und auf Spielplätzen »Impfen – Nein Danke«-Aufkleber anbringt. In West und Ost, in Nord und Süd ist der Protest getragen von Menschen, die nicht glauben, dass Covid-19 gefährlich ist und eine Pandemie besteht, von Unternehmer:innen und Selbstständigen, deren Geschäft oder Existenz bedroht ist, und von Personen, die lediglich die Maßnahmen und Verordnungen für unangebracht halten. »Querdenken 711« um Michael Ballweg in Stuttgart waren nicht die Ersten, die die Proteste organisierten, aber ihr Label wurde das erfolgreichste.

Schon die Proteste gegen Stuttgart 21 haben ab 2010 das Klischee von den gemütlichen und biederen Baden-Württemberger:innen widerlegt. Damals kam der Begriff »Wutbürger« auf. Der Politologe Erik Flügge fand diese Bezeichnung »nicht klug«, weil sie »quasi diffamierend« wirken sollte. Das Demonstrieren in dem Bundesland sei aber »etwas Neues« gewesen. Die Aktionen gegen den Bahnhofsneubau sieht er als einen Faktor, warum gerade im gutsituierten Ländle die Querdenker:innen so große Resonanz erfahren. Gegenüber dem Südwestrundfunk (SWR) wies er am 28. Oktober 2010 auch auf weitere Faktoren hin. Zwar sei das Demonstrieren hier untypisch gewesen, nicht jedoch eine »Skepsis gegenüber etablierten Strukturen«. Diese sei schon in der Reformation angelegt worden; auch die Bauernproteste hätten schließlich im Südwesten begonnen. In der Gegenwart zeige sich diese Haltung in den vielen Freien Kirchen in der Region, aber auch am Erfolg der Freien Wähler in den Kommunen. Nicht zuletzt begründet diese Skepsis auch eine Wissenschaftsskepsis, die hin zur Spiritualität führen kann. Die Landeshauptstadt wird gern mal als Hochburg der Anthroposophie betitelt. In Stuttgart konnte deren Begründer Rudolf Steiner 1919 die erste Waldorfschule eröffnen.

Die Professionalität des organisierten Protestes von Querdenken machte die Bewegung über Stadt- und Landesgrenzen hinweg populär. Ein Instrument: die sozialen Medien. Wesentlichen Anteil an den Online-Aktivitäten der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung hat ein Mann, der selten auf der Bühne steht: Frank Schreibmüller, ein ehemaliger Gastronom aus Zeitzgrund in Thüringen. Durch die Analyse eines IT-Spezialisten für das ARD-Magazin Kontraste und t-online.de von rund 300 000 Telegram-Profilen aus etwa 500 öffentlich zugänglichen Telegram-Gruppen im deutschsprachigen Raum wurde die Relevanz von Schreibmüller sichtbar. Er ist an bis zu 4000 »Projekten« beteiligt. Ballweg will er nach eigenen Angaben Telegram erklärt haben. »Telegram war ein Schlüssel für das Aufkommen von Querdenken«, zitiert t-online.de Ballweg am 15. April. Bereits 2018 will Frank Schreibmüller, der sich nach der Aufgabe eines festen Wohnsitzes selbst »Frank der Reisende« nennt, ein Telegram-Netzwerk aufgebaut haben.

Der Nachrichtendienst Telegram ist für User:innen so interessant, da anders als bei WhatsApp kaum Einschränkungen und mehr Optionen bestehen. Über Telegram kommunizieren viele Strukturen und einzelne Personen aus der Bewegung: Bodo Schiffmann, Samuel Eckert, Klagepaten oder Ärzte für Aufklärung. Frank Schreibmüller in München verkörpert eine weitere Personengruppe, die die Proteste mitträgt: Menschen aus dem extrem rechten Spektrum. Denn »der Reisende« wirkt zwar im Hintergrund, ist aber kein Unbekannter. Er machte nicht bloß bei »Honk for Hope« (Hupen für Hoffnung) mit, der querdenkenden Initiative für die Reisebusbranche um Alexander Ehrlich. Vor der Namenswahl »Frank der Reisende« hatte er eine kleine Namensergänzung zu Schreibmüller gewählt: A.d.F. Das Kürzel für »Aus der Familie« verwenden Reichsbürger:innen, um zu erklären, dass sie sich nicht als Staatsbürger:innen der verhassten Bundesrepublik betrachten.

2019 drang Schreibmüller mit Anhängern von »Wodans Erben Germanien« in eine Flüchtlingsunterkunft ein. Die Ermittlungen dazu sind noch nicht abgeschlossen. Der Anführer der rechtsextremen Gruppe, Frank H., muss sich seit dem 13. April 2021 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart mit der »Gruppe S.« wegen des Vorwurfs der Bildung einer terroristischen Vereinigung verantworten, die Anschläge auf grüne Politiker:innen und Moscheen geplant haben soll. Außerdem bewarb »Frank der Reisende« einen Fackelmarsch der rechtsextremen Kleinstpartei »Der III. Weg« unter dem Motto »Multikulti tötet« und lief mit. Dass das eine Partei ist, will er nicht gewusst haben. Bei dem Fackelmarsch sei er lediglich mit einem Licht in der Hand spazieren gegangen. Es sei eine sehr angenehme Form eines Spaziergangs gewesen, sagte er zu Kontraste und t-online.de.

