Versöhnung - Gunther Wenz - E-Book

Versöhnung E-Book

Gunther Wenz

0,0

Beschreibung

Der neunte Band der Reihe "Studium Systematische Theologie" bietet historische und systematische Informationen zur Soteriologie. Der biblische Ansatz wird anhand einer Gegenüberstellung des adamitischen Sündenfalls und der Höllenfahrt Jesu Christi identifiziert und insbesondere am paulinischen und johanneischen Kerygma expliziert. Als exemplarische Repräsentanten altkirchlicher Soteriologie des Ostens fungieren Athanasius und Maximus Confessor; für die klassische Tradition des mittelalterlichen und reformatorischen Westens stehen Anselm und Abaelard, Luther und Calvin. Die Darstellung neuzeitlicher Kritik von Stellvertretung und Satisfaktion beginnt mit den Sozinianern, die den weiteren Gang der Entwicklung bis zu Kant und darüber hinaus entscheidend bestimmen. Der Band schließt mit einer Skizze von Grundzügen einer aktuellen theologia crucis und einer inkarnationstheologisch fundierten Erlösungslehre, welche in den rechten theoretischen und praktischen Umgang mit den Aporien von Übel und Bosheit einzuweisen vermag.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 840

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Studium Systematische Theologie

Band 9

Vandenhoeck & Ruprecht

Gunther Wenz

Versöhnung

Soteriologische Fallstudien

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99710-0

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Einleitung

1.Adamitischer Sündenfall und Höllenfahrt Jesu Christi. Zum Ansatz biblischer Soteriologie

2.Versöhnung und Rechtfertigung im Gekreuzigten. Von Jesus zur gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung des Paulus

3.Wort vom Kreuz und inkarnierter Logos. Von der paulinischen zur johanneischen Soteriologie

4.Logoschristologie und trinitarische theologia crucis

5.Die altkirchlichen Theosislehren von Athanasios und Maximus Confessor

6.Die Satisfaktionstheorie Anselms und das Alternativkonzept Abaelards

7.Luthers Lehre vom Strafleiden Christi im Kontext scholastischer Anselmrezeption

8.De principiis salutis. Calvin und ein soteriologisches Fallbeispiel altlutherischer Orthodoxie

9.Die sozinianische Kritik der orthodoxen Kirchenlehre

10.Versöhnung durch Moral: Von Grotius zu Kant

11.Beseligende Kräftigung des Gottesbewusstseins. Schleiermachers neuprotestantische Soteriologie

12.Die Rechtfertigung der Zweifler und Verzweifelnden. Tillichs Soteriologie der Krise

13.Heil. Soteriologische Nomenklaturen

14.Alter Ego. Zum Stellvertretungsgedanken

15.Articulus stantis et cadentis ecclesiae: Rechtfertigung und Versöhnung

16.Schicksalskontingenz und Erlösungshoffnung

17.Soteriologie und Eschatologie

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Lit.: F. Chr. Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. – J. W. v. Goethe, Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abtheilung. 27. u. 28. Band, Weimar 1903. – W.-D. Hauschild, Dogmengeschichtsschreibung, in: TRE 9, 116–125. – E. Jüngel, „… nach meinem Urteil allenfalls ein erster Schritt“, in: epd-Dokumentation 49/97, 5–7. –H. Hoping / J.-H. Tück, „Für uns gestorben“. Die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu und die Hoffnung auf universale Versöhnung, in: E. Christen / K. Kirchschläger (Hg.), Erlöst durch Jesus Christus, Freiburg / Schweiz 2000, 71–107. – K.-P. Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2004. – M. Kähler, Das Wort „Versöhnung“ im Sprachgebrauch der kirchlichen Lehre, in: ders., Zur Lehre von der Versöhnung, Gütersloh 1937, 1–38. – D. Korsch, Art. Versöhnung III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch, in: TRE 35, 22–40. – M. Limbeck, Abschied vom Opfertod. Das Christentum neu denken, Ostfildern 42012. – A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Erster Band: Die Geschichte der Lehre (1870), Bonn 21882. – O. Ritschl, Albrecht Ritschls Leben. Erster Band: 1822–1864, Freiburg / Br. 1892; Zweiter Band: 1864–1889, Freiburg 1896. –H. Schöndorf, Warum musste Jesus leiden? Eine neue Antwort auf eine alte Frage, München 2013. – A. Spadaro, Das Interview mit Papst Franziskus. Hg. v. A. R. Batlogg, Freiburg / Basel / Wien 2013. – M. Striet / J.-H. Tück (Hg.), Erlösung auf Golgota? Der Opfertod Jesu im Streit der Interpretationen, Freiburg / Br. 2012. – B. Suphan, Goethe und das Jubelfest der Reformation 1817, in: GJb 16 (1895), 3–12. – G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. 2 Bde., München 1984/86.

Tübinger Besuch

Im Jahre 1854 begegneten sich in Tübingen die beiden Theologen, welche die Dogmenhistoriographie im 19. Jahrhundert und insbesondere die Geschichtsschreibung der christlichen Versöhnungslehre maßgeblich bestimmten. Das Treffen fand im Hause Ferdinand Christian Baurs statt. Dieser hatte sechzehn Jahre zuvor sein Werk zum Thema der Öffentlichkeit vorgelegt (vgl. Baur). „Förmlich zärtlich“ (O. Ritschl I, 259) sei der alte Baur gegen ihn gewesen, bekundete später der Gast. Dieses Entgegenkommen des Lehrers verstand sich nicht von selbst, denn immerhin war der Schüler bereits mit einem unmissverständlichen Widerspruch gegen dessen Auffassung von der Entstehung des sog. Frühkatholizismus an die Öffentlichkeit getreten. Das private Gespräch wandte sich dann auch alsbald theologischen Grundsatzfragen zu, wobei der Altmeister in überlegener Bescheidenheit dem jungen Privatdozenten ein Angebot gütlichen Einvernehmens machte: Dieser setze eben konkretere Begriffe in Bewegung, während er, Baur, das Bedürfnis abstrakteren Denkens habe. Genau dies sei das Unrecht gegen die wirkliche Welt, schrieb Baurs Logiergast daraufhin in einem Situationsbericht nach Hause. Trotz günstigen äußeren Verlaufs des Tübinger Treffens war der wissenschaftliche, aber auch persönliche Bruch beider Männer von da an nur noch eine Frage der Zeit.

Der selbstbewusste Gast, der Baur 1854 heimsuchte, hieß Albrecht Ritschl. Wiederum sechzehn Jahre nach seinem denkwürdigen Tübinger Aufenthalt legte er das Ergebnis seiner eigenen langjährigen Forschungen zur Geschichte der christlichen Versöhnungslehre vor und zwar als Grundlage und ersten Band seines schließlich dreibändigen wissenschaftlichen Hauptwerks: „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (vgl. im Einzelnen Wenz II, 63 ff.). Schon die Aufnahme des Rechtfertigungsbegriffs in den Titel enthält eine Kritik an der Konzeption Baurs. Indem dieser sein Thema allein mit dem Begriff der Versöhnung bezeichne, werde es zu eng für den dargebotenen Stoff und seine Einteilung. Aber auch dem Versöhnungsbegriff selbst gibt Ritschl eine andere Bestimmung als Baur. „Der christliche Begriff der Versöhnung“, so die These, „kann nur verstanden werden als Aufhebung des einseitigen oder gegenseitigen Widerspruchs zwischen göttlichem und menschlichem Willen.“ (Ritschl, 22) Das Thema wird demnach sogleich in ethisch-voluntaristischer Weise aufgefasst, will heißen: nicht zur Sache gehörig sind all jene Lehrbildungen, welche sich – theoretisch-spekulativ – auf das Verhältnis von Gott und Mensch im allgemeinen und nicht in bestimmter – praktischer – Weise auf den Widerspruch der menschlichen Sünde gegen Gott und seine Auflösung richten. Folgerichtig erklärt Ritschl die Begriffe Rechtfertigung und Versöhnung zum „Eigenthum der abendländischen Kirche“ (Ritschl, 3) und lässt die Geschichte der Lehre von Rechtfertigung und Versöhnung, im Unterschied zu Baur, „erst mit dem Mittelalter beginnen“ (ebd.).

Die Vorstellungen der griechischen Väter „über die Erlösung des Menschengeschlechtes von der Macht des Teufels und über die Vergöttlichung des Menschengeschlechtes als Natureinheit“ (Ritschl, 22) werden von Ritschl in die Einleitung verwiesen und unter „den Titel von Erlösung und Vollendung der in Sünde und Unvollkommenheit verfallenen Menschen“ (Ritschl, 4) gebracht. Dabei unterscheidet Ritschl zwei Entwicklungsstufen: die erste – von Justin, Clemens Alexandrinus, Origenes, Irenäus und Hippolyt repräsentierte – bestimme den Einzelmenschen, die zweite – von Athanasius, Gregor v. Nyssa, Cyrill von Alexandrien und den Nachfolgern geprägte – hingegen die menschliche Natur insgesamt zum Gegenstand des Werkes Christi (vgl. im Einzelnen Ritschl, 4–21). Unterschiedslos geteilt werde dabei indes von allen die Auffassung, dass Christi Wirken auf Unsterblichkeit und Vergottung gerichtet sei. Demgegenüber trete in der westlichen Tradition die Überwindung von Sünde und Schuld in das Zentrum des theologischen Interesses am Werk Christi. An die Stelle der Lehre von der Erlösung und Vollendung des menschlichen Geschlechts rücke deshalb die Lehre von der Versöhnung. Anselm von Canterbury eröffne das erste Kapitel ihrer Geschichte.

