Verraten - Die Linie der Ewigen - Emily Byron - E-Book

Verraten - Die Linie der Ewigen E-Book

Emily Byron

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Beschreibung

Der zweite, von den Fans sehnsüchtig erwartete Roman aus Emily Byrons fantastischer Trilogie "Die Linie der Ewigen"! Die spannende Geschichte von Aline und ihrem geliebten Daron wird endlich fortgeschrieben… Vorstellungstermin bei der Familie des Zukünftigen – meistens der Alptraum aller Schwiegertöchter in spe... Doch Aline Heidemann nimmt es sportlich; scheint doch das bevorstehende Treffen mit dem Clan der McEags vergleichsweise einfach, gemessen an den Turbulenzen der vergangenen Wochen. Womit Aline allerdings nicht gerechnet hat: dass dieser kalte Dezemberabend ihr bisheriges Leben komplett auf den Kopf stellen und sie in ein noch größeres Abenteuer stürzen wird! Denn plötzlich sieht sie sich nicht nur den erwarteten Anfeindungen aus den Reihen der Ewigen ausgesetzt. Diesmal scheint es überraschenderweise nicht Darons Bruder Mael zu sein, der ihr übel mitspielen will. Bestürzt muss Aline feststellen, dass ihre große Liebe zu Daron abermals auf eine harte Probe gestellt und dass sie unerwartet in die dunklen Abgründe der Familiengeschichte gerissen wird. Und dabei eine Intrige aufdeckt, deren Bösartigkeit so tief geht und so lange währt wie die Existenz der Ewigen selbst. Einmal mehr liegt es allein an ihr, das Chaos zu ordnen und dabei jene zu retten, die sie am meisten liebt. Und als wäre das noch nicht anstrengend genug, plagt sie morgens seit Kurzem auch noch eine merkwürdige Übelkeit... Die junge Autorin Emily Byron hat mit ihrem Debüt "Auserwählt" zahllose Leser begeistert. Auch in ihrem zweiten, von den Fans heiß ersehnten Roman "Verraten" entführt sie wieder in die schaurig geheimnisvolle Welt der Ewigen - voller Jahrtausende alter Geheimnisse, tiefer Liebe, knisternder Erotik und düsterer Gewalt. Und begeistert mit einer hinreißenden Liebesgeschichte, die größer und stärker ist als Zeit und Raum…

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Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks,

einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2014 by Emily Byron

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Jouve

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-95530-516-1

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Inhaltsverzeichnis

TitelImpressum123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657

1

Dunkelheit hüllte den engen Gang ein, der durch eine steinerne Wendeltreppe in das Herz des kleinen Schlosses tief unter der Erde führte. Einzelne Fackeln an den Wänden erleuchteten warm die alten Stufen, die hier und da durch Absplitterungen und tiefe Löcher zu wahren Stolperfallen mutierten. Bei meinem Talent für Tollpatschigkeit eine echte Herausforderung.

„Meinst du nicht, hier sollte dringend mal was getan werden?“, fragte ich meinen stattlichen Begleiter, bei dem ich mich an seinem rechten Arm eingehakt hatte.

Langes, nachtschwarzes Haar floss über seine Schultern fast bis auf Ellenbogenhöhe hinab und bildete einen atemberaubenden Kontrast zu dem dunkelroten Hemd, das an Kragen und Knopfleiste mit ebenso schwarzen Schnörkeln bestickt war.

„Wenn das gerade deine einzige Sorge ist, Aline, dann hast du meine volle Bewunderung. Man trifft schließlich nicht jeden Tag zum ersten Mal seine zukünftige Familie.“

Neckisch zwinkerte Daron mir zu, doch konnte er den Hauch Unsicherheit nicht verbergen, der sich hinter dem funkelnden Grün seiner Augen abzeichnete. Er war tatsächlich nervös.

Na, wenigstens einer von uns beiden.

Mit meinem Ellenbogen versetzte ich ihm einen leichten Stoß in die Rippen, während wir die letzten Stufen nach unten nahmen, und hoffte, dass sich seine Anspannung nicht auf mich übertragen würde. Irgendwie tat es mir richtig leid, dass das kommende Event Daron so zu schaffen machte, während ich doch relativ gelassen blieb. Nach einer unerwarteten Begegnung mit dem Tod, der Vergewaltigung durch seinen Bruder und einem beinahe geglückten Suizid konnte mich einfach nichts mehr so leicht aus der Fassung bringen.

Na ja, fast nichts.

Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer mich hinter der schweren Holztür mit den massiven Eisenverschlägen erwartete, die am Ende der Treppe vor uns aufragte – darum machte ich mir keine Sorgen. Es gab nur einen einzigen Namen, der mich, sobald ich an ihn dachte, bis ins Mark erschauen ließ.

Mael.

Einer von Darons großen Brüdern.

Er war es gewesen, der von Anfang an meine Beziehung zu Daron hatte sabotieren wollen und dem dafür wirklich kein Mittel zu schade gewesen war. Er hatte ohne Skrupel gelogen, manipuliert und gemeuchelt, bis ihm schließlich ein Pakt meinerseits mit dem Schicksal Einhalt gebot. Ein Pakt, der mir lediglich eine Fifty-fifty-Chance zu überleben eingeräumt hatte und den ich trotzdem bereit gewesen war einzugehen, um Darons Leben zu retten. Ich hatte Glück gehabt: Das Schicksal war an diesem Tag mit dem rechten Fuß aufgestanden und hatte mein Angebot akzeptiert. Hätte es das nicht … daran mochte ich überhaupt nicht mehr denken.

Mael war derjenige gewesen, der mich erst in diese Situation gebracht hatte. Zu tief war er mit seiner Aufgabe verbunden, als dass er es hätte akzeptieren können, in absehbarer Zeit von einem meiner - noch nicht einmal gezeugten - Söhne abgelöst zu werden. Dabei stand hinter allem Hass und Neid, die sein Innerstes verdarben, nichts anderes als die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, einer Frau und einer Familie. Ein Wunsch, der ihm nie erfüllt werden konnte, ihm ebenso wenig wie den anderen sieben Männern seiner Linie. Denn nur Daron, mein sanfter Riese, trug die Bürde auf seinen Schultern, die Generation der Ewigen weiterzuführen, indem er seine wahre Liebe fand. Für seine Brüder bedeutete diese schicksalhafte Genverteilung im besten Fall Liebe auf Zeit, im schlimmsten Fall ewige Einsamkeit. Vielleicht täuschte ich mich aber auch gewaltig, und jede Einsamkeit, egal wie lange sie dauerte, war allemal besser als die Aussicht, eines Tages den Menschen, den man liebte, zurücklassen zu müssen.

„Kleines, bist du bereit?“, fragte mich Daron und bedachte mich mit einem Blick aus seinen Smaragdaugen, der mir die Knie weich werden ließ. Noch immer konnte ich nicht fassen, welche Verbindung zwischen diesem maskulinen Hünen und mir bestand. Nie hätte ich gedacht, dass solch ein Bild von einem Mann mich jemals lieben würde. Mich, die Zynikerin mit den wuscheligen, roten Haaren und der vorlauten Klappe, die mich ungebremst in jedes Fettnäpfchen im Umkreis von fünfzig Metern springen und darin suhlen ließ wie ein kleines Ferkel.

Ich gönnte mir einen kurzen Augenblick, in dem ich mir Darons Liebe bewusst wurde, und sog dabei jeden Zentimeter seiner umwerfenden Gestalt in mich auf, betrachtete seine Größe und bewunderte seine breiten Schultern, die unter seinem Hemd verborgen abwärts in einen knackigen Sixpack mündeten, an dessen Ende sich das befand, was mir schon so manche Nacht versüßt hatte. Beim Gedanken daran begann sich ein leichtes Flackern entlang der Nervenbahnen zwischen meinen Beinen auszubreiten, doch bremste ich umgehend das anlaufende Kopfkino und erstickte die auflodernde Flamme im Keim.

Jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für erotische Fantasien.

Ich atmete tief durch, straffte meine Schultern und drückte meinen Busen nach vorn, der eingeschnürt in ein straffes Korsett gleich einem Kinderpo aus dem großzügigen Ausschnitt hervorgepresst wurde. Kleider und Röcke waren so gar nicht mein Stil, aber anlässlich des bevorstehenden Ereignisses hatte ich mich von Daron überreden lassen, ausnahmsweise über meinen Schatten zu springen. Man konnte seinem zukünftigen Schwiegervater beim ersten Kennenlernen einfach nicht in Jeans gegenübertreten. Zumindest nicht, wenn dieser Schwiegervater selber der Linie der Ewigen entstammte und älter war als alles, was man sich vorstellen konnte.

Also war Daron mit mir einkaufen gegangen – oder das, was er so unter „einkaufen“ verstand. Er hatte mich zu seinem persönlichen Lieblingsschneider gebracht, der Maß genommen und mir ein Kleid auf den Leib gezaubert hatte, das meiner Meinung nach etwas zu sehr old fashioned war.

Cremefarbene Seide und Chiffon verschmolzen zu einer pompösen Sinfonie aus Rüschen, die sich um meinen Ausschnitt und um andere Teile des Kleides wölbten, so als wäre ich Marie Antoinette auf ihrer letzten Party. Vielleicht war ich ja auch so was Ähnliches, wer konnte das schon wissen?