Er sieht sich als Aussteiger aus dem Alltagstrott. Angestellt zu sein, Dinge gegen seinen Willen zu machen, das sei vorbei. Er habe eine »Befreiung vom Angstmodus« gefunden, isst kein Fleisch und möchte nur Hilfe anbieten: »Wer von Herzen gibt, darf auch in voller Liebe empfangen. Damit kann man durchaus leben.« Seine Rolle bei Querdenken spielt er herunter.

In einer Telegram-Gruppe schrieb »Frank der Reisende«, er habe bei Querdenken-Veranstaltungen hinter den Bühnen »Koffer mit Scheinen gesehen«, »davon träumt jeder Unternehmer«. Es seien vor allem Scheine von 20 Euro aufwärts gewesen, »und die Koffer in Reisekoffer-Größe gingen kaum noch zu«, zitiert ihn t-online.de. Auf eine Nachfrage bei dem Treffen mit den Journalist:innen griff Ehrlich ein, der mit einer »›alternativen‹ Journalistin« mitgekommen war, die Bundestagsabgeordnete der Alternative für Deutschland (AfD) im vergangenen Jahr bei der Abstimmung zum erneuerten Infektionsschutzgesetz eingeschleust haben sollen, um zu stören. Über Geld solle nicht geredet werden. Im vergangenen Jahr berichteten verschiedene Medien über Streit um »Markenrechte der ›Querdenker‹-Bewegung« (zeit. de), »fragwürdige Spenden-Tricks« (netzpolitik.org) und »dubiöse Geldflüsse« (t-online.de). Das Geschäft mit der Angst boomt. Die Profiteur:innen kosten solche negativen Schlagzeilen wenig. Kommen sie doch von der ausgemachten Mainstream-Presse.

Ängste und Sorgen schüren allerdings die Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen selbst mit ihren Erlösungs- und Heilsversprechen. Alles würde gut, wenn alles anders liefe, ist das Credo und Mantra. »Die legitimen Gründe der Verzweiflung« schürt »der Agitator«, schreibt Leo Löwenthal in Falsche Propheten (1948), bis zur »nihilistischen Erwartung der totalen Vernichtung«, mit »grotesken Motiven«. Die Rettung liegt in der Abkehr von »den Eliten« und der Hinwendung zu den neuen Heilsbringer:innen.

In Zeiten von Krisen ist die Hoffnung auf ein Ende und die Suche nach Erklärungen eine Form, mit der Situation umzugehen. Die Pandemie dürfte in Deutschland zu den weitreichendsten Lebenseinschnitten nach dem Zweiten Weltkrieg geführt haben. Die Nachrichten über die Zahl der Todesfälle, Inzidenzen oder Impfquoten im Radio – haben sich so Berichte von Siegen, von Truppenbewegungen, vom Rückzug im Volksempfänger angehört, angefühlt? Die Pandemie ist Alltag, die Lockdowns gegenwärtig. Wird es mich treffen, wie soll der nächste Tag, die kommende Woche geplant werden, werden die finanziellen Mittel reichen oder nicht, wen kann ich treffen, wen nicht, was schließt, was bleibt offen? In unserer abgesicherten bundesdeutschen Warenwelt ist anscheinend nichts mehr sicher. Die Pandemie verschärft die Mängel des Gesundheitswesens, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik über Jahrzehnte mit herbeigeführt hat. Das Virus erfasst aber auch die parlamentarische Demokratie und das föderale System.

Die Corona-Pandemie sei die Hochzeit von Verschwörungs-narrativen, sagt Michael Butter, Autor des Standardwerkes »Nichts ist, wie es scheint« – Über Verschwörungstheorien, im Interview mit Zeit Online am 23. Januar 2021. »In unsicheren Zeiten wie der jetzigen gaukeln Verschwörungstheorien Stabilität und Ordnung vor. Es gibt Gut und Böse, alles ist eindeutig erklärbar.« Allerdings habe Corona »keine neuen Verschwörungstheorien hervorgebracht«. Denn »alle, die jetzt in der Pandemie hervorgezogen werden, gab es vorher schon: über die Weltgesundheitsorganisation, über Bill Gates, über 5G, über das Impfen«, sagt der Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Diese verschwörerischen Erzählungen sind »grotesk«, sie entspringen aber auch einem kritischen Denken.

Diese Kritik geht mit einem neuen Reflexivwerden der Moderne einher. In den vergangenen Jahren ist im öffentlichen Diskurs – wie zuvor lange nicht – intensiv über die Lebens- und Produktionsweise der westlichen Industriestaaten diskutiert worden. Ein »Weiter so« in der Waren- und Finanzwelt, wo Besitz und Dinge das Ich ausmachen, wird vor allem seit der Finanzkrise hinterfragt. Das ewige Wachstum sehen selbst Ökonom:innen am Ende ankommen, die dem Kapitalismus wohlwollend gegenüberstehen. »Der Markt« wird den Klimawandel nicht stoppen, brachte es die Ökonomin Ann Pettifor auf den Punkt. Gerade der menschengemachte Klimawandel mit seinen schon länger erfolgenden Veränderungen ist es, der die Menschen zur Umkehr treibt. Dass die Klimakrise »eine reale Bedrohung für die menschliche Zivilisation« ist, sagt längst nicht mehr nur Fridays for Future. Und auch nicht, dass »die Bewältigung der Klimakrise (…) die Hauptaufgabe des 21. Jahrhunderts« ist.

