Versteckte Köder - Heike Melzer - E-Book

Versteckte Köder E-Book

Heike Melzer

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Beschreibung

Likes, Shopping, Candy Crush – wo verstecken sich Belohnungsreize in unserem Alltag und wie abhängig sind wir?

Belohnungsreize sind allgegenwärtig. Soziale Netzwerke, Onlineshopping, Sexualität, Ernährung, Gaming: Geködert werden wir überall. Ungesteuerter Dauerkonsum und emotionale Enthemmung nehmen zu. Belohnungsaufschub, Fokussierungsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle werden zum Problem. Die Neurologin und Sexualtherapeutin Heike Melzer deckt auf, wo sich Belohnungsreize im Alltag verstecken, was sie bewirken und wie wir die Kontrolle zurückgewinnen. Fundiert und praxisnah gibt sie erhellende Einblicke in die Risiken und Chancen im Umgang damit. Ein notwendiges Buch, das hilft, den Alltag in Zeiten des Überflusses selbstbestimmt zu gestalten.

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Das ist das Cover des Buches »Versteckte Köder« von Heike Melzer

Über das Buch

Likes, Shopping, Candy Crush — wo verstecken sich Belohnungsreize in unserem Alltag und wie abhängig sind wir?Belohnungsreize sind allgegenwärtig. Soziale Netzwerke, Onlineshopping, Sexualität, Ernährung, Gaming: Geködert werden wir überall. Ungesteuerter Dauerkonsum und emotionale Enthemmung nehmen zu. Belohnungsaufschub, Fokussierungsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle werden zum Problem. Die Neurologin und Sexualtherapeutin Heike Melzer deckt auf, wo sich Belohnungsreize im Alltag verstecken, was sie bewirken und wie wir die Kontrolle zurückgewinnen. Fundiert und praxisnah gibt sie erhellende Einblicke in die Risiken und Chancen im Umgang damit. Ein notwendiges Buch, das hilft, den Alltag in Zeiten des Überflusses selbstbestimmt zu gestalten.

Heike Melzer

Versteckte Köder

Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien

Hanser

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Heike Melzer

Impressum

Inhalt

Einleitung — Die schöne neue Welt der Belohnung

1  Vom Mangel zum Überfluss

2  Die Köder

3  Das Gehirn und seine Funktionsweise

4  Dopamin verleiht Flügel

5  Zwanghafte und abhängige Verhaltensweisen

6  Nutritive Köder verstehen und sie umgehen

7  Sexualität und Liebe

8  Gambling und Gaming

9  Soziale Medien

10  Online-Shopping

Schluss — Wie Genuss in Zeiten des Überkonsums gelingen kann

Hilfreiche Links

Literaturverzeichnis

Register

Einleitung — Die schöne neue Welt der Belohnung

Fressen und gefressen werden

Während meiner Kindheit in den 70er-Jahren begleitete ich meinen Vater an lauen Sommertagen oftmals zum Angeln. Unter Schatten spendenden Bäumen liegend, versuchte ich mir mit Comics die Langeweile zu vertreiben, während mein passionierter Anglervater gespannt seinem Hobby nachging. Mit wachsamem Blick verharrte er stundenlang bewegungslos an einem See, Fluss oder am Meer, bis ein ahnungsloser Fisch, angelockt von seinen verlockend blinkenden Kunst- oder wohlriechenden Naturködern, an den Haken ging. Eine kleine Unachtsamkeit seines evolutionär antrainierten Reiz-Reflex-Musters hatte fatale Folgen für den armen Fisch. So schwamm er wenig später nicht mit vollem Magen im kühlen Nass des Sees, sondern landete auf Dill, Butter und Zitrone drapiert und in Silberpapier gehüllt im Backofen meiner Mutter. In der kalten Jahreszeit wechselte das Hobby meines Vaters vom Angeln zu Preisskatturnieren, die er regelmäßig mit Freunden an Wochenenden zelebrierte. Zur damaligen Zeit waren die »attraktiven« Preise der Turniere noch fette Gänse, Bratenstücke oder ganze Kotelettstränge, um die abendelang in geselliger Runde gezockt wurde. Da mein Vater beim Skat, im Gegensatz zu seinen versoffenen Spielerkameraden, nüchtern blieb, kam er nicht selten mit dem Hauptgewinn nach Hause.

Der Keller meiner Kindheit war bis unter die Decke mit eingewecktem Obst, haltbar gemachtem Gemüse und weiteren Vorräten in zwei bis oben befüllten großen Gefriertruhen bestückt. Auf dem Land lebend, waren wir als biologische Vollversorger weitestgehend autark und hätten einer Krisensituation über lange Zeit hinweg trotzen können. Als Kind war dies meine Normalität. Aus heutiger Perspektive verstehe ich besser, welche Rolle dabei die einschneidenden Erfahrungen meines Vaters als Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg und seine Vertreibung aus Schlesien gespielt haben müssen. Über viele Monate war der Hunger damals sein treuer Begleiter gewesen. Die lebensrettende und übel schmeckende Brennnesselsuppe als einzige warme Hauptmahlzeit auf der Flucht hatte er selbst Jahrzehnte nach Kriegsende noch vor Augen. Als Flüchtling dem Hungertod entronnen, hortete er die kalorischen Notfallreserven nicht nur in der Vorratskammer, sondern sukzessive auch am eigenen Körper. Aus der Mangelperspektive eines fast Verhungerten war sein Leibgericht Eisbein samt Fett mit Sauerkraut und Kartoffeln der ultimative nutritive Jackpot. Leider waren die Folgen langfristiger Natur eher unschön: Übergewicht, Diabetes Mellitus Typ 2, Bluthochdruck und Hypercholesterinämie stellten sich über die Jahre ein. Letztendlich starb mein Vater im Alter von gerade mal 69 Jahren an den Folgen seines Essens auf Vorrat. Er teilte damit tragischerweise das Schicksal der Fische, die einst, unwiderstehlich von seinem blinkenden Köder angezogen, glaubten, den Fang ihres Lebens zu machen. Beide übersahen am Ende den »Haken« an der Geschichte, der sie im Rausch der Belohnungserwartung selbst zu Opfern werden ließ.