Als Daron mich das erste Mal in diesem Kleid mit dem bauschigen Rock gesehen hatte, hatte es ihm die Sprache verschlagen, so begeistert war er von meinem Anblick gewesen. In dem Moment war mir klar geworden, dass es für mich kein Zurück gab, egal wie unwohl ich mich in dem Fummel fühlte. Also hatte ich schön meine Klappe gehalten, mich artig für mein neues Gewand bedankt und Daron sich noch eine Weile an meinem Auftritt als Sahne-Baiser erfreuen lassen, während Gustave, der Hausschneider der McÉags, die letzten Fäden an meinen Trompetenärmeln entfernte.

Trompetenärmel.

Auch das noch.

„Alles klar, Baby, die Show kann beginnen!“, zwinkerte ich Daron aufmunternd zu und gab ihm noch einen kleinen Kuss auf die Wange. Ein Lächeln huschte über sein angespanntes Gesicht und zeigte mir für eine Sekunde die weiten, grünen Auen hinter seiner Iris, welche sich sanft im Wind wiegten.

„Na dann … los geht’s!“

Mit diesen Worten drückte Daron die schwere Eisenklinke herunter und öffnete die Tür.

Mir stockte beinahe der Atem.

Wenn ich auch mit vielem gerechnet hatte – damit ganz bestimmt nicht.

2

Hatte ich nicht gerade noch gesagt, ich wäre nicht nervös gewesen? Dann streichen Sie das bitte.

Und zwar ganz schnell.

Innerhalb von Sekunden machte ich mir schlagartig in den Reifrock, zumindest innerlich. Äußerlich versuchte ich weiterhin den coolen Schein zu wahren. Daron entging meine Reaktion allerdings nicht, und er drückte ganz leicht meine Hand, als wollte er sagen, dass alles gut werden würde. Leider half das auch nicht viel.

Vor mir erstreckte sich ein großzügiger Raum, dessen Wände und Boden aus den gleichen alten Steinquadern bestand wie der Treppenabgang, durch den wir gekommen waren. Hier und da warfen einige Fackeln ihr Licht auf antik aussehende Wandteppiche, und ich fragte mich, aus welchem Ritterfilm der Fünfzigerjahre die wohl stammen könnten. Fast erwartete ich, jeden Moment Robert Taylor als Ivanhoe um die Ecke schreiten zu sehen. Mit den Trompetenärmeln wäre ich jedenfalls glatt als Rebecca durchgegangen.

An den Seiten links und rechts befanden sich je vier Stühle aus dunklem Holz, wobei das nicht annähernd der Bezeichnung entsprach. Ich hätte vielmehr das Wort Thron gewählt, aber das musste ich mir für die Sitzgelegenheit am gegenüberliegenden Ende des Raumes aufsparen. Wie die anderen acht Holzstühle war er mit zahlreichen Schnörkeln und seltsamen Tierköpfen an den Enden der Armlehnen versehen, jedoch um Einiges größer und breiter. Grüner Samt überzog die Sitzfläche und die Rückenlehne, die an sich schon einem Kunstwerk glich. Um die Polsterung schnörkelten sich meisterhaft geschnitzte Ranken, die sich empor schlängelten zu einem gigantischen Drachen mit gespreizten Flügeln, der sich mit offenem Maul bedrohlich über dem darauf Sitzenden erhob.

Ach du dickes Ei.

Doch so imposant dieses Stühlchen auch war – das, was sich darauf befand, ließ mir richtig den Atem stocken.

Unter dem Drachen, beide Arme auf die Lehnen gestützt, saß ein Mann, dessen Anblick mir nur allzu vertraut war. Kurz musste ich blinzeln, weil ich dachte, dass mir meine Sinne einen Streich spielten.

Auf dem Thron saß Daron. Aber nein, das konnte doch nicht sein – schließlich stand Daron links von mir und hielt meine Hand. Ein kurzer Seitenblick aus den Augenwinkeln verschaffte mir Bestätigung: Daron stand wirklich neben mir.

„Tretet näher“, vernahm ich in diesem Augenblick die Stimme des Unbekannten.

Sogleich atmete ich ein klein wenig erleichtert auf. Auch wenn es eine wunderbar voluminöse Stimme war, so tief und felsig wie ein Vulkankrater, so war es nicht die Stimme meines sanften Riesen.

„Ich grüße dich, Vater“, erwiderte Daron neben mir und machte einige Schritte nach vorn, während er mich dabei sanft, aber bestimmt mit sich zog.

Vater?

O Mann, Aline, du hast dich mal wieder voll ins Bockshorn jagen lassen.

Zu meiner Verteidigung musste allerdings gesagt werden, dass mein Liebster mir zwar schon berichtet hatte, wie ähnlich er seinem Vater sah, dabei aber das nicht gerade unwichtige Detail vergessen hatte, dass sie sich fast wie Zwillinge glichen. Darüber würde ich nachher noch ein paar Takte mit ihm reden müssen.

Vor dem Thron angekommen legte sich Daron die Hand, mit der er mich festgehalten hatte, aufs Herz und verbeugte sich kurz. Ein Lächeln glitt über das Antlitz seines Vaters, das sich, wie ich aus der Nähe nun erkennen konnte, doch in manchem von Darons Gesicht unterschied. Seine Züge waren nicht ganz so markant, die Lippen nicht ganz so voll, und die Augen waren von einem so hellen Blau, dass es beinahe silbern wirkte. Ich kannte nur einen der Achtlinge, der noch hellere Augen besaß.

Cayden, auch Satan genannt.

Der Tod des Zornes und ein wahrhaft ehrenwerter Mann.

Weiter kam ich mit meinen Überlegungen nicht, denn gerade als ich die Fältchen studierte, die sich bereits um seine Augen und den Mund gebildet hatten, blickte Darons Vater auf mich herab.

Hitze schoss mir ins Gesicht, und ich war versucht wegzuschauen, doch ich fühlte mich wie hypnotisiert. Ich konnte einfach nicht sittsam die Augen niederschlagen; zu sehr faszinierte mich der geradezu majestätische Anblick des Ewigen. Ich schaffte gerade so noch einen höflichen Knicks, wobei ich mir dabei schon ziemlich affig vorkam. Überhaupt war für mich in diesem Moment alles irgendwie affig. Aline Heidemann, knicksend wie eine Hofdame aus dem 18. Jahrhundert, dazu in diesem Kleid … Nein, das war alles so gar nicht mein Stil. Aber gut, ich saß schließlich nicht daheim auf der Couch, sondern hatte an diesem Abend eine nicht gerade unwichtige Aufgabe zu meistern. Also steckte ich mein aufkommendes Unwohlsein in eine innere Schublade und verschloss sie sorgsam mit einem heimlichen Grummeln. Das hier war nun einmal Teil der offiziellen Einführung in die Familie, und da galt es, sich zusammenzureißen.

Für Daron und unsere Liebe.

Ha!

Als ob ich dafür nicht schon genug Opfer gebracht hatte.

Wenn ich nur ans Cubarium dachte …

„Du bist also Aline“, wandte sich Darons Vater an mich, ohne auch nur für eine Sekunde seinen Blick von mir zu nehmen. Die Hitze fing allmählich an, wie Quecksilber in einem Fieberthermometer von unten nach oben zu schießen. Zumindest fühlte es sich so an. Darons Vater taxierte mich genauestens, aber obwohl sich meine Knie weich wie Butter anfühlten, widerstrebte es mir, die Augen niederzuschlagen. Wenn ich eines gelernt hatte in den letzten Wochen, dann, dass ein guter Bluff in Darons Welt mehr wert war als das ehrlichste Tiefstapeln. Wäre ich dem Blick jetzt ausgewichen, wäre mir das sicher als Unterwürfigkeit ausgelegt worden. Also starrte ich reglos zurück und versuchte derweil, an etwas anderes zu denken, das mich ablenkte.

Kleine, flauschige Kaninchen zum Beispiel.

In Pink.

Ja nee, Aline, is klar!

Meine Kühnheit schien sich offenbar auszuzahlen. Ein amüsiertes Funkeln trat in die Augen meines Gegenübers, und ein wissendes Lächeln offenbarte eine ebenso strahlend weiße wie perfekte Zahnreihe. Verdammt, was war an diesen Kerlen eigentlich nicht perfekt? Allerdings blieb mir keine Zeit, weiter über die offenbar vererbte Makellosigkeit der Ewigen zu grübeln, denn erneut vernahm ich die markante Stimme von Darons Vater.

„Ich bin Luan McÉag. Willkommen auf Schloss Éaleigh, dem Rückzugsort der Ewigen.“

Rückzugsort, ja, das traf es wirklich. Angereist waren wir über die Landstraße hinein ins Nirgendwo, mitten durch zahlreiche kleine Dörfer und Örtchen hindurch, von denen ich mir noch gedacht hatte, wie sehr sie – Verzeihung – am Arsch der Welt lagen. Irgendwann war Daron mitten in einem Waldstück links auf einen unbefestigten Weg abgebogen. Ein kleines, fast völlig überwuchertes Schild mit Pfeil hatte uns zu einem Schloss Rosenhain gewiesen. Während wir in Darons Geländewagen über den Feldweg gerumpelt waren, hatte er mir erklärt, dass dies der offizielle Name für die Öffentlichkeit war. Ein gälischer Schlossname mitten in Süddeutschland, das wäre wahrlich viel zu auffällig gewesen. Ich hatte daraufhin die Frage gestellt, wieso sich die Ewigen ausgerechnet hier niedergelassen hatten, wo es doch so viele schönere Orte auf der ganzen weiten Welt gab. Mir wären da auf Anhieb locker hundert eingefallen. Die Malediven beispielsweise. Oder die Bahamas. Hier war es schließlich vergleichsweise nass, kalt und vor allem langweilig. Daraufhin hatte Daron geschmunzelt und mir das Knie getätschelt. Eben weil es langweilig sei, hätte seine Familie hier garantiert Ruhe und Abgeschiedenheit, erläuterte er mir. Touristen würden so gut wie nie aufs Schloss kommen, und wenn, würden sie bereits am schmiedeeisernen Tor zur Umkehr gezwungen. Ohne Chipkarte und Sicherheitscode gab es nämlich dank der heutigen Technik keinen Einlass. Ja, das konnte ich als Argument für die Platzwahl gelten lassen.

