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Wenn das Kind morgens nicht aus dem Bett kommt, nicht die Zähne putzen will, mit den Geschwistern streitet, ständig Quatsch macht oder lautstarke Wutanfälle bekommt, kommen Eltern mit ihrer Geduld schnell an die Grenze. Was kann man tun, um in solch anstrengenden Situationen nicht laut zu werden? Wie kann man mit herausforderndem Verhalten des Kindes gelassen umgehen? Wie können Eltern ihren Kindern wirklich helfen? Julia Scharnowski blickt in ihrem neuen Ratgeber lösungsorientiert auf besonders stressige Momente im Familienalltag. Sie zeigt, was dahintersteckt und warum Strafen nicht zielführend sind. Und: Sie liefert konkrete Tipps, um die Beziehung und das Vertrauen zwischen Eltern und Kind zu stärken.
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Seitenzahl: 329
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Vorwort
Was Strafen bei deinem Kind bewirken
Strafen: Große Risiken, fatale Nebenwirkungen
Einfluss von Belohnungen, Strafen und Konsequenzen
Verzweiflung und Ohnmacht als Auslöser
Stell dir vor, du müsstest so leben
Drei Bilder, die dein Familienleben verändern
Werkzeugkasten für eure starke Beziehung
Techniken für dich und deine Gefühle
Verlangsame innere Abläufe
Deine Notfallwerkzeuge für stressige Momente
Nutze deine Atmung
Stelle eine Verbindung zu deinem Körper her
Nutze bewusst deine Sinne
Bring Bewegung rein
Tools für deine Einstellung und den Blick auf dein Kind
Finde eine konstruktive Haltung zu Konflikten
Setze deine Forscherbrille auf
Begib dich auf Spurensuche: Zurückspulen und Rauszoomen
Werde zum Bedürfnisermittler
Werkzeuge für euren direkten Kontakt
Komm mit deinem Kind ins Gespräch
Hör deinem Kind aktiv zu
Schaffe Bilderrahmenmomente für euch
Gib spielerisch die Macht ab
Startet gemeinsame Mini-Projekte
Dein Alltag – ein Pulverfass
Der holprige Start in euren Tag
Ärger an der Bettkante – dein Kind wacht schon wütend auf
Finde Ruhe und sorge für dich
Der Morgen beginnt schon am Abend davor
Richtiger Moment für Bildschirmzeit und Toben?
Gelassen bleiben und über das sprechen, was los ist
Lieber langsam starten
Selbstbestimmtes Wecken mit eigenem Wecker
Anziehen: immer wieder herausfordernd
Kinderhaut ist empfindlich – Kinderseele auch
Macht den Kleiderschrank-Check
Kleinere Schritte gehen
Verschaff dir einen Überblick
Anziehen – ein komplexer Prozess
Helfen hilft, sich geliebt zu fühlen
So wird Anziehen spielend leicht
Die Anziehstraße
Sorge für Überblick und Orientierung
Das Problem mit Körperpflege und Zähneputzen
Empfindlicher Kindermund
Macht es euch so angenehm wie möglich
Konfliktpunkt Familientisch
Nichts schmeckt
Fehlt es an Raum für Autonomie?
Wenn der Druck zu hoch ist
Überforderung vermeiden
Tischmanieren und Benimm
Dein Kind kommt nicht zum Tisch und bleibt nicht sitzen
Geht es um Verbindung oder um Selbstbestimmung?
Süßigkeiten ohne Ende?
Wohlmeinenden Schenkern Grenzen setzen
Dein Kind will nicht in Schule oder Kita
Umgang mit dem eigenen Druck
Brücken bauen: Übergang und Abschied vorbereiten
Lässt dieser Ort dein Kind gedeihen?
Trödeln und Zeit schinden – Stress beim Haus verlassen
Langsamkeit als Schutz vor Überforderung
Schwierigkeiten mit Übergängen – oder ist es eine Kränkung?
Ein bisschen mehr Zeit, Verbindung und Vorbereitung
Große Aufgaben in kleine Schritte unterteilen
Zoff rund ums Autofahren
Selbst entscheiden dürfen und Einfluss nehmen
Lange im Auto spielen
Die Fahrtrichtung bestimmen
Plätze reservieren oder tiefer liegende Gründe finden
Streit auf der Rückbank
Wirf einen Blick auf den Ablauf
Zeit- und Streitfalle Hausaufgaben und Lernen
Welche Gefühle gehören zu deinem inneren Schulkind?
Wie geht’s deinem Kind beim Hausaufgaben-Stress?
Gebt dem Lernen einen persönlichen Sinn
Sorgt für die richtige Lernumgebung
Vom Druck in die Freude
Auch du musst es nicht allein schaffen
Konflikte vorprogrammiert: Aufräumen und im Haushalt helfen
Unterschiedliches Timing von Eltern und Kindern
Wie wir die Mithilfe unserer Kinder verhindern
Unterschiedliche Wege führen zur Ordnung
Aufgaben überschaubar machen
Jeder tut, was ihm liegt
Das Aufräumen angenehm gestalten
Keine Lust, sich allein zu beschäftigen
Dich selbst im Blick haben
Aufmerksamkeit ohne Ende?