In der Bundesrepublik ist eine neue Lebensreformbewegung entstanden, es ist die dritte. Sie sucht nach alternativen Wegen und geht sie auch: Nachhaltigkeit, recyceln, aufarbeiten und sharen sind im Trend. Rad statt Auto, vegan statt Fleisch, Öko-Bekleidung statt Billigware, handgemacht statt industriell, regional und saisonal statt global und permanent, Ökostrom statt Atomstrom. Die neuen Lebensreformer:innen stellen ihr eigenes Leben um, fordern aber auch von den politischen Verantwortlichen Maßnahmen: Post-Wachstum, Degrowth, die Verringerung von Konsum und Produktion, lauten die Losungen. Eine Umkehr für alle, die es sich leisten können. Das Privileg der Bio-Boheme.

Der Klimawandel sorgt für ein Gefühl der Dringlichkeit und eine Endzeithaltung, die die Bewegung antreiben. Darüber hinaus scheint die neue industrielle Revolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die immer schnellere Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt, erneut eine Sehnsucht nach Entschleunigung und Einfachheit aufkommen zu lassen. Die Pandemie schließlich dürfte das Mensch-Natur-Verhältnis verstärkt in die gesellschaftliche Diskussion gebracht haben. Wie eng dieses Verhältnis ist, wurde in den westlichen Industriestaaten möglicherweise weitgehend ignoriert. Das Virus offenbart, dass die Natur den Menschen beherrschen kann.

Die Stimmung, das Umdenken spiegelte im April 2021 die Aufstellung von Annalena Baerbock als erste Kanzlerin-Kandidatin von Bündnis 90/Die Grünen in der Parteigeschichte. Mit der unmittelbaren Folge, dass die Grünen bei Umfragen vor der krisengeschüttelten Christlich Demokratischen Union lagen – und weit vor allen anderen Parteien im Bundestag. Die neue Lebensreformbewegung ist wie ihre historischen Vorgänger:innen eine Gegen-und Suchbewegung. Sie ist gegen eine Welt, in der die Moderne vor allem in der Wirtschaft weiter vorangetrieben wird, und sucht nach Alternativen.

Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die erste Lebensreformbewegung aus Sorge vor der Industrialisierung, dem Materialismus und der Urbanisierung. Die »Entzauberung der Welt« (Max Weber) durch Ratio und Logos wurde beklagt, durch die unterschiedlichsten Projekte eine Wiederverzauberung versucht: von alternativen Siedlungen und ökologischer Landwirtschaft über vegetarische Ernährung und ganzheitliche Medizin bis hin zu spirituellen Praktiken. Mit dem gesellschaftlichen Wandel durch die industrielle Revolution, die alles und jedes erfasste, sah diese heterogene Bewegung, dass der Mensch von sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Natur entfremdet werde. Der Rationalismus war mehr als fragwürdig geworden.

Ein damaliger Vordenker und -lebender: Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). Der Maler und Sozialreformer, als »Urvater der Alternativbewegung« geachtet und als »Kohlrabi-Apostel« belächelt, propagierte das Leben im Einklang mit der Natur, das auch Freikörperkultur und Veganismus erfordere. Zeitweise lebte er in einer kleinen Kommune bei Höllriegelskreuth im Isartal. In dieser Bewegung zurück zur Natur kam es aber auch zu einer Hinwendung zu den vermeintlich ureigenen Göttern und arteigenen Lebensweisen. Ein rechter Antimodernismus, der nicht bloß den Materialismus abwehren wollte, sondern auch gleich Liberalismus und Humanität.

Diese Sehnsucht nach Verwurzelung im Eigenen erfasste einen Kommunarden Diefenbachs: den Maler Hugo Höppner (1868–1948). Diefenbach gab seinem Jünger jenen Namen, unter dem er bekannt wurde: Fidus. Nicht nur in dem Bild »Lichtgebet« (1911) verdichtete Fidus, der in deutsch-religiösen Gruppen engagiert war, völkisch-nationale Aspekte visuell, sondern auch in seiner »ausgiebigen Runensymbolik«, schreibt Stefanie von Schnürbein in ihrer 1992 veröffentlichten Dissertation Religion als Kulturkritik – Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert. Georg L. Mosse sah in Die völkische Revolution (1991) ein mögliches Hingleiten zu völkischen Positionen bereits in der Romantik angelegt, und zwar durch »die Tendenz zum Irrationalen und Emotionalen«. Alternativ, vegan, spirituell – und rechts.

Diese Ambivalenzen finden sich auch in der zweiten Lebensreformbewegung des 20. Jahrhunderts wieder. Sie entstand in den 1960er Jahren durch Krisen wie den Vietnamkrieg, Rassendiskriminierung, Kolonialismus, den Kalten Krieg, das Ende des Nachkriegsbooms in der Wirtschaft oder die unterbliebene Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Die alternative Bewegung von Hippies, Friedens- und Umweltschutzgruppen bis hin zur Student:innenbewegung hatte bei allem »Love and Peace«, Antiautoritärem und Emanzipatorischem nach rechts offene Motive. Die ersten Jahre der Grünen als parteipolitischer Formation der alternativen Bewegung belegen diese Ambivalenz. Alternativ und rechts hat eine lange und fast vergessene Tradition. Die Verwunderung darüber, wer sich bei den Querdenker:innen und Corona-leugner:innen einreiht, könnte so auch eine Verdrängung offenbaren. Wir sind schließlich »die Guten«.