Ein leiser Räusperer Darons ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich war mal wieder abgedriftet. Zugegeben, nicht gerade eine meiner besten Eigenschaften. Hastig beeilte ich mich, Luans Gruß angemessen zu erwidern.

„Habt Dank für die Einladung, Luan McÉag, Vater der Ewigen. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenlernen zu dürfen.“

Das war zwar keine Glanzleistung, aber immerhin erinnerte ich mich an die rituelle Begrüßungsformel, die Daron mir vor unserem Aufbruch eingebimst hatte. Es galt, dem ältesten der Ewigen Respekt zu zollen, und durch mein Starren hatte ich genau genommen gerade die Etikette verletzt. Aber ich konnte einfach nicht anders. Von Darons Vater Luan ging eine derart intensive Ausstrahlung aus, dass ich mich wie eine Büroklammer zu einem Magneten hingezogen fühlte.

Aufmerksam musterte Luan mich weiter, bis er mit einem leichten Nicken meinen Gruß und somit meine Anwesenheit akzeptierte.

Die erste Hürde war geschafft.

Klasse!

Im schlimmsten Fall hätte sich Darons Vater sonst erhoben und wortlos den Saal verlassen. Dann hätte ich später die Nacht mit ihm verbringen und ihm aktiv beweisen müssen, dass ich seines Sohnes würdig war. So ähnlich wie das Recht eines Gerichtsherren auf die erste Nacht mit einer Frischvermählten, bekannt als ius primae noctis, was jedoch – so wusste ich - von den Gelehrten mittlerweile als Mythos enttarnt worden war. Aber ob jetzt wahr oder nicht, Alan hatte mir vor Kurzem mit einem frechen Grinsen im Gesicht von Papa McÉags vermeintlichem Vorrecht erzählt. Auf meine Frage, ob das sein Ernst sei, waren seine Mundwinkel noch weiter gen Norden gewandert, untermalt von einem nichtssagenden Schulterzucken. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob Alan mich nicht verarscht hatte. Zuzutrauen war es ihm allemal. Darons Lieblingsbruder hatte einen mehr als gewöhnungsbedürftigen Humor, aber ich mochte ihn gerade wegen dieser direkten und oftmals nicht ganz protokollgerechten Art. Woher kam mir das nur bekannt vor?

„Bitte nenne mich Luan.“ Mit diesen Worten erhob sich Darons Vater von seinem Platz und schritt die drei Stufen vom Podest hinab. Mein Herz begann Richtung Südpol zu rutschen. Am liebsten hätte ich nach Darons Hand gefasst, doch wusste ich instinktiv, dass mir das ebenfalls als Schwäche ausgelegt werden konnte. Also ballte ich schnell meine linke Hand zu einer Faust und drückte sie eng an meine Seite. Gänsehaut kribbelte mir das Rückgrat hinauf, als sich Luan vor mir aufbaute. Er stand seinem Sohn wirklich in nichts nach, weder in körperlicher Größe noch in der Optik. Wenn das ein Ausblick auf Darons Gestalt in der Zukunft war, dann konnte ich mich wirklich glücklich schätzen. Es war völlig klar, warum Abigail sich einst so haltlos in Luan verliebt hatte.

Nach meinem erzwungenen Selbstmordversuch vor einigen Wochen hatte ich Darons Mutter in der Anderswelt kennengelernt und war beeindruckt gewesen von ihrem geradezu elfenhaften Wesen. Sie war so ganz anders als ich. Leider hatte sie sich zu ihren Lebzeiten nicht mit Luans Berufung und ihrem Schicksal als Bewahrerin anfreunden können. So sehr sie Luan auch geliebt hatte, die Verzweiflung ihres Verstandes hatte letztlich über die Liebe ihres Herzens triumphiert. Sie hatte Darons Vater mit einem anderen betrogen, um hierdurch in nicht gerade rühmlicher Absicht ihr Schicksal zu besiegeln. Eine Bewahrerin konnte zwar weder ihre Reinheit durch ein selbstloses Opfer verlieren noch war es ihr gestattet, sich selbst das Leben zu nehmen, doch ebenso wenig wurde ihr im Falle eines Fehltritts nach ihrer Vermählung Gnade gewährt. Die Sünde, die sie begangen hatte, bedeutete gleichzeitig auch ihr Ende. Da waren die Reglements der Ewigen gnadenlos. Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, hatte es Kian, dem Tod der Wollust und einem von Abigails acht Söhnen, oblegen, seine Mutter zu holen.

Kian aber war zu schwach gewesen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Entgegen allen Regeln hatte deshalb Mael an seiner Stelle den Auftrag übernommen - um seinen Bruder zu schützen und so noch ein letztes Mal seiner geliebten Mutter zu begegnen. Dieses Erlebnis hatte Mael bis ins Mark erschüttert und seinem ohnehin schon labilen Wesen den Rest gegeben. Abigail hatte mich in der Anderswelt wissen lassen, wie sehr sie es bereute, für den Wahn ihres Sohnes verantwortlich zu sein, und mich gleichzeitig um Vergebung für all seine Taten gebeten. Es war mir zwar nicht leicht gefallen, doch tatsächlich hatte ich Mael verziehen, was mir wiederum die Rückkehr in die diesseitige Welt ermöglicht hatte.

Fragen Sie mich jetzt aber bitte nicht, wie. Die Sache mit den Parallelebenen und deren Gesetzmäßigkeiten konnte schon verdammt verzwickt sein, und bis jetzt hatte ich sie immer noch nicht ganz kapiert. Allerdings ich war erst seit Kurzem eingeweiht, während Daron schon dreihundertzehn Jahre Zeit gehabt hatte, sich an sein Schicksal zu gewöhnen. Das sollte man ruhig mal nebenbei erwähnen.

Da stand ich also nun im Keller eines alten Schlosses irgendwo im Nirgendwo und ließ mich von dem ältesten noch lebenden Ewigen von Kopf bis Fuß mustern. Eine nicht gerade angenehme Situation, zumal er genau genommen auch noch mein zukünftiger Schwiegervater war. Hätte mir das Korsett das Atmen nicht derart erschwert, hätte ich am liebsten laut losgelacht, so surreal erschien mir alles auf einmal.

Gerade als ich diesen Gedanken spann, hob Luan überraschend seine rechte Hand und legte sie mir ohne Vorwarnung auf meinen Ausschnitt, unter dem mein Herz einen gewaltigen Satz machte. Ich war so überrumpelt, dass ich ihm aus Reflex beinahe eine gescheuert hätte. Schwiegervater hin oder her, Grapschen war selbst für einen Ewigen nicht drin. Doch in der Sekunde, in der ich Luan gegenüber protestieren wollte, vernahm ich seine Stimme in meinem Kopf, dumpf wie durch eine dämmende Wand aus Watte.

„Ein solch tapferes Herz und eine noch reinere Seele. Ich sehe, was du erlitten hast, Aline. Ich sehe, was du bereit warst, zu geben, und das, was du noch geben wirst. Ich spüre, wie entschlossen dein Blut durch deine Adern strömt und wie schwer es dir oftmals fällt, dein Temperament zu zügeln. Aber deine Liebe zu Daron ist tief und echt.“

In diesem Moment erfasste mich eine Welle von Erinnerungen, griff mir von hinten ins Genick und drückte mich mit voller Wucht nach vorn. Ich sah meine früheste Kindheit, meinen sechsten Geburtstag, an dem mein geliebter Vater mir eine Porzellanfigur eines sich küssenden Paares geschenkt hatte, die ich bis heute wie einen Schatz aufbewahrte. Ich sah meine Mutter, wie sie uns Pudding kochte, während wir zusammen zum Spielplatz gingen, ich sah meine Schulzeit, meine Pubertät, den ersten Liebeskummer, den Tod meines Vaters, meinen ersten Kuss, mein erstes Mal, meine Begegnung mit Daron, meine schönsten Gedanken und meine peinlichsten Vergehen. Alle Gefühle von Freude über Wut bis zu Trauer und Schmerz durchströmten meine Nervenbahnen wie kochend heißes Wasser und drohten, mich von innen heraus zu verbrühen. Die Flut der Emotionen war so überwältigend, dass ich kaum mehr Luft bekam und mich fühlte, als würde ich in ihrem Strudel ertrinken.