So fühlt sich dein Kind geliebt
Wenn dein Kind oft auf dich wartet
Tätigkeit unterbrechen oder benennen, was los ist
Verlieren und nicht Erster sein ist schwer
Von schlechten Verlierern und Frustrationstoleranz
Kräfte messen und gewinnen, um sich sicherer zu fühlen
Spielen gezielt nutzen
So lernt dein Kind beim Spielen das, was du möchtest
Streit beim Umgang mit Medien
Angst vor Isolation und Abhängigkeit
Individuelle Regelungen finden
Begleite dein Kind
Dein Kind schaltet nicht zur vereinbarten Zeit aus
Verstöße abstrafen oder lieber nicht?
Machen Medien süchtig?
Spielplatz-Krise: Dein Kind will nicht nach Hause
Bereite dein Kind vor
Wenn nichts hilft
Die Königsdisziplin: der Abend und die Nacht
Besser herunterfahren durch vertraute Abläufe
Je mehr Crew, desto besser
Gib deinem Kind Orientierung
Austoben oder runterfahren?
Jüngere Geschwister müssen auch ins Bett
Wenn die Nachtruhe nicht einkehren will
Der abendliche Redebedarf
Lasst den Tag gemeinsam sacken
Einschlafbegleitung: Zusammen in den Schlaf
Selbst bestimmen, wann es ins Bett geht
Nachts ins Elternbett
Das Verhalten deines Kindes in der Öffentlichkeit
Restaurantbesuche mit der Familie
Einkaufen mit deinem Kind
Dein Kind bedankt sich nicht
Starke Gefühle deines Kindes in der Öffentlichkeit
Dein Kind dreht auf, wenn ihr andere Leute trefft
Gefühlskrise nach Schule und Kita
Ungünstige Freundschaften und gemeinsam frech sein
Freude an der intensiven Verbindung
Wie dein Kind Freundschaften erlebt
Unerwünschtes Verhalten in Schule oder Kita
Verweigerung beim Arzt und bei Medikamenten
Was ist mit der elterlichen Verantwortung?
Medikamente einnehmen – variieren kann helfen
Dein Kind verweigert Arztbesuche und Behandlungen
Schutzstarre bei Überforderung
Abgrenzung vor vermeintlichen Autoritäten
Komm mit deinem Kind und dem Thema in Kontakt
Streit unter Geschwistern
Wie viel Streit ist noch normal?
Der Schmerz der Geschwisterkinder
Die Geburt eines Geschwisters – die Welt steht Kopf
Sicherheit hilft deinem Kind
Grenzen wahren
Werde nicht zum Schiedsrichter
Gib keine Lösungen vor
Die wichtigsten Ressourcen: Zuwendung und Verbindung
Manchmal dient Streit nur zum Dampfablassen
Verhaltensweisen, die uns Eltern stressen
Dein Kind macht nicht mit
Gib deinem Kind mehr Zeit
Kooperationsakku erschöpft oder Seele gekränkt?
Nimm die Kooperationsbereitschaft wahr
Aufgaben und Wünsche klar kommunizieren
Dein Kind kommandiert dich herum
Was bei uns Eltern ankommt
Ärger beiseitestellen, Antennen ausfahren und forschen
Abstand gewinnen und nach der Ursache suchen
Dein Kind fühlt sich fremdbestimmt
Dein Kind ist unsicher
Schenke dir selbst Anerkennung
Dein Kind schreit, haut und ist aggressiv
Dein kleines Kind beißt beim Kuscheln
Hauen und Beißen als Kontaktaufnahme und Abgrenzung
Kinder können Aggressionen nur schwer kontrollieren
Dein Kind wird grundlos wütend und wirft mit Dingen
Langsamer sein hilft oft weiter
Mit aggressivem Verhalten umgehen
Was tun bei starker Wut und Co.?
Dein Kind provoziert dich
Vor anderen steigt der Druck
Dein Kind hört nicht auf dich
Öffne dich für das, was deinem Kind wichtig ist
Dein Kind respektiert keine Grenzen
Grenzen lernen, ganz praktisch
Dein Kind lügt dich an
Lügen erfordern viele Fähigkeiten
Ergründe, warum dein Kind lügt
Auf Lügen reagieren
Dein Kind teilt nicht
So lernt dein Kind teilen
Danke
Literatur
Es ist nicht immer leicht, hinter dem, was unsere Kinder tun und sagen, das zu sehen und zu fühlen, worum es wirklich geht. Es ist nicht immer leicht, ruhig zu bleiben, nicht zu schreien, der eigenen Wut und Hilflosigkeit freien Lauf zu lassen und dem Verhalten unseres Kindes „Konsequenzen folgen zu lassen“. Es ist vermutlich eines der schwersten Dinge unseres Elternseins – und eines der wichtigsten. Denn alles, was unsere Kinder tun oder lassen, alles, was sie sagen und wie, hat einen Grund. Sie können es nicht anders ausdrücken.
Es läuft oft wahnsinnig vieles gleichzeitig ab, wenn wir mit unseren Kindern in Konflikte geraten. Es passieren Dinge im Außen, in unseren Kindern spielen sich emotionale Feuerwerke ab und auch in uns toben Gedanken- und Gefühlsstürme. Ehe wir uns versehen, sagen wir Dinge, die wir später bereuen und die sich wie dunkle Wolken über unsere Familienbeziehungen schieben. Da ist es leichter gesagt als getan, kindliches Verhalten wie einen Code zu lesen, zu entschlüsseln und zu übersetzen. Doch es ist so lohnenswert und wir werden darin auch immer geübter, je mehr wir uns wie Detektive auf Spurensuche im Alltag machen. Je mehr wir die Situationen unter die Lupe nehmen und ein Hinweis sich zum anderen fügt, bis sich ein Gesamtbild zusammensetzt, das plötzlich Sinn ergibt und du verstehst, warum dein Kind sich so verhält.