»Die Guten« werden seit Jahren von konservativen Feuilletons und extrem-rechten Parteien als »Gutmenschen« angefeindet, zu rigoros, zu politisch korrekt, zu grün. Das Schnitzel gönnten sie »den Leuten« nicht mehr, den SUV sowieso nicht. Solche Angriffe wollen mögliche Alternativen zum Bestehenden verhindern oder gar Errungenschaften rückgängig machen. Wenn dieses Buch gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus reflektiert, dann will es sich damit keinesfalls dem »Gutmenschen«-Bashing anschließen, indem es ihm eine weitere Facette hinzufügt. Es will jedoch aufzeigen, dass bei der Kritik an den staatlichen Pandemie-Maßnahmen, dem Suchen nach individuellen Lebenskonzepten, der Hinwendung zur alternativen Medizin oder Spiritualität, dem Eintreten für Tierrechte und dem Schutz der Natur antihumanistische Argumentationen und antiemanzipatorische Ressentiments virulent sind. In der zweiten und dritten Lebensreformbewegung taucht, so die These, Verschüttetes der ersten Lebensreformbewegung wieder auf, von Antisemitismus bis Antifeminismus. In Zeiten der Krise scheinen sie eine verstärkte Relevanz zu bekommen.

Eine der ersten Untersuchungen zur Bewegung der Corona-Leugner:innen, im Dezember 2020 vorgelegt, erfasste auch die parteipolitischen Präferenzen. In der Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste stellten Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei von der Universität Basel fest, dass die Beteiligten eher von links kämen, aber nach rechts gingen. Durch eine Befragung bei den Protesten auf der Straße und eine weitere Befragung in Internetforen und Messengergruppen stellten sie fest, dass 23 Prozent der Befragten bei der letzten Bundestagswahl Bündnis 90/Die Grünen gewählt hätten und 18 Prozent Die Linke. 15 Prozent wählten AfD. Bei der nächsten Bundestagswahl wollten allerdings rund 27 Prozent die AfD auf dem Wahlzettel ankreuzen.

In der Studie Alles Covidioten? Politische Potentiale des Corona-Protests in Deutschland gehen Edgar Grande, Swen Hutter, Sophia Hunger und Eylem Kanol vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung den »Protestverstehern« nach, »die viel oder sehr viel Verständnis für die Anliegen« haben. Das Mobilisierungspotenzial sehen sie im März 2021 »in der politischen Mitte verortet«. Den Zuspruch von Grünen- und Linke-Wähler:innen sehen sie derweil niedriger als ihre Kolleg:innen – im Durchschnitt lägen die Grünen bei 8,29 und Die Linke bei 6,13 Prozent. Kein absoluter Widerspruch zu der Studie von Nachtwey, Schäfer und Frei, sie befragten die Protestierenden. Grande u.a. fragten repräsentativ mehr als 5000 Personen. Beide Studien warnen vor einem erheblichen Potenzial für eine weitere Radikalisierung.

Die dritten Lebensreformbewegung im 21. Jahrhundert tragen vor allem Frauen aus Sorge vor dem Impfen, ist Nadine Frei und Ulrike Nack aufgefallen. Frei und Nack schreiben, dass insbesondere Frauen die Maßnahmen gegen die Pandemie als »leidvolle Erfahrung und Einschränkung ihrer Sorge um Angehörige« wahrnehmen würden. In Frauen und Corona-Protest, noch unveröffentlicht, betonen sie, dass es sich bei den Frauen »um bürgerliche Frauen mit höherem Bildungsabschluss« handele, die offen für »esoterisches Denken« seien. Sie nehmen an, dass diese Frauen die ihnen seit der Romantik zugewiesene Sphäre in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die damit verbundene Rolle »erfüllen und verteidigen«.

Die Romantik idealisierte nicht nur die Natur, sondern auch die Mütterlichkeit. »Die natürliche und umsorgende Weiblichkeit«, so Frei und Nack, sei zu einem »Ideal« geworden, und sie folgern, dass durch das Impfen die angenommene Rolle durch den Staat angegriffen werde. Ihr Protest könnte als ein »Aufbegehren gegen den Entzug ihres Hoheitsgebietes« – des Schutzes der Familien – verstanden werden. Die Frauen können nicht mehr allein entscheiden, mit wem sich ihre Kinder treffen, oder die Kontakte zu Angehörigen in Heimen pflegen. »Überspitzt« formuliert, führen sie aus, dass die »Frauen, die ihr Selbstwertgefühl primär auf diese Rolle der Sich-um-andere-sorgenden Frau aufgebaut haben und die sich durch staatliche Maßnahmen in ihrer Rollenausübung gehindert sehen, aus ihrer Sicht allen Grund« hätten, »gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren: Sie bedrohen ihre gesellschaftliche Existenz. Ihre gesellschaftliche Rolle steht immer dann auf dem Spiel, wenn die Ausführung ihrer Sorge um ihre Angehörigen gefährdet ist.« Man könnte hier auch an die mittlerweile nicht mehr ganz so neue Mütterlichkeit in der Bio-Boheme denken.