Die Leidenschaft fürs Angeln hat sich auf den ersten Blick anscheinend weder genetisch noch durch unfreiwilliges Modelllernen von meinem Vater auf mich übertragen. Ich mag Tiere sehr gerne, nicht nur meinen kleinen Malteser-Hund, sondern auch die Fische im Wasser, die ich tagtäglich bei meinem morgendlichen Rundgang im Park beobachte und fast schon namentlich grüßen kann. Allein die Vorstellung, dass ein Fisch auf der Suche nach Futter instinktiv auf meine trickreiche Köderfalle reinfällt, verdirbt mir sofort den Appetit auf den Fang des Tages. Noch schlimmer ist für mich die Vorstellung, den Fisch mit meinem Haken im Maul an der Angelschnur lebendig und zappelnd an die Wasseroberfläche zu befördern, um ihn wenig später bewusstlos zu schlagen, aufzuschlitzen, auszunehmen und zu verspeisen. Intuitiv würde ich den an der Luft um sein Leben kämpfenden Fisch sofort vom Haken befreien, um ihn schnellstmöglich zurück ins lebensrettende Nass des Wassers gleiten zu lassen. Meine Hoffnung dabei wäre, dass seine Wunde schnell heilen und er zukünftig aus seinen Fehlern lernen würde. Fische sind reflektorisch leider an Schlüsselreize gebunden. Dies unterscheidet sie von Menschen, das sollte man zumindest meinen. Der passende Köder am richtigen Ort mit der auf den Fisch abgestimmten optimalen Farbe, Beschaffenheit und dem passenden Bewegungsimpuls lockt sie treffsicher in die ausgelegte Falle. Dieses Wissen nutzen Angler, deren Kühltaschen sich wie bei »Tischlein deck dich« immer wieder aufs Neue füllen, sobald sie ihre Köder ins Wasser werfen.

Inverses Angeln als Berufung

Die alten kaputten Angeln und die verstaubten bunt schillernden Köder meines Vaters entdeckte ich vor Kurzem bei der Entrümpelung meines Elternhauses in einer der hintersten Ecken des Kellers. Als vorwiegend vegetarisch lebende und auf das Tierwohl achtende Konsumentin fehlten mir die kulinarischen Anreize, um mich in sentimentaler Erinnerung an längst vergangene Zeiten noch einmal dem Hobby meines Vaters persönlich zu widmen. Und so fanden die alten Fundstücke wenig später ihre letzte Ruhestätte bei der Abfallentsorgung meiner norddeutschen Heimatstadt. Damit hätte das Kapitel über das Hobby meines Vaters ein jähes Ende nehmen können, wäre da nicht ein Erlebnis, welches mich erkennen ließ, dass ich heute die Geschichte meines Vaters tagtäglich in meiner Praxis fortschreibe, wenn auch auf eine völlig andere Art und Weise als ursprünglich gedacht.

Mein Déjà-vu ereilte mich an einem wunderbaren Sommertag frühmorgens am nördlichsten Zipfel Deutschlands, dem Ellenbogen auf Sylt. Ich wanderte am Strand entlang und hielt Ausschau nach bunten Glasscherben und Bernsteinen im Spülsaum. Mit den Brandungswellen in den Ohren, der Weite des Meeres und der Dünenlandschaft vor Augen, dem Geruch von Salzwasser in der Nase und dem wunderbar massierenden Wind auf der Haut kann ich von einem kompakten Alltag hervorragend abschalten. An besagtem Tag begegnete ich einem Brandungsangler, der eine Makrele nach der anderen aus dem Wasser zog. Ich schaute eine Weile fasziniert zu. In mir regte sich sogleich das wohlvertraute Gefühl von Mitleid mit den Fischen und der Wunsch, ihnen helfen zu wollen. Kurz darauf kam ich zu der Erkenntnis, dass mein Wunsch bereits in Erfüllung gegangen war, wenn auch mit einer mir bisher unbewussten und dennoch interessanten Eigendynamik: Es gibt bekanntlich Menschen, die machen ihr Hobby zum Beruf. Ich habe das Hobby meines Vaters invers zu meiner Berufung gemacht. Invers deshalb, da ich mich der Trilogie »Angel, Köder, Haken« nicht vonseiten der Angler, sondern vonseiten der Fische, also der Geköderten, annähere. Am Haken hängend und vorgeführt, sind sie meistens kleinlaut oder gänzlich verstummt. Sie brauchen Lobbyisten wie mich, die ihnen eine laute Stimme verleihen und von ihrem Schicksal erzählen, damit die versteckten Haken hinter den Ködern nicht noch mehr Schaden anrichten. Ein Schaden auf Kosten all derjenigen, die ahnungslos beherzt zubeißen, und zum Gewinn derjenigen, die mit immer intelligenteren Ködern und raffinierteren Haken damit hohe Margen einfahren.

Selbstverständlich stehe ich als Neurologin und ärztliche Psychotherapeutin nicht mit der Angel in der Hand an Flüssen und Seen, um zu fischen. Ich sitze in meiner Praxis im Herzen Münchens und einige Monate im Jahr auch auf Sylt. Zu mir kommen Hilfesuchende oftmals erst dann, wenn ihnen das Wasser bereits bis zum Halse steht. In aufrechtem Gang und menschlicher Gestalt rennen sie oder ihre Angehörigen mir geradezu die Türe ein. Am liebsten würden die Betroffenen vor ihren Problemen einfach abtauchen, aber dazu fehlen ihnen die Kiemen und Flossen der Fische, denen sie auf beängstigende Art und Weise in ihren instinktiv triebhaft enthemmten Verhaltensweisen ähneln. Meine Aufgabe als Ärztin ist es dann, die angeköderten Opfer so schnell wie möglich vom Haken zu nehmen, um im Anschluss ihre Wunden zu versorgen. Ich spreche hier nicht nur von den oberflächlichen Verletzungen, sondern auch den unsichtbaren Wunden, die in der Tiefe liegend dem ungeübten Blick verborgen bleiben. Nur wenn diese versorgt werden, kann Heilung nachhaltig gelingen. Aber worum geht es bei meinen Patienten genau?