Ferdinand Christian Baur

Baur ging in seinem 1838 erschienenen Werk über „Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste“ anders vor (vgl. im Einzelnen Wenz I, 321 ff.). Er handelte in drei ausführlichen Kapiteln von den Gnostikern, von Irenäus und Origenes, den Kirchenlehrern vom vierten Jahrhundert bis zum Anfang des Mittelalters und schließlich von Johannes Scottus Eriugena, dem Lehrer Karls des Kahlen, bevor er auf Anselm von Canterbury zu sprechen kam. Im Grundsatz, dass der eigentliche Anfang der dogmatischen Entwicklung erst damit beginne, dass der Tod Jesu Christi unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit gestellt werde, stimmt Baur mit Ritschl zwar überein; auch für ihn ist die voranselmische Geschichte der Versöhnungslehre Vorgeschichte. Doch sei ihre Kenntnis nötig, um Anselms Leistung gebührend würdigen zu können. Sie bestehe im Wesentlichen in der theologischen Auffassung der Gerechtigkeit als einer immanenten Eigenschaft Gottes, wohingegen sie vor ihm, jedenfalls häufig, „nur auf ein äusseres Verhältniß bezogen wurde. Nicht der Gerechtigkeit, durch welche Gott nur von sich selbst abhängig ist, sondern der Gerechtigkeit, die in Beziehung auf das Verhältniß Gottes zum Teufel, mit Rücksicht auf das dem Teufel über die Menschen zustehende Recht, nicht verlezt werden darf, sollte vor allem Genüge geschehen, um den Menschen von der Schuld der Sünde zu befreien und mit Gott auszusöhnen.“ (Baur, 27). Dieser äußerlichen Auffassung des Begriffes der Gerechtigkeit habe Anselm sein theologisches Verständnis entgegengesetzt, indem er den vor ihm weithin anerkannten Grundsatz bestritt, der Teufel habe durch die Sünde, zu welcher er die Menschen verführte, ein Anrecht auf sie erlangt.

Nach Baur bewegt sich die durchschnittliche altkirchlich-frühmittelalterliche Versöhnungslehre im Rahmen der Vorstellung eines Loskaufs des Sünders aus dem Rechtsbereich des Teufels. Zwar darf es nach seinem Urteil „vielleicht nicht für ganz zufällig gehalten werden, daß nicht alle Kirchenlehrer mit derselben Entschiedenheit, wie Augustin, hierüber sich aussprachen. Während nach Augustin der Teufel das volle Eigenthums-Recht auf den Menschen hatte, erklärte es Leo der Große wenigstens für ein tyrannisches Recht, und Gregor der Große, obgleich er auf der einen Seite die Realität des Rechts an sich nicht läugnen konnte, auf der andern auch wieder für ein bloßes Scheinrecht, und die folgenden Kirchenlehrer bleiben, ohne den Rechtsbegriff besonders hervorzuheben, mehr nur bei der unbestimmteren Vorstellung stehen, der Mensch sey in der Folge der Sünde in der Gewalt des Teufels gewesen.“ (Baur, 68) Eine vermittelnde Zwischenstellung zwischen der überkommenen Theorie einer Erlösung und eines Loskaufs des Sünders aus der Rechts- und Machtsphäre des Teufels und der Versöhnungslehre Anselms von Canterbury räumt Baur Athanasios von Alexandrien und seinem Werk „Über die Menschwerdung des Logos und sein Erscheinen unter uns“ ein.

Als der inkarnierte Logos erfüllte Jesus Christus nach Maßgabe von Baurs Athanasiusdeutung durch Hingabe und Aufopferung seines Menschseins „für Alle die Schuldforderung des Todes, und indem er durch das Gleiche mit Allen als der unsterbliche Sohn Gottes verbunden war, zog er Allen durch die Verheissung der Auferstehung die Unsterblichkeit an. Diese Vorstellung ist unstreitig ein in mancher Hinsicht merkwürdiges Mittelglied zwischen den beiden Haupttheorien, der auf den Teufel sich beziehenden, und jener andern, zu welcher wir erst den Uebergang von jener auffinden sollen. Sie schließt sich an die erstere dadurch an, daß sie von der Herrschaft des Todes über die Menschen ausgeht. Der gleichsam personificirte Tod vertrit die Stelle des Teufels, ist aber Gott gegenüber keine ebenso selbstständige Macht, da er an sich nur die an dem Menschen haftende Schuld der Sünde bezeichnet. Es steht daher nichts entgegen, den den Zusammenhang zwischen der Sünde oder der Schuld der Sünde und dem Tod vermittelnden Begriff der Gerechtigkeit auf Gott zu beziehen. Wie Gott es ist, der mit der Sünde, wegen der an ihr haftenden Schuld, den Tod verbunden hat, so ist es auch nur Gott, dessen Recht durch die Aufhebung des Todes nicht verlezt werden darf.“ (Baur, 95 f.)

Auch Ritschl hat Athanasius eine Sonderstellung innerhalb der altkirchlichen Theologie zuerkannt. Doch sei er nicht eigentlich als Versöhnungslehrer zu qualifizieren, weil seine Heilslehre wie die der gesamten Alten Kirche zuletzt nicht auf Behebung von Sündenschuld, sondern auf Vermittlung von Unsterblichkeit hinauslaufe. Als Ziel, zu dessen Erlangung der Gottmensch befähige, werde eindeutig die aphtharsia bestimmt: „und da diese das wesentliche Attribut Gottes im Gegensatz zur Schöpfung ist, so wird das im Christenthum dargebotene höchste Gut auch als Vergottung (theopoiesis) bezeichnet.“ (Ritschl, 4) Für Ritschl ist damit das Thema der Versöhnungslehre verfehlt bzw. noch gar nicht erst erreicht; ihre Geschichte beginne recht eigentlich erst mit Anselm.

Realisierung der Versöhnungsidee

Die Differenz zwischen Baur und Ritschl in der Auffassung der Geschichte christlicher Versöhnungslehre reicht über eine abweichende Bestimmung der materialen Themenbestände weit hinaus. Sie ist systematisch und in einer wenn nicht gegensätzlichen, so doch sehr unterschiedlichen Bestimmung der Aufgabe wissenschaftlicher Dogmengeschichtsschreibung begründet. Folgt man Baur, der die Dogmenhistoriographie „auf eine noch nicht dagewesene und auch später kaum erreichte Höhe“ (Hauschild, 118) führte, so hat diese weder als „Legitimationswissenschaft der Dogmatik“ (Hauschild, 117), noch einem subjektiven Emanzipationsinteresse zu dienen, welches durch den Nachweis geschichtlicher Bedingtheit und Variabilität den allgemeinverbindlichen Anspruch von Dogmen zu unterlaufen suche. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, den materialen Dogmengehalt in seiner Genese so zu erschließen, dass sein Sinn und Geltungsanspruch konsequent daraus hervorgehe. In der Darstellung des objektiven Materials soll, mit Baur zu reden, „die innere Bewegung des Begriffs selbst sich darstell(en)“ (Baur, V). Das gilt für die Dogmengeschichte im Allgemeinen und für die Geschichte der christlichen Versöhnungslehre im Besonderen. Ist doch Baur zufolge in der Idee realisierter Versöhnung von Gott und Mensch der Inbegriff des Christentums, ja aller Religion gegeben. „Hat die Religion überhaupt, ihrem allgemeinsten Begriff nach, das Verhältniß Gottes und des Menschen zu ihrem Gegenstand, so stellt sich dieses Verhältniß sogleich als ein doppeltes dar, auf der einen Seite als der Unterschied des Menschen von Gott, auf der andern als die Einheit des Menschen mit Gott. Die Beziehung, in welcher diese beiden Seiten zu einander stehen, gibt dem Begriff der Religion die Bewegung, durch welche er in seine Momente auseinandergeht, und sich mit sich selbst vermittelt. Besteht nun diese Vermittlung, durch welche der Begriff der Religion sich selbst realisirt, darin, daß die Trennung des Menschen von Gott als eine in seiner Einheit mit Gott aufgehobene und ausgeglichene aufgefaßt wird, so bezeichnet der Begriff der Versöhnung den Punct, in welchem das eine Moment in das andere übergeht: die Möglichkeit dieses Uebergangs aus dem Getrenntseyn von Gott in das Einsseyn mit Gott soll die Lehre von der Versöhnung nachweisen und zum klaren Bewußtseyn bringen.“ (Baur, 1)

Der Gedanke der Versöhnung ist nach Baur „Mittelpunct jeder Religion“ (Baur, 1). Das Christentum aber habe als Religion der Religionen deshalb zu gelten, weil in ihm der Begriff der Versöhnung allererst „seine wahrhaft reelle Bedeutung“ (Baur, 2) gewonnen habe. Während im Heidentum die Idee der Versöhnung nur in dunkler Ahnung sich andeute, da die Unmittelbarkeit natürlichen Seins noch nicht verlassen sei, erhebe sich in der jüdischen Religion das religiöse Bewußtsein dergestalt über die Natur, daß es den Menschen „als freies, persönliches Wesen dem über der Natur stehenden freien, persönlichen Gott gegenüber (stellt)“ und „an die Stelle des Naturbewußtseyns … das Volks- und Staatsbewußtseyn (setzt), dessen wesentliche Bestimmung das Gesez ist“ (Baur 3). Damit ist nach Baur zwar ein wesentlicher Schritt auf dem religionsgeschichtlichen Weg der Realisierung der Versöhnungsidee geleistet; sofern aber das Judentum die Möglichkeit der Versöhnung des Menschen mit Gott an die unmittelbare Gleichschaltung des Einzelwillens mit der Allgemeinheit des göttlichen Gesetzes binde, vermöge es den Gegensatz zwischen Gott und Mensch nur gewaltsam zu lösen, nicht aber wirkliche Vermittlung zu leisten. Diese sei dem Christentum vorbehalten, in welchem in der Person des Gottmenschen Jesus Christus jene Einheit des Göttlichen und Menschlichen offenbar werde, welche das Judentum als ihre Zukunft noch außer sich habe. „Alles, was das Christenthum im Gegensaz gegen das Heidenthum und Judenthum auf den Standpunct der absoluten Religion erhebt, hat zugleich die unmittelbarste Beziehung auf die Idee der Versöhnung, und das Christenthum ist, wie es in der zur Wirklichkeit gewordenen Idee der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, in der Person des Gottmenschen, die Religion der Erlösung ist, so auch die Religion der absoluten Versöhnung.“ (Baur, 5)

Versöhnung und Erlösung

Die Begriffe Erlösung und Versöhnung ordnet Baur einander so zu, daß die Versöhnung den inneren Grund der Erlösung, die Erlösung die äußere Gestalt der Versöhnung bezeichnet. „Während … der Begriff der Erlösung zunächst nur auf das Thatsächliche geht, auf die von Gott durch die Sendung des Erlösers getroffene Veranstaltung, durch welche im Menschen eine solche geistige Veränderung bewirkt werden soll, vermöge welcher er aus dem Zustand der Sünde in den Zustand der Gnade übergeht, bezieht sich der Begriff der Versöhnung auf die die Realität der Erlösung selbst erst begründende, so zu sagen, metaphysische Frage: wie sich aus der Idee Gottes die Möglichkeit der Aufhebung der mit der Sünde, ihrer Natur nach, verbundenen Schuld begreifen läßt?“ (Baur, 6 f.) Durch die Person des Gottmenschen als der manifesten Idee der Einheit des Göttlichen und Menschlichen sieht Baur das von ihm entwickelte Verhältnis von Erlösung und Versöhnung bestätigt. Der Versöhnungstod Jesu Christi gilt dem christlichen Bewusstsein als die objektive Voraussetzung der universalen Wirkung der die Gesamterscheinung des Gottmenschen kennzeichnenden Erlösungsmacht, mithin auch als Möglichkeitsgrund subjektiven Erlösungsbewusstseins.