Frei und Nack betonen die Affinität vieler Anhänger:innen der Protestbewegung zur Esoterik. Tatsächlich lässt sich im alternativen Milieu insgesamt immer wieder eine latente Sehnsucht nach Spiritualität beobachten. Immer häufiger vermengen sie sich mit Verschwörungsnarrativen, die dadurch Glaubenscharakter bekommen, wofür das Kofferwort conspirituality (aus conspiracy und spirituality) kreiert wurde. »Die Kritik der Religion« ist denn auch »die Voraussetzung aller Kritik«, wie Karl Max in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1834) schreibt. Das Hinterfragen alles vermeintlich religiös Begründeten und/oder angeblich natürlich Bestimmten ist in Zeiten der Pandemie mehr als geboten. Verschwörung und Wahn, Irrationalismus und Panik haben verschiedenen Spektren der alternativen Mitte erfasst. In anderen Milieus wurden auch schon vor Covid-19 fragwürdige Ressentiments oder gefährliche Positionen vorangetrieben.

Diese Weltbilder in den Szenen sind aber auch Bemühungen, sich die Welt vermeintlich zu erklären, zu verstehen, Marx weist darauf hin, dass »der Mensch« die Religion »macht«, und »das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. (…) Sie ist das Opium des Volkes.« Das Bedürfnis nach Religion – Spiritualität und Transzendenz – ist nachvollziehbar. Die Frage, so Erich Fromm, sollte denn nicht sein: Religion oder nicht? Die Frage sollte vielmehr lauten: Welche Religion? In Psychoanalyse und Religion schlägt der Psychoanalytiker aus der Kritischen Theorie bereits 1950 vor, zwischen einer »autoritären Religion« und einer »humanistischen Religion« zu differenzieren.

Die Warnungen vor Querdenken häufen sich. Die Querdenker:innen und Coronaleugner:innen befinden sich in einem Prozess der Selbstradikalisierung. Sie sind keine Rechtsextremen, marschieren aber mit Rechtsextremen auf. Gefälschte Atteste und Impfpässe, erste Brand- und Schmiererei-Anschläge werden der Bewegung zugeordnet. Das Bundeskriminalamt ging bereits im Oktober 2020 in einem internen Papier davon aus, dass auch personenbezogene Straftaten gegen Menschen, die für die Corona-Maßnahmen verantwortlich gemacht würden, »in Betracht« zu ziehen seien sowie objektbezogene Straftaten gegen zuständige Behörden. Einzelne Landesämter für Verfassungsschutz beobachten Querdenken. Im April 2021 verkündete Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), dass die Bewegung nun auch bundesweit beobachtet werde – unter dem neuen Phänomenbereich »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. Schon 2019 erklärte die WHO Impfgegner:innen zur globalen Bedrohung bei der medizinischen Versorgung mit Impfungen. Diese Warnung weist auf die Begrenztheit der geheimdienstlichen Beobachtung hin. Die gefährlichen Weltbilder, die in diesem Buch verhandelt werden, legen nicht minder nahe, dass eine zivilgesellschaftliche Debatte über die Grenzen des Tolerierbaren geboten ist. Bei der Grenzziehung könnte die Zeile von Tocotronic – lange vor der Pandemie vertont – »pure Vernunft darf niemals siegen« mit gedacht werden. Kein Plädoyer fürs Gegenteil: Purer Irrsinn darf ebenso niemals siegen.

Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality

Auto an Auto. Es waren mehrere Hundert Fahrzeuge, die am 27. Januar 2021 einen über einen Kilometer langen Korso durch die Stuttgarter Innenstadt bildeten. Zu der Aktion aufgerufen hatte Querdenken 711, um gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zu protestieren. Manche Autos hupten, andere hatten Warnblinker eingeschaltet, und an vielen waren Botschaften angebracht. Mal mehr, mal weniger eindeutig: »Denkt nach! Es ist Zeit zu hinterfragen« oder »Keine Impfpflicht. Schiebt euch die Spritze in den Arsch«.

Mit der Kundgebung beendete Querdenken 711 eine selbst auferlegte Demonstrationspause. An Weihnachten 2020 hatte Michael Ballweg, Initiator der Bewegung, in einem Video verkündet, den Winter nutzen zu wollen, um »Kräfte für den Frühling« zu sammeln. Den anderen Querdenken-Gruppen empfahl er, ebenfalls auf Aktionen zu verzichten. Per Video erfolgte auch der Aufruf für die neue Protestform. Die sozialen Medien von Blogs und Websites über Facebook und Instagram bis zu Chat- und Telegram-Kanälen sind die medialen Multiplikatoren der Bewegung. So blieb der Appell auch in anderen Städten der Bundesrepublik nicht ungehört. In Hamburg, Köln, Mannheim, München oder Zwickau folgten weitere Autokonvois. Bis zum offiziellen Frühjahrsbeginn konnte die selbsternannte Bewegung für Freiheit und Schutz der Grundrechte doch nicht ausharren. Im April 2021 richtete sie immer noch Auto-Protestfahrten aus.