Angeködert und vorgeführt

Die meisten der bei mir Hilfe suchenden Patienten und Klienten berichten, dass ihr Problem mit einem harmlosen Köder vor vielen Jahren einmal begann: dem lieb gewonnenen süßen oder herzhaften Snack für zwischendurch, dem unterhaltsamen Konsum von kurzen Wissenshäppchen oder Unterhaltungsvideos »to go«, der abendlich ritualisierten Jagd nach Schnäppchen des bekannten Designer-Labels, dem ständigen Checken von Likes nach einem Post in sozialen Medien, dem Erreichen des nächsten Spiellevels, in dem sich auch Verlierer wie Gewinner fühlen, dem Endlos-Scrollen, -Posten, -Teilen und -Kommentieren auf sozialen Medien bei Langeweile, dem Porno für orgastische Freuden, der einen völlig ohne Partner von null auf hundert in wenigen Minuten mit autonomer Lust versorgt. Sie wissen schon, wovon hier die Rede ist, wenn ich von den uns allen bestens bekannten kurzweiligen Versuchungen heutiger Zeiten spreche, die uns in unendlicher Vielfalt rund um die Uhr zur Verfügung stehen und uns umwerben. Sie versorgen uns mit guten Gefühlen und lassen uns jederzeit unsere Alltagssorgen vergessen. Das anfängliche Freifahrtticket aus Leichtigkeit, Belohnung und Sorgenfreiheit verändert sich leider mit der Zeit, denn Genuss ist eine begrenzte Ressource, die sich nicht unendlich steigern lässt. Bemerkbar ist dies durch ein Nachlassen der Ansprechbarkeit auf altbekannte Reize. So erscheint uns das heiß geliebte neue Lieblingslied nach dem hundertsten Abspielen weniger attraktiv als zu Beginn, ein 08/15-Porno bringt uns kaum noch in Versuchung, und das fünfzigste Paar Schuhe des favorisierten Designers findet nach dem Auspacken kaum noch Beachtung. Es müssen immer größere und vor allen Dingen ständig neue Belohnungsreize her, damit der erwartete Belohnungs-Flash, wie zu Beginn, erlebt werden kann. Im Schatten der größer werdenden Belohnungsköder nimmt auch die Größe der hinter ihnen versteckten Haken zu. Kleinen Haken kann man noch leicht entkommen, dies gelingt bei großen Haken kaum noch. Ähnlich den geköderten Fischen befinden wir uns am Ende auf einer unfreiwilligen Fahrt mit hoher Geschwindigkeit, deren Richtung wir kaum noch zu beeinflussen vermögen, auch wenn uns die unmittelbaren Nebenwirkungen von Belohnungsreizen tagtäglich vor Augen geführt werden.

Auf unfreiwilliger evolutionärer Rückreise vom Menschen zum Tier

Im Vergleich zum Tierreich sind wir Menschen triebreduzierte Wesen. Wir verfügen über wesentlich höhere kognitive Funktionen, die vorwiegend regulativ-hemmend auf evolutionär ältere triebhafte Gehirngebiete wirken, in denen Emotionen, Triebe und Belohnung eine Rolle spielen. Dadurch gelingen dem Menschen Belohnungsaufschub, Impulskontrolle und Emotionsregulation im Vergleich zum Tier deutlich besser. Mit einem Diätkonzept im Kopf schaffen wir es, unsere antrainierten gustatorischen Routinen zu durchbrechen, auch wenn der wohlige Duft frischen Gebäcks beim Bäcker unseres Vertrauens unser Riechepithel in einen Ausnahmezustand der Verzückung versetzt. Diese Fähigkeit unterscheidet uns von dem allseits fressbereiten Hund, der den Inhalt seines Fressnapfes sofortig verschlingt und nur bei Krankheit mal ein Leckerli verschmäht. Im Zoo belächeln wir die kopulationsfreudigen Bonobo-Affen beim Gruppensex, während es uns in der Regel gelingt, an uns zu halten, auch wenn uns das Gegenüber »very hot« erscheint. Je nach Trainingszustand und Fokussierungsfähigkeit können Gelüste kurzfristiger Natur unterdrückt und gegen mittel- oder langfristige Ziele eingetauscht werden. Unser Wille hält unsere Triebe im Normalfall in Schach und verhindert deren Wildwuchs, um uns ein komplexes soziales Miteinander zu ermöglichen.

Einige meiner Hilfesuchenden, die in zwanghaften und abhängigen Verhaltensweisen gefangen sind, scheinen sich allerdings auf einer unfreiwilligen evolutionären Rückreise zu befinden, in der ihre Triebe stark und ihre Steuerungsfähigkeit schwach werden. Kein Wunder, denn heute bekommen die Triebe mächtig Aufwind in einer Welt immer stärker werdender und rund um die Uhr zur Verfügung stehender Belohnungsreize der Superlative. Gleichzeitig fragmentiert unsere Aufmerksamkeit immer weiter. Zu oft reduziert sie sich auf die Sequenzlänge von TikTok-Videos oder vorverdauten Info-Häppchen, die für den einfachen Konsum gedacht sind und einem das Selberdenken ersparen. Dadurch kommen die evolutionär neueren, steuernden und vorwiegend hemmenden Gehirnstrukturen ihrer Aufsichts- und Kontrollfunktion nicht mehr ausreichend nach. Kein Wunder, dass es immer mehr Menschen schwerfällt, komplexe Texte oder gar Bücher von Anfang bis Ende zu lesen und sie zu verstehen. Immer häufiger gehen Menschen den Weg der Abkürzung, wie zum Beispiel auf Blinkist, einer App, in der Buchinhalte, von zumeist jungen Content-Erstellern vorverdaut und eingedampft auf wenige Minuten, dem Hörer zur Verfügung gestellt werden. Die Leser haben zwar am Ende den Eindruck, dass sie dadurch wertvolle Zeit einsparen, da sie den langen Weg des mühsamen Lesens und Erfassens nicht mehr zu gehen brauchen — quasi »Wissen to go« eines gesamten Buches konzentriert auf das Hörerlebnis auf dem kurzen Weg zur Arbeit in gerade mal 15 Minuten. Oftmals sind die Inhalte der Bücher aber so stark eingedampft und teilweise nicht korrekt und hochgradig selektiv wiedergegeben, dass am Ende außer einem Gefühl, etwas zu wissen, nichts an Tiefe übrig bleibt. Das braucht es aber, um einen Text vollumfänglich zu verstehen und nachhaltig im Gedächtnis zu verankern.

Die Autonomisierung der Triebe auf der einen Seite bei gleichzeitiger Schwächung hemmender Kontrollinstanzen auf der anderen Seite kann dazu führen, dass die Steuerung nicht mehr so recht gelingen will. Diese Steuerung benötigen wir jedoch, um nicht in eine Belohnungsfalle zu geraten, aus der man sich mit der Zeit immer schwerer befreien kann. Über repetitive Reiz-Reaktions-Zyklen bahnt sie sich ihren Weg in unser Leben. Sie transformiert über die Zeit hinweg bewusste Entscheidung in unbewusstes Verlangen, das nur schwerlich zu stoppen ist. Die sich im Hintergrund verselbstständigenden, vormals lustvollen Gewohnheiten orchestrieren mit der Zeit unser Denken, Fühlen und Handeln, sodass Selbstwirksamkeit und Belohnungsaufschub zunehmend nicht mehr gelingen wollen. Die hedonistisch geprägten Konsumenten hängen auf ihrer steten Suche nach Genuss und Glück am Haken der Profiteure, die aus deren Lebenszeit, Daten und enthemmtem Konsumverhalten Profit zu schlagen versuchen.