So schnell wie er sie mir aufgelegt hatte, nahm Luan seine Hand wieder von meinem Dekolleté und hinterließ neben dem warmen Abdruck auf meiner Haut eine plötzliche Leere in meinem Herzen. Ich war völlig unvorbereitet innerhalb von Sekunden wie eine Musikkassette aus den Achtzigern durch mein ganzes Leben gespult worden und genauso hart wieder im Hier und Jetzt angekommen. Rewind, Fast Forward, Stop und Play – so schnell, dass ich Mühe hatte, nicht zu straucheln. Mein Kopf surrte von all den abgerufenen Szenen, und leichte Übelkeit begann in meiner Magengegend zu schwelen. Mein Schädel fühlte sich an wie in einen Schraubstock gezwängt, und ich fragte mich, ob Darons Vater gerade eine Art Gehirnwäsche an mir vorgenommen hatte, indem er mich durch sein Handauflegen zu einem ungewollten Seelenstriptease gezwungen hatte. Ein mehr als beunruhigender Gedanke. Es gab so viel Privates, das ihn einfach nichts anging, Ewiger hin oder her. Schließlich wollte ich mich nicht mal selber an alles aus meiner Vergangenheit erinnern. Da hatte ein Zweiter erst recht nichts in meinem Kopf verloren.

Ich kam allerdings gar nicht erst dazu, zu fragen. Noch während ich leise keuchend versuchte, die Contenance zu bewahren, verbeugte Luan sich vor mir und sprach die nächsten Worte laut aus.

„Willkommen in der Familie, Aline, Bewahrerin der Ewigen.“

3

Wie auf Kommando öffnete sich nur einen Augenblick später eine Tür links hinter dem Drachenthron. Sie war so geschickt durch einen der Wandteppiche verdeckt, dass ich sie glatt übersehen hatte.

Nicht zu übersehen waren nun dagegen die sieben stattlichen Hünen, allesamt in Schwarz gekleidet, die einer nach dem anderen durch die Tür in den Thronsaal traten. Einige Gesichter waren mir fremd, doch drei erkannte ich auf Anhieb.

Cayden betrat als Erster den Raum. Seine nahezu weiße Mähne funkelte mit dem Silber seiner Augen im Licht des Feuers um die Wette. Gerade als ich ihn herzlich begrüßen wollte, schoss er mir sekundenschnell einen Blick zu, der mich umgehend innehalten ließ. Nicht jetzt, schien er mir sagen zu wollen, und verwundert blieb ich stehen. Ohne mich weiter anzusehen schritt er zum vordersten Sitzplatz auf der linken Seite und setzte sich.

Okay. Das bedeutete wohl, dass ich die Klappe halten und abwarten sollte.

Auch so eine Sache, mit der ich meine Schwierigkeiten hatte.

Als Nächster folgte ein Mann mit kinnlangen, rotblonden Haaren, die aussahen, als wären sie von einem heftigen Windstoß zerzaust worden. Er würdigte mich keines Blickes, was mich etwas verunsicherte, und setzte sich auf der rechten Seite auf den Stuhl genau gegenüber von Cayden.

Der Dritte, der den Saal betrat, war mir einer der Liebsten. Alan, nie um einen blöden Spruch verlegen und ein wahrhaft treuer Freund in schweren Zeiten, selbst wenn seine Loyalität mir gegenüber die Zerstörung seiner eigenen kleinen Welt bedeutete. Alans ganze Liebe gehörte Franziska, der Hausärztin der McÉags und gleichzeitig zigfachen Urenkelin des einst irrtümlich als Monsterschöpfer bekannt gewordenen Frankenstein. Jener hatte vor unzähligen Jahren einen Pakt mit den Ewigen geschlossen: Wenn sie ihm trotz seiner voranschreitenden Krankheit sein Leben gewährten, würde er seine wertvolle Forschungsarbeit fortan in ihren Dienst stellen. Die Ewigen hatten eingewilligt. Seither war es die Bestimmung jedes Nachfahren der Steins, als Arzt im sogenannten Cubarium die Körper der Ewigen zu bewachen, wenn diese ihre menschliche Hülle verließen, um in der Anderswelt ihren Aufgaben nachzugehen. Alan und Franziska liebten sich von ganzem Herzen, und doch war ihre Liebe von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn Alan war zeugungsunfähig wie alle sieben Sündentode. Ohne Samen kein neuer Spross, kein neuer Nachfahr im Dienste der Ewigen. Nur mein Daron, der reine Tod, besaß die Fähigkeit, Kinder zu zeugen.

Mit einer Bewahrerin.

Also mit mir.

Ja, da hatte ich auch erst mal mächtig geschluckt.

Ehrlich gesagt, kaute ich da noch immer gewaltig dran, denn in meinen Augen war das Ganze furchtbar ungerecht, und Ungerechtigkeit verabscheute ich noch mehr als Lakritze. Während es Daron und mir vergönnt war, unsere Liebe so lange, wie wir wollten, in vollen Zügen zu genießen, waren seine sieben Brüder dazu verdammt, ihr Herz entweder für immer für sich zu behalten oder zu lieben mit dem Wissen, eines Tages gehen zu müssen, ohne jemals wiederzukehren. Auch wenn Franziska als Eingeweihte darüber Bescheid wusste, welches Schicksal ihr bestimmt war, und sie deshalb ihre Beziehung zu Alan geheim hielt, hatte beispielsweise Laurin, Caydens große Liebe, nicht den Hauch einer Ahnung, an wen sie ihr Herz verloren hatte. Und genauso wenig wusste sie davon, dass sie eines Tages nach Hause kommen und ihr Heim verlassen vorfinden würde. Jedem der Ewigen stand die Entscheidung frei, gleich einem Casanova durch sämtliche Betten zu turnen und dabei das Singleleben in vollen Zügen auszukosten, oder sich eine Partnerin auf Zeit zu suchen, mit der sie gemessen an der Dauer ihres eigenen Daseins nur einen Wimpernschlag gemeinsamen Glücks erfahren durften. Irgendwann kam für jeden, der sich für eine feste Partnerschaft entschied, der Zeitpunkt, untertauchen zu müssen. Wie sollte man seiner Partnerin denn auch erklären, dass man nicht alterte, während sie dagegen immer faltiger und gebrechlicher wurde? Ich hatte Laurin zwar bisher noch nicht kennengelernt, doch hatte sie allein bei dieser Vorstellung bereits mein tief empfundenes Mitgefühl. Manche Bestimmungen des Schicksals waren an Grausamkeit einfach nicht zu überbieten.

So bedachte ich Alan mit einem warmen, wenn auch traurigen Blick, als er an mir vorüberging und sich neben Cayden setzte. Ich seufzte kurz, um die Schwere zu verscheuchen, die sich nahezu unbemerkt auf mein Herz gelegt hatte, und widmete meine ganze Aufmerksamkeit den beiden nächsten Männern, die durch die Geheimtür kamen. Der vordere besaß so strahlend türkise Augen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie bildeten einen atemberaubenden Kontrast zu seinen schwarzen Haaren, die er zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Der andere dagegen ließ seine schulterlangen Locken, wie nur die Natur sie zustande brachte, ungebändigt sein Gesicht umrahmen. Mit gesenktem Haupt ging er an mir vorbei. Als er sich neben Alan platzierte, kam mir für einen Moment der Gedanke, er würde mit seinen Haaren sein Gesicht gegen unerwünschte Blicke abschirmen wollen. Keine Ahnung wieso, aber in meinem Magen breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus, das ich schnell wieder zu unterdrücken versuchte. Es gab gerade Wichtigeres, auf das ich mich konzentrieren musste. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass ich hier nun alle von Darons Brüdern kennenlernte.

Ein Stich fuhr mir durchs Herz und ließ es innerhalb einer Sekunde mehrere Takte schneller schlagen. Wenn das wirklich Darons Brüder waren und sie, wie ich vermutete, der Geburtsfolge nach den Raum betraten, dann wusste ich nur zu gut, wer als Nächstes in der Tür erscheinen würde.

Mit schlagartig trockener Kehle wandte ich meinen Blick wie in Zeitlupe in die Richtung, aus der bisher alle Männer gekommen waren. Hatte ich gedacht, ich wäre auf dieses Zusammentreffen vorbereitet gewesen, so musste ich mir eingestehen, dass ich mich gründlich getäuscht hatte.

Mael stand in der Öffnung; seine Haare fielen ihm wie ein Rahmen aus goldenen Wellen über die Schultern fast bis zu den Hüften. Auch wenn er noch einige Meter von mir entfernt war, fühlte ich doch umgehend den stechenden Blick seiner eiswasserblauen Augen auf mir ruhen. Kälte breitete sich in meinem Inneren aus und spendierte mir im Handumdrehen eine Freifahrt ins Gänsehautland.

Langsam setzte Mael sich in Bewegung und ging auf mich zu. Am liebsten hätte ich geschrien, mich auf dem Absatz umgedreht und in Lichtgeschwindigkeit aus dem Staub gemacht, doch war ich zu erstarrt vor Entsetzen, als dass ich auch nur hätte blinzeln können. Während er auf mich zukam, blitzten innerhalb einer Hundertstelsekunde in meinem Hirn all die Szenen auf, die mich mit ihm verbanden.

Wie Mael mich das erste Mal im Traum besucht hatte.

Wie er mich unter der Dusche hatte vergewaltigen wollen.

Wie er mich schließlich im Cubarium tatsächlich missbraucht hatte – mit dem Versprechen, dafür Darons Leben zu schonen.

Und wie er im Anschluss daran trotzdem versucht hatte, Darons Körper mit einer Injektion hoch dosierten Aevums auszuschalten.