Anlass für die Wiederaufnahme der Proteste aus dem Vorjahr dürften die neuerlichen Lockdown-Regelungen gewesen sein, die am 19. Januar 2021 von Bund und Ländern beschlossen worden waren. Das geschichtsträchtige Datum ihres offiziellen Aktionsstartes für 2021 weniger. Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz-Birkenau befreit, 2005 beschlossen die Vereinten Nationen, jedes Jahr an diesem Tag den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen. Eine Verbindung zur Querdenken-Bewegung und Corona-Leugnungsszene besteht insofern, als Einzelne daraus eine historische Verbindung zwischen sich und den Opfern des Nationalsozialismus sehen wollen. Sie tragen einen gelben Stern mit der Aufschrift »Ungeimpft«, in Anlehnung an den Stern, den jüdische Menschen von 1941 bis 1945 sichtbar anheften mussten, oder identifizieren sich, wie die zu zweifelhaftem Ruhm gelangte »Jana aus Kassel«, mit Sophie Scholl, die 1943 hingerichtete Widerstandskämpferin von der Weißen Rose.

In der Debatte um das »Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« im November 2020 wurden ebenso Vergleiche mit dem Nationalsozialismus bemüht. Bei Aufrufen zu Protesten vor dem Bundestag, die in den sozialen Medien kursierten, bezeichneten Gegnerinnen die Vorlage als »Ermächtigungsgesetz«. Mit dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933 hatten die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler das Recht erhalten, ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat sowie ohne Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen. Der Reichstag schaffte sich durch die Annahme der Gesetzesvorlage als demokratische Institution selbst ab.

Das Infektionsschutzgesetz hingegen lässt sich natürlich kritisieren, zur Zerstörung der pluralistischen Demokratie führen die Erweiterungen der Befugnisse für die Regierung aber nicht. Auch nicht die angekündigte Ausweitung im April 2021. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland sprach im Bundestag gleichwohl von einer »Gesundheitsdiktatur«. Und der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, schob nach: Diese »Gesetzesvorlage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab«. Diese Vielzahl von begrifflichen und symbolischen Anspielungen auf den Nationalsozialismus im Spektrum der Pandemie-Maßnahmenkritiker:innen legt nahe, dass sie den Termin für den Autokonvoi durchaus bewusst gewählt haben könnten.

Die Kritik an diesem Missbrauch der Geschichte folgte schnell, blendete allerdings oft aus, dass viele Mitglieder der Bewegung tatsächlich fest davon überzeugt sind, sie würden ihrer individuellen Rechte beraubt und eine Diktatur stehe unmittelbar bevor. Sie hoffen mit »Herzensliebe« den »Freiheitsvirus« verbreiten zu können und diese Entwicklung zu stoppen, wie sich Ballweg am 1. August 2020 bei der Demonstration »Tag der Freiheit« ausdrückte.

Bei derselben Gelegenheit stellte auch Markus Haintz, Fachanwalt für Baurecht, Mitgründer von Querdenken 731 aus Ulm und von Anwälte für Aufklärung, die eigene Bewegung in eine historische Tradition: »Die Straße des 17. Juni, auf der wir heute stehen, gedenkt all jener, die damals für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind.« Am 17. Juni 1953 waren Menschen in Ost-Berlin und anderen Städten der DDR mit wirtschaftlichen und politischen Forderungen auf die Straße gegangen, die Bewegung wurde aber gewaltsam unterdrückt. Haintz fuhr fort: »Auch wenn heute keine Panzer mehr rollen, um Proteste niederzuschlagen, so sind wir in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt dennoch an einem Punkt angekommen, an dem der Staat ohne jede tragfähige Begründung willkürlich und unverhältnismäßig und unter Zuhilfenahme von massiver medialer Angst- und Panikpropaganda der staatshörigen Massenmedien eine Agenda durchsetzt, die die Demokratie und den Rechtsstaat massiv gefährdet, die Freiheitskräfte faktisch außer Kraft gesetzt hat und die Menschenrechte und die Menschenwürde mit Füßen tritt.« Und schließlich: »Unter dem Deckmantel des Infektionsschutzgesetzes werden Menschen durch staatlich geförderte Paralleljustiz diskriminiert, Kinder körperlich und psychisch misshandelt, alte und kranke Menschen in Pflegeheimen und Hospizen isoliert und ihrer Menschenwürde beraubt.«

Dagegen müsse die Bevölkerung mobilisiert werden. »Wenn die Menschen begreifen, dass wir alle dieselben Grundbedürfnisse haben, nach Freiheit, nach Gesundheit, Zusammenhalt und Selbstbestimmung, dann hat die verschwindend kleine Minderheit aus Geldadel, Politik und Massenmedien keinerlei Macht mehr über uns (…) Wenn wir zusammenhalten, werden die Masken bei denen fallen, die uns beherrschen und bevormunden wollen.« Er zeigte sich sicher, dass die »Mehrheit der Menschen« der »Corona-Politik« nicht zustimme, »die Masse« habe »lediglich Angst vor staatlichen Repressalien, vor staatlich gefördertem Existenzverlust und der vermeintlichen negativen Meinung anderer«.

Eine schweigende Mehrheit, die von einer Minderheit mit Zugriff auf alle staatlichen und medialen Machtmittel unterdrückt wird, eine »Merkel-« oder »Hygiene-Diktatur«, die nicht davor zurückschreckt, Kinder zu misshandeln und Alte ihrer Menschenwürde zu berauben – träfe irgendetwas davon zu, wäre Widerstand wohl tatsächlich Pflicht. »Wer in einer Demokratie schläft, wird sonst in der Diktatur aufwachen«, warnte Haintz. Der Satz kann als Anspielung auf ein angebliches Zitat von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verstanden werden: »Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.« Klingt gebildet, klingt belesen. Allein, der Dichter hat diesen Satz nicht gesagt, wie Michael Niedermeier weiß. Der Leiter der Berliner Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuches sagte in der Welt vom 28. September 2019, der Satz sei nicht belegt und auch »ganz ungoethisch«. Seine weite Verbreitung zeige lediglich, »dass »Kampfbegriffe der Gegenwart immer in die Vergangenheit zurückprojiziert werden«.