Die Gewinner dieser Entwicklung verstehen es mittlerweile hervorragend, den Geheimcode des archaisch geprägten Belohnungssystems im Gehirn ihrer potenziellen Kunden zu knacken. Profiteure setzen dabei ihre Werkzeuge geschickt ein und bedienen sich recht häufig aus der Trickkiste der vergleichenden Verhaltensbiologie. So simuliert der Bewegungsreiz auf Reels in sozialen Medien die geschickte Wurmbewegung beim Angeln. Beide ziehen die Aufmerksamkeit ihrer Targets an. Einmal angebissen, wird deren Verhalten individuell so analysiert, dass nur noch für den Konsumenten ideal angepasste Leckerbissen im Default-Modus serviert werden. Wie schwer es ist, beim Scrollen von einem spannenden Video zum nächsten innezuhalten, weiß wohl jeder von uns. Aber nicht nur wertvolle Zeit geht im Endlos-Unterhaltungs-Modus verloren, sondern vorhandenes Gedankengut wird so adaptiv weiter domestiziert, oft auch in extreme Richtungen, welches sich später nur schwer wieder korrigieren lässt.

Die Verlierer dieser Entwicklung sehe ich tagtäglich in meiner Praxis. Wie ein nimmersattes Krümelmonster greifen sie überall dort zu, wo Belohnungsreize zeitnah in Aussicht gestellt werden. Sie sind ruhe- und rastlos und immer ausgehungert auf der Suche nach neuen und stärkeren Belohnungsreizen. Dabei werden sie tragischerweise nie nachhaltig satt und zufrieden. Mit einem verführerischen Versprechen auf unbegrenzten Genuss geködert und der Möhre des nächsten Belohnungsversprechens vor Augen, verlieren sie über die Zeit hinweg den Überblick über ihren Konsum. Einst angetreten mit dem Ziel, Freiheit und Genuss zu erlangen, endet die jahrelange Reise hedonistischer Umtriebigkeit immer öfter in den Untiefen von Abstumpfung und der Enge zwanghafter oder abhängiger Verhaltensweisen des Überkonsums. Bis zum Endstadium des Kontrollverlustes und den daraus entstehenden gravierenden Kollateralschäden bedarf es Jahre bis Jahrzehnte der Entwicklung.

Zunahme von zwanghaften und abhängigen Verhaltensweisen sowie AD(H)S

Durch meine praktische klinische Tätigkeit während der letzten 25 Jahre bin ich zur Expertin für zwanghafte und abhängige Verhaltensweisen auf der einen Seite und für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auf der anderen geworden. Beiden Erkrankungen gemein ist, dass es sich hier um recht neuartige Krankheitsbilder handelt, die selbst ausgewiesene Experten noch nicht in Gänze verstehen. Bei beiden Erkrankungen spielt der Botenstoff Dopamin eine zentrale Rolle, und beide Krankheiten sind miteinander unheilvoll verwoben, wie wir sehen werden. Beide Krankheitsbilder haben viele Skeptiker, welche die Existenz dieser Erkrankungen bestreiten, obwohl sie beide mittlerweile fester Bestandteil der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind. Das »Hyperkinetische Syndrom des Kindesalters« wurde 1978 (ICD-9) eingeführt und 1992 durch die Diagnose im Erwachsenenalter ergänzt. Erst 2011 erfolgte die erste medikamentöse Zulassung für den adulten Bereich in Deutschland. Davor war ADHS ein klassisches Feld für Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Heute komme ich in der Diagnostik und Therapie von Erwachsenen kaum noch nach, die hilferingend auf der Suche nach Therapeuten feststellen, dass Wartezeiten von über einem Jahr selbst in Großstädten eher die Regel als die Ausnahme sind.

Online-Spielsucht ist seit 2019 die erste von der WHO anerkannte Verhaltenssucht, eine Kategorie, die es bisher nicht gab. Zuvor war dysfunktionales Spielverhalten als Störung der Impulskontrolle den zwanghaften Störungen zugeordnet. Als die Online-Spielsucht das Upgrade zur Verhaltenssucht schaffte, wurde deren »Vorzimmer« frei, und es zogen zwanghafte sexuelle Verhaltensstörungen in die ICD-11 ein, die aktuell noch den Impulskontrollstörungen zugeordnet werden. Der Einzug in die ICD ermöglicht die einfachere Bereitstellung von Forschungsgeldern, um dieses neue Feld an Erkrankungen noch besser zu verstehen. Betroffene werden dadurch in Zukunft qualifiziertere Therapieangebote finden, und Ärzte und Psychotherapeuten können sich in diesem neuen Bereich weiter qualifizieren und positionieren.

Vom Blindfisch zum Köderexperten

Als Therapeutin komme ich leider oftmals erst sehr spät ins Spiel, und zwar dann, wenn Gedanken, Verhalten und Gefühle der Betroffenen dysfunktional entgleisen, wenn ausgehandelte Verträge oder sogar Gesetze gebrochen werden. Aber auch wenn gefühlte Ist-Werte mit imaginierten Soll-Werten nicht mehr übereinstimmen und Betroffene gegen ihre ureigenen Prinzipien und moralischen Vorstellungen verstoßen. Immer sind direkter und indirekter Leidensdruck bei meinen Patienten oder deren Angehörigen mit von der Partie, und der Wunsch nach Veränderung, die in Eigenregie nicht mehr so recht gelingen will. Die Menschen, die meine Hilfe suchen, fallen im Alltagsbild kaum auf, denn die Haken, an denen sie hängen, sind oftmals unsichtbar und nur indirekt mit geschultem Blick zu bemerken. Nicht einmal ihre engsten Vertrauten und nahestehenden Verwandten wissen davon, da ihnen wichtige Puzzlestücke fehlen, um die Thematik in Gänze zu erfassen und einzuordnen. Somit bleibt ihr Leidensdruck für den Außenstehenden oftmals unsichtbar. Ich höre seit Jahren vermehrtes Klagen über mangelnde Aufmerksamkeit, Prokrastination und Disziplinlosigkeit, Störungen des Antriebes und Störungen eines aus dem Ruder gelaufenen Schlaf-wach-Zyklus. Dabei sehe ich in meiner Praxis oftmals sehr erfolgreiche und intelligente Klienten, die es nicht mehr schaffen, ihre Triebe, Handlungen und Emotionen im Griff zu behalten. Doppelleben unvorstellbaren Ausmaßes fliegen durch Unachtsamkeit auf und hinterlassen Fassungslosigkeit, nicht nur bei den Betroffenen selbst, sondern auch bei den direkten Bezugspersonen.