Bei dem Gedankenflash an all die schrecklichen Momente, die er mir bereitet hatte, an all die Minuten, die er auf mir gelegen hatte, verkrampfte sich unwillkürlich mein ganzer Körper und ein dumpfer Phantomschmerz schoss mir durch den Unterleib, dort, wo Mael so fest zugestoßen hatte, dass ich heftig geblutet hatte. Selbst jetzt, noch Wochen später, hatte ich leichte Probleme in der Region unterhalb des Bauchnabels. So hatte sich beispielsweise meine Periode seit der Vergewaltigung nicht mehr eingestellt. Franziska führte dies auf die psychischen Nachwirkungen der Vergewaltigung zurück; schließlich nahm ich seit Jahren die Pille, und Mael war sowieso unfruchtbar. Mal ganz abgesehen davon, dass Cayden ihn damals noch vor seinem Erguss von mir herunter gerissen hatte. Untersuchungen hatten ergeben, dass ich körperlich mittlerweile wieder in Ordnung war, wenn man einige kleine innere Hämatome ignorierte, die noch nicht vollständig abgeheilt waren, weshalb Franziska weiterhin auf einer regelmäßigen Kontrolle bestand. Vorsicht war schließlich besser als Nachsicht, wie sie immer sagte, und da musste ich ihr komplett recht geben. Nach außen hin hatte ich die ganze Geschichte zur Verwunderung aller relativ gut weggesteckt – nun ja, zumindest bewusst. Über das Unterbewusstsein maß ich mir dagegen kein Urteil an. Daron befürchtete zwar, dass mir das Ganze doch mehr zu schaffen machte, als ich mir jetzt eingestehen wollte, und dass es mich in einem unerwarteten Moment mit voller Kraft von hinten niederstrecken würde. Ich dagegen glaubte irgendwie nicht daran. Nein, ich war vielmehr der festen Überzeugung, die Halbvergewaltigung gut verkraftet zu haben. Vielleicht, weil ich dem Akt letzten Endes zugestimmt hatte, um Darons Leben zu retten, und weil ich Mael seine Tat inzwischen vergeben hatte.

Ja genau, vergeben.

Aber nicht vergessen.

Der Tiger besaß schließlich immer noch seine Zähne, auch wenn er geschworen hatte, fortan Möhrchen zu knabbern.

Als Mael nun mit der Geschmeidigkeit und dem scharfen Blick jener tödlichen Raubkatze auf mich zukam, fragte ich mich, wie viel Wildheit noch in ihm stecken mochte. Langsam, beinahe majestätisch schritt er an mir vorbei und ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen. Ich versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu lesen, scheiterte jedoch kläglich. Zu gut hatte er sich in der Gewalt, als dass er sich seine Gefühle hätte anmerken lassen. Ich fragte mich, was man in den letzten Wochen, nachdem Cayden ihn mit Gewalt in die Anderswelt befördert hatte, wohl mit ihm angestellt hatte. Mael war, so hatte ich noch vor meiner Vergewaltigung erkannt, nichts anderes als eine verirrte Seele, die sich nichts weiter wünschte, als eine Liebe zu finden, wie sie Daron und ich füreinander spürten, um sie auf ewig festzuhalten. Seine Bestimmung jedoch sah anders aus, und genau das hatte ihn zerbrechen lassen. Das und der Umstand, dass er anstelle seines Bruders Kian ihrer Mutter das Leben hatte nehmen müssen.

Hatte er sich seit seiner Verbannung in die Anderswelt wirklich so sehr in seinem Wesen geändert, wie Daron mir berichtet hatte, und sein Schicksal akzeptiert?

War das überhaupt möglich?

Und, falls ja, was hatte man bloß mit ihm gemacht, dass er sich um ganze hundertachtzig Grad gedreht hatte? Die noch gut erkennbaren Überreste der Prügel, die Mael im Cubarium kassiert hatte, sowie ein nicht ganz akkurat zusammengewachsener Nasenbeinbruch zeigten mir, wie immens allein die physische Gewalt gewesen war, die er in dieser Welt erfahren hatte.

Wozu waren die Ewigen wohl noch fähig? Nein, da wollte ich jetzt gar nicht weiter drüber nachdenken. Manche Dinge blieben besser im Dunkeln. Sonst würden mich nur noch Albträume verfolgen.

Ich straffte meine Schultern und schaffte es trotz meines fast zum Zerspringen klopfenden Herzens, Maels Blick nahezu gleichgültig über mich ergehen zu lassen. Stattdessen richtete ich meine Aufmerksamkeit weiter auf die geheime Öffnung in der Wand, aus der, wie schon geahnt, Kian als Letzter hervortrat. Er sah Mael wirklich zum Verwechseln ähnlich, und hätte er nicht durch seine leicht geduckte Haltung einen merklichen Kontrast zu seinem mächtigen Zwillingsbruder ausgestrahlt, hätte ich sie tatsächlich nicht voneinander unterscheiden können.

Mael mal zwei.

Fast hätte ich mir bei dem Gedanken ins Höschen gemacht, doch wie durch ein Wunder an Selbstbeherrschung gelang es mir, meine im Bauch herumflatternde Panik im Zaum zu halten. Bewusst kontrolliert drehte ich mich zu Daron um, darauf bedacht, jedwede fahrige Bewegung zu vermeiden. Ich wollte einfach nicht zeigen, wie sehr mich das Aufeinandertreffen mit Mael trotz intensiver psychischer Vorbereitung erschüttert hatte. Also achtete ich mehr als üblich auf das, was ich tat, wie ein Betrunkener, der sich betont bemüht, nicht alkoholisiert zu wirken - und es dadurch erst recht tut.

Das aufmunternde Zwinkern, das ich mir als Belohnung von Daron erwartet hatte, wo ich mich doch gerade so wacker geschlagen hatte, blieb zu meiner großen Überraschung allerdings aus. Nichts spiegelte sich in seinem Gesicht, als ich ihn ansah, nicht das kleinste bisschen Aufmunterung. Er betrachtete mich teilnahmslos wie eine völlig Fremde und machte auch keine Anstalten, meine Hand zu nehmen. Mir war, als würde der Boden unter mir zu schwanken beginnen.

Kaum hatte Kian auf dem letzten Thron an der linken Seite Platz genommen, ging Daron kommentarlos zu den anderen hinüber und ließ sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, auf dem letzten noch verbliebenen Platz nieder.

Er ließ mich allein in der Mitte dieses Kellergewölbes, umrahmt von all seinen Brüdern und seinem Vater, ungewiss, was nun kommen würde. Ich fühlte mich plötzlich wie ein Schaf inmitten eines Rudels hungriger Wölfe.

Scheiße!

Mein Herz pumpte schneller und schneller, und ich brauchte all meine Konzentration, um keinen hysterischen Anfall zu kriegen. Das wäre mir in diesem Korsett auch ziemlich schlecht bekommen, ein Hyperventilieren hätte mich umgehend ausgeknockt und vor versammelter Mannschaft zu Boden geschickt. Nein, diese Blamage konnte ich mir keinesfalls leisten. Wenn ich daran dachte, was ich bereits alles auf mich genommen hatte, um so weit zu kommen, dann würde ich jetzt auch noch mit dem, was mir bevorstand, fertig werden.

Irgendwie.

Also konzentrierte ich mich für zwei Sekunden angestrengt auf meine Atmung und schaffte es, mich ein wenig zu beruhigen. Du packst das, Aline, du packst das!, feuerte ich mich gedanklich selber an. Insgeheim wünschte ich mir, Daron hätte mich besser auf das Familientreffen vorbereitet. Was hatte ich ihn gelöchert, er sollte mir doch um Himmels willen erzählen, was mich hier erwartete. Stattdessen hatte er sich in Schweigen gehüllt und mir versichert, dass es nicht so schlimm werden würde. Pah, von wegen! Gerade jetzt, wo ich ihn am nötigsten brauchte, seine Stärke und seinen Beistand, da ließ er mich einfach stehen wie bestellt und nicht abgeholt, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was von mir erwartet wurde.

Wohl wieder so ein beschissenes Gesetz der Ewigen.

4

„Nun, Aline, tritt der Reihe nach vor die Ewigen und erbitte ihren Segen!“

Langsam drehte ich mich zu Luan um und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er lächelte nur und wies mich mit einer Hand an, meinen Gang der Unterwerfung zu beginnen. Hatte er soeben tatsächlich in meine Seele gesehen, so wusste er nur zu gut, wie mir ein solches Vorgehen widerstrebte. Nun sollte ich also tatsächlich bei meinen zukünftigen Schwägern um die Akzeptanz meiner Beziehung betteln. Welche Demütigung musste ich eigentlich nicht über mich ergehen lassen?

Nur Daron zuliebe schluckte ich all meine Einwände, die in mir hochkochten, hinunter und ballte sie zu einem massiven Klumpen in meiner Magengrube zusammen. Ein Blick in Luans wissende Augen bestätigte mir meinen Verdacht. Er war sich durchaus im Klaren darüber, was mir dieser symbolische Kniefall abverlangte. Fast schien es, als würde er sich darüber amüsieren. Wie gern hätte ich ihm einen blöden Spruch an den Kopf geworfen, doch Gott sei Dank erlangte meine Vernunft noch rechtzeitig die Oberhand über diesen Impuls. Widerwillig drehte ich mich zu Luans Söhnen um, atmete tief ein, straffte meine Schultern und trat als Erstes vor Cayden.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich tun musste. Hilfesuchend sah ich in Caydens gütige Augen und suchte in ihnen nach einem kleinen Hinweis, suchte irgendetwas in seiner Mimik, das mir helfen würde. Leider vergebens, zu sehr hatte Darons ältester Bruder seine Gesichtszüge unter Kontrolle, als dass sie auch nur den Hauch einer Regung preisgegeben hätten.