Das Problem der rechten Zuordnung der Begriffe Versöhnung und Erlösung erweist sich als elementar verbunden mit der Frage, wie sich der differenzierte Zusammenhang von Objektivem und Subjektivem im Christentum richtig bestimmen lässt. Auf die Lösung dieser Frage ist nach Baur der gesamte Entwicklungsgang der Geschichte des christlichen Geistes und seiner dogmatischen Selbstentfaltung gerichtet. Auf welche Weise das Christentum „die allein wahre ewige Versöhnung objectiv vollbracht hat, und in jedem Einzelnen subjectiv realisirt, ist die neue Aufgabe des den absoluten Inhalt des Christenthums aus seiner objectiven Unmittelbarkeit in sein subjectives Bewußtseyn aufnehmenden und für dasselbe vermittelnden Geistes“ (Baur, 5). Im Verfolg dieser Aufgabe erweist sich die Geschichte christlichen Geistes als die Geschichte sich realisierender Versöhnung. Denn die historischen Erscheinungsgestalten, welche das christliche Versöhnungsdogma im Laufe seiner Geschichte annimmt, sind – auf ihre Idee hin durchschaut – nach Baur nichts anderes als Manifestationen verschiedener, aufeinander verweisender Momente, welche in der Totalität des Begriffs der Versöhnung ihre Einheit haben.

Den differenzierten Zusammenhang der begrifflichen Entwicklung in ihren historischen Existenzformen zu rekonstruieren, ist Sinn der Baur’schen Untersuchung. Wie aber das Christentum an dem Gedanken der Versöhnung seinen Inbegriff hat, so entspricht die Gliederung der Geschichte des Versöhnungsbegriffs der Periodisierung der Geistesgeschichte des Christentums im Allgemeinen: der rein objektive Standpunkt dogmatischer Substantialität, wie er die Alte Kirche charakterisiere und weite Strecken des Mittelalters präge, habe in der Versöhnungslehre seine feste Bestimmung in der Anselm’schen Satisfaktionstheorie erreicht (vgl. Baur 21–282). Der Übergang von dem Standpunkt der unmittelbaren Objektivität zu dem Standpunkt der Subjektivität (vgl. Baur, 283–562) hebe zwar bereits im Mittelalter an, sei aber erst in der Folge der Reformation konsequent vollzogen worden. Er spreche sich im Zusammenhang der Versöhnungslehre darin aus, „daß, während auf der objectiven, im Satisfactionsdogma sich darstellenden, Seite nur Gott es ist, welcher sich mit dem Menschen versöhnt, nun umgekehrt, vom subjectiven Gesichtspunct aus, nur in dem mit Gott sich versöhnenden Menschen der eigentliche Proceß der Versöhnung erfolgen sollte“ (Baur, 13 f.).

Während sie in der Zeit zwischen Reformation und der Mitte des 18. Jahrhunderts noch mehr oder minder mit dem Moment der Objektivität konfligiert, ist die Subjektivität Baur zufolge in der Neologie zur vollen Durchsetzung gelangt. „Je mehr aber die Subjectivität nicht nur zu ihrem Recht kam, sondern auch in ihrer ganzen Einseitigkeit sich geltend machte, desto mehr trieb sie dadurch den subjectiven Geist zur Anerkennung der Nothwendigkeit, sich seiner subjectiven Willkür zu entledigen, und das Allgemeine und Objective, das der Subjectivität allein ihren festen Haltpunct gibt, sich zum Bewußtseyn zu bringen.“ (Baur, 14) Die Namen Kant, Schleiermacher und Hegel markieren den in sich erneut dreifaltigen Entwicklungsgang dieser dritten und letzten Periode (vgl. Baur, 563–752) in der Geschichte des im Versöhnungsbegriff sich zusammenfassenden christlichen Dogmas. Ihre geistige Vollendung koinzidiert mit der vollzogenen Selbstrealisierung des Begriffs der Versöhnung. Der nunmehr erreichte Standpunkt, auf welchem wir Baur an Hegels Hand stehen sehen, ist „zwar auch wieder der Standpunct der Objectivität, aber diese Objectivität ist eine ganz andere, als jene erste unmittelbare, von welcher die ganze Bewegung des Dogmas ausging, es ist die durch die Subjectivität vermittelte, ideelle Objectivität des absoluten Geistes, zu dessen Wesen es ebenso gehört, sich in der Aeusserlichkeit der geschichtlichen Existenz zu objectiviren, und in die Endlichkeit des subjectiven Bewußtseyns einzugehen, als auf der andern Seite aus seiner Objectivirung und Verendlichung zu sich selbst, seiner Unendlichkeit und absoluten Wahrheit, zurückzukehren“ (Baur, 14 f.).

Albrecht Ritschl

Baur unterteilt seine Geschichte der christlichen Versöhnungslehre in drei Entwicklungsperioden. Die Entwicklung von der ältesten Zeit bis zur Reformation bezieht den, wie es heißt, Standpunkt der unmittelbaren Objektivität, die von der Reformation bis zur Kant’schen Philosophie reichende zweite Periode befindet sich im Übergang von diesem zum Standpunkt der Subjektivität, die abschließende dritte, die in Hegels System zur Vollendung gelangt, kennzeichnet Baur als den Standpunkt der durch Subjektivität vermittelten Objektivität. Gibt Baurs dreifaltige Darstellung des Materials bereits eindeutige Hinweise auf den zu erwartenden dialektischen Gang des Gedankens, dem die äußere Geschichte folgt, so setzt Ritschl schlicht elf Kapitel nebeneinander, ohne darüber hinaus ihren systematischen Zusammenhang kenntlich zu machen. Er verleiht damit seiner grundlegenden Devise Ausdruck, daß Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie zweierlei seien (vgl. Ritschl, 30). Beides in eins gesetzt zu haben, ist der wesentlichste aller Vorwürfe gegen Baur. Dabei wiederholt Ritschl die bereits in dem erwähnten Tübinger Gespräch geäußerte Kritik, Baurs Geschichtsschreibung laufe auf eine „konstruktivistische“ Vergewaltigung des historischen Einzelphänomens hinaus. Abgesehen davon, dass „die Gruppirung der einzelnen Theile der Darstellung in dem geschichtsphilosophischen Rahmen in nicht wenigen Fällen hinter der kunstmäßigen Gliederung zurück(bleibt), welche durch den eigenthümlichen Standpunkt des Geschichtschreibers verheißen wird“ (Ritschl, 22), seien die Analysen Baurs niemals darauf gerichtet, „die Gedankenreihe eines Andern aus ihren Grundbegriffen zu construiren. Er hat nie die Geduld, die etwa obwaltenden Widersprüche auf dem Wege dieser Reconstruction an das Licht treten zu lassen; sondern er greift jede Lehrdarstellung bei irgend einer Spitze an, welche einen Widerspruch darzubieten scheint, und führt seine Kritik in einem Raisonnement durch, welches fast niemals die Evidenz der Gerechtigkeit an sich trägt.“ (Ritschl, 25) Die Baur’sche Konzeption ist damit eines Systemzwangs bezichtigt, welcher ohne Rücksicht auf historische Individualität alles seinem gleichschaltenden Begriffsbann unterwerfe. Radikal ist diese Vorhaltung insofern, als mit der Kritik an seiner Darstellung der Geschichte der Versöhnungslehre Baurs Versöhnungsidee selbst infrage steht, welche ihr eigentümliches Wesen doch gerade in der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem, Subjektivem und Objektivem zu haben beansprucht.

Die Notwendigkeit einer Emanzipation vom Schema logisch-begrifflicher Geschichtskonstruktion stand für Ritschl zeitig fest, insofern er durch dieses die Eigenart des wirklichen Geschehens zwangsläufig übergangen sah. Die Frage nach den gedanklichen Prinzipien, die sein geschichtliches Buch leiten, wies er deshalb als unpassend und ungehörig zurück. Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass sich Ritschl nicht mit der Rolle eines Advokaten des Faktischen begnügte, da er das als real Befundene mit dezidierten Werturteilen versah. Ein paradigmatisches Bewertungskriterium ist die Unterscheidung zwischen einer ethischen und einer juridischen Auffassung der Versöhnung. Dabei gilt Ritschls Wertschätzung stets der ethischen Ausprägung des Versöhnungsgedankens, während er die juridische Betrachtungsweise für minderwertig hält. Schon der im Eingangskapitel vorgenommene und eindeutig zugunsten des letzteren entschiedene Vergleich zwischen Anselm und Abaelard (Ritschl, 31–54) dient der Abwehr einer einseitigen Bevorzugung juridischer Vorstellungskategorien in der kirchlichen Versöhnungslehre und kann einen Eindruck von Ritschls Bewertungsmaßstäben geben.