In meinem Buch möchte ich die klinischen Beobachtungen aus meiner praktischen Erfahrung als ärztliche Psychotherapeutin und mein Wissen als Neurologin an ein breites Publikum weitergeben. Dazu werde ich auch vereinzelt Schicksale und Geschichten meiner Klienten verwenden, die ich so verändert habe, dass Rückschlüsse auf deren Identität für Außenstehende nicht möglich sind. Ich schreibe dieses Buch außerdem für all diejenigen, die bereits ersten oder intensiveren Kontakt mit den unschönen Haken moderner Belohnungsköder gemacht haben, und für diejenigen, die sich für das Thema interessieren, um für sich zukünftig kluge Entscheidungen zu treffen. Ich schreibe das Buch auch für indirekt Betroffene, die Personen in ihrer direkten Umgebung kennen, auf die das Beschriebene zutreffen könnte: Kinder, Partner, Freunde, Eltern und Arbeitskollegen. Und ich schreibe dieses Buch nicht zuletzt für mich selbst, da ich merke, wie auch mich Köder im Alltag anlocken, denen ich mit zunehmendem Wissen inzwischen deutlich gelassener aus dem Weg gehen kann, als es mir in der Vergangenheit möglich war.

Ähnlich den Anglern, die nur mit Angelschein ihrem Hobby nachgehen können, bekommen die Betroffenen von mir am Ende der Therapie eine Art »Köderschein«, der sie qualifiziert, wieder verantwortungsvoll und selbstbestimmt zu handeln. Ich versuche sie zu befähigen, die Strategien moderner Angler zu verstehen und Köder und deren versteckte Haken frühzeitig zu entlarven, um nicht mehr auf sie hereinzufallen.

So wie ich in meiner Praxis versuche, blinde und reflexartig reagierende Betroffene in sehende Köderexperten zu verwandeln, würde es mich freuen, durch mein Buch präventiv Menschen für die Thematik und ihre damit verbundene Problematik zu sensibilisieren. Dabei geht es mir um reflektierendes Verstehen, das weder verharmlost noch übertreibt. In Zeiten des Überkonsums ist es wichtig, kluge Entscheidungen zu treffen, um langfristig genussfähig zu bleiben und das eigene Leben in Freiheit und Autonomie zu steuern. Lassen Sie uns deshalb einen detaillierten Blick auf die Machenschaften der heutigen Angler, deren Köder und die dahinter versteckten Haken werfen und von denen lernen, die es geschafft haben, wieder vom Haken loszukommen.

1  Vom Mangel zum Überfluss

Lebendes Fossil in digital beschleunigten Zeiten

Als Angehörige der Generation der Babyboomer war es für mich im letzten Jahrhundert noch möglich, mit dem technischen Fortschritt im wahrsten Sinne des Wortes Schritt zu halten, ohne von ihm überrollt zu werden. Im Vergleich zu meinen mit Smartphone und Flatrate aufgewachsenen Kindern der Geburtsjahre 2001 und 2009 komme ich mir heute beinahe schon wie das ausgestorbene Fossil einer technologisch längst überholten Vergangenheit vor, obwohl sie noch gar nicht so lange her ist. Mein im letzten Jahrhundert sozialisiertes Gehirn beherbergt eine Unsumme an längst ausgestorbenen Geräuschen, die für mich auch heute noch jederzeit abrufbar lebendige Erinnerungen und Gefühle generieren: das Piepsen, Fiepen und Rauschen der Tonabfolge meines 56k-Modem bei der Einwahl ins Internet, das kreischend laute Geräusch meines Neun-Nadel-Druckers, das wie eine Kreuzung aus Schreibmaschine und Kreissäge klang, das stoische Rattern der Wählscheibentelefone, das intermittierende Surren im Diskettenlaufwerk beim Speichervorgang auf einer 3,5″-Floppy-Disk, das Hochfahren einer VHS-Kassette im Videorekorder, das metallische Klicken beim Auftreffen des Schreibkopfs auf das Farbband der elektrischen Schreibmaschine und das Spulgeräusch des Kassettenrekorders. Während meines Medizinstudiums in den 80er-Jahren musste ich noch die MS-DOS-Prüfung bestehen, um am raumausfüllenden Großrechner des Uniklinikums arbeiten zu dürfen. Für meine Doktorarbeit leistete ich mir 1989 meinen ersten PC mit Intel-386-Prozessor und 20-MB-Festplatte für »günstige« 2000 D-Mark. Damals löste bei mir der Satz »Sie haben Post« noch ähnlich starke Gefühle aus wie bei Meg Ryan und Tom Hanks in der Filmkomödie e-m@il für Dich, die 1998 Kinosäle füllte. Für das Herunterladen von wenigen Sekunden pornografischem Material brauchte es gefühlt Stunden, und meinen ersten Chat mit einem Unbekannten über das Internet empfand ich als ein psychologisches Experiment der Extraklasse, das sich mir unvergesslich eingebrannt hat.

All diese Erinnerungen sind mittlerweile gut dreißig Jahre her, gerade mal ein Zehntausendstel der Zeitspanne seit Beginn der Menschheitsgeschichte vor gut 300.000 Jahren. Für die heute digital beschleunigte Welt sind diese Erlebnisse uralte Kamellen, die es nicht mal mehr wert sind, dass man sie in die hinterste verstaubte Schublade eines Archives einmottet. Selbst um die Jahrtausendwende herum wäre es für die meisten von uns kaum vorstellbar gewesen, welchen Einfluss die immer schneller werdenden Innovationszyklen der global vernetzten Intelligenz von Milliarden von Menschen auf unser aller Leben haben würden.

Lassen Sie uns die Menschheitsgeschichte einmal auf die Zeit eines Jahres mit 365 Tagen verteilt anschauen, um ein besseres Gefühl für Zeitverläufe zu bekommen. Erst Ende August (vor 70.000 Jahren) kristallisiert sich der Homo sapiens aus der Steinzeit durch die Weiterentwicklung von Sprache heraus. In der Adventszeit am 13. Dezember (vor gut 10.000 Jahren) wird der Mensch sesshaft, und am Zweiten Weihnachtstag bilden sich erste Städte. Silvester ist der Tag, an dem um 10.37 Uhr die Dampfmaschine erfunden und um 15 Uhr die industrielle Revolution eingeleitet wird. Um 18.15 Uhr geht das erste Auto vom Band, in bester Feierlaune um 22 Uhr entsteht das Internet, und um 23.34 Uhr, kurz vor dem Bereitstellen der Sektgläser zum Anstoßen, ist die Geburtsstunde des ersten iPhones. Meine zuvor geschilderten Erlebnisse sind alle erst in den letzten paar Minuten vor Ende des Jahres passiert, und trotzdem fühlen sie sich an, als lägen sie eine Ewigkeit zurück.