Haintz’ Projektion von der »Hygiene-Dikatur« steigerte sich in der Rede zu einer faschistischen. »Wir wehren uns gegen faschistische Tendenzen, die der deutsche Staat schon wieder hat, beziehungsweise, die sich inzwischen durch Großkonzerne kennzeichnen, die so viel Macht haben, dass sie Politik nach Belieben bestimmen können.« Dabei räumte er offen ein: »Das Wort Faschismus habe ich früher immer nicht verstanden, und ich habe es erst mal gegoogelt.« Das Ergebnis: »Der Begriff Faschismus leitet sich von dem italienischen Wort fascio ab, was Bündel bedeutet.« So weit, so richtig. Indem Haintz den Begriff auf seine Etymologie reduziert, ignoriert er die Ideologie, die darunter verstanden wird. So kann er ihn zur Bezeichnung von Phänomenen verwenden, die damit gar nichts zu tun haben: »Durch die Corona-Krise wurde die ohnehin schon massive Bündelung von Macht und Geld in den Händen weniger noch weiter verschärft. Wir wollen keinen Faschismus, egal unter welchem Deckmantel er sich verbreitet.« Seine Rede, die er in einem T-Shirt mit dem Aufdruck »#Freedum. #Courage« hielt, wurde von großem Applaus begleitet.

Im Januar 2021 verkündete die Basisdemokratische Partei Deutschlands, kurz dieBasis, dass Haintz ihr beigetreten sei. »Es wird Zeit, dass wir die Veränderungen, die wir auf der Straße fordern, auch in die Politik und die Parlamente einbringen«, wird er auf der Website der im Juli 2020 gegründeten Kleinstpartei um die Doppelspitze Andreas Baum und Diana Osterhage zitiert. Sie sieht wie die Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung die Gefahr, dass »mit den Maßnahmen, die 2020 getroffen wurden (…) der Verlust unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf dem Wege des Notstandsrechts« einhergehe.

Auf der Website zitiert die Bundespartei prominente Persönlichkeiten. Pablo Picassos (1881–1973) Aussage, »wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen«, oder Kurt Tucholskys (1890–1935) Behauptung, »das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig«, sollen offenbar die Grundpositionen der Partei wie der Szene, für die sie steht, beglaubigen: Was Regierung und Medien über die Pandemie verkünden, ist nur eine Wahrheit, andere sind nicht weniger legitim. Und: Die Mehrheit des Volkes teilt eigentlich die Auffassungen der Querdenker:innen. Die Pandemie-Maßnahmen kritisiert dieBasis damit nur indirekt. Indem sie »Freiheit, Machtbegrenzung, Achtsamkeit, Schwarmintelligenz« als die vier Säulen angibt, auf denen die Partei ruht, suggeriert sie zudem, dass es um mehr geht als nur um den richtigen Umgang mit einer Pandemie.

Die Termini und Referenzen sowohl in der Rede des führenden Querdenkers als auch in den Statements der jungen Partei lassen keinen Zweifel: Die Bewegung verfolgt eine Strategie der Delegitimierung von Staat und Politik. Darauf wies bereits der Titel der Demonstration am 1. August 2020 in der Bundeshauptstadt hin. »Tag der Freiheit« lautete er, ganz so, als seien die Menschen an den übrigen Tagen unfrei. Doch es werden nicht alleine die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch die Lockdown-Maßnahmen zu einer allgemeinen Unfreiheit aufgebauscht.

Aus dem Spektrum wird gern auf das »Newspeak« in George Orwells 1984 verwiesen. Wie in dem dystopischen Roman manipulieren die realen Eliten der Gegenwart angeblich die Sprache, um politisches Handeln zu beeinflussen. Tatsächlich sind es die Querdenkenden selbst, die Begriffe zu besetzen und umzudeuten versuchen. In ihrer Kritik an den staatlichen Maßnahmen wird Freiheit zu Unfreiheit, Fürsorge zu Bevormundung, Infektionsschutz zu Infektionsangriff und Demokratie zu Diktatur. Dieses Newspeak entwertet die Werte der Demokratie. Und es erschwert jedes Gespräch zwischen Menschen, die die Pandemie-Maßnahmen befürworten, und solchen, die sie ablehnen, weil letztere sich von einer gemeinsamen Sprache verabschieden.

Der Rekurs auf linke und liberale Künstler:innen und Publizist:innen soll dabei suggerieren: »Wir können doch nicht rechts sein.« Den jeweiligen Werkkontext blenden sie aus, sonst könnte sich herausstellen, dass die Zitierten kaum als Kronzeug:innen für die Bewegung taugen.