Also gut, Aline, dachte ich mir, jetzt gilt es, alles oder nichts.

Bestehen oder versagen.

Hängt ja nur dein Schicksal von ab.

Fieberhaft kramte ich in meinen Hirnwindungen nach Worten, die der Situation angemessen sein mochten und dabei nicht erkennen ließen, wie sehr das Ganze mir in Wahrheit widerstrebte.

„Ich, Aline Heidemann, bitte dich um deinen Segen für die Aufnahme in die Linie der Ewigen.“

Das war das Beste, was mir in diesem Moment einfiel und, ehrlich gesagt, auch das Einzige. Improvisation war einfach nicht mein Ding. Doch offenbar hatte ich diesmal ein glückliches Händchen.

„Ich, Cayden McÉag, heiße dich willkommen, Bewahrerin. Möge deine Liebe aufrecht und dein Schoß fruchtbar sein.“ Mit diesen Worten lehnte sich Cayden nach vorn und legte mir eine Hand auf den Kopf. Wohlige Wärme durchlief meinen Körper bis zur Sohle abwärts von dort, wo er mich berührte, und weckte in mir ein unerwartetes Gefühl des Zuhauseseins. Plötzlich roch es nach Wald und Regen, nach feuchter Erde und Morgentau. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und genoss den Geruch, der mir ein Garant für Freiheit und Beständigkeit zugleich war. Den Duft, den ich zum ersten Mal an Daron wahrgenommen hatte und der mir mehr bedeutete als alle Parfums der Welt. Nur eine Sekunde später zog Cayden seine Hand zurück, und das sinnliche Bouquet des Lebens verschwand so schnell, wie es gekommen war. Unsicher blickte ich auf. Ein kleines Lächeln spielte um Caydens Lippen, und mit einer fast unmerklichen Bewegung seiner silbrig funkelnden Augen bedeutete er mir, mich umzudrehen und die Zeremonie meiner Segnung fortzusetzen.

Folgsam, wenn auch ziemlich verwirrt, gehorchte ich und wandte mich gegenüber an den zweiten der Ewigen, dessen rotblonde Haare wild zerzaust um seinen Kopf spielten. Wenn ich damals in meiner Küche richtig aufgepasst hatte, dann musste dies gemäß der Geburtsfolge Lior sein. Bernsteinfarbene Augen ruhten auf mir, als ich vor ihn trat und mein schwülstiges Sprüchlein erneut aufsagte. Auch Lior hieß mich in der Familie willkommen, indem er mir die Hand auflegte. So weit, so gut, dachte ich mir. Den ersten mir unbekannten Bruder Darons hatte ich soeben überzeugen können.

Als Nächster war Alan an der Reihe, der sich sichtlich Mühe gab, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und keine Miene zu verziehen. Doch als er mir die Hand auflegte, entdeckte ich ein verräterisches Glitzern in seinen Augen. Alan war einfach ein Original und konnte selbst in ernsten Momenten nicht aus seiner schalkhaften Haut. Brav wartete ich seine Segnung ab und ließ ihn mit einem angedeuteten Zwinkern wissen, dass ich mir seines Amüsements durchaus bewusst war.

Anschließend trat ich dem schwarzhaarigen Bran unter seine unglaublich türkisen Augen. Was war ich froh, in McÉag-Kunde gut aufgepasst zu haben. Als ich vor ihm stand, dachte ich, ich würde in die funkelnden Fluten eines karibischen Meeres eintauchen, während der Wind sanft durch die Palmwedel strich und der Privatbutler eine fruchtige Piña Colada direkt an der Strandliege servierte. In dem Moment wurde mir schlagartig bewusst, wie urlaubsreif ich wirklich war. Die letzten Wochen hatten doch mehr an mir gezehrt als bisher gedacht.

Auch Bran hieß mich gemäß der Tradition in der Familie willkommen. Das waren jetzt schon fünf von acht, Daron mit eingerechnet. Insgeheim freute ich mich über das schon mehr als halb volle Glas und feuerte mich leise an, den Rest auch noch zu bewältigen.

Gott, ich war ja so was von naiv.

5

Hatte ich mich gerade noch einigermaßen in Sicherheit gewähnt vor dem großen Showdown, sprich dem Aufeinandertreffen mit Mael, so riss mich das, was jetzt kam, derart unerwartet vom Hocker, dass es in meine persönliche Top Ten der Worst Moments Ever einging.

Von meinem bisher erfolgreichen Lauf bestärkt trat ich mit eindeutig gewachsenem Selbstbewusstsein vor Phelan, den nächsten der Achtlinge. Als ich gemäß Protokoll meinen Segen erbat, hielt Phelan wie bei seiner Ankunft den Kopf gesenkt. Wild kringelten sich seine hellbraunen Korkenzieherlocken bis auf die Schultern herab und bildeten einen weich kontrastierenden Rahmen zu seinen wie aus Marmor gemeißelten Wangenknochen, die sich zwischen den einzelnen Strähnen andeuteten. Bereits als Phelan aus der Tür gekommen war, hatte ich mich ob seiner gebeugten Haltung gewundert. Sein Haar trug er beinahe so, als wollte er etwas hinter ihnen verstecken. Nur was?

„Ich, Aline Heidemann, bitte dich um deinen Segen für die Aufnahme in die Linie der Ewigen.“

Nichts tat sich.

Phelan hielt den Kopf weiterhin gesenkt, die Augen nach wie vor niedergeschlagen. Irritiert versuchte ich, einen klaren Gedanken zu fassen, scheiterte aber kläglich.

Wieso antwortete er mir nicht?

Keine Panik, Aline, immer schön ruhig bleiben, vielleicht ist er ja schwerhörig oder vor Langeweile eingenickt. Jedenfalls hätte ich ihm das nicht verübelt. Solche starren Familienrituale waren auch für mich stets ein Grund, spontan an irgendeinem ansteckenden Virus zu erkranken.

„Ich, Aline Heidemann, bitte dich um deinen Segen für die Aufnahme in die Linie der Ewigen“, wiederholte ich mein Anliegen, diesmal mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme. Dieser Bruder sollte ruhig wissen, dass ich keine Lust auf unnötige Mätzchen hatte.

Das zeigte Wirkung. Langsam hob Phelan den Kopf. Als er seine Augen öffnete, schlug eine imaginäre Faust in meinen Bauch, und abgrundtiefer Schrecken fuhr in Sekundenschnelle in jede Zelle meines Körpers.

Gelbe Regenbogenhaut umspannte eine tiefschwarze Pupille, eingebettet in eine schräg gestellte Mandelform, die animalischer nicht hätte sein können. Scharf sog ich die Luft ein und vergaß, dass ich doch ach so souverän hatte wirken wollen. Wolfsaugen, schoss es mir in einem Anflug von Panik durch den Kopf, und im nächsten Moment erkannte ich geistesgegenwärtig die Verbindung. Phelan bedeutete kleiner Wolf, so hatte es mir Daron erklärt, doch nie hätte ich gedacht, dass der Name derart wörtlich zu nehmen war.

Ich wagte nicht, mich von diesem funkelnden Gelb abzuwenden, aus Angst, meine bisher hart erkämpfte Position zu gefährden. Doch egal, wie tapfer ich Phelans starrendem Wolfsblick standhielt – mein Albtraum für diese Nacht war bereits gesichert.

Bange Sekunden vergingen. Phelan musterte mich von oben bis unten. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, als würde er mich durch eine Art Nacktscanner betrachten. Ich fühlte mich plötzlich so schutzlos, so hüllenlos und pur, obgleich ich in voller Montur vor ihm stand.

„Ich habe von dir gehört, Aline, und davon, wie du Mael die Stirn geboten hast. Sag mir, Bewahrerin, warum denkst du, dass ausgerechnet du den Platz an Darons Seite verdienst?“ Phelans Stimme war kaum mehr als ein Knurren, tief und grollend in seiner Kehle, leise und bedrohlich zugleich. Mir stellten sich die Nackenhaare auf.

Verdammt, er sah nicht nur aus wie ein Wolf, er hörte sich auch noch wie einer an.

„Phelan!“, rief Luan mahnend von seinem Drachenthron herab und maß seinen Sohn mit einem strengen Blick. Allein der hätte mir schon gereicht, um mich mit eingezogenem Kopf in eine Ecke zu verkrümeln. Phelan allerdings schien weder diese Maßregelung zu beeindrucken noch gar die Möglichkeit, den Unwillen seines Vaters auf sich gezogen zu haben. Langsam erhob sich der Wolfsäugige von seinem Thron, den Blick unaufhörlich auf mich gerichtet. An die imposante Statur sämtlicher McÉags war ich mittlerweile gewöhnt, doch in Kombination mit diesem taxierenden Blick bekam ich langsam mächtig Schiss. Trotzdem blieb ich wie festgenagelt an meinem Platz stehen, da ich nicht wagte, durch einen winzigen Muskelzucker oder gar einen Schritt rückwärts Furcht zu zeigen. Auch wenn das bedeutete, dass Phelan sich direkt vor mir positionierte und ich dadurch wie eine Maus zur Schlange aufschauen musste. Allmählich hatte ich es echt satt, in dieser von Männern dominierten Familie ständig an die Grenzen meiner psychischen Belastbarkeit getrieben zu werden. Von der physischen wollen wir hier jetzt erst gar nicht anfangen.