Unser auf Mangel geprägtes Belohnungssystem

Sich ständig verkürzende Innovationszyklen und weltweit eingeschleuster Content treffen heute auf Individuen, deren Körper, Psyche und Sinne seit Jahrtausenden durch evolutionär bewährte Erfolgsrezepte programmiert worden sind. Von Generation zu Generation wurden vor allen Dingen die Erfolgsfaktoren weitergegeben, die beim Kampf ums Überleben, der Weitergabe der eigenen Gene und der erfolgreichen Aufzucht von lebenstauglichen und widerstandsfähigen Nachkommen nützlich waren. Das Ergebnis der klugen Entscheidungen unserer Vorfahren spiegelt sich in unser aller Leben wider, denn ohne sie gäbe es uns nicht. Die altbewährte Rezeptur unseres Belohnungssystems reagiert auf Veränderungen ähnlich stoisch und langsam wie ein am Baum hängendes träges Faultier. Gespeist wurde es aus Jahrtausenden des Mangels und nicht des Überflusses. Als Bild stellen Sie sich bitte einmal eine Wüstenlandschaft vor, deren Flora und Fauna darauf ausgerichtet sind, mit geringsten Wassermengen zu überleben. Interessanterweise sterben in der Wüste mehr Menschen durch Ertrinken als durch Verdursten. Dies liegt daran, dass der verkrustete und ausgetrocknete Boden der Wüste die Wassermengen sintflutartiger Regenfälle nicht aufnehmen kann. Im Nu verwandeln sich einst ausgetrocknete Flussläufe zu reißenden Gewässern. Menschen rechnen mit Durst und Hunger in der Wüste und haben ausreichend Reserven und Navigationsgeräte parat, um sich zu versorgen und nicht zu verirren. Auf plötzlich anflutende Sturzgewässer, die sie mitreißen und ertrinken lassen, sind sie nicht gut vorbereitet. Die archaische Programmierung unseres Körpers und Geistes gleicht dabei einer auf Mangel spezialisierten Wüstenlandschaft. Überflutet werden wir heute zunehmend von immer stärker werdenden Belohnungsreizen und Informationen, die unsere Stoffwechselvorgänge im Gehirn und Körper ans Limit bringen. Nicht der Mangel macht uns heute zu schaffen, sondern der Überfluss und die damit verbundenen Entscheidungen, was wichtig und was unwichtig, was wahr und was falsch und was gesund oder ungesund ist.

Schauen wir uns die Mangelerfahrung unserer Vorfahren einmal näher an. Dazu brauchen wir unseren eigenen Stammbaum nicht sehr weit zurückzuverfolgen. Die kritischen Erfolgsfaktoren zum Überleben waren seit Beginn der Menschheitsgeschichte Sexualität, Nahrung und Schutz gewährende soziale Strukturen einer Gemeinschaft oder Familie. Auch wenn es im antiken Rom bereits ausschweifende Orgien mit berauschendem Wein und Völlerei im Übermaß gegeben haben soll, so waren sie einer extrem kleinen Oberschicht vorbehalten und würden den modernen Menschen mit völlig anderen Ess- und Komfortgewohnheiten kaum noch aus der Reserve locken. Noch bis ins letzte Jahrhundert hinein war es üblich, in Zeiten von Fülle Vorräte für planbare oder absehbare Mangelzeiten anzulegen, sei es durch gut gefüllte Speisekammern, durch Fettreserven am eigenen Körper oder durch die gegenseitige Unterstützung in der Gemeinschaft. Ein paar Kilo zu viel waren damals Zeichen für Wohlstand, Status und Gesundheit. Sie steigerten die Überlebenschancen in Zeiten von Hunger und Knappheit. Im Bereich der Fortpflanzung hüteten Frauen als Gatekeeper für Sexualität ihre Eizellen mit äußerster Vorsicht, denn Schwangerschaft und Geburt gingen mit immenser Gefahr für Leib und Leben einher. Zudem kostete die Aufzucht von Kindern über Jahre hinweg wertvolle Ressourcen, die nur sehr begrenzt zur Verfügung standen. Männer hingegen versuchten evolutionär ihr Sperma breitflächig zu verteilen. Ihre Kernkompetenz war es dabei, Frauen aufmerksam nach Zeichen sexueller Paarungsbereitschaft zu screenen. Derjenige, der schnell den Fuß in die Tür bekam, nahm an der evolutionären Lotterie der Gene teil. Dabei kamen auch die raffiniertesten Exemplare männlicher Verführungskunst auf kaum mehr Partnerkontakte, als man an zwei Händen abzählen konnte. Sollten Sie die Gelegenheit haben, Ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern in einer ruhigen Minute hierzu zu befragen, werden Sie vermutlich überrascht sein, wie niedrig die Anzahl an Partnern war. Pornografisches Material war schwer zugänglich und durch die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten ihrer Zeit begrenzt. Aufgrund von hohen finanziellen und persönlichen Abhängigkeiten und strikten Rollenverteilungen innerhalb von Beziehungen und restriktiven religiösen Moralvorstellungen nahmen kurzfristige Affären und außereheliche Beziehungen schnell einen existenziell bedrohlichen Charakter an.

In der Ernährung war in unseren Breitegraden der Winter die Zeit des Verzichts. Gut gefüllte Keller und haltbar gemachte Nahrung ermöglichten es, sicher in das nächste Frühjahr zu gelangen. Die Einkäufe regionaler Produkte erledigte man in der unmittelbaren Umgebung und im direkten Kontakt mit dem Verkäufer. Oftmals dominierte körperliche Arbeit einen anstrengenden und für uns langweilig erscheinenden Alltag. Übergewicht, Bewegungsmangel und Stoffwechselerkrankungen waren die Ausnahme und nicht die Regel. Beim Erntedankfest im Herbst belohnte man sich mit der Süße von reifem Obst, frisch geerntetem Getreide und knackigem Gemüse. Am Wochenende gab es zur Belohnung einen geruhsamen Mittagsschlaf, oder man erfreute sich an einem Fest im Kreis der Familie oder in der direkten Nachbarschaft.