Die soziale Struktur der Bewegung

Solche Referenzen weisen sogleich auf den kulturellen und sozioökonomischen Hintergrund der Querdenkenden und Corona-Leugnenden hin: Aus einem bildungsfernem Milieu kommen sie sicherlich nicht. Tatsächlich fallen auf den analogen Bühnen und in den digitalen Foren der Bewegung die vielen Angehörigen bürgerlicher Berufe auf: Ärzt:innen wie der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Bodo Schiffmann oder der Facharzt für Mikrobiologie Sucharit Bhakdi, Apotheker:innen, Dozent:innen, Geschäftebetreibende, Lehrer:innen, Selbstständige, Polizist:innen oder Verwaltungsangestellte. Hinzu kommen Persönlichkeiten, die aus anderen Kontexten bekannt sind: Schlagerstar Michael Wendler oder Popstar Xavier Naidoo, Bestsellerautor Thorsten Schulte oder Fußballweltmeister Thomas Berthold, der Journalist und Buchautor Oliver Janich oder der Influencer Samuel Eckert.

Mittlerweile gibt es dank der Baseler Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste von Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei aus dem Dezember 2020 genauere Anhaltspunkte zur sozialen Zusammensetzung der Protestierenden. Für die Datenerhebung hatten die drei eine quantitative Online-Umfrage vorgenommen, aber auch ethnografische Beobachtungen, qualitative Interviews und Dokumentenanalysen durchgeführt. Einen Link zur Online-Befragung posteten sie »in Telegram-Gruppen von Corona-Massnahmen-Kritiker:innen und Querdenker:innen«. Mehr als 1150 Fragebögen wurden ausgefüllt. Ohne die Aussagekraft der erhobenen Daten in Abrede stellen zu wollen, weist das Untersuchungsteam darauf hin, dass die Rückläufe natürlich nur einen Ausschnitt aus der Gesamtgruppe darstellen: »In einigen Telegram-Gruppen wurde explizit vor der Teilnahme an unserer Studie gewarnt.«

Dies vorweggeschickt, verfügten 34 Prozent der Befragten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach eigenen Angaben über ein abgeschlossenes Studium, 31 Prozent über Abitur oder Matura, 21 Prozent über einen Realschulabschluss beziehungsweise Mittlere Reife. Vier Prozent hatten promoviert. Der »oberen Mittelschicht« ordneten sich selbst 32,42 Prozent zu, der »unteren Mittelschicht« 34,28 Prozent und 0,89 Prozent der »Oberschicht«. Eine klare Gewichtung, die im Gegenbild noch sichtbarer wird: Nur 8,61 Prozent sahen sich in der »Arbeitsschicht«, 2,22 Prozent in der »Unterschicht«. 14,03 Prozent fanden, sie gehörten »keiner dieser Schichten« an, und 7,55 Prozent gaben an: »weiß nicht«.

Das gegenüber der Gesamtbevölkerung höhere Bildungs- und Einkommensniveau führte jedoch nicht zu einer besonders hohen Akzeptanz von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Aussage »Ich vertraue meinen Gefühlen und Intuitionen mehr als sogenannten Experten« stimmten 34,46 Prozent »teilweise, sowohl als auch« zu, 17,01 Prozent stimmten »zu«, und 24,74 Prozent stimmten »voll und ganz zu«. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Aussage »Mehr spirituelles und ganzheitliches Denken würde der Gesellschaft guttun«: 41,48 Prozent stimmten ihr »voll und ganz zu«, 25,43 Prozent stimmten zu und 20,14 Prozent stimmten »teilweise, sowohl als auch« zu. Da überrascht es wenig, dass 45,23 Prozent auch »voll und ganz« dem Wunsch zustimmten, die Alternativmedizin möge mit der »Schulmedizin gleichgestellt werden«. 18,49 Prozent stimmen dem »auch zu« und 24,83 »teilweise, sowohl als auch«.

Die Studie bestätigt außerdem, was auf der Straße zu beobachten ist: Frauen sind bei den Corona-Protesten sehr präsent. Das wird in der öffentlichen Diskussion bisweilen mit den gesundheitlichen und spirituellen Aspekten der Bewegung erklärt. In der Studie stimmten Frauen den Aussagen zur Entfernung des Menschen von der Natur, zur Aufwertung der Alternativmedizin und des ganzheitlichen Denkens häufiger zu als Männer. Alleine bei der Aussage »unsere natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen« war die Zustimmungsrate bei den Männern etwas höher.

Nachtwey, Schäfer und Frei haben ihre eigenen Forschungsergebnisse mit denen der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 verglichen, wo es um Einstellungen in der Gesamtbevölkerung geht (Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, herausgegeben von Oliver Decker und Elmar Brähler). Ihr Fazit: »Insgesamt sind Querdenker:innen, soweit sie an unserer Erhebung teilgenommen haben, weder ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich, in einigen wenigen Bereichen sogar eher anti-autoritär und der Anthroposophie zugeneigt«; 64 Prozent sagten, »man solle Kindern nicht beibringen, Autoritäten zu gehorchen«. Eine Mehrheit der Befragten sei auch nicht »der Auffassung, dass auf Minderheiten in unserem Land zu stark Rücksicht genommen wird – was häufig ein eher rechter Topos« sei. Der Nationalsozialismus werde »seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung« und »sozialdarwinistische Haltungen« fänden sich kaum. Eine »große Mehrheit will es Menschen aus anderen Ländern erlauben, ins Land zu kommen und dauerhaft hier zu leben« – was für Rechte inakzeptabel wäre.

Regenbogen- und Reichsfahnen