„Also, Bewahrerin, wie lautet deine Antwort?“ Immer näher kamen mir diese leuchtenden Augen, die mich an das Glänzen hochkarätiger, gelber Citrine erinnerten. So wundervoll, so unschätzbar kostbar – hätte nicht unterschwellig das Wort Gefahr bei jedem einzelnen Funkeln mitgeschwungen.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich sagen sollte oder was laut Protokoll eine angemessene Antwort dargestellt hätte.

Also tat ich das, was ich in brenzligen Situationen immer machte, wenn ich nicht weiter wusste. Ich wurde frech.

Scheiß auf die Etikette – Angriff war in solchen Situationen immer noch die beste Verteidigung, und in diesem Moment fühlte ich mich weitaus mehr als nur in die Enge getrieben. Der Kerl hatte mich herausgefordert. So nicht, Freundchen!

„Wenn Du irgendwann mal den Mumm hast, dein Leben für einen anderen zu opfern, dann können wir uns gern weiter unterhalten, aber bis dahin wirst du mir wohl schon hinsichtlich meiner Eignung für diesen Posten vertrauen müssen“, erwiderte ich so ruhig wie möglich, gab mir aber keine Mühe, den Unterton zu verbergen, der ihm und allen anderen zeigte, dass ich ganz schön angefressen war. Wieso auch nicht? Er war mir blöd gekommen, also warum sollte ich artig bleiben?

Die Antwort schien ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben, denn Verwirrung schlich sich für wenige Sekunden in Phelans Augen und nahm seinem Ausdruck kurzzeitig die Bedrohlichkeit, die für mich so real war, dass ich sie beinahe mit den Händen greifen konnte. Augenblicklich vernahm ich hinter mir ein gedämpftes Lachen.

„Chapeau, Bewahrerin“, rief Bran mir zu und machte keinen Hehl aus seiner Belustigung über die verbale Zurechtweisung seines Bruders. Amüsiert strich er sich über seinen kleinen Kinnbart, der so dezent war, dass ich ihn vorhin glatt übersehen hatte, genauso wie die Geheimtür neben dem Thron. Verdammt, ich musste einfach besser aufpassen. Ich konnte mir den Luxus von Nachlässigkeit in dieser Situation einfach nicht leisten, auch wenn es sich nur um so etwas Banales wie ein Bärtchen handelte. Man hatte mich fast mühelos in eine Grube voller Löwen geworfen, von denen nur wenige gezähmt waren. Nun erwartete man von mir, dass ich ihrer Herr wurde, und zwar nur mit verbalen Kunststückchen. Ganz ehrlich, ich fand das allmählich echt zum Kotzen.

Noch während ich gedanklich vor mich hin fluchte, erlangte Phelan die Fassung wieder und setzte einen Blick auf, der noch furchterregender war als der bisherige.

„Ich verlange einen Bürgen.“

Schlagartig verstummte Brans Kichern, und ein eisiger Luftzug fuhr mir über die Haut. Nicht gut, dachte ich sofort. Das Absinken der Raumtemperatur ereignete sich in der Regel immer dann, wenn die Emotionen der Ewigen ironischerweise kurz vorm Überkochen standen. Meine dagegen sanken augenblicklich mit der Luft zusammen auf tiefste Minusgrade herab.

„Einen … bitte was?“, fragte ich irritiert.

Ein arrogantes Lächeln breitete sich auf Phelans Gesicht aus.

„Ich verlange einen Bürgen. Für dich, Bewahrerin.“

6

„Das geht eindeutig zu weit!“, hörte ich Alan empört protestieren und vernahm das hohe Quietschen eines Stuhls, der ruckartig zurückgeschoben wurde. Offenbar war er zur Untermalung seines Einwurfs recht schwungvoll aufgestanden, doch da ich weiter Wettstarren mit Phelan veranstaltete, konnte ich meine Vermutung nicht überprüfen.

„Das sehe ich anders“, knurrte mein Gegenüber, ohne den Blick von mir zu wenden. Bildete ich mir das gerade ein oder wurden seine Augen noch gelber, als sie es ohnehin schon waren? „Ich glaube nicht an irgendwelche Prüfungen und abergläubischen Schnickschnack. Aline hat sich von Mael besteigen lassen wie eine rossige Stute und somit ihre Reinheit verspielt, egal, was sie in der Anderswelt erfahren haben will. Wie vertrauenswürdig ist wohl so ein Flittchen?“

Selbstgefällig begann Phelan zu grinsen, was angesichts seiner Optik eher an ein Zähnefletschen erinnerte. Kälte durchfuhr mich von der Mitte meines Körpers aus bis hinunter in den kleinen Zeh, als hätte in diesem Moment jemand in meinem Inneren alle Fenster geöffnet, wenn denn welche da gewesen wären.

Es kostete mich unermesslich viel Mühe, Phelan ob seiner Beleidigung nicht auf der Stelle eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Als ob ich aus Spaß mit Mael geschlafen hatte – na sicher, und danach waren wir zusammen händchenhaltend über grüne Wiesen gehüpft und hatten dem Osterhasen einen runtergeholt! – Oh, wie gern wäre ich ihm über sein arrogantes Lächeln gefahren, aber ich wusste, ich musste mich beherrschen.

Nun ja. Zumindest was unflätige Ausdrücke anging.

Mühsam presste ich die nächsten Worte hinter zusammengebissenen Zähnen hervor:

„Wenn du Zweifel an meiner Liebe zu Daron hast, ist das allein dein Problem, Phelan, und nicht meins. Bevor du hier den Besen der Moral schwingst, solltest du erst mal vor deiner eigenen Tür kehren. Ich jedenfalls habe nichts zu verbergen und habe es noch weniger nötig, meine Haare als Schutz zu benutzen, nur damit niemand sieht, wie abartig meine Augen sind.“

Das saß. Phelan sog scharf die Luft ein und verlor für wenige Sekunden die Kontrolle über seine Mimik. Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, so als hätte ich ihn tatsächlich mit der flachen Hand geschlagen. Oh, ich wünschte so sehr, ich hätte es. Lange hielt seine Verwunderung allerdings nicht an, sondern machte schon im nächsten Augenblick Platz für einen Zorn, der nahezu Funken aus seinen Augen sprühen ließ.

Super, Aline! Mach ihn noch richtig schön wütend; das erleichtert dir die Aufnahme in die Familie bestimmt ungemein.

So herum betrachtet war das kein guter Zeitpunkt zum Austeilen gewesen, egal, wie sehr Phelan diese verbale Klatsche auch verdient hatte. Fast rechnete ich schon damit, von Luan des Saals verwiesen zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Stille hatte sich unter den McÉags breitgemacht, und ich vernahm lediglich das mühsam unterdrückte Wutschnauben meines direkten Gegenübers. Phelan versuchte so gut wie möglich, sich den verbalen Treffer nicht anmerken zu lassen, doch die Intensität, mit der er mir seinen warmen Atem ins Gesicht blies, zeigte mir, wie es wirklich um seine Verfassung bestellt war. Er stand gewaltig unter Strom und hätte mich sicher am liebsten auf der Stelle vom Schloss geprügelt. Sekunden verrannen wie Sand in einem Stundenglas, und gerade, als ich dachte, ich hätte mir meine Aufnahme endgültig versaut, begann Phelan leise zu sprechen.

„Mut hast du, Aline, das muss ich dir wirklich lassen“, knurrte er. „Sich auf derart dünnes Eis zu begeben – diesen Schneid besitzt nicht jeder. Doch ändert deine Kühnheit für mich nichts an den nackten Tatsachen. Du hast betrogen. Hast dich beflecken lassen. Mein Vertrauen in dich als künftige Mutter der Ewigen hast du verspielt. Ich fordere einen Bürgen, jemanden, der für dich und deine Loyalität unserer Familie gegenüber mit seinem Namen einsteht.“

Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und dem Rest seiner Familie zu. „Denn haben wir nicht alle schon einmal erlebt, was es heißt, von einer Bewahrerin im Stich gelassen zu werden?“

O Gott.

Das hatte er jetzt bitte nicht gesagt.

Ein dunkles Grollen erhob sich im Saal wie das Tosen einer herannahenden Lawine, bevor sie alles unter sich begrub.

„Wage es nicht, Sohn …“

Scheiße.

Er hatte doch.

Vorsichtig drehte ich mich zu Luan um und sah, dass dieser sich von seinem Thron erhoben hatte. Wutschauer ließen seinen Körper erzittern, und er konnte sie offenbar nur dadurch kontrollieren, dass er seine Hände an den Seiten angestrengt zu Fäusten ballte. Seine Knöchel traten weiß hervor, und es hatte den Anschein, als würde er sich jeden Moment selber die Finger brechen. Eiseskälte hatte sich nun nicht nur in meinem Inneren, sondern im gesamten Raum ausgebreitet. Ich wusste sofort, von wem die ausging. Das war eindeutig kein gutes Zeichen.

Schon zweimal hatte ich erlebt, wie die Ewigen sich verwandelten, weil ihre Emotionen sie übermannt hatten. Hatte erlebt, wie ihre Haut sich schwarz verfärbte, gewaltige Drachenflügel aus ihren Rücken hervorbrachen und ihre Augen sich in das rote Tor zur Hölle verwandelten. Es war wirklich kein schöner Anblick gewesen, und ich hatte nicht die geringste Lust, diesem schaurigen Schauspiel ein drittes Mal beizuwohnen. Ich sprach leise ein kurzes Gebet, dass Luan sich bitte nicht vergessen möge.