Im Rausch des Überflusses

Durch ein Zuviel an Belohnungsreizen stehen wir heute vor der Qual der Wahl, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die uns nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig glücklich und zufrieden machen. Allein schon der Einkauf in einer der gängigen Supermarktketten kann zum Spießrutenlauf werden. Mit dem Einkaufszettel in der Hand in bester Absicht, gesunde Lebensmittel zu kaufen, leitet uns der Einkaufsladen an unzähligen äußerst schmackhaften, aber völlig ungesunden und hoch verarbeiteten Kalorienbomben vorbei, die unsere Aufmerksamkeit wecken sollen. Sie kennen sicherlich auch das Phänomen, dass kurz nach Ende der Sommerferien schon wieder die Lebkuchen, Zimtsterne und Dominosteine in Sonderverkaufsflächen aufgetürmt werden. Die Handelsketten verfahren hier nach dem Motto: »Steter Tropfen höhlt den Stein«. Es gilt, den hartnäckigen Widerstand der das Weihnachtssortiment bei 30 Grad Außentemperatur noch verweigernden Konsumenten über die Zeit hinweg zu brechen. Während uns bei der Vorstellung eines gefüllten Lebkuchens reflexartig das Wasser im Munde zusammenläuft, beginnt ein Seilziehen zwischen hemmendem Frontalhirn und opportunistisch-genussorientiertem Belohnungssystem. Und irgendwann passiert es dann an einem verregneten Donnerstag im Oktober, wenn man müde nach einem stressigen Tag an der Kasse den Blick zum fünfzigsten Mal auf die weihnachtliche Sonderverkaufsfläche richtet. Der Widerstand schmilzt dahin, wie wenig später die mit Zimt, Anis und Kardamom gewürzte Schokolade im Mund ihrer Käufer. Heute wirkt das spartanische Angebot von »nur« 1700 Artikeln eines Durchschnitts-Aldi schon fast meditativ beruhigend, wenn man es mit den 50.000 Artikeln eines großen REWE-Marktes vergleicht. Übergewicht ist inzwischen kein Zeichen für Gesundheit mehr, sondern wird als Zügellosigkeit betrachtet, während Schlanksein mit Gesundheit und Steuerungsfähigkeit in Zusammenhang gebracht wird. Während Diätbücher boomen, die erklären wollen, wie Schlanksein und Genuss in einer Zeit gefüllter Speicher funktionieren können, finden sich so gut wie keine Bücher über hochkalorische Aufbaukost, die wohl auch kaum einen Abnehmer finden würden.

Auch Dating und Sexualität sind schon lange keine Mangelressource mehr. Heute stehen wir an einem All-inclusive-Buffet sexueller Vielfalt, das unsere kühnsten Vorstellungen übertrifft und uns an der ein oder anderen Stelle zu überfordern droht. Sexualität ist mittlerweile ein allseits verfügbares Konsumprodukt, das in einer extrem hohen Reizintensität und unendlichen Vielfalt von Pornografie, Hightech-Sex-Toys sowie unverbindlichen und käuflichen Sexkontakten selbst die kühnsten Wünsche übererfüllt. Ein eher unattraktiver Durchschnittsbürger übertrifft damit locker das Lebenswerk von Casanova, der 116 Frauen beglückt haben soll. Während der venezianische Womanizer sich im 18. Jahrhundert für seine sexuellen Eskapaden noch unter höchsten Gefahren die Hacken ablaufen musste, können wir heute aus der heimischen Komfortzone Netflix schauend und ein Gläschen Wein genießend unter Tausenden potenziellen Matching-Partnern wählen. Dies trainiert die triebhaften evolutionären Reflexe enorm, die teilweise nur den Bruchteil einer Sekunde beanspruchen, um brauchbare Partner ins Töpfchen (Swipe nach rechts) und unbrauchbare ins Kröpfchen (Swipe nach links) zu verfrachten. Ein Match eröffnet dabei die Kontaktaufnahme per Chat, Telefon oder Face-to-Face-Date. Dies findet dann oftmals ebenso schnell, wie es entstanden ist, ein kommunikatives Ende, kann beim Abgleich sexueller Vorlieben in einen One-Night-Stand münden oder bei gegenseitigem Gefallen in die zweite Runde gehen. Bumble, Tinder und Co. bieten eine ideale Plattform im Abgleich von omnipotenten Projektionen, die auf der Leinwand des anderen zu laufen beginnen. Swipen ist mittlerweile eine Art Volkssport geworden. Ebenso der Konsum von Pornos, der mit dem Smartphone bereits bei Kindern und Jugendlichen vor und während der Pubertät zu einer Beeinflussung von sexuellem Sein, Wollen und Können führen kann — ein bedenklicher weltweiter Feldversuch ohne Ethikkommission.

Unterhaltung, Abenteuer und Vergnügen sind auch durch digitale Online-Spielewelten in eine völlig neue Liga katapultiert worden, die Menschen magnetisch anzieht, besonders Jugendliche, die hier durchaus Jahre ihres Lebens in einer Art Stellvertreterleben verzocken. Rund um die Uhr lassen sich heute interaktive globale Spieleteams finden, die gemeinsam Aufgaben lösen und Gefahren überwinden können. In Form von selbst kreierten Avataren lässt sich die eigene Identität wechseln wie Kleider aus dem Kleiderschrank. Digitales Spielvergnügen und die Kombination aus Glück und Spiel sorgen für Nervenkitzel und Vergnügen. Aber auch das sich gerade entwickelnde Metaversum und innovative Formen von Künstlicher Intelligenz (KI) wirken auf uns Menschen. Sie lassen analoge und digitale Grenzen über neuartige Konzepte miteinander verschmelzen. Dadurch entsteht eine erweiterte Form der Realität, eine neue Dimension der Begegnung, eine Erlebenswelt der Superlative und des Vergnügens, die selbst die kühnsten Träume in den Schatten zu stellen verspricht. Hier haben wir die Möglichkeit, in einer Fantasiewelt artifizieller Sphären ohne Schwächen und Limits zu agieren, in der starke Gefühle und Erlebnisse auf Knopfdruck jederzeit abrufbar und sehr real erlebbar werden. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere an die schulische Pflichtlektüre Schöne neue Welt von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932, der das Metaversum fiktiv in Form des »Fühlkinos« vorwegnahm. Dort werden Menschen über visuelle, akustische und taktile Reize überstimuliert, sodass sie zu passiven, konformen und glücklichen Menschen degenerieren, die sich von den realen Problemen der Gesellschaft ablenken lassen, um so kontrolliert und manipuliert zu werden. Voilà, willkommen im 21. Jahrhundert des Metaversums und von KI, in dem Huxleys Vision gerade in großem Stil umgesetzt wird.

Bereits heute malt KI Bilder, schreibt Gedichte, erstellt Reden, findet Fehler in Programmierungscodes und liefert Antworten auf die kompliziertesten Fragen. KI wird unser Leben grundlegend verändern, und dies in einer noch höheren Geschwindigkeit als zuvor. Das US-amerikanische Unternehmen OpenAI gibt uns bereits heute einen beeindruckenden Vorgeschmack, wozu KI fähig ist und welche Probleme sich dadurch ergeben.