Dieses Einfühlen, Aufspüren und Verstehen ist unendlich wertvoll. Denn es ebnet uns den Weg in ein Familienleben mit echter Nähe und Beziehungen, die unsere Kinder ein Leben lang tragen – auch dann, wenn wir nicht mehr jeden Tag persönlich an ihrer Seite sind.
Mit diesem Buch möchte ich dich darin unterstützen. In dem Kapitel „Werkzeugkasten für eure Beziehung“ gebe ich dir starke Instrumente an die Hand, um dein Kind gelassen durch seine Entwicklung zu begleiten. Ich verweise immer wieder auf diese Werkzeuge, daher solltest du dieses und das erste Kapitel zu Anfang lesen. Danach kannst du das Buch in deiner eigenen Reihenfolge lesen.
In diesem Buch steckt eine einmalige Mischung meiner Erfahrungen und meines Wissens aus meinen zahlreichen Beratungsgesprächen sowie aus meinem eigenen Familienalltag mit drei Kindern. Du kannst mir nicht nur bei meiner Arbeit und in meiner Mamarolle über die Schulter blicken. Ich gebe dir bei jedem Schritt wertvolle Anregungen an die Hand, die dich in dein eigenes Familienleben begleiten.
Konkrete Übungen und Impulse findest du in den Kästen. Hier warten praktische Alltagswerkzeuge auf dich und Möglichkeiten, deine Perspektive und dein Mindset zu verändern. Unterstützend dazu stelle ich dir im gesamten Buch immer wieder Hördateien und weiteres Zusatzmaterial zur Verfügung, mit dem du dein Wissen vertiefen kannst. Folge dazu einfach mit deinem Smartphone den QR-Codes.
Wenn wir die Sprache des Verhaltens unserer Kinder verstehen lernen, werden Strafen überflüssig. Uns bleibt mehr Kraft, weil wir uns Kämpfe ersparen und unsere Beziehungen vertiefen sich. Ich wünsche dir viel Freude mit all deinen Erfahrungen und Schritten, die du mit diesem Buch gehst.
Hinweis:
Viele von uns werden von der Sorge getrieben, unseren Kindern nicht genug mit auf den Weg zu geben, wenn wir sie nicht stets dazu bringen, die Dinge zu tun, die wir für richtig halten und die wir sowie die Gesellschaft von ihnen erwarten. Der Druck, der dadurch in uns Eltern entsteht, belastet die Beziehungen in der Familie. Wir und unsere Kinder distanzieren uns voneinander. Geraten wir Eltern in einen Kampf mit ihnen, werden wir dabei immer überlegen sein – solang die Kinder klein genug sind.
Kinder sind psychisch, körperlich und wirtschaftlich abhängig von uns Eltern. Doch im Laufe ihres Heranwachsens schwinden unsere elterlichen Einflussmöglichkeiten – und ganz ehrlich: Wollen wir Beziehungen, die allein auf Macht beruhen und die durch Angst und Gehorsam funktionieren? Drohungen, Belohnungen, logische Konsequenzen und Strafen führen vielleicht an der Oberfläche zunächst zu dem Ergebnis, das du dir für den Moment wünschst: Dein Kind putzt sich die Zähne, schaltet den Fernseher aus oder lässt sein Geschwisterchen in Ruhe.
Auf der Ebene eurer Beziehung und mit dem Selbstwert deines Kindes geschieht aber etwas Fatales: Sein Vertrauen in dich wird erschüttert, ihr entfernt euch emotional voneinander. Sein Selbstwertgefühl wird verletzt – dazu noch von einer seiner engsten Bindungspersonen, das ist eine einschneidende negative Beziehungserfahrung, die nur schwer zu reparieren ist. Kinder lernen dadurch, dass sie so, wie sie sind, nicht richtig sind. Sie kommen so entweder in die Überanpassung und entfernen sich von ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen oder sie begehren auf in Wut und Frust.
Die Psychotherapieforschung hat in den letzten Jahrzehnten viele Studien geliefert, die beleuchten, warum Menschen seelisch krank werden, gesellschaftlich nicht zurechtkommen oder Schwierigkeiten haben, liebevolle und nahe Beziehungen aufzubauen. Ich möchte dazu an dieser Stelle gar nicht weiter in die Tiefe gehen, denn entscheidend finde ich folgenden Punkt: Wenn unsere Kinder klein und stark von uns abhängig sind, mögen Konsequenzen und Strafen nach außen hin funktionieren. Wir zerstören aber damit das wichtigste Gut, auf das wir als Eltern angewiesen sind, wenn Kinder mit Beginn der Pubertät und ihrer Abnabelung von uns unabhängiger werden: ihr Vertrauen zu uns. Nur, wenn dieses Band des Vertrauens zwischen uns wachsen und stark werden darf, wenn es aus unserer elterlichen Verantwortung heraus in der Baby-, Kleinkind- und Grundschulkindzeit umsorgt und genährt wird, werden unsere Kinder es in der späteren Zeit ihres Heranwachsens nutzen. Nämlich dann, wenn sie und wir darauf angewiesen sind. Wenn sie in Schwierigkeiten geraten und unsere Hilfe brauchen. Und diese Zeiten werden kommen – auch wenn wir uns das als Eltern jüngerer Kinder nicht vorstellen möchten.