„Verzeih mir, Vater“, erwiderte Phelan und deutete eine entschuldigende Verbeugung in Richtung Drachenthron an, „es war nicht meine Absicht, das Andenken deiner Gefährtin zu beschmutzen. Doch wirst du mir wohl oder übel in der Sache selber zustimmen müssen. Wir wurden betrogen und allein gelassen. Ist es nach dieser schmerzlichen Erfahrung, nach diesem Verrat an unserer Familie nicht mehr als vernünftig, den Ernst der Situation gebührend aufzuzeigen?“

Da hörte sich für mich alles auf.

„Indem jemand für mich und meine Liebe garantiert?“, brach es aus mir heraus, so fassungslos war ich über Phelans Unverfrorenheit. Sicher, rein objektiv betrachtet hatte er recht: Was einmal schief gegangen war, konnte auch ein zweites Mal in die Hose gehen.

Wohlgemerkt: Konnte, musste aber nicht. Das kam nun einmal auf den persönlichen Blickwinkel an. Diese Erkenntnis behielt ich aber klugerweise für mich und setzte stattdessen zu einer Verteidigung meinerseits an:

„Liebe ist keine Klausel in einem Vertrag, den man unterschreibt und in einen Aktenordner heftet, Phelan. Wenn du je geliebt hättest, dann wüsstest du das. Es gibt keine Garantie für ihr Gelingen und noch weniger einen Ersatz im Schadensfall. Ich liebe Daron mehr als mein Leben und habe es nicht nötig, mich vor dir, deinen Brüdern oder deinem Vater zu rechtfertigen! Trotzdem tue ich es, weil es euren Gesetzen entspricht und ich damit eurer Tradition Respekt zollen möchte. Sag mir, Phelan: Sieht es Eure Tradition etwa auch vor, den Gast nach allen Regeln der Kunst zu demütigen?“

Mann, jetzt war ich so richtig fett in Fahrt. So sehr, dass ich vor Wut unkontrolliert zu zittern begann, was ich wiederum nur dadurch in den Griff bekam, dass ich die Arme vor der Brust verschränkte und mir die Fingernägel so tief in die Haut bohrte, dass sie zu schmerzen begann. Davon würden mir morgen sicher einige blaue Flecken und blutige Kerben zurückbleiben, aber das war mir egal. Hauptsache, ich ging nicht so weit, Phelan tatsächlich zu schlagen. Lust dazu hatte ich auf jeden Fall.

„Genug jetzt, es reicht!“, ließ Luan erneut seine tiefe Stimme so laut durch den Raum beben, dass es mir war, als würde sie gleich einem Echo hundertfach auf uns niederprasseln. Fast hätte ich mir aus Reflex die Ohren zugehalten, so sehr dröhnte sein Bass in meinem Kopf, schaffte es aber, mich zu beherrschen.

Die darauf folgende Ruhe war nahezu erdrückend. Ich wagte kaum zu atmen.

Welch schreiende Stille.

So war die Aufnahmezeremonie bestimmt nicht gedacht gewesen.

„Aline, ich entschuldige mich bei dir für Phelans Verhalten“, fuhr Luan in einem wesentlich ruhigeren Tonfall fort und schenkte mir dabei einen Blick aufrichtigen Verzeihens aus seinen silbrig schimmernden Augen. „Dies ist nicht der normale Verlauf der Prozedur.“

Ach was, sag bloß.

„Allerdings hat Phelan, so wenig es mir gefällt, einen Punkt angesprochen, den er meiner Meinung nach zwar weitaus früher hätte anmerken können, der nun aber im Raum steht und – so leid es mir tut – nicht von der Hand zu weisen ist. Der Verlust meiner geliebten Frau und Mutter meiner Söhne hat uns als Familie schwer erschüttert. Es kostete uns alle Kraft, nicht daran zu zerbrechen. Mir wäre es um ein Haar so ergangen, und wärst du nicht gekommen, Aline, so würde ich wohl heute noch in unserer Welt verweilen, während mein Körper im Cubarium schliefe.“

Luan war im Cubarium gewesen?

Ich hatte ihn bei meinem letzten Besuch dort nirgendwo gesehen. Nicht, dass ich Gelegenheit dazu gehabt hätte, ihn zu suchen – ich war schließlich ausreichend mit Darons Rettung beschäftigt gewesen. Wahrscheinlich hatte er in einer separaten Einzelkammer gelegen. Ich beschloss, bei Gelegenheit Franziska, die Leibärztin der McÉags und mittlerweile meine beste Freundin, um eine private Führung zu bitten. Es gab im Keller des McÉag-Buildings offenbar noch mehr zu entdecken, als ich gedacht hatte. Schnell schrieb ich den Gedanken an meine imaginäre Pinnwand und lauschte weiter dem Vater meines Zukünftigen.

„Was ich damit sagen will, Aline … An deiner Liebe und Aufrichtigkeit zweifelt keiner hier in diesem Raum“ – dabei schoss Luan blitzschnell einen mahnenden Blick in Richtung seines wolfsäugigen Sohnes ab –, „doch kann ich die Verunsicherung und Skepsis nachvollziehen, die Phelan gegenüber einer neuen Bewahrerin in der Familie äußert. Es obliegt mir als Oberhaupt, für unsere weitere Existenz Sorge zu tragen, so lange, bis ich selbst meinen Platz zugunsten meines Jüngsten räumen werde.“ Eine kurze Pause entstand, und ich hatte Mühe, nicht vor lauter Ungeduld mit etwas Unüberlegtem herauszuplatzen. Konnte Luan bitte mal auf den Punkt kommen?

Darons Vater atmete einmal tief durch, dann spannte er seine Schultern an und sprach mit einer solch majestätischen Würde, dass es mir vor Ehrfurcht die Nackenhärchen aufstellte, fein säuberlich eins nach dem anderen.

„Hiermit entscheide ich, Luan McÉag, Vater der Ewigen, dass Phelans Anliegen, wenngleich auch unpassend vorgetragen, stattgegeben wird. Ihm obliegt die Verantwortung, einen Bürgen für Aline zu wählen.“

Ach.

Du.

Scheiße.

Mir war, als hätte mir jemand ein unsichtbares Brett vor den Kopf geknallt. Da konnte ich ja gleich einpacken. Nicht nur, dass einer der McÉag-Brüder in Zukunft Aufpasser für mich spielen sollte und davon sicher alles andere als begeistert sein würde. Nein, ich kam mir dabei vor wie ein kleines, unfähiges Kind, dem man absolut nichts zutraute. Klar, die Welt der Ewigen hatte bestimmt noch allerlei Überraschungen für mich parat, aber nach dem, was ich erlebt hatte, sollte jetzt doch zumindest ein klein wenig mehr Vertrauen in mich vorhanden sein. Ich war schließlich nicht Abigail, aber das konnte ich nicht laut sagen, ohne Gefahr zu laufen, der Familie verwiesen zu werden, bevor ich überhaupt aufgenommen worden war.

Trotz kroch aus meinem Magen hervor und brannte sich ätzend wie Säure in mein Herz. War meine Prüfung denn überhaupt nichts wert gewesen? Mit Daron an meiner Seite war meiner Meinung nach umfassend genug für meine Anpassung gesorgt, aber mich beschlich allmählich das ungute Gefühl, dass man mich gar nicht fragen würde und mein Liebster als Bürge für mich von vornherein ausschied. Zu schmerzlich hatte ich in der letzten Zeit erfahren müssen, dass es nie verkehrt war, in der Welt der Übernatürlichen auf seinen Instinkt zu hören.

„Ich danke dir, Vater, für dein weises Urteil“, verneigte sich Phelan vor dem Drachenthron und wandte sich anschließend mit seinem zurückgekehrten, selbstgefälligen Lächeln an den Rest der Achtlinge. „Nun denn, meine Brüder, ihr habt es gehört. Wer von euch ist bereit, mit seinem Wort für unsere zukünftige Mrs. McÉag einzustehen?“

„Ich bürge“, riefen Alan und Cayden umgehend wie aus einem Mund. Dankbarkeit überströmte mich in unsichtbaren Wellen und veranlasste mich, ihnen ein nahezu unmerkliches, erleichtertes Lächeln zu schenken. Mit ihnen als Gouvernanten konnte ich tatsächlich leben. Doch wieder mal hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

„Abgelehnt!“, ertönte Phelans herablassendes Lachen hinter mir. Erschrocken drehte ich mich zu ihm um. Was passte ihm denn jetzt wieder nicht? Da hatte er schon zwei Bürgen auf einmal und war immer noch nicht zufrieden.

„Weshalb?“, erhob sich Cayden, und sein Haar schillerte im Licht der Kerzen wie tausend Eiskristalle auf einem schneebedecktem Berg.

„Ganz einfach, Bruder“, höhnte Phelan. „Ich verlange einen Bürgen, der nicht zu Alines bisherigen Sympathisanten gehört. Einen Bürgen, der fähig ist, ihre Entwicklung mit dem nötigen Abstand zu beurteilen. So leid es mir tut, aber ihr werdet wohl kaum bezweifeln, dass ihr zwei dafür nicht objektiv genug seid. Wer sonst stellt sich also der Verantwortung?“

Super.

Da konnte ich mir ja gleich selbst ein Ei legen.