Als Deepfakes werden etwa manipulative, KI-erstellte Medieninhalte bezeichnet, die reale Inhalte täuschend echt, aber in fiktiven Situationen zeigen können. So kursieren schon seit Jahren im Internet Pornosequenzen mit Fake-Köpfen von Celebrities. Die Herstellung dieser Deepfakes war bisher eher technisch versierten Personen vorbehalten. DALL-E schaffte 2021 den Quantensprung in der KI-Bildverarbeitung für jedermann. Durch eine simple Textbeschreibung können artifizielle, teilweise fotorealistische neuartige Inhalte kreiert werden, die echten Bildern in nichts nachstehen. Künstlich erschaffene neuronale Netzwerke kreieren dabei aus einzelnen Wörtern und Inhaltsbeschreibungen (Input) eine spezifische, teilweise fotorealistische Anordnung aus Pixeln (Output). Gefüttert wird DALL-E durch Millionen von im Internet verfügbaren Bildern und dazugehörigen Texten. Wer es noch nicht versucht hat, sollte sein Glück in DALL-E mal testen. Die Ergebnisse sind schon beeindruckend und erweitern kreative Prozesse ins Unermessliche. Allerdings gibt es auch eine negative Seite dabei. Denn mittlerweile zeigen zahlreiche Fotos in sozialen NetzwerkenKI-generierte Fotos von Personen des öffentlichen Lebens, teilweise in prekären oder spaßigen Situationen, die mit der Realität rein gar nichts mehr zu tun haben. So geisterten Fotos von Papst Franziskus mit einer hippen weißen Daunenjacke und einem lässig darüber baumelnden Silberkreuz, von einem angeblich festgenommenen Wladimir Putin oder einem Elon Musk, der mit Mary Bara, CEO von General Motors, Händchen hält, durch die sozialen Medien. Neben einem guten Unterhaltungswert werfen diese Bilder Fragen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten auf, da die Fotos oftmals nicht mit dem entsprechenden Copyright »© Dall-E« versehen worden sind. Sie befeuern damit auch Fake News, denn dem Betrachter fällt es kontinuierlich schwerer zu unterscheiden, was nun eigentlich wahr und was KI-generierter Fake ist. Teilweise ergeben sich auch schwerwiegende Urheberrechtsverletzungen von Künstlern und Medienagenturen, deren lizenziertes Material bei der Erstellung KI-generierter Bilder unberechtigte Verwendung fand. DALL-E ist nur ein Beispiel, da aktuell neue KI-Tools und Apps wie Pilze aus dem Boden schießen, die allesamt um unsere Gunst werben.

Auch ChatGPT, einer von vielen am Markt agierenden KI-Chatbots, ist mittlerweile in aller Munde. Innerhalb der ersten fünf Tage nach Veröffentlichung meldeten sich eine Million Nutzer an. Angefüttert mit Milliarden von Datensätzen aus dem Internet, an denen er auch trainierte, generiert ChatGPT textbasierte Antworten so gut, dass sie oftmals auch von Fachleuten für von echten Menschen verfasst gehalten werden. Einige meiner ADHS-Patienten atmen bereits auf, da ChatGPT ihnen beim Strukturieren ihrer Gedanken hilft, und auch viele Schüler lassen ihre Referate mittlerweile von einem Chatbot erstellen oder überarbeiten. Dabei darf keinesfalls alles, was der Chatbot erstellt, für bare Münze genommen werden. So wurde 2023 ein Anwalt in New York dabei erwischt, wie er seine Klageschrift über ChatGPT verfasste, der ihm frei erfundene Präzedenzfälle mit Aktenzeichen lieferte. Leider verifizierte nicht der Anwalt vor Einreichen der Klage die Anklageschrift, sondern der zuständige Richter. Umgehend rückte besagter Anwalt ins Zentrum der Aufmerksamkeit unzähliger Medien, die über den Fall berichteten. Er erntete die Häme seiner Fachkollegen für sein naives Vorgehen. Zunächst nicht aufgefallen ist allerdings eine KI-generierte Rede des SPD-Politikers und EU-Parlamentsmitglieds Tiemo Wölken, die er von ChatGPT erstellen ließ und im Februar 2023 vor dem Europäischen Parlament hielt. Erst am Ende der Rede gab der Politiker die Auflösung und dankte ChatGPT in einem Schlusssatz. Viele Zeitungen berichteten darüber. Von KI-Bots erstellte Inhalte bedürfen aktuell noch keiner Kennzeichnung. Je nach Datengrundlage können KI-Texte auch Menschen diskriminieren, Rassismus schüren und Propaganda verbreiten. Es ist fraglich, wie viel Wert dem geschriebenen Wort in Zukunft noch zukommen wird, wenn Briefe von Freunden, Liebesgedichte, Politikerreden, Artikel und Bücher inflationär und fast mühelos über KI-Bots erstellt oder verändert werden können und wir dabei die Herkunft und Beeinflussung der Inhalte über KI nicht erkennen können. Hier werden in Zukunft Chancen und auch Risiken nah beieinanderliegen, und damit verbunden ergeben sich Fragestellungen, die es erst noch zu beantworten gilt, wie etwa:

Wer trägt die Verantwortung, wenn KI fehlerhafte Entscheidungen trifft und dadurch Schäden verursacht?

Wie können wir sicherstellen, dass KI-Algorithmen transparent und nachvollziehbar sind und mittels KI gewonnene Entscheidungen gerecht gefällt werden?

Welche Inhalte dürfen für die Fütterung von KI verwendet werden?

Wer besitzt die Rechte an von KI generierten Inhalten, und wie beeinflusst KI das kreative Schaffen?

Wie geht KI mit persönlichen Daten um?

Wie kann sichergestellt werden, dass KI nicht zu manipulativen Zwecken verwendet wird?

Wie müssen KI-generierte Inhalte gekennzeichnet werden?

Wie wird KI zwischenmenschliche Beziehungen verändern?

Welche Auswirkungen hat KI auf die physische und psychische Gesundheit?

Welche Berufe werden über KI in Zukunft ersetzbar sein?

Schauen wir uns im nächsten Kapitel einmal näher an, mit welchen Belohnungsreizen wir es heute zu tun haben. Belohnungen, die uns mit Freiheit und Mühelosigkeit ködern, um uns langsam an die versteckten Haken des Überkonsums zu binden.

2  Die Köder

Belohnungsköder und Schlüsselreize