Rechtfertigung und Versöhnung

Mit der Geringschätzung einer von Begriffen der Jurisprudenz bestimmten Fassung der Versöhnungslehre verbindet sich bei Ritschl zugleich die strikte Ablehnung der Vorstellung einer durch die Versöhnungstat Jesu Christi bestimmten Umstimmung Gottes. Bereits die ungewöhnliche Reihenfolge der Titelbegriffe will als Hinweis darauf verstanden werden. „Der Titel: Rechtfertigung und Versöhnung hat den Sinn, daß die richtige Darstellung der Sache in der Linie gedacht ist, welche die Annahme einer Umstimmung Gottes durch Christus von Zorn zu Gnade ausschließt.“ (Ritschl, 2) Ritschl beruft sich dabei auf Röm 5,1–11, wo „die Vorstellung von Versöhnung der Sünder mit Gott als Synonymon der Rechtfertigung oder Gerechtsprechung“ (ebd.) auftrete und eine mögliche Abweichung höchstens darin zu erkennen sei, dass der Begriff der Versöhnung „einen volleren Sinn“ (ebd.) ausdrücke als derjenige der „Gerechtsprechung“ (ebd.). Es zeigt sich, dass schon die Beschreibung und Zuordnung der Titelbegriffe eine Entscheidung über den gesamten zu verhandelnden Sachzusammenhang impliziert.

Ein Vergleich der Baur’schen und Ritschl’schen Entwicklung der christlichen Versöhnungsgeschichte ergibt bereits bezüglich der Themenbestimmung nicht unerhebliche Differenzen. Dies hängt mit dem unterschiedlichen Verständnis des Versöhnungsbegriffs und der Tatsache zusammen, dass dieser selbst an der Geschichte Anteil hat, deren thematischen Zusammenhang er benennen soll. Seine Bedeutung schwankt erwartungsgemäß in der Geschichte und ist nicht nur zwischen Baur und Ritschl strittig. Ein Beispiel dafür gibt Martin Kähler (vgl. im Einzelnen Wenz II, 132 ff.), der als Dritter im Bunde der großen Geschichtsschreiber und Systematiker der Versöhnungslehre erwähnt werden soll, wenngleich vorerst nur bezüglich seiner Studie zum Wort „Versöhnung“ im Sprachgebrauch der kirchlichen Lehre; doch lässt sich bereits aus ihr ersehen, worauf es Kähler sachlich ankommt und worin er sich von Baur und Ritschl unterscheidet.

Martin Kähler

Das deutsche Wort „Versöhnung“ hängt etymologisch mit dem Sühnebegriff zusammen, ohne dass dadurch über seine Bedeutung schon klar befunden wäre. Ist doch der Begriff der Sühne im Deutschen kaum weniger vieldeutig als derjenige der Versöhnung. In der Regel bezeichnet letzterer die Behebung eines Missverhältnisses, das durch unrechtes, beziehungswidriges Verhalten zustande kam. Um die Beziehungswidrigkeit in ein beziehungsgemäßes Verhältnis zu transformieren, das beiden Teilen gerecht wird, bedarf es der Versöhnung, wobei die Mittel ihres Zustandekommens sehr unterschiedlich sein können. Durch die generelle Regel seiner Verwendung ist die spezielle Bedeutung des Versöhnungsbegriffs daher nur ansatzweise festgelegt; über sie entscheidet von Fall zu Fall der jeweilige Kontext, der rechtlich, moralisch bzw. religiös im kultischen oder anderweitigen Sinne bestimmt sein kann.

Kählers Studie zum Versöhnungsbegriff setzt mit der für einen entschiedenen Bibeltheologen überraschend anmutenden These ein, mit dem Zurückgehen auf den Sprachgebrauch des Neuen Testaments sei „nicht schon alles, ja unter Umständen noch nicht einmal das Wichtigste“ (Kähler, 2) getan. Zwar treffe es zu, dass das neutestamentliche katallage, für das in der Vulgata überall reconciliatio stehe, im Deutschen mit Versöhnung wiedergegeben werde. Doch sei durch diesen richtigen Hinweis die Frage der Eigenbedeutung der bezeichneten Wörter noch keineswegs geklärt, welche stark kontextabhängig und im geschichtlichen Wandel begriffen sei. Habe die Vulgata beispielsweise noch sorgsam zwischen der Bedeutung der Begriffe reconciliare und placare, expiare bzw. propitiare unterschieden, sei der Sinn für diese Differenzierungen und die differenten Bedeutungsgehalte, die sich mit ihnen verbanden, beizeiten verloren gegangen, so dass der Ausdruck reconciliare zum Synonym für placare etc. werden konnte.

Auch im deutschen Begriff der Versöhnung verschwimmen nach Kähler rekonziliatorische, expiatorische und sonstige Bedeutungskomponenten. Diese terminologische Unbestimmtheit kennzeichne nicht zuletzt den Gebrauch, der in der Reformation und in der altprotestantischen Orthodoxie von beiden Begriffen gemacht worden sei. Der Terminus reconciliatio habe u. a. sinnidentisch mit satisfactio oder redemptio, der Versöhnungsbegriff promiscue mit demjenigen der Sühne oder vergleichbaren Termini gebraucht werden können. Auch im Blick auf die nun mehr oder minder ausschließlich in der Muttersprache schreibende Dogmatik der Neuzeit lässt sich nach Kähler nicht behaupten, „daß unsre deutsche Theologie den einflußreichen Ausdruck der Versöhnung den Paulinischen Stellen von der katallage entlehnt habe. Er hat sich vielmehr im Anschluß an die biblischen Berichte und Vorstellungen vom Opferwesen entwickelt, wenn er nicht etwa seinen Ursprung in der mittelalterlichen Lehre von der Buße gewonnen hat.“ (Kähler, 37) Schließe sich die neuzeitliche Theologie bezüglich des Versöhnungsbegriffs terminologisch weithin dem herkömmlichen, dogmatisch üblich gewordenen Sprachgebrauch an, so geschehe dies doch keineswegs, um den Inhalt des überkommenen Dogmas festzuschreiben. In ihrer Entwicklung zeichne sich vielmehr „die vielseitige Bewegung ab, welche zur (schließlichen) Auflösung der bisherigen Lehrweise nach Inhalt und Form führte“ (Kähler, 23).

Kähler legt Wert auf die Feststellung, dass dieser Bruch mit dem Ansehen der Überlieferung nötig war, um den Blick für das Eigentümliche des biblischen Versöhnungsgedankens wiederzugewinnen. Vor allem der dem Erweckungstheologen Gottfried Menken (vgl. Wenz I, 443 ff.) zugeschriebenen Neuentdeckung, dass Gott „Subjekt“, nie aber Objekt der Versöhnung sei, misst Kähler dabei größtes Gewicht bei. „Man wird“, so betont er, „nicht verkennen können, wie sich hier aus tiefem Verständnisse des Biblischen heraus ein Sinn dafür entwickelt hat, daß in der Fassung von der placatio dei etwas beiden Testamenten Fremdes in das Verständnis der Schrift hineingekommen war.“ (Kähler, 25 f.). Die Auswirkungen dieser Einsicht beurteilt Kähler indes divergent: Die Folgerung, dass der durch den Versöhnungsbegriff bezeichnete Vorgang schlechterdings und allein ins menschliche Bewusstsein fallen könne, wenn denn Gott niemals als Objekt der Versöhnung vorzustellen sei, weist er entschieden ab. Sosehr er im Anschluss an den biblischen Befund Gott zum alleinigen „Subjekt“ der Versöhnung erklärt, möchte er doch christologisch an der überkommenen rekonziliatorischen und expiatorischen Doppelbedeutung des Versöhnungsbegriffs jedenfalls insoweit festhalten, als durch sie sowohl in theologischer als auch in anthropologisch-soteriologischer Hinsicht die objektive oder wie er sagt: geschichtlich-positive Wirklichkeit und Wirksamkeit der Heilstat Christi zum Ausdruck kommt.

Wirkzeichen der Gnadenliebe

Es ist üblich geworden, das Kreuzesgeschehen lediglich als Ausdruck, nicht aber als Wirkzeichen der Liebe Gottes zu verstehen. Jesus Christus sei gestorben, nicht damit, sondern weil Gott Menschheit und Welt liebte. Diese Feststellung ist nicht falsch. Zu fragen ist allerdings, ob mit Entgegensetzungen dieser Art nicht Alternativen konstruiert werden, die dem neutestamentlichen Zeugnis fremd sind. Vergleichbares gilt in Bezug auf den alttestamentlichen Befund: Man kann durchaus sagen, dass das, was die hebräische Bibel mit Sühne meine, das Ergebnis der von Gott gewährten Versöhnung selbst sei. Doch darf nicht unterschlagen werden, dass zum Versöhnungsgeschehen das Moment bestimmter Negation der Sünde hinzugehört. Versöhnung ohne Sündensühnung widerspricht der Gerechtigkeit Gottes, die auch unter neutestamentlichen Bedingungen bleibend in Geltung steht. Göttliche Gerechtigkeit und göttliche Liebe lassen sich nicht unmittelbar in eins setzen. Ihr Zusammenhang ist der einer durch keine Theorie und Praxis zu synthetisierenden Differenz. Eins sind Gerechtigkeit und Liebe Gottes nach christlichem Zeugnis nur im dreieinigen Gott, wie er im auferstandenen Gekreuzigten kraft seines Geistes offenbar ist.