Belohnungen: Wenn du meine Anforderungen erfüllst, bekommst du etwas von mir. Erfüllst du sie nicht, bleibt diese Bestätigung aus, was wiederum wie eine Strafe funktioniert. Belohnungen schwächen die intrinsische Motivation von Menschen, sodass diese immer abhängiger werden von äußeren Anreizen.
Bestrafungen: Du verhältst dich nicht so, wie ich es sage oder erwarte, deswegen nehme ich dir etwas, das dir wichtig ist und verletze deinen Selbstwert, um dich anzupassen. Ich glaube nicht, dass du aus dir selbst heraus gut und kooperativ bist.
Logische Konsequenzen: Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, darfst du nicht fernsehen. Logische Konsequenzen erwecken den Anschein, als implementierten sie eine für die Kinder gute Entscheidungsmöglichkeit. Sie sind jedoch künstlich gesetzt und ebenso wie bei einer Verhaltensanpassung über klassische Strafen kommen Eltern nicht dahinter, worum es bei dem Verhalten ihres Kindes wirklich geht und was das Kind braucht.
Natürliche Konsequenzen: Wenn es regnet, wird man nass. Wenn es kalt ist und man keine Jacke anzieht, kann es sein, dass man friert.
Alle Eltern, mit denen ich in meinen Beratungen und Coachings spreche, schildern ausnahmslos, dass es sich für sie falsch und schlecht anfühlt, ihre Kinder zu bestrafen. Dass sich nach ausgesprochenen Drohungen oder umgesetzten Konsequenzen Schuldgefühle und Zweifel einschleichen. Genauso erzählen sie auch alle, dass sie in den Momenten, in denen sie drohen und ihre Kinder unter Druck setzen, innerlich mit dem Rücken an der Wand stehen. Sie berichten, dass sie sich vollkommen überfordert und verzweifelt fühlen und sich einfach nicht mehr anders zu helfen wissen. Es geht ihnen dann ähnlich wie ihren Kindern, die sagen: „Wenn du mir das Spielzeug nicht gibst, darfst du nicht mehr mitspielen!“ Auch hier wissen Menschen sich nicht anders zu helfen – allerdings sind diese Menschen noch sehr klein und es fehlt ihnen noch an Hirnreife, vollzogenen Entwicklungsschritten, kognitiven Fähigkeiten und Erfahrungen.
Ich weiß, dass du in Not bist, wenn du drohst und dass dich deine eigenen starken Gefühle zu überwältigen drohen. Vielleicht fehlen dir Alternativen, um anders zu handeln. Vielleicht hast du aber auch durch den inneren Stress keinen Zugriff auf neu erlernte Strategien. Das ist eine normale Stressreaktion deines Gehirns und deswegen werde ich dir in diesem Buch zeigen, wie du dich selbst und deine Gefühle beruhigen kannst. Wenn du noch tiefer einsteigen möchtest, kannst du auch mein vorheriges Buch lesen, in dem ich dir viele wertvolle Tools für deine Gelassenheit an die Hand gebe.
BERUHIGE UND STÄRKE DICH SELBST
Wenn wir als Eltern im Umgang mit unseren Kindern in starke Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit rutschen, hat das eigentlich immer etwas damit zu tun, wie wir selbst uns als Kinder gefühlt haben. Wir waren in gewissen Situationen verletzt und überfordert und unsere seelisch-emotionalen Systeme versuchen unbewusst, die Zustände zu vermeiden und ihnen so schnell wie möglich zu entkommen. Schon sind wir Eltern im „Wenn-dann“-Modus: Wir drohen mit einer Konsequenz, wenn unser Kind nicht tut, was wir verlangen.
Wenn du diese Gefühle bei dir bemerkst, versuche Tempo aus der Situation zu nehmen, indem du tief und gleichmäßig atmest. Mache dir bewusst, dass du kein Kind mehr bist und dass du erwachsene und konstruktive Strategien hast oder entwickeln wirst, die dir helfen. Du bist nicht ausgeliefert, allein die Alarmanlage deines Gehirns will dich vor der Wiederholung einer schmerzhaften Erfahrung schützen.
Ich möchte mit dir in diesem Buch Strategien entwickeln, die dir weiterhelfen, wenn du das Gefühl hast, mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Damit du besser verstehst, was in solchen Augenblicken in deinem Kind – und in dir – los ist. Damit du dich sicherer, zuversichtlicher und gelassener fühlen kannst. Denn dadurch lichtet sich der Nebel aus Hilflosigkeit, Überforderung und Angst und du kannst wieder dein Kind vor dir sehen anstelle eines Gegners: dein Kind, das dich liebt, das von dir abhängig ist, das deine Hilfe braucht und das mit dir zusammenarbeiten möchte.
Deine Erwachsenen-Fähigkeit, dich in andere Menschen und Situationen hineinzuversetzen, ist eine Superkraft, die wir in diesem Buch immer wieder einsetzen werden, damit du dein Kind und sein Verhalten besser nachvollziehen kannst. Lass uns damit direkt einmal beginnen.
Stell dir vor, du bummelst mit deinem Partner an einem sonnigen Tag durch die Stadt. Du hast zwar nach dem Mittagessen zum Nachtisch bereits ein Eis gegessen, hast aber jetzt angesichts deines Lieblings-Eiscafés noch einmal Appetit auf eine süße Erfrischung. Du steuerst die Eisdiele an, doch dein Partner hält dich am Arm fest und sagt mit strenger Stimme zu dir: „Nein, du hattest heute schon ein Eis. Jetzt ist Schluss, das reicht!“ Irritiert blickst du ihn an. Vielleicht beginnst du, dich zu ärgern, versuchst, seinen Griff abzuschütteln und sagst: „Lass mich!“ Dein Partner wird lauter, sein Griff fester: „Hör mal, mein liebes Fräulein, jetzt reicht es aber wirklich! Bleib auf der Stelle stehen, sonst gibt es morgen kein Eis und Fernsehen ist heute Abend gestrichen!“ Wie geht es dir bei diesem Gedankenexperiment? Vielleicht musst du ein wenig schmunzeln, ganz sicher spürst du aber auch Unbehagen und Entrüstung. Würde sich ein erwachsener Mensch in einer Beziehung so behandeln lassen und würden Passanten ein solches Verhalten unkommentiert lassen? Bei unseren Kindern wird es hingegen sogar gutgeheißen und empfohlen. Befändest du dich in einer Beziehung, die sich so repressiv und toxisch gestaltet, hättest du die Möglichkeit, dich zu trennen und zu gehen. Unsere Kinder haben diese Möglichkeit nicht.
RAUS AUS ALTEN DENKMUSTERN
Kinder brauchen Grenzen und Regeln – das hören Eltern fast schon vor der Entbindung. Ja, alle Menschen haben und brauchen Grenzen und Absprachen und Regelungen helfen uns, im Zusammenleben miteinander zurechtzukommen. Doch bietet unser familiäres und gesellschaftliches Zusammenleben ausreichend natürliche Grenzen und Gelegenheit, um den Umgang mit ihnen zu lernen und immer wieder Wege zu entwickeln, die uns und unseren Kindern Orientierung geben. Obendrein noch Grenzen künstlich zu erschaffen, indem dein Kind etwa auf Kommando tut, was du verlangst, oder sich mit blindem Gehorsam an deine Regeln hält, ist ziemlich anstrengend für alle Beteiligten und auch nicht förderlich für das Selbstwertgefühl deines Kindes. Denn so erlebt es permanent, dass nur „die Großen“ etwas zu sagen haben und die eigenen Bedürfnisse nicht zählen.
Aus meiner Arbeit als Eltern- und Familienberaterin sowie aus meinem eigenen Alltag mit drei Söhnen weiß ich nur allzu gut, wie anstrengend und fordernd es mit Kindern oft zugeht und wie schwierig uns ihr Verhalten zuweilen erscheint. Ich möchte dir hier drei Bilder mit auf den Weg geben, die dir zeigen, was es mit den Verhaltensweisen deines Kindes auf sich hat.
Stell dir vor, dein Kind befindet sich auf einer einsamen Insel. Es ist dort gestrandet, kennt sich nicht aus und ist in Not. Du wiederum bist auf deiner eigenen Insel. Sie ist schon größer, verfügt über eine gute Infrastruktur aus vielen Erfahrungen und stabilen Netzwerken deines ausgereiften Gehirns. Du verfügst auf deiner Insel über allerhand technisches Equipment, mit dem du durch Gefühlsstürme segeln und mit dem du Brücken zu anderen Inseln bauen kannst. Nun denke an dein Kind – vergiss nicht, ich habe dir eben erzählt, dass es in Not ist, so ganz allein dort. Das, was wir Erwachsenen als schlechtes Benehmen oder störendes Verhalten empfinden, sind die Signale deines Kindes. Mit ihnen versucht es verzweifelt, dich auf seine Situation aufmerksam zu machen und bittet dich um Hilfe. Vielleicht nutzt es im übertragenen Sinne Leuchtsignale, Warnschüsse und springt wild auf und ab, damit du es in seiner Not wahrnimmst. Das alles geschieht unbewusst, weil dein Kind noch keine anderen Strategien hat. Wenn du beginnst, dieses Verhalten als Zeichen für seine Gefühle und inneren Konflikte zu sehen, kannst du beginnen, von deiner Insel aus auf dein Kind zuzusegeln oder eine Brücke zu bauen, damit es mit seiner Not nicht länger allein ist.
Ich möchte dir außerdem näherbringen, was es mit seelischen Bedürfnissen auf sich hat. Wie körperliche Bedürfnisse, zum Beispiel Nahrung, Schlaf und Trinken, sind sie absolut überlebensnotwendig für uns Menschen. Wir alle haben dieselben Bedürfnisse und Gefühle – und es sind auch gar nicht so viele. Du kannst dir das vorstellen wie bei einem Kompass (vgl. auch den Motivkompass von Dirk Eilert) und den vier Himmelsrichtungen, die er anzeigt. Entsprechend Norden, Süden, Osten und Westen unterscheiden wir vier seelische Grundbedürfnisse: Sicherheit, Autonomie, Verbindung und Freude/Leichtigkeit. Unbewusst streben wir alle danach, uns diese Bedürfnisse zu erfüllen und sie im Gleichgewicht zu halten.
Für unsere körperlichen Bedürfnisse haben wir zuverlässige Anzeiger: etwa Hunger, Müdigkeit und Durst. Genauso zuverlässig zeigen uns unser seelisches System und unser Körper an, wenn unsere seelischen Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind. Fehlt es uns an Sicherheit, fühlen wir Unsicherheit und Angst. Wenn uns Autonomie fehlt, verspüren wir Wut. Fehlt uns Verbindung, empfinden wir Trauer. Mangelt es uns an Freude und Leichtigkeit, empfinden wir beispielsweise Niedergeschlagenheit, Langeweile und Desinteresse. Insgesamt unterscheiden wir zwölf sogenannte Primäremotionen, die unterschiedliche Funktionen haben und uns Auskunft über unsere Bedürfnisse und unsere innere Verfassung geben.
Möchtest du tiefer in das Wissen über seelische Grundbedürfnisse einsteigen? Über diesen QR-Code kannst du dir ein Audio zu diesem Thema anhören.
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Stell dir einen Baum vor, um das Verhalten deines Kindes und die dahinter verborgenen Bedürfnisse zu erkennen: Über der Erde sind der Baumstamm und Äste mit Blättern und Zweigen. Dieser sichtbare Bereich steht für das Verhalten deines Kindes, das du siehst: Hauen, Schreien, Verweigerung, aber auch Kooperation. Doch gehört zu dem Baum noch viel mehr. Unter der Erde befinden sich zahlreiche Wurzeln und Verzweigungen. Dieser unsichtbare Bereich stellt bei deinem Kind und bei allen anderen Menschen die Gefühle und Bedürfnisse unter der Oberfläche dar.
Das Gehirn von Kindern befindet sich in der Entwicklung. Außerdem fehlen deinem Kind noch viele Erfahrungen und erlebte Zusammenhänge. Deswegen braucht es dich als Erwachsenen mit deinem ausgereiften Gehirn, deinem Nervensystem und deinen Erfahrungen, damit du erkennst, wie es ihm geht und was es braucht. Du darfst lernen, die Sprache seines Verhaltens zu entschlüsseln, zu verstehen und darauf einzugehen. Ich helfe dir dabei und freue mich auf unseren Weg zu mehr Leichtigkeit und Nähe im Alltag mit deinem Kind.
Wenn wir Kinder ins Leben begleiten und sie bei ihren Entwicklungen und Herausforderungen gelassen und liebevoll unterstützen wollen, dann benötigen wir starke Werkzeuge für dieses Abenteuer. Das Gute ist, dass diese uns Menschen grundsätzlich längst zur Verfügung stehen und wir sie ohnehin in uns tragen. Dieses Kapitel hilft dir dabei, sie (wieder) zu entdecken und sie auf deinem Weg zu benutzen.
Ich stelle dir hier im Buch Techniken vor, die dich dabei unterstützen, das Verhalten deines Kindes zu entschlüsseln und gemeinsam mit ihm neue Wege zu entwickeln. Außerdem zeige ich dir Strategien, mit deinen eigenen Gefühlen umzugehen. So kommst du mit deinem Kind und dir selbst immer wieder in einen tieferen Kontakt. Denn dieser ist wichtig, um von einer strafenden, manipulativen Erziehung zu einer nahen, liebevollen und wertschätzenden Beziehung zu deinem Kind zu kommen. Übe dich in den Techniken und nutze sie. Ich leite dich an den entsprechenden Stellen im Buch immer wieder hierhin zurück.
Bitte bedenke bei all den Techniken und Werkzeugen, dass sie möglicherweise ein wenig Zeit und Ausprobieren benötigen, bis ihr das Richtige für euch gefunden habt oder sich die Situation entspannt. Es gibt nicht immer den einen Hebel, den wir betätigen, und dann ist alles anders. Doch es gibt viele kleine Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten.
Wir alle sind mit unseren Familiensituationen einzigartig. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir immer noch vor allem funktionieren sollen – auch unsere Kinder. Wenn wir jedoch anerkennen, dass wir Menschen mit Bedürfnissen und Gefühlen sind, die sehr unterschiedlich und nicht perfekt sind und sein müssen, können wir unser Leben umso gesünder gestalten.
Vermutlich hast du schon einmal etwas von Achtsamkeit gehört. Sie begegnet uns in Magazinen und Zeitschriften, sozialen Medien, Apps und Büchern. Ich sage das über wenige Dinge, aber bei Achtsamkeit ist dieser vermeintliche Hype absolut berechtigt. Ich wünsche mir, dass Achtsamkeit keine Trenderscheinung bleibt, sondern wir Menschen ihren Wert für unser Leben und unsere Beziehungen begreifen und anfangen, sie so selbstverständlich in unseren Alltag einzubauen und ernst zu nehmen wie regelmäßige Mahlzeiten und Zähneputzen.
Neben meinem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer hängt eine hübsche Makramee-Deko. Ein aus naturfarbenem, dicken Faden geknüpftes Ornament. Gehalten ist es von einem Holzstab, auf dem sich die Knüpfmaschen dicht an dicht aneinanderreihen. Wenn ich mit Eltern über die Wirkung von Achtsamkeit spreche, greife ich immer zu diesem kleinen Gegenstand. Ich zeige die eng aneinander liegenden Maschen. „Das ist die Kette von Reiz und Reaktion“, sage ich dann. „Der Reiz ist beispielsweise dein Kind, das nicht hört oder dich beschimpft. Deine Reaktion ist vielleicht, dass du sofort wütend wirst, zurückschimpfst und deinem Kind drohst.“ Ohne Achtsamkeit bleiben die Reiz-Reaktions-Maschen so dicht aneinander, dass wir uns nicht bewusst dazu entscheiden können, etwas anderes zu machen, als etwa laut zu werden. Regelmäßig praktizierte Achtsamkeit bringt Lücken zwischen die einzelnen Maschen und lässt Raum zwischen Reiz und Reaktion entstehen. Diesen Raum – ich rede natürlich in Wahrheit von deinem Nervensystem und nicht von Knüpfmaschen – kannst du aktiv nutzen. Zum Beispiel, um deine eigenen Gedanken und Gefühle zu überprüfen und eine Technik zur Selbstregulation anzuwenden. Wenn ich von „regelmäßig“ spreche, meine ich jeden Tag. Du benötigst dafür nicht viel Zeit.
NIMM DIR MINUTEN DER ACHTSAMKEIT
Setze dich jeden Morgen still drei Minuten hin und richte deine Aufmerksamkeit immer wieder auf deinen Atem. Wiederhole diese Übung mittags für eine bis drei Minuten und idealerweise vor eurer Abendroutine. Das sind nicht einmal zehn Minuten. Sie werden dein Leben verändern und euren gesamten Familienalltag.
Denn diese Minuten der Achtsamkeit verändern dein Gehirn. Sie stärken den präfrontalen Cortex. Das ist der Teil des Gehirns, der dir hilft, rationale Entscheidungen zu treffen und deine Gefühle zu beruhigen. Diese Übung stärkt das Mitgefühl für dein Kind und dich selbst.
Achtsamkeit hat noch viele, viele weitere unfassbar gesunde Vorteile, deren Auflistung ganze Bücher füllt. An dieser Stelle reicht es zu sagen: Vertrau mir, mache sie zu deinem Freund und pflege sie jeden Tag. Sie ist dein stärkstes Werkzeug, um wirklich nachhaltig etwas zu verändern. Erste Wirkungen zeigen sich nach einer täglichen Routine schon nach etwa drei Wochen. In meinem Buch „Einatmen. Ausatmen. Mutter sein“ gehe ich noch intensiver darauf ein und begleite dich zudem dabei, deine persönliche Achtsamkeitsroutine zu finden.
Die tägliche Achtsamkeit hilft dir, mittel- und langfristig gelassener zu werden und Dinge in eurem Alltag bewusst anders zu gestalten. Jetzt zeige ich dir Werkzeuge, mit denen du dich in akuten Stresssituationen und bei Konflikten mit deinem Kind selbst herunterfahren kannst. Ich nenne sie die Notfallstrategien.
Über diesen QR-Code kannst du dir einen Hörkurs zu den Notfallstrategien herunterladen:
https://www.momtowow.de/bonus
Die tägliche Achtsamkeit hilft dir, früh genug zu bemerken, wann du sie brauchst und sie auch tatsächlich zu benutzen. Bei all dem möchte ich dich ermutigen, dranzubleiben. Mit jedem Mal veränderst du bewusst Nervenbahnen in deinem Gehirn und gestaltest gezielt Handlungsalternativen. Es lohnt sich!
In Stresssituationen atmen wir Menschen weniger tief und unsere Energie wird nur noch in die Regionen geschickt, die wir zum Kämpfen oder Flüchten benötigen. In stressigen Situationen mit deinem Kind brauchst du jedoch einen möglichst kühlen Kopf. Wenn du tief und gleichmäßig atmest, schickst du deinem Nervensystem das Signal, dass alles in Ordnung ist und du in Sicherheit bist – es entspannt sich und fährt die Stressreaktion herunter. Dadurch hast du wieder besseren Zugriff auf deinen klaren Verstand. Nutze dafür bestimmte Atemtechniken.
STRESSLEVEL RUNTER MIT DER RESONANZ-ATMUNG
Du brauchst jeweils nur drei bis fünf Atemzüge zu machen, um körperlich spürbar entspannter zu sein. Bei der Resonanz-Atmung atmest du fünf Sekunden lang ein und fünf Sekunden lang auch wieder aus. Oder du versuchst die 4-7-8-Atmung: Atme komplett aus, atme dann vier Sekunden lang ein, halte die Luft für sieben Sekunden an und atme dann acht Sekunden lang aus.
Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Wunderwerk und gleichzeitig auch ziemlich simpel gestrickt – zumindest in seiner abstrahierten Funktionsweise. Wenn du in einer akuten Stresssituation bist, versuche bewusst deinen Körper oder einen bestimmten Teil deines Körpers zu spüren. Nimm zum Beispiel deine Fußsohlen auf dem Boden wahr oder die Wärme zwischen deinen Handflächen, wenn du sie aneinander reibst. Durch das bewusste Wahrnehmen bekommt dein Steuerungszentrum im Stirnlappen deines Gehirns eine Aufgabe. Damit wird dem limbischen System, das für die Stressreaktion zuständig ist, die Energie abgegraben und aufgewühlte Gefühle beruhigen sich.
Diese Technik arbeitet ebenfalls mit deiner Wahrnehmung und deinem Körper – genauer gesagt mit deinen Sinnen. Wenn du spürst, dass die Stress- oder Genervtheitswelle über dir zu brechen droht, benenne etwas in deinem Umfeld, das du sehen kannst. Dann benennst du etwas, das du hörst, danach etwas, das du spürst und vielleicht noch etwas, das du riechst. Wiederhole diese Schritte, bis du ruhiger geworden bist. In der Regel brauchen wir nicht mehr als drei bis vier Runden, um uns deutlich entspannter zu fühlen. Du musst nicht laut benennen, was du wahrnimmst, es reicht, wenn du das in deinen Gedanken tust. Du kommst so wieder im Hier und Jetzt an und unterbrichst die Stressreaktion deines Körpers.
Wie bereits beschrieben, macht sich unser Körper bei einer Stressreaktion kampf- oder fluchtbereit. Dazu werden bestimmte Stoffe ausgeschüttet – zum Beispiel Adrenalin und Cortisol. Wenn unsere steinzeitlichen Vorfahren dann flüchten oder kämpfen mussten, wurden diese Stoffe durch die körperliche Aktivität abgebaut und damit auch ihre Wirkung auf unser Entscheidungs- und Handlungsvermögen. Heutzutage reagiert unser Körper immer noch genauso, doch werden die Botenstoffe oft unzureichend abgebaut. Denn selten müssen wir einen Angreifer abwehren oder vor einem Raubtier davonlaufen – zum Glück. Für den Fall, dass wir einem schnell herannahenden Auto oder einem herabstürzenden Ast ausweichen müssen, ist das System dennoch ziemlich hilfreich. Um das überschüssige Cortisol abzubauen, das bei dauerhafter Erhöhung gravierende körperliche und psychische Erkrankungen auslösen kann, hilft Bewegung. Mach 20 Hampelmänner, wenn du total genervt bist, oder tanze zu deinem Lieblingslied. Das hilft nicht nur, den Stress abzubauen und deinen Körper wieder zu aktivieren. Es wird dein Kind auch sicherlich erstmal verblüffen und dann begeistern.
Das ausgereifte Gehirn erwachsener Menschen besitzt vielfältige und faszinierende Fähigkeiten. So sind wir zum Beispiel dazu in der Lage, allein durch die bewusste Veränderung unseres inneren Blickwinkels unser Erleben und unsere Realität zu verändern. Vereinfacht gesagt kennst du das vielleicht aus der Redewendung „Alles hat immer zwei Seiten“. Mindestens. Diese Fähigkeit, Situationen und Zusammenhänge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, können und sollten wir als Eltern bewusst nutzen. Sie hilft uns, uns in unser Kind hineinzuversetzen und das Verhalten aus seiner Perspektive heraus zu verstehen. Außerdem nutzen wir unsere mentale Kraft. Unsere Gedanken haben Einfluss darauf, wie wir uns fühlen und dadurch auch auf unser Handeln. Als erwachsene Menschen können wir unsere Gedanken nicht nur bewusst wahrnehmen. Wir können sie auch überprüfen und verändern. Damit verändern wir auch unsere Gefühle und Handlungsmöglichkeiten. Unsere Denkprozesse und unsere Vorstellungskraft können wir darüber hinaus auch bewusst nutzen, um uns zu stärken, eine neue Perspektive einzunehmen, Verbindung herzustellen oder uns abzugrenzen. Ich zeige dir an dieser Stelle, wie du all das gezielt für deinen Familienalltag nutzen kannst.
Unstimmigkeiten, Konflikte und Diskussionen können wir im Familienalltag nicht vermeiden. Überall, wo Menschen sich nah sind, gibt es Reibung und unterschiedliche Bedürfnisse. Diese immer in Einklang zu bringen, ist nicht in jeder Situation möglich – und das muss auch nicht sein. Wenn die Gesamtbilanz der Bedürfniserfüllung aller Familienmitglieder stimmt und jeder gesehen ist, dann ist das mehr als genug. Viele Menschen haben in ihrem Heranwachsen über die Erfahrungen, die sie gemacht haben, gelernt, dass Konflikte etwas Negatives sind. Sie haben tief verinnerlicht, dass Konflikte nicht sein dürfen, dass sie dafür abgelehnt, bestraft oder alleingelassen werden. Mach dir bewusst, dass das zwar das ist, was du über Konflikte gelernt hast, dass das jedoch nicht der Wahrheit entspricht. Wenn Konflikte wertschätzend und respektvoll geführt werden, dann sind sie wie das Eingangstor zu einer tieferen Ebene unserer Beziehungen. In respektvollen Konflikten setzen wir uns miteinander konstruktiv auseinander, weil wir den anderen, seine Beweggründe, seine Gefühle und sein Verhalten verstehen möchten. Selbstverständlich ist uns auch daran gelegen, selbst besser verstanden zu werden. Wenn wir darüber miteinander in Kontakt kommen, lernen wir einander stärker kennen und wachsen gemeinsam durch Konflikte. Sie sind dann etwas Gutes, durch das wir uns in unseren Beziehungen weiterentwickeln. Insbesondere mit Kindern dürfen wir lernen, Konflikte zu umarmen und als Chancen zu sehen.
Unser Gehirn ist unter anderem dafür da, Situationen und menschliches Verhalten blitzschnell einzuschätzen, zu bewerten und darauf zu reagieren. Im Umgang mit unseren Kindern sorgt das oft für Probleme. Wir sind sehr schnell in unserem Urteil und unseren Gefühlen verstrickt, ohne dass es uns zuvor gelungen ist, das Verhalten unseres Kindes einzuordnen und zu verstehen. Es geht also immer wieder darum, bewusst zu bemerken, dass wir vorschnell urteilen und zurück in eine neutrale Haltung zu kommen. Diese öffnet uns für unser Kind und konstruktive Reaktionen auf sein Verhalten.
Einigen Eltern reicht dieses Wissen, um sich selbst immer wieder beim vorschnellen Bewerten zu erwischen. Sie unterