Verrückte Vögel: Geschichten vom großen Flattern (GEO eBook) -  - E-Book

Verrückte Vögel: Geschichten vom großen Flattern (GEO eBook) E-Book

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Beschreibung

Geschichten über Vögel gehören seit Jahren zu den Lieblingsthemen der GEO-Reporter. Denn zwischen Himmel und Erde flattern oft wahre Wundertiere - und manchmal sind auch die Menschen, die Ornithologie betreiben, ziemlich schillernde Vögel... In diesem eBook bieten wir Ihnen eine Auswahl von elf Reportagen (als pure Lesestücke) über Vögel auf der ganzen Welt: Solchen, die man so gut wie niemals sieht (Elfenbeinspecht / USA); solchen, die sich nur mit unglaublich großer Mühe aufspüren lassen (Paradiesvögel / Papua), und solchen, die gleich tausende Birdwatcher auf einmal begeistern können (Kraniche / Deutschland). Kapitel Kakapo: Der langsame Brüter Elfenbeinspecht: Zaubervogel, wo steckst du? Paradiesvögel: "Haute Nature" in Papua Philippinenadler: Auge in Auge Laubenvogel: An der Küste der Bilder Kranich: Besuch der grauen Eminenzen Basstölpel: Auf dem Felsen der hunderttausend Flügel Vogelzug: Odyssee nach Plan Birdrace: Showdown auf Helgoland Im Federlabor: Vogel oder Flugzeug - wem gehört der Himmel? Archaeopteryx: Urvogel? Ausgeflogen!

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Verrückte Vögel

Elf Tier-Reportagenzwischen Himmel und Erde

Herausgeber:

GEO

Die Welt mit anderen Augen sehen

Gruner + Jahr AG & Co KG, Druck- und Verlagshaus

Am Baumwall 11, 20459 Hamburg

www.geo.de/ebooks

Titelbild: Tim Laman

Liebe Leserin, lieber Leser,

über Vögel zu berichten – das lag von Beginn an in den Genen unserer Redaktion. Schon in einer der allerersten Ausgaben von GEO (genauer: im November 1978) konnten die frühen Abonnenten eine Reportage über Sperbergeier in der Serengeti lesen. Seither haben wir unsere Reportagen-Voliere immer weiter gefüllt. Die jüngsten Flugabenteuer haben wir für Sie in diesem eBook versammelt.

Aber ist denn GEO nicht das Blatt mit den umwerfenden Bildern? Ja, schon. Doch Sie werden sehen: Auch Texte können Bilder in Ihnen entstehen lassen. Wenn etwa unsere Reporterin Ines Possemeyer die Brautwerbung der Paradiesvögel mit der Modeszene in Paris vergleicht. Oder wenn Autor Alexander Smoltczyk die Himmelsskulpturen der Stare über Rom wie ein Kunstwerk interpretiert.

Und manche der schrägen Vögel konnte man auch im gedruckten GEO-Heft gar nicht sehen: Die ebenso spannende wie vergebliche Suche nach dem verschollenen Elfenbeinspecht, die unsere Autorin Johanna Romberg mit Experten unternahm, endete ohne ein einziges Bild dieses Zaubervogels. Ganz zu schweigen vom Urvogel Archaeopteryx, den ohnehin nie ein Mensch lebendig sah – wobei in diesem ganz bestimmten Fall das „Gefieder“ der bayerischen Fossilienjäger vielleicht noch bunter schillern mag als das des Urzeit-Federtieres.

Aber lesen Sie selbst – wir wünschen Ihnen viel Freude beim Entdecken und Fliegen.

Herzlich IhrPeter-Matthias GaedeChefredakteur GEO

Inhalt

Kakapo

Der langsame Brüter

Von Markus Wolff

Elfenbeinspecht

Zaubervogel, wo steckst du?

Von Johanna Romberg

Paradiesvögel

„Haute Nature“ in Papua

Von Ines Possemeyer

Philippinenadler

Auge in Auge

Von Carsten Jasner

Laubenvögel

An der Küste der Bilder

Von Uwe George

Kranich

Besuch der grauen Eminenzen

Von Anke Sparmann

Archaeopteryx

Urvogel? Ausgeflogen!

Von Bernhard Albrecht

Basstölpel

Auf dem Felsen der hunderttausend Flügel

Von Johanna Romberg

Vogelzug

Odyssee nach Plan

Von Uta Henschel

Birdwatching

Showdown auf Helgoland

Von Andreas Wenderoth

Unfallvögel

Vogel oder Flugzeug – wem gehört der Himmel?

Von Johanna Romberg

Zum Weiterlesen:

GEO-eBooks

Kakapo

Der langsame Brüter

Der Kakapo ist einer der seltensten Papageien der Welt, der seltsamste überdies: Er spricht nicht, fliegt nicht, und Sex hat er nur durch Zufall. Das Porträt eines komischen Kauzes

Von Markus Wolff

Die gute Nachricht gleich zu Beginn: Der Patient ist über den Berg. Seit seiner Einlieferung zwei Monate zuvor hat der auf 1,2 Kilogramm abgemagerte Körper deutlich an Gewicht zugelegt, mehr als 500 Gramm. Entlassung und Heimreise nach Codfish Island stehen daher kurz bevor. Das Ärzteteam ist sehr zufrieden, heißt es in einem Zeitungsbericht mit Foto, das den Genesenen zeigt. Noch etwas grünlich im Gesicht zwar, aber mit zuversichtlichem Blick.

Dabei ist Patient Lee seit seiner Einweisung für die behandelnden Mediziner kein einfacher Fall gewesen. Jede Mahlzeit aus der Klinikküche lehnte er kategorisch ab, weshalb er mit spezieller Kost durch ein Schlauchsystem ernährt wurde. Auch verhielt er sich bei der Suche nach der Krankheitsursache wenig kooperativ. Er sagte kein Wort, zumindest kein verständliches, so wie man es gemeinhin von Papageien, den mithin redefreudigsten unter allen Tieren, hätte erwarten können.

Nun ist Lee allerdings auch ein Kakapo, ein eigentümlicher neuseeländischer Vogel. Von Landesunkundigen wird dieser leicht mit dem Nationaltier verwechselt, dem Kiwi. Gleicht dieser jedoch eher einer Kokosnuss mit Schnabel, ist der Eulenpapagei Strigops habroptilus nur schwer mit einer Frucht zu verwechseln. Es sei denn, diese ist etwa 60 Zentimeter groß und trägt ein gelblich-grünes Federkleid. Obendrein besitzen Kakapos Flügel, was nur für die wenigsten Früchte zutrifft. Allerdings waren die Tiere in Neuseeland einst so zahlreich, dass man sie förmlich ernten konnte. „Um an Kakapos zu kommen“, schrieb im 19. Jahrhundert der Pionier Charlie Douglas, müsse man nur bei Nacht an einem Tutu-Busch rütteln. „Dann fallen sie runter wie Äpfel.“

Solche Zeiten sind vorbei. Wer heute einen dieser Vögel sehen möchte, muss zuvor an vielen Büschen rütteln: Von mehreren Hunderttausend ist der Bestand auf kaum mehr als 100 Tiere gesunken, weshalb der bis zu vier Kilogramm wiegende Kakapo seit Jahren nicht nur den Titel „Schwerster Papagei“, sondern auch „Einer der seltensten Papageien der Welt“ führen kann. Seine Popularität hat das geradezu beflügelt – an jedem einzelnen Schicksal nimmt die Nation Anteil. Fernsehsender und Zeitungen berichten über Kakapo-Erkrankungen oder Todesfälle; gibt es Nachwuchs, wird das gesamte Land mitunter zur Namenssuche aufgerufen.

Obwohl zur Ordnung der Papageien gehörig, gilt der Kakapo als ebenso liebenswerter wie seltsamer Kauz mit charmantem Watschelgang. Das Fliegen hat er leider verlernt, was der Vogel aber gelegentlich vergisst und bei jedem trotzigen Versuch des Gegenbeweises die Strecke Baum–Boden in Fallgeschwindigkeit zurücklegt. So war der Kakapo allerdings nicht immer. Bis vor mehr als 80 Millionen Jahren flog er wie jeder andere Vogel unbekümmert durch die Welt. Dann drifteten Teile des Urkontinents Gondwana auseinander, das heutige Neuseeland manövrierte sich in eine so abseitige Lage, dass es nur durch die Luft zu erreichen war. Der mitgetriebene Kakapo war hier lediglich von anderen Vögeln umgeben, natürliche Feinde bedrohten ihn keine. Und da es somit keinen Grund zum energieaufwendigen Fliegen mehr gab, stellte der Papagei im Laufe der Zeit seinen Flugbetrieb auf allen in- und ausländischen Strecken ein. Er aß tüchtig und wurde zum pummeligen Einzelgänger, der bevorzugt allein über die Insel spazierte. Die Flügel behielt er dennoch, als kleidsames Accessoire und zum Ausbalancieren, falls er einmal über einen Stein stolperte.

So lebte der Kakapo vor sich hin, jahrtausendein, jahrtausendaus. Bis die Menschen Neuseeland entdeckten. Zunächst die Maori, dann weiße Siedler. Plötzlich stand der Kakapo Wesen gegenüber, die mit den Neuankömmlingen auf die Inseln gelangt waren: Katzen, Mardern, Hunden. Statt mit seinen scharfen Krallen begegnete der Kakapo diesen mit überraschtem Blick, und da Verteidigen und Kämpfen ihm fremde Wesenszüge sind, sank sein Bestand mit der Zeit dramatisch.

Lediglich 51 Tiere wurden in den 1990er Jahren bei einer der aufwendigsten Rettungsaktionen in der Geschichte des Vogelschutzes gezählt und auf Inseln ausgeflogen, die von allen Kakapo-Feinden gesäubert und in die Zeit eines Neuseelands vor Ankunft des Menschen zurückgedreht worden waren. Auf diesen soll sich der Kakapo seither wieder vermehren.

Das ist allerdings schwieriger als gedacht, denn einer der größten Feinde des Vogels gelangte ebenfalls in die neue Heimat: die Unlust. Aus Sex macht sich der Papagei nicht viel und hat sich zur Paarung eine Technik angeeignet, die von der Evolution eventuell zu früh zur Verfügung gestellt worden ist. Jedenfalls besticht sie weder durch ausgewiesene Sinnlichkeit noch Effizienz: Steht dem Kakapo-Männchen der Sinn nach Paarung, gräbt es auf den Hügelkuppen der Inseln Schallmulden und legt sich hinein. Dann bläst das nachtaktive Tier zwei Luftsäcke an seinen Brustseiten auf und gibt Töne von sich, die kilometerweit durch die Dunkelheit hallen. Was ein Kakapo-Mann für erotisch hält, ist ein tiefes, dumpfes Schwingen. So dumpf, dass es den Bestsellerautor Douglas Adams, als sich dieser für ein Buchprojekt mit bedrohten Tierarten beschäftigte, an Sound-Schnipsel von Pink Floyd erinnerte. Hinweise auf gegenseitige Befruchtung lassen sich jedoch weder in der Kakapo- noch in der Pink-Floyd-Forschung finden.

Das ausgesprochen sonore, nebelhornartige Timbre des Männchens wirkt auf Weibchen durchaus anziehend – leider aber nur in jenen Monaten, in denen bestimmte Pflanzen und Bäume Samen produzieren und die Ernährung des Nachwuchses gesichert ist. „Lieb mich, wenn die Steineibe blüht“, wäre beispielsweise für einen Kakapo-Roman ein ebenso richtiger wie vielversprechender Titel.

Außerhalb dieser Blütezeiten mag das Männchen von Tuten und Blasen so viel Ahnung haben, wie es will – es bleibt dennoch in seiner Schallmulde allein. Das kann aber auch in der Blütezeit geschehen. Denn das Männchen sendet seinen Ruf in einer Frequenz, die das Weibchen zwar zu hören, aber nicht zu orten vermag. Rastlos folgt es den verführerischen Tönen über Hügel, durch Täler, kilometerweit. Wie bei manchen Menschen auch kommt es aber nur zum Sex, wenn Männchen und Weibchen eher zufällig übereinander stolpern.

Das geschieht allerdings so selten, dass sich inzwischen ein Heer von Technikern, Wissenschaftlern und Nesthütern damit beschäftigt, dem Vogel Lust zu machen. Die Attrappe „Chloe“ beispielsweise sollte männliche Tiere zur Abgabe von Samenflüssigkeit anregen. Obwohl man schon Papageien gesehen hat, die sich in Ermangelung eines weiblichen Pendants an einem Hut vergingen, fanden nur wenige Papageien die Liebe mit einem ferngesteuerten Kakapo-Nachbau mit ihrer Würde als Vogel vereinbar. So hatte Chloe bald ausgedient.

Kaum erfolgreicher verlief auch der Einsatz des „Ejakulationshelms“, den nicht der Vogel, sondern der Wissenschaftler tragen musste. Die Erfindung ähnelte einem großen Golfball, auf dem der Papagei saß und vom Menschen darunter mit Geschick balanciert werden musste. Stimulierendes Vibrieren sollte dem Tier dann Sperma entlocken. Da die Rüttelei aber offenbar nur zu Kopfschmerzen des Wissenschaftlers führte, wurde auch der Helm wieder ausgemustert.

Erfolgreich verläuft dafür die Nachwuchsbetreuung. Denn sind erst einmal Eier gelegt, überwacht eine Videokamera die Bruthöhle und überträgt die Bilder in ein nahe gelegenes Zelt. Darin schlägt ein Gong, sobald die Mutter die Höhle verlässt. Ist das Kakapo-Weibchen nach 20 Minuten noch nicht von der Futtersuche zurückgekehrt, wird vom Nesthüter eine beheizbare Decke über die Eier gelegt. So ist es gelungen, den Kakapo-Bestand auf 125 Tiere steigen zu lassen. Vielmehr – auf 124.

Denn die traurige Nachricht zum Schluss: In der Nacht vor seiner Entlassung ist Kakapo Lee überraschend verstorben. Das Ärzteteam, heißt es in einem landesweit verbreiteten Bulletin, sei niedergeschmettert. Selbst eine dreistündige Notoperation habe Lee nicht mehr retten können.

Ein kleiner Trost: Lee wurde nicht aus der Blüte seines Lebens gerissen, sondern hatte bereits ein für einen Kakapo mehr als stattliches Alter erreicht. Nicht auszuschließen, dass er 100 Jahre alt war.

Aus GEO Special „Neuseeland“, Nr. 5/2009

Auf den Spuren des Kakapo

Die seltenen Tiere leben heute im Wesentlichen auf zwei Inseln, wohin sie der Mensch zu ihrem Schutz ausgeflogen hat: Codfish Island darf nicht betreten werden. Und das Schutzreservat Anchor Island ist praktisch nur per Hubschrauber erreichbar.

In freier Wildbahn wird extrem selten eines der nachtaktiven Tiere entdeckt. Wer dennoch sein Glück versuchen möchte, wird am ehesten im gewaltigen Fiordland National Park fündig. Oder auf Stewart Island, wo zuletzt 1997 Kakapo-Weibchen Solstice aufgespürt wurde. Möglicherweise leben in entlegenen Winkeln der Insel weitere Exemplare. Der Besuch des Vogelparadieses, das etwa zweimal so groß wie Berlin und mit kaum 400 Menschen besiedelt ist, lohnt aber auch ohne die Begegnung mit der einst totgesagten Papageienart. Informationen: www.stewartisland.co.nz

Ehrenamtliche Kakapo-Fahnder erfahren detailliert unter www.kakaporecovery.org.nz, woran sie das Tier erkennen: etwa am Balzruf oder an seinem moderigen Geruch. Weiterer Höhepunkt der Website: Kurzbiografien von Kakapos („Sinbad, der auf Codfish Island lebt, wird als sehenswert und sanft beschrieben“). Wer einen der wertvollen Vögel neu entdeckt hat, findet auf der Seite auch ein Meldeformular zum Herunterladen. Als Beweise werden eine Feder, Kot („grünlich bis dunkelbraun, fest, verflochtenen Spaghetti ähnlich“), Nahrungsreste und ein Foto verlangt.

Aus GEO Special „Neuseeland“, Nr. 5/2009

Elfenbeinspecht

Zaubervogel, wo steckst du?

Er ist das große Mysterium der Vogelwelt – und zugleich das Objekt eines wissenschaftlichen Glaubenskrieges. Viele Experten halten den Elfenbeinspecht Campephilus principalis, der einst in den Wäldern der US-Südstaaten zu Hause war, seit vielen Jahren für ausgestorben. Andere dagegen sind überzeugt, dass er noch existiert und dass die Natur der Menschheit eine zweite Chance zu seiner Rettung gegeben hat. Hat der prachtvolle Waldbewohner tatsächlich überlebt – oder ist er allein Objekt der Sehnsucht, einmal nur den Lauf der Welt zurückdrehen zu können? Eine aufwendige, mitunter unglaublich anmutende Suchaktion soll Klärung bringen

Von Johanna Romberg

Eine unfassbare Minute lang habe ich gedacht, ich hätte ihn gesehen. Es war an einem Apriltag, um die Zeit, die sie hier „magic hour“ nennen. Die Stunde vor Sonnenuntergang, wenn das Licht milder und die Natur geschäftiger wird; wenn die Käuze von ihren Schlafbäumen herabfliegen und mit aufmerksamen Blicken die Uferböschungen sondieren; wenn die Giftschlangen mit den weißen Rachen ihre letzten trägen Schleifen durchs kaffeebraune Altwasser ziehen.

Wir fuhren im Kanu den Cache River im US-amerikanischen Bundesstaat Arkansas entlang, auf einen Punkt zu, den wir später mit den Koordinaten W2MPO7042 in das computergestützte Beobachtungs-Logbuch eintrugen. Dieser Punkt liegt nur wenige Hundert Meter entfernt von jener Stelle, an welcher der Vogel vor einigen Jahren wieder erschienen ist, am Morgen des 24. Februar 2004.

Ich sage bewusst: „erschienen ist“. Nicht: „gesehen wurde“. Das klänge zu alltäglich, so, als sei Campephilus principalis ein gewöhnliches ornithologisches Beobachtungsobjekt.

Aber das ist er nicht. Andere Vögel, ja, die lassen sich sehen und hören, und selbst wenn sie selten und scheu sind, kann man sie mit Geduld und einem guten Feldstecher irgendwann aufspüren. Der Vogel mit dem elfenbeinfarbenen Schnabel jedoch taucht aus dem Nichts auf, für wenige Sekunden, häufig an einem unerwarteten Ort. Und dann verschwindet er wieder, spurlos und für so lange Zeit, dass seine Verfolger schon wieder zu zweifeln beginnen, ob er überhaupt noch von dieser Welt ist.