Deutet man das Kreuz Jesu Christi nur als Explikation, nicht aber als implizite Voraussetzung der Gottesliebe, dann bleibt seine soteriologisch konstitutive Funktion notwendigerweise unterbestimmt. Verhindern lässt sich dies nur unter der Voraussetzung, dass die theologia crucis nicht expliziert, was prinzipiell auch ohne sie denkbar wäre; stellt doch das Kreuz Jesu Christi ein auch in theologischer Hinsicht fundamentales Datum dar. Es bedurfte des bei unvoreingenommener Betrachtung zunächst merkwürdig anmutenden Konstrukts der Trinitätslehre, um der grundlegenden Bedeutung dieses Faktums gedanklichen Ausdruck zu verleihen. Theologia crucis und Trinitätslehre gehören untrennbar zusammen. Der Gott des Evangeliums und der Liebe ist der dreieinige Gott, der nicht nur nicht als derjenige, welcher er ist, erkannt würde, sondern der – man muss das so sagen – auch nicht wäre, was er ist, wäre Jesus Christus nicht für uns gestorben und für uns in der Kraft des Hl. Geistes auferweckt worden und auferstanden.

Konkret wird diese auf den ersten Blick abstrakt anmutende Überlegung, wenn man nach dem Verhältnis der sog. allgemeinen Gotteslehre zur Trinitätslehre, noch konkreter, wenn man nach den göttlichen Wesensattributen und nach dem Verhältnis der Gerechtigkeit des allmächtigen Gottes zu seiner väterlichen Versöhnungsliebe, also genau danach fragt, was der zentrale Gegenstand der Kreuzestheologie ist. Das Kreuzesgeschehen ist nicht nur Erkenntnis-, sondern auch wirksamer Realgrund der göttlichen Liebe. Um dies zur Geltung zu bringen, muss deutlich werden, dass Versöhnung ohne das Moment bestimmter Negation von Sünde und Schuld nicht nur nicht denkbar, sondern faktisch unmöglich ist. Entscheidend aber kommt es darauf an, theologisch zu klären, was das Kreuz Jesu Christi für die Gottheit Gottes selbst bedeutet. Martin Kähler hat in seiner Versöhnungslehre (vgl. Wenz II, 132 ff.) einen solchen Klärungsversuch unternommen; er ist auch heute noch aller Aufmerksamkeit wert – nicht zuletzt, was den Zusammenhang von Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre anbelangt.

Von Albrecht Ritschl wurde, wie erwähnt, die traditionelle Reihenfolge der Begriffe Versöhnung und Rechtfertigung im Titel seines Hauptwerkes umgekehrt mit der Begründung, dass der Vorstellung einer die Rechtfertigung des Sünders bedingenden Versöhnung Gottes durch Christus der Abschied zu geben sei. Auch Kähler problematisiert unter Verweis auf die Hl. Schrift „die Annahme einer Umstimmung Gottes durch Christus von Zorn zu Gnade“ (Ritschl, 2) und stimmt mit Ritschl in der Feststellung einer weitgehenden Sinngleichheit der Begriffe Versöhnung und Rechtfertigung im biblischen Sprachgebrauch überein. Nichtsdestoweniger will er den Begriff der Versöhnung als implizite Voraussetzung des Rechtfertigungsbegriffs systematisch erhalten wissen, um das Missverständnis abzuwehren, die Gerechtsprechung des Sünders durch Gott verstehe sich von selbst und sei unter Verweis auf die ewige Liebe Gottes auch unter Absehung vom Kreuzesgeschehen zu begründen. Die Rechtfertigung erfolgt, wie Kähler im Anschluss an den IV. Artikel der Confessio Augustana nachdrücklich betont, zwar gratis, bedingungslos und aus unbedingter göttlicher Gnadenliebe heraus. Doch gelte zugleich, dass die Rechtfertigungsgnade „propter Christum“ (BSLK 56, 5.7), um Christi willen gegeben werde, der für uns und unsere Sünden gestorben sei. Ohne das Kreuz des Versöhners sei Gerechtigkeit des Sünders vor Gott nicht zu erlangen. Der Rechtfertigungsglaube gründe im logos tou staurou und habe allein im Evangelium des auferstandenen Gekreuzigten Bestand. In diesem Sinne, so Kähler, setze der articulus stantis et cadentis ecclesiae den Versöhnungsartikel voraus. Beider Zusammenhang zu bedenken ist theologische Grundaufgabe jedes Reformationsgedächtnisses.

Verworrener Quark?

Kurz vor der Dreihundertjahrfeier der Reformation äußerte Goethe in einem Brief an seinen Dichterfreund Carl Ludwig von Knebel vom 22. August 1817 die Befürchtung, der vom nahen Jubelfest auf Pfaffen und Schulmeister ausgehende Zwang zur Produktion von hunderterlei Verherrlichungsschriften werde am Ende dazu führen, „dass die Figuren (sc. der Reformationsgeschichte) ihren poetischen, mythologischen Anstrich verlieren. Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponirt. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.“(Goethe, IV/28, 227; vgl. Suphan) Gemeint ist die reformatorische Rechtfertigungslehre. Eberhard Jüngel hat zu dem Urteil des Olympiers im Kontext der Diskussionen um die 1999 in Augsburg unterzeichnete Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von Lutherischem Weltbund und Päpstlichem Rat für die Einheit der Christen bemerkt: „Die Rechtfertigungslehre ein verworrener Quark? Man wird das wohl nur dann sagen können, wenn man nicht verstanden hat, worum es geht. Und dass man nicht verstanden hat, worum es geht, wird wohl zumindest auch darauf zurückzuführen sein, dass es unserer Kirche und unserer Theologie nur schwer gelingt, in die Sprache unserer Zeit zu übersetzen, was der Rechtfertigungsartikel besagt.“ (Jüngel, 5)

Die nachfolgenden soteriologischen Fallstudien bieten keine aktualisierende Reformulierung des Rechtfertigungsartikels, sondern Beiträge zu seinem sachlichen Verständnis als der Basis jeder Übersetzungsarbeit. Als Leitbegriff fungiert der Begriff der Versöhnung, der aber von dem der Rechtfertigung oder der Erlösung im kirchlichen Sprachgebrauch nicht zu trennen ist. Der genaue Sinn der Termini im Verhältnis zueinander ist kontextabhängig und kann nur aus dem Zusammenhang ihrer jeweiligen Verwendung erschlossen werden. Grundlegendes Thema ist in jedem Fall „die Bedeutung des Gekreuzigten und Auferstandenen für die Gemeinschaft der Sünder mit Gott“ (Kähler, 38). Im thematischen Zentrum hinwiederum steht das urchristliche und bis heute entscheidende Problem, warum Jesus leiden musste. Eine ganz neue Antwort auf diese alte Frage hat unlängst der Münchener Jesuit Harald Schöndorf zu geben versucht. Er spricht vom „Paradox der Gerechtigkeit: zum einen nimmt sie die Gestalt des Rechtes an, das die Möglichkeit der erzwungenen Sanktion beinhaltet, zum anderen kann sie nicht durch ihre eigenen Mittel, d. h. durch Strafe und Ausgleich erfüllt werden, sondern nur durch etwas, was mehr ist als Gerechtigkeit, da es nicht vom Recht gefordert werden kann: die Vergebung und die Versöhnung.“ (Schöndorf, 79) Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich die Schlüsselfrage, wie sich die Rechtsgestalt der Gerechtigkeit zur rechtlich nicht zu fordernden Barmherzigkeit der Vergebung und der Versöhnung verhält. Schöndorf deutet das Wort Jesu Mt 5,20 so, dass Barmherzigkeit nicht nur „nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeit“ (ebd.) stehe, sondern diese vervollkommne, so dass Barmherzigkeit „die höchste Form der Gerechtigkeit“ (ebd.) zu nennen sei: „Wenn Gott Sünden vergibt, so verletzt er damit nicht die Forderungen der Gerechtigkeit, sondern er überführt die Gerechtigkeit im üblichen Sinn in die vollkommene Weise der Gerechtigkeit, durch die alle Beteiligten ‚gerechtfertigt‘ werden, wie man dies im Anschluss an Paulus formulieren kann (vgl. z. B. Röm 3, 21–26).“ (Ebd.)

Warum musste Jesus leiden?

Die Überführung der Gerechtigkeit in ihren Vollkommenheitsstatus barmherzigen Vergebens hängt Schöndorf zufolge an einer theologischen Bedingung, mit der zugleich die Notwendigkeit des Todes Jesu gegeben sei. Die Vergebung nämlich, die Gott dem Sünder gewähren wolle, setze aus Gerechtigkeitsgründen voraus, dass Gott von der Sünde betroffen sei und unter ihr leide. Es gilt der Grundsatz: „Der einzige, der das Recht zu vergeben besitzt, ist derjenige, der das begangene Unrecht erleidet.“ (Schöndorf, 93) Leiden unter der Sünde ist Schöndorf zufolge die Bedingung ihrer möglichen Vergebung. Da aber Gott in seiner Gottheit nicht leidensfähig sei, müsse vernünftigerweise angenommen werden, dass er Mensch zu werden hatte, um unter der Sünde zu leiden und auf diese Weise die Voraussetzung dafür zu schaffen, gerechterweise Sünden vergeben zu können. Damit, so Schöndorf, ist die alte Frage, warum Jesus leiden musste, einer neuen Antwort zugeführt: „Um uns heilen zu können, musste Gott in seinem menschgewordenen Sohn Jesus Christus die Folge der Sünde, den Tod auf sich nehmen. Denn nur so konnte sich Gott selbst den Wirkungen unserer Sünden aussetzen und damit die Voraussetzung schaffen, um uns unsere Sünden vergeben zu können.“ (Schöndorf, 99)

Das Vermögen zu vergeben hat nur, „wer an dem von der Sünde verursachten Leiden und Sterben selbst teilhat“ (Schöndorf, 100) und sich in der Situation befindet, „die ihm das volle Recht gibt, dem Sünder die Vergebung seiner Schuld zu gewähren und damit wirklich diese Schuld zu tilgen“ (ebd.). Obwohl es sich bei ihm eigentlich um eine „einfache Überlegung“ (Schöndorf, 101) handelt, ist Schöndorf zufolge „allem Anschein nach in der gesamten bisherigen Geschichte der christlichen Theologie noch niemand auf diesen Gedanken gekommen“ (ebd.). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Annahme zutrifft; der Anspruch, alte Wahrheiten auf ganz neue Weise zu lehren, ist jedenfalls nicht neu, sondern seinerseits schon ziemlich alt. Man vergleiche hierzu beispielsweise das zweite Stück der „Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren“ des evangelischen Konfessionstheologen Erlanger Schule Johann Christian Konrad v. Hofmann: Christi Versöhnungswerk betreffend, und zwar, was die Kirche davon lehrt und wie sich hierzu verhält, was ich davon lehre, Nördlingen 1857 (vgl. Wenz II, 32 ff., bes. 56 ff.). Wer die Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit kennt, wird auf soteriologische Novitätsansprüche eher zurückhaltend reagieren. Doch hierauf kommt es primär nicht an. Wichtiger ist die Feststellung, dass das Postulat notwendiger Abschiede (vgl. Jörns) und der Anspruch, das Christentum neu zu denken (vgl. Limbeck), heute anders als vormals eine konfessionsübergreifende Herausforderung darstellt, welche die katholische Theologie aktuell nicht weniger betrifft als die evangelische, in der das Problem eine lange, in die Anfänge der Moderne zurückreichende Tradition hat.

Geschichte der Versöhnungslehre

In zwei 1984/86 erschienenen Bänden habe ich die „Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit“ (Wenz I u. II) für den deutschsprachigen Bereich zusammenhängend zur Darstellung gebracht; hierauf sei der am historischen Detail Interessierte eigens verwiesen, weil im gegebenen Kontext vor allem bezüglich des „langen“ 19. Jahrhunderts vieles soteriologiegeschichtlich Bedeutsame nicht erneut die gebührende Aufmerksamkeit finden wird. Dies gilt für die Folgen von Pietismus und Neologie (vgl. Wenz I, 149–216), für die theologische Wirkungsgeschichte Kants in Supranaturalismus und Rationalismus (vgl. Wenz I, 236–275), für den Deutschen Idealismus und die insbesondere von Hegel geprägte spekulative Theologie, F. Chr. Baur eingeschlossen (vgl. Wenz I, 277–341), für die erweckungstheologischen Soteriologen F. A. G. Tholuck und J. Müller (vgl. Wenz I, 401–422), aber auch für überragende Größen wie die erwähnten A. Ritschl (vgl. Wenz II, 63–131) und M. Kähler (vgl. Wenz II, 132–166), deren einschlägige Werke in meiner Geschichte der Versöhnungslehre ebenso eingehend analysiert werden wie für das 20. Jahrhundert die Dialektische Theologie namentlich Karl Barths (vgl. Wenz II, 193–278). Was hinwiederum die Gegenwart betrifft (vgl. Wenz II, 279–486; ferner: Korsch, bes. 37 f.), so sind die ehedem protestantismusspezifischen Probleme mittlerweile auch im römischen Katholizismus und darüber hinaus virulent geworden.

Im Februar 2012 fand in der Münchener Katholischen Akademie eine vielbeachtete Diskussion zwischen dem Freiburger Fundamentaltheologen Markus Striet und dem Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück, beide namhafte Repräsentanten katholischer Universitätstheologie, über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi statt. Im Rahmen des Streitgesprächs wurde von Striet die Frage aufgeworfen, „ob Gott, der Vater, mit dem blutigen Tod des Sohnes auf Golgota nicht möglicherweise seine eigene Schuld gesühnt habe“ (Striet / Tück [Hg.], 8). Nach Striet leistet Gott „in der Menschwerdung die Satisfaktion für seine eigene Schöpfungstat, indem er sich als Sohn das zumutete, was er allen Menschen zumutet: Ein Leben, das nicht nur voller Schönheit und Lust sein kann, sondern auch ungeheure Abgründe bereithält. Wenn man so will, ‚sühnt‘ Gott sein riskantes Schöpfungswerk, und er gibt zugleich Hoffnung auf Zukunft.“ (Striet / Tück [Hg.], 23) Striets These ist primär nicht aus hamartiologischer Perspektive, sondern aus derjenigen „einer grundsätzlichen, in der Endlichkeitsstruktur des Menschen liegenden Erlösungsbedürftigkeit“ (Striet / Tück [Hg.], 21) entwickelt. Der endliche Mensch bedarf der Vermittlung seiner Endlichkeit mit der Unendlichkeit Gottes und zwar insbesondere dort, wo seiner Endlichkeit das Ende droht. Diese Vermittlung wird von Gott her durch die Inkarnation seines Sohnes und durch dessen Leben, Sterben und Auferstehen geleistet, wodurch der endenden Endlichkeit des Menschen in der Kraft des göttlichen Geistes ein unveräußerlicher Bestand in der göttlichen Unendlichkeit zuerkannt wird.

Verbunden wird Striets an der – Erlösungsbedürftigkeit begründenden – Endlichkeitsstruktur des Menschen orientierte Argumentationsperspektive mit Gesichtspunkten transzendentalen Freiheitsdenkens, woraus Thesen wie etwa folgende hervorgehen: „Die Nichtmöglichkeit des Glaubens ist … von Gott selbst provoziert oder zumindest von ihm in Kauf genommen, weil er in der Freiheit des Menschen Gott für diesen sein will und deshalb eine sich durch Freiheit auszeichnende Geschichte braucht – so wie auch die Möglichkeit der Sünde von ihm eröffnet ist. Denn wer durch geschichtliche Vermittlung ein Selbst vor diesem Gott geworden ist, kann sündigen. Das gestorben für würde dann bedeuten, dass das zunächst von Gott provozierte Nichtwissen und dann die Abkehr von ihm, die sich dann wiederum in Engstirnigkeit und Lieblosigkeit dem anderen Menschen gegenüber auszeitigt, nicht das letzte Wort in der Geschichte zwischen dem offenbar gewordenen Gott und dem Menschen ist. Es ist in äußerster Weise erwiesen, dass dies nicht der Fall ist.“ (Striet / Tück [Hg.], 26 f.) Am Kreuz ist dieser Erweis nach Striet in österlich offenbarer, pfingstliche Hoffnungsaussichten erschließender Weise erbracht und zwar weniger aus Gründen der Anthropodizee als der Theodizee.

Tück versus Striet

Gott rechtfertigt sich im Leiden und Sterben Jesu Christi selbst bezüglich seines Schöpfungswerkes, welches mit der gottunterschiedenen Endlichkeit, wenn auch nicht die Tatsächlichkeit, so doch die Möglichkeit der Sünde gesetzt hat, der der Mensch faktisch verfiel und zwar, wie sich vermuten lässt, aus Gründen der Begrenztheit seines Freiheitsvermögens. Striet sagt dies nicht ausdrücklich, aber ohne diese Voraussetzung ergibt die der traditionellen Staurologie entgegengesetzte Rede von einer am Kreuz geleisteten Satisfaktion und Sühne Gottes für sein eigenes Schöpfungswerk keinen Sinn. Im Unterschied zu Striet ist Jan-Heiner Tück nicht bereit, Abschied von den soteriologischen Traditionsvorstellungen eines stellvertretenden Sühn- bzw. Versöhnungsopfers für die Sünde des Menschen zu nehmen. Er wählt vielmehr den Weg, diese Vorstellungen zu erklären und gegen unbegründete, auf Missverständnissen beruhende Einwände wie den Sadismusverdacht Gott gegenüber (vgl. Striet / Tück [Hg.], 39 ff.), die vermeintliche Unhaltbarkeit des Stellvertretungsgedankens (vgl. Striet / Tück [Hg.], 41 ff.) sowie den mit ihm angeblich verbundenen „Sündenabsolutismus“ (vgl. Striet / Tück [Hg.], 45 ff.) zu verteidigen. Den entscheidenden Vorbehalt gegenüber Striets Konzeption formuliert Tück wie folgt: „In der Tat ist die Selbstentäußerung des Sohnes ein Akt der Unterwerfung unter die conditio humana bis in Leiden und Tod hinein. Aber, so möchte ich zurückfragen, wird die biblische Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders durch den Gekreuzigten nicht umgeschrieben, wenn nicht mehr der Mensch wegen seiner Sünden rechtfertigungsbedürftig erscheint, sondern vor allem Gott selbst?“ (Striet / Tück [Hg.], 47 f.)

Tück verweigert sich dem Versuch, die Sinnrichtung der auf den Kreuzestod Jesu Christi bezogenen pro-nobis-Aussagen des Neuen Testaments so umzukehren, „als ob Christus für Gott selbst – pro semetipso – Sühne geleistet habe“ (Striet / Tück [Hg.], 48; vgl. ferner: Hoping / Tück). Unbeschadet dessen weiß auch er nicht nur von einer Mitwirkung, sondern von einem Mitleiden Gottes im Kreuzesgeschehen zu sprechen. Die Passion des Gekreuzigten ist nach Tück ein Akt der compassio Gottes sowohl mit den Opfern als auch mit den Tätern der Geschichte, jedoch so, dass der Gegensatz zwischen beiden nicht vergleichgültigt, sondern um der Gerechtigkeit willen ewig aufgerichtet wird, ohne dass dadurch die Rettung des Sünders und die Versöhnung von Opfer und Täter definitiv unmöglich gemacht wird. Es sei im Gegenteil so, dass Gott am Kreuz durch tätiges Mitleiden mit Jesus Christus, dem österlich offenbaren eingeborenen Sohn, Rettung durch das Gericht hindurch bereite.