Es gibt zurzeit etwa ein Dutzend Menschen, die öffentlich bezeugen, einen lebenden Elfenbeinspecht gesehen zu haben. Die meisten von ihnen sind erfahrene Natur- und Vogelkundler, Experten, die auch dem eigenen Augenschein nur nach sorgfältiger Abwägung trauen und ihre Beobachtungen in nüchterner Fachsprache festhalten.

Doch der Anblick von Campephilus principalis scheint selbst bei solchen Experten eine nachhaltige Erschütterung zu bewirken. Manche Berichte lesen sich, als schilderten gläubige Katholiken eine Marienerscheinung: Von schlotternden Knien ist da die Rede, von euphorischen Weinkrämpfen, von Schlaflosigkeit und Gewichtsverlust in den Tagen nach der Beobachtung. Und von einem tiefen, andauernden Glücksgefühl.

Einige Momente lang war ich überzeugt, auch ich gehörte zu den Auserwählten – an jenem Aprilabend auf dem Cache River, als plötzlich 20 Meter vor unserem Boot ein Vogel auftauchte; ein großer schwarzer Vogel mit auffallend weiß gebänderten Schwingen, der mit stetigem Flügelschlag durch die Baumstämme davonflog.

War er es? Oder war er’s nicht?

Wer mit dem Auto die Straße Nr. 70 zwischen Memphis und Little Rock entlangfährt, kann die wenigen von Landmaschinen verschonten Naturlandschaften glatt übersehen. Ein paar Bauminseln, ein paar Hundert Meter Wasser und Grün unter einer Brücke – schon beginnt wieder die tellerflache Agrarsteppe des Mittelwestens, die sich in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont dehnt. Baumwoll-, Mais- und Sojafelder in Golfplatzgröße, beackert von Monstertraktoren; apathische Kleinstädte, deren belebtester Ort der Parkplatz vor dem Walmart-Supermarkt ist.

Und doch ist es ganz leicht, mitten in Arkansas in die Wildnis abzutauchen. Wer ein paar Meilen hinter der Stadt Brinkley vom Auto in ein Kanu umsteigt, an der Brücke über den Cache River, ist schon nach ein paar Dutzend Paddelschlägen rundum von Wald umgeben – einem Wald, der ebenso unberührt wie unermesslich wirkt. Baumsäulen, so dicht stehend, dass der Blick kaum mehr als 50 Meter weit reicht. Wasser, das den gesamten Waldboden bedeckt und zugleich überall und nirgends hin zu fließen scheint. Es steht in undurchsichtigen Tümpeln, spiegelt die 30 Meter hohen Kronen der Sumpfzypressen, Wassereichen und Amberbäume, die auch um die Mittagszeit nur Dämmerlicht durchlassen.

So muss er ausgesehen haben, der Urwald, der sich noch vor 200 Jahren über den gesamten Südosten der USA erstreckte – von Texas bis hinauf ins südliche Illinois und hinunter nach Florida.

Es war ein Wald von unheimlicher Lebensfülle. Feucht, heiß und durch regelmäßige Überschwemmungen über Monate in weiten Teilen unzugänglich. Von Moskitos verseucht, von giftigen Wasserschlangen bevölkert, aber auch reich an Wild, Orchideen und seltenen Vögeln. Durchs Unterholz streiften Panther, Wölfe und Bären, in den Baumkronen tummelten sich Meisen, Laubsänger, Milane und ein Dutzend verschiedener Spechte.

Einer davon faszinierte die Menschen besonders, und das schon zu einer Zeit, als Natur noch kein Gegenstand der Bewunderung war. Sie tauften ihn „Lord God Bird“, weil er jeden, der ihn sah, ins Staunen versetzte: Herr Gott, was für ein Vogel!

So groß. Größer als alle anderen Spechte Europas und Nordamerikas; mächtig wie eine Krähe und dabei im Flug so elegant wie ein Wasservogel.

So schön. Das Gefieder mattschwarz und weiß gemustert, das Weiß ein leuchtender Fleck im sanften Dämmerlicht des Waldes. Und auf dem Kopf ein hellroter Schopf.

So stark! Bewaffnet mit einem Schnabel, der die Borke mehrhundertjähriger Baumriesen mit einem Hieb vom Stamm lösen konnte. Wo ein Elfenbeinspecht-Paar nach Nahrung gesucht hatte, sah der Waldboden hinterher aus, als hätte eine Brigade von Holzfällern die Äxte geschwungen.

Vielleicht wäre es dem Elfenbeinspecht besser bekommen, wenn er die Menschen nicht so sehr fasziniert hätte. Ihr Interesse und ihre Begehrlichkeiten wurden ihm immer mehr zum Verhängnis.

Zwischen 1880 und 1910 erlegten Vogeljäger jährlich bis zu zehn Spechte, häufig im Auftrag von Sammlern. Ein gut erhaltener Balg brachte um die 15 Dollar ein, und natürlich hatte jedes Naturkundemuseum den Ehrgeiz, seine eigene Kollektion dieser ornithologischen Kostbarkeiten anzulegen.

Diese galten bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Rarität, was freilich weniger an den Jägern lag als vielmehr am allgemeinen Hunger nach Holz und Ackerland. Die Ausbeutung der Südstaaten-Urwälder war von der amerikanischen Regierung zur patriotischen Pflicht erhoben worden, und die Holzfäller hatten es natürlich vor allem auf die dicksten Stämme abgesehen. Gerade solche aber brauchen die großen Spechte, um ausreichend geräumige Nisthöhlen bauen zu können, und nur unter der Rinde frisch abgestorbener, mehrhundertjähriger Baumriesen finden sie die Larven, die ihre Hauptnahrung bilden.

Um 1918 waren die Urwälder zwischen Texas und Florida bis auf wenige Reste gerodet, der Elfenbeinspecht galt als ausgestorben. 1932 meldete ein Staatsanwalt aus Louisiana den Fund mehrerer Vögel – und schoss, zum Beweis, gleich einen von ihnen ab. Experten der Cornell-Universität in New York starteten daraufhin sogleich eine Expedition zum Fundort, mit Kameras und Tonbandgeräten.

Es gelang den Wissenschaftlern nicht nur, ein brütendes Elfenbeinspecht-Paar zu filmen, sie hielten auch die näselnden Rufe der Vögel und ihr charakteristisches Doppelklopf-Signal auf Band fest – zum ersten und letzten Mal überhaupt. Hier, auf dem „Singer Tract“, einem der letzten Urwälder Louisianas, entstand zwischen 1937 und 1939 auch die erste und bislang einzige fundierte Studie über Verhalten und Lebensgewohnheiten der Spezies Campephilus principalis.

Deren Autor, der Ornithologe James Tanner, kämpfte in den folgenden Jahren beharrlich für den Erhalt des Singer Tracts. Doch nicht einmal eine Intervention von Präsident Franklin D. Roosevelt konnte die Holzfäller stoppen. Die Vereinigten Staaten befanden sich im Krieg, der Schiffbau lief auf Hochtouren, Holz war begehrt und teuer.

An einem Apriltag des Jahres 1944 segelte ein einsames Spechtweibchen über eine Waldlichtung voller kahler, schwärzlicher Strünke. Das Bild des Malers Donald Eckelberry gilt als das letzte gesicherte Zeugnis eines lebenden Elfenbeinspechts in den USA. Während er den Vogel skizzierte, kreischten in seinem Rücken bereits die Sägen.

Wann ist eine Tierart endgültig ausgestorben? Artenschutzexperten sagen: Wenn sie seit 50 Jahren von niemandem mehr in freier Wildbahn beobachtet wurde.

Nach dieser Definition war der Elfenbeinspecht nie wirklich ausgestorben. Denn es gab in den Jahrzehnten nach 1944 immer wieder Berichte von merkwürdigen Begegnungen in den wenigen noch verbliebenen Wald- und Sumpfgebieten des Südens – dem „Großen Dickicht“ in Texas, dem Okeechobee-See in Florida und dem Einzugsgebiet des Mississippi, das auch den Cache River und den White River in Arkansas einschließt.

Zeugen mit schwerem Südstaatenakzent berichteten von seltsamen Klopfgeräuschen, von „v’dammt groß’n Vögeln“ mit auffallend weißen Flügelbändern, beschrieben verdächtige Schäl- und Hackspuren an einzelnen Stämmen. Farbfotos tauchten auf, aus anonymer Quelle, auf denen unscharf, aber doch deutlich zwei sitzende Elfenbeinspechte zu erkennen waren.

Keiner der Hinweise führte jedoch zu einer weiteren, verlässlichen Sichtung. Es schien, als folge der Specht bei seinen Auftritten einer speziellen Dramaturgie: Wo er einmal aufgetaucht war, ließ er sich nie wieder blicken, und wenn doch, zeigte er sich immer nur einem verdutzten Jäger, Waldarbeiter oder Hobby-Kanuten, nie einem Experten mit Fernglas und Kamera.

Skeptiker und Spötter deuteten diese Beobachtungen bald auf eigene Weise. Der Elfenbeinspecht, sagten sie, ist genauso lebendig wie der Yeti, das Ungeheuer von Loch Ness und Elvis Presley. Auch die werden immer wieder gesichtet – solange es Menschen gibt, die an sie glauben und sich nach ihnen sehnen.

Und was ist der Elfenbeinspecht, wenn nicht das Symbol eines großen Traums? Das geben selbst diejenigen zu, die bis heute von seiner Existenz fest überzeugt sind. Der geheimnisvolle Vogel verkörpert, mehr als jede andere Tierart, die Sehnsucht des Menschen nach einer „zweiten Chance“. Der Möglichkeit, die selbst verschuldete Verwüstung der Natur wenigstens einmal wieder rückgängig machen zu können. Wenigstens an einer Stelle ein schon verloren geglaubtes Stück Schöpfung im letzten Moment zu erhalten – und wieder aufleben zu lassen.

Wenigstens einmal! Die Chancen stünden so günstig. Denn die Zeiten der großen Kahlschläge sind vorbei; in den verbliebenen Schutzgebieten der Südstaaten wachsen die Bäume wieder zu über hundertjährigen Riesen heran, und Vogeljäger gehen dort nicht mehr mit Flinten, sondern mit Ferngläsern auf die Pirsch. Jetzt, endlich, könnte sich der „Herrgottsvogel“ unbehelligt wieder Teile seines früheren Lebensraums zurückerobern.

Aber was, wenn es den Elfenbeinspecht nun doch nicht mehr gibt?

Vogelkunde ist keine exakte Wissenschaft. Gerade das macht sie so spannend. Vogelkundler können sich nur selten auf exakte Labordaten, Fotos oder Tondokumente berufen; ihre Erkenntnisse stützen sich vor allem auf Geschichten. Ein guter Ornithologe muss nicht nur ein scharfer Beobachter, sondern auch ein anschaulicher, überzeugender Erzähler sein.

Wenn ich Ihnen, beispielsweise, erzählte, ich hätte bei einem Spaziergang durch den Hamburger Stadtpark ein Weißsterniges Blaukehlchen entdeckt, einen der seltensten Vögel Mitteleuropas – dann würden Sie sich vermutlich sachte an die Stirn tippen. Wenn ich Ihnen den Vogel aber bis aufs letzte Federchen genau beschriebe, den weißen Fleck auf seiner blauen Kehle, seine charakteristische Art, den Schwanz aufzufächern, seinen fallschirmartigen Balzflug und seinen gepreßten, grillenartigen Gesang – dann würden Sie, als versierter Ornithologe, schon eher aufhorchen.