Das altkirchliche Dogma ist Tück zufolge als der Versuch zu lesen, dieses Wunder aller Wunder begrifflich zu erfassen, ohne dabei das Empfinden seiner Unbegreiflichkeit zu verletzen. Die Frage, „wie einer für die Sünde aller sterben könne, berührt das Persongeheimnis Jesu Christi, das wohl nur aus der Perspektive des Glaubens erschwinglich ist. Nur wenn der Gekreuzigte nicht allein Mensch, sondern zugleich der mit dem ewigen Wort des Vaters geeinte Sohn gewesen ist, kann sein Sterben die rettende und versöhnende Kraft gehabt haben, die ihm die Kirche von Anfang an zuerkannt hat. Die Kreuzestheologie verweist daher in die Trinitätstheologie. Diese macht deutlich, dass Gott in Jesus das Andere seiner selbst bis in die tiefste Gottlosigkeit hinein aufsuchen kann, ohne sich selbst zu verlieren, weil er von Ewigkeit her Gemeinschaft in sich selbst verwirklicht.“ (Striet / Tück [Hg.], 49)

Bergoglios Bekenntnis

Das oberste Lehramt der römisch-katholischen Kirche hat den Streit zwischen Markus Striet und Jan-Heiner Tück bisher nicht entschieden, wie es sich denn im Hinblick auf Probleme der Soteriologie seit alters eher bedeckt hält. Dies schließt nicht aus, dass von Rom her höchst Relevantes zum Thema beigetragen wurde und wird. So hat Papst Franziskus unlängst auf die Frage, wer Jorge Mario Bergoglio sei, kurz und bündig geantwortet: „Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition.“ (Spadaro, 27) Dem wird kein Protestant widersprechen und das umso weniger, als vom Papst ergänzend hinzugefügt worden ist: „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.“ (Spadaro, 27 f.) Damit ist der Ansatz nicht nur reformatorischer, sondern einer allgemeinchristlich-katholischen Soteriologie treffend umschrieben, die berechtigten Anspruch auf Orthodoxie erheben darf.

1. Adamitischer Sündenfall und Höllenfahrt Jesu Christi. Zum Ansatz biblischer Soteriologie

Lit.: Chr. Auffarth / L. T. Stuckenbruck (Ed.), The Fall of the Angels, Leiden / Boston 2004. –V. Bachmann, Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt und Theologie des Wächterbuches (1 Hen 1–36), Berlin / New York 2009. – A. Bedenbender, Der Gott der Welt tritt auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik, Berlin 2000. – C. Breytenbach, Grace, Reconciliation, Concord. The Death of Christ in Greco-Romans Metaphors, Leiden / Boston 2010. – J. Ch. Edwards, The Ransom Logion in Mark and Matthew. Its Reception and Its Significance for the Study of the Gospels, Tübingen 2012. – J. Frey / J.Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen (2007) 22012. – H. Gunkel, Genesis, Göttingen 91977. – F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums; Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002. – S. Hegger, Sperare contra spem. Die Hölle als Gnadengeschenk Gottes bei Hans Urs von Balthasar, Würzburg 2012. – M. Herzog, „Descencus ad inferos.“ Eine religionsphilosophische Untersuchung der Motive und Interpretationen mit besonderer Berücksichtigung der monographischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997. – Ders. (Hg.), Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos, Stuttgart 2006. – W. Klaiber, Jesu Tod und unser Leben. Was das Kreuz bedeutet, Leipzig 2011. – E. Koch, Art. Höllenfahrt Christi, in: TRE 15, 455–461. –D. Korsch, Das Kreuz Jesu Christi und das Heil der Menschen, in: Luther 84 (2013), 159–167. –A. Y. Reed, Fallen Angels and the History of Judaism and Christianity. The Reception of Enochic Literature, Cambridge 2005. – M. Rese, Die Aussagen über Jesu Tod und Auferstehung in der Apostelgeschichte – ältestes Kerygma oder lukanische Theologumena?, in: NTS 30 (1984), 335–353. – R. M. Rilke, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 61993. – G. Rödding, Descendit ad inferna, in: W. Blankenburg u. a. (Hg.), Kerygma und Melos, Kassel u. a. 1970, 95–102. –J. Roloff, Neues Testament, Neukirchen 1977. – M. Schrader, Rilke, Rainer Maria (1875– 1926), in: TRE 29, 208–214. – St. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, in: ZNW 97 (2006), 88–110. – J. Schröter, Der Heilstod Jesu – Deutungen im Neuen Testament, in: Luther 84 (2013), 139–158. – N. Slenczka, Wer sich selbst recht versteht, muss nach Sühne fragen, in: Luther 84 (2013), 168–178. – A. Weiß, Christus Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilasterion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, in: ZNW 105 (2014), 294–302. –G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. 2 Bde., Berlin / New York 1996/98. –C. Westermann, Genesis I, Neukirchen-Vluyn 1974. – U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre. Teilband 1: Das Fundament, Neukirchen 2007. – A. T. Wright, The Origin of Evil Spirits. The Reception of Genesis 6.1–4 in Early Jewish Literature, Tübingen 2005.

Wächterbuch des äthiopischen Henoch

Dass es auf Erden zahlreiche schöne und reizvolle Geschöpfe von Evas Geschlecht gibt, entging auch den Söhnen des Himmels, den Engeln, nicht. Sie „sahen sie und begehrten sie und sprachen zueinander: ‚Auf, wir wollen uns Frauen aus den Menschenkindern wählen und uns Kinder zeugen!‘“ (Äth. Hen. 6,1) So steht es geschrieben im Buch des sog. äthiopischen Henoch, näherhin in den Anfangskapiteln seines Wächterbuch genannten Teils (Äth. Hen. 1–36), das die meisten Fachleute in das 3. Jhd. v. Chr. datieren. Insgesamt zweihundert Himmelssöhne sollen unter Anführung ihres Obersten namens Semyaza alias Shemihazah (vgl. Wright, 118 ff.) vor Zeiten ihrer Begierde gefolgt, herabgestiegen oder zutreffender: abgefallen sein, um sich Frauen zu nehmen, „zu ihnen einzugehen und sich mit ihnen zu vermischen“ (Äth. Hen. 7,1). Aus der unzüchtigen und verunreinigenden „Vermischung“ der verschworenen und durch Verwünschungen einander verpflichteten Engelsbande (vgl. Äth. Hen. 6,3 ff.) mit den reizenden Menschentöchtern gingen entartete Mischwesen hervor. Die Gier der abartigen Ungeheuer war riesig, und sie vermehrte sich immerzu. Sie fraßen zunächst den menschlichen Ernteertrag, den die Kultivierung der Erde erbracht hatte, dann die Menschen und schließlich sich gegenseitig auf.

Das Oberste wurde zuunterst und das Unterste zuoberst gekehrt, so dass alles in ein chaotisches, ebenso kreatur- wie gottwidriges Durcheinander geriet: „Und die Welt veränderte sich“ (Äth. Hen. 8,1) fortschreitend zum Schlechten, ihre Bewohner „gingen in die Irre, und all ihre Wege wurden böse“ (Äth. Hen. 8,2). Die Schöpfung befand sich im „Ausnahmezustand“ (vgl. Bachmann), und die gute und gerechte Ordnung in ihr war in Auflösung begriffen. „Da klagte die Erde über die Frevler“ (Äth. Hen. 7,6), und die Schreie der Opfer des Unrechts drangen zum Himmel (vgl. Äth. Hen. 8,4). Sie blieben nicht unerhört. Die guten Engel, die im Himmel verblieben und ihn nicht verlassen hatten, allen voran die Erzengel Michael, Uriel, Rafael und Gabriel, bringen die Klagen vor Gott, der um alles weiß. Der Herr Himmels und der Erde befiehlt, dem Bösen Einhalt zu gebieten, seine satanische Macht zu bändigen und den Teufel in Ketten zu legen an einem Ort lichtloser Finsternis, um ihm am Tage des Gerichts den definitiven Garaus in der Glut eschatologischen Feuers zu bereiten. Der von seiner Gefolgschaft, den gefallenen Engeln, verdorbenen Menschenwelt aber wird Heil durch Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit verheißen, damit Gottlosigkeit, Sünde, Gewalttat etc. zu Ende kommen und Menschheit und Welt ihrer kreatürlichen Bestimmung zugeführt werden.

Es ist nicht nötig, alle Details des protologischen und eschatologischen Dramas nachzuzeichnen, wie es das Wächterbuch schildert. Entscheidend ist, dass es im Kontext sowohl der Genese des Bösen als auch seiner schließlich erfolgenden Überwindung um ein Zusammenwirken von Macht und Unrecht bzw. Macht und Gerechtigkeit geht. Am Endsieg der göttlichen Macht der Gerechtigkeit ist nicht zu zweifeln. Er ist gewiss; auf die Bekräftigung dieser Gewissheit ist die gesamte Wächtergeschichte angelegt und zwar von Anfang an. Gleichwohl wird die Mächtigkeit des Bösen so stark gemacht, dass ihr alles Irdische verfallen und unterliegen müsste, würde Gott nicht mittels seiner himmlischen Heerscharen eingreifen und Recht und Ordnung wiederherstellen und zur Durchsetzung bringen.

Man hat gesagt, dass in der Wächtergeschichte für den Einbruch des Bösen in die Welt und die folgenschwere Störung ihrer Ordnung die Untat der gefallenen Engel verantwortlich sei, wohingegen „die Menschen praktisch ausschließlich als Opfer der Engelstaten gezeichnet“ (Bachmann, 66 f.) würden. Richtig daran ist, dass die Initiative zum Bösen von Geistwesen ausgeht, die ihrer Bestimmung nach der überirdischen Sphäre zugehören. Alles Böse scheint in Verkehrung des geläufigen Sprichworts von oben und nicht etwa von unten zu kommen, wie man vermuten möchte. In der Tat lässt sich nur so seine Macht und abgründige Dimension erklären. Sein Unwesen besteht in einer geistigen Perversion, worauf seine himmlische Herkunft bzw. seine Rückführung auf einen Engelsfall verweist. Allerdings vollzieht sich der Fall der Söhne des Himmels nicht ohne Bezug auf Regungen, wie sie durch sinnliche Reize, im gegebenen Fall durch die reizenden Menschentöchter hervorgerufen werden. Dabei ist es zweitrangig, ob diese ihre Reize bewusst und willentlich zum Einsatz brachten, so dass von einer Verführung der Engel zu reden wäre, wie u. a. von der Stelle Äth. Hen. 19,2 („Frauen, die die Engel verführten“) nahegelegt wird. Entscheidend ist, dass der Fall des Bösen durch eine in der geistigen Sphäre statthabende Beziehung von Geist und Sinnlichkeit motiviert ist und aus einer Gemengelage heraus entsteht, deren momentane Zweideutigkeit sich in dem Augenblick zum eindeutig Schlechten wandelt, in welchem der Reiz zu jener Begierde wird, welche Anlass gibt, unter Verwünschungen und der Beschwörung der Unumkehrbarkeit des eingeschlagenen Weges den Himmel hinter sich zu lassen.

Abartige Paarung

Was die Menschentöchter betrifft, so sind sie ob nun als Verführende, Verführte oder in ihrer Schwäche Überwältigte in den Fall der Engel distanzlos hineingezogen und auf unheilschwangere Weise von ihm ergriffen. Die verheerenden Folgen der abartigen Paarung treten alsbald zutage: scheußliche Wesen kommen auf die Welt, die Überirdisches und Irdisches auf widerwärtige Weise in sich vereinen und deren blinde und maßlose Gier ihren Geist und ihre Sinne gleichermaßen pervertiert mit der Konsequenz, dass sie nicht nur alles, was human zu nennen ist, sondern auch sich selbst zu destruieren trachten. Was es mit der Macht und dem Unrecht des Bösen in der Welt des Menschen auf sich hat, wird an den Missgeburten, die aus der falschen Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern hervorgingen, ersichtlich: ihre Unmenschlichkeit hat teuflische Ausmaße. Genau so verhält es sich mit dem, was die Hamartiologie Sünde nennt. Sie ist eine Ausgeburt des Menschen, die aus einer verkehrten Beziehung zwischen seinem Diesseits und seinem Jenseits hervorgeht. Dadurch wird alles durcheinandergebracht, die Ordnung der Schöpfung korrumpiert und das Unrecht mit einer Macht versehen, die Schuld und Verhängnis koinzidieren lässt.

Zur Geschichte von Rebellion und Fall der Engel, die Menschenfrauen schwängern, so dass diese entartete Ungeheuer gebären, die wie ihre Erzeuger nichts als Böses und Unheil stiften, lassen sich im jüdischen Schrifttum aus hellenistischrömischer Zeit nicht wenige vergleichbare literarische Parallelen auffinden. „The story of the angels’ fall occurs in its most complete form in the literature of Jewish apocalyptic circles that popularised it during the Second Temple period.“ (Auffarth / Stuckenbruck [Ed.], 1) In Erinnerung zu bringen ist ferner, ohne dass über traditionsgeschichtliche Zusammenhänge näher zu befinden wäre (vgl. im Einzelnen Wright; Reed), „one of the most cryptic and obscure narratives of the Hebrew Bible“ (Auffarth, Stuckenbruck [Ed.], 11), nämlich die eigentümliche Erzählung von der Verbindung zwischen Göttersöhnen und Menschenfrauen in Gen 6,1–4.

Das Stück ist, wie H. Gunkel zu Recht vermerkt, „ein Torso“ (Gunkel, 59) und „kaum eine Geschichte zu nennen“ (ebd.). Es beginnt mit der lakonischen Feststellung: „Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel.“ (Gen 6,1 f.) Bezüge zu Äth. Hen. 6,1 f. drängen sich auf und das umso mehr, als in Gen 6,4 auch von nephilim, also Riesen, die Rede ist, ohne dass sie allerdings mit den Kindern identifiziert würden, die aus der gottmenschlichen Vereinigung hervorgingen. Fraglich ist ferner, ob die mit Menschenfrauen verkehrenden Gottessöhne mit Engeln gleichzusetzen sind. Folgt man der Auslegung von C. Westermann (vgl. Westermann, 491 ff.), dann handelt es sich bei ihnen nicht um geschaffene Engelwesen, sondern um vollwertige Götter. Als umso ungeheuerlicher und greulicher musste der aus paganer Umwelt stammende Mythos in Israel erscheinen.

Rezipiert worden ist die schauderhafte Geschichte vom sog. Jahwisten gemäß Westermann überhaupt nur als Ätiologie der von Jahwe verfügten Befristung menschlicher Lebenszeit, die just mit jener als grundverkehrt qualifizierten Vermischung von Göttlichem und Menschlichem begründet werde. „Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen.“ (Gen 6,3) Um der Indifferenzierung von Göttlichem und Menschlichem, wie sie sich in der mythischen Ehe vollzieht, zu wehren und den unaufhebbaren Unterschied von Schöpfer und Geschöpf einzuschärfen, beschränkt Jahwe die Zeit des menschlichen Lebens auf ein Dutzend Jahrzehnte, was nicht zuletzt als Strafe für die vorangegangene Beziehung von Gottessöhnen und Menschentöchtern gedeutet werden kann. Wie immer es sich mit dem schwierigen Text im Einzelnen verhalten mag: Seine harmatiologische – wie im Äth. Hen. auf die Sintflutgeschichte ausgerichtete – Pointe besteht offenbar in der Aussage, dass die Schuld strafwürdiger Sünde mit einer verhängnisvollen Indifferenzierung des Unterschieds von Gott und Mensch bzw. mit einer abgründigen Verkehrung des Gott-Mensch-Verhältnisses zu tun hat.

Die Sünde steht in einem Verhältnis sowohl zum Göttlichen als auch zum Menschlichen und hat, wenn man so will, an beidem Teil, jedoch auf dergestalt grundverkehrte Weise, dass die durch die Schöpfung vorgesehene Ordnung dieses Verhältnisses ins widrige Gegenteil gewendet wird. Eben dies macht die Abgründigkeit des Falls der Sünde aus, von der die Menschheit auf ebenso verhängnisvolle wie schuldhafte Weise ergriffen wird. Schuld und Schicksal sind in dem, was theologisch Sünde heißt, zwieträchtig verbunden, ohne dass diese Zwietracht nach einer Seite hin aufgelöst werden könnte. Es bedarf religiöser Wahrnehmung, um dies einzusehen, was für den Theoriestatus der Hamartiologie nicht folgenlos bleiben kann. Ihr kritisches Verständnis wird sich u. a. an dem Verhältnis zu mythologischen Überlieferungen wie demjenigen vom Engelsfall zu bewähren haben. „The fall of the angels was attractive because of the solution it offered for the problem of evil. Since the introduction of evil is attributed to rebellious angels, God is not directly blamed for the miseries of human life. Neither are human beings considered guilty in and of themselves.“ (Auffarth / Stuckenbruck [Ed.], 1) Eine rationalistische Behebung des Problems des Bösen und sei es in mythischer Form kann hamartiologisch nicht infrage kommen. Wenn sich die Sündenlehre des Mythos bedient, dann nur, um genau jenes grundverkehrte Verhältnis aufzuklären, das im Falle der Sünde durch selbst verschuldetes Verhängnis zwischen Göttlichem und Menschlichem waltet.

Descensus ad inferos

Wie die Hamartiologie hat sich auch die christliche Soteriologie mythologischer Vorstellungen bedient, um die unermessliche Tiefe der in Jesus Christus offenbaren, aus dem höllischen Abgrund des Sündenfalls errettenden Gnadenliebe Gottes zum Ausdruck zu bringen. Zu nennen ist hier vor allem die Annahme eines descensus ad inferos bzw. ad inferna, einer Höllenfahrt Christi, die auf ihre Weise derjenigen des sündenverfallenen Engelssturzes korrespondiert, freilich im Modus des Widerspruchs und der hilfreichen Entgegnung. Obwohl wesentlich älteren Datums und sowohl im Osten wie auch im Westen längst bekannt, findet sich die Vorstellung als expliziter Glaubensartikel erstmals in der sog. Vierten Symbolformel der Synode von Sirmium aus dem Jahr 359. Im Nizänokonstantinopolitanum und im altrömischen Symbol als der Vorform des Apostolikums fehlt das Bekenntnis zum Abstieg Christi ins Inferno noch; erst im Laufe des 4. oder 5. Jahrhunderts hat es Eingang ins apostolische Glaubensbekenntnis gefunden. Die Textvarianten ad inferna bzw. ad inferos begegnen zeitig und seit dem 16. Jahrhundert zumeist in konfessionsspezifischer Verteilung, sind aber inhaltlich kaum von Bedeutung. Schwerer wiegt das Problem ihrer angemessenen Übersetzung ins Deutsche. Lange Zeit wurde die Wiedergabe mit „niedergefahren bzw. abgestiegen zur Hölle“ bevorzugt. Inzwischen ist die Formel „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ üblich geworden. Sie steht einerseits dem Ursprungssinn der Einfügung näher, in der man zunächst lediglich „eine Verstärkung und Auslegung des sepultus sah“ (Rödding, 97), vorgenommen möglicherweise in antidoketischer Absicht. Andererseits ist sie blasser als die Rede von der Höllenfahrt, die ungleich abgründigere Dimensionen erschließt als die konventionelle Rede von einem Abstieg Christi ins Totenreich.

Der Interpretationsvorgang, „der aus der ursprünglichen Hadesfahrt eine Höllenfahrt werden ließ“ (Rödding, 100), ist schwierig zu rekonstruieren. Wahrscheinlich ist die Entwicklung durch die für die jüdisch-christliche Tradition charakteristische Einsicht veranlasst, dass das Strafgericht über die Sünde schlimmer ist als der Tod; unter diesen Bedingungen bedurfte es abgründigerer Vorgänge als einer bloßen Fahrt ins Totenreich, wie sie in vielen paganen Traditionen überliefert ist. Wer sich für Unterweltsfahrten in außereuropäischen Religionen, für das Katabasismotiv in der vorchristlichen Mythenliteratur der europäischen Antike bei Homer, Vergil oder Cicero, für inszenierte Höllenreisen im geistlichen „Drama“ des Mittelalters oder für künstlerische Verarbeitungen des Themas in Neuzeit und Moderne interessiert, der greife zu dem von M. Herzog herausgegebenen Sammelband „Höllen-Fahrten“, der eine Fülle von thematisch Wissenswertem einschließlich tiefenpsychologischer Reflexionen enthält. Für die Genese und Ausgestaltung der Descensuslehre in der Theologie des christlichen Abendlands ist insbesondere der Beitrag von W. Beinert einschlägig (vgl. Herzog [Hg.], 53–86).

Zwischen Karfreitag und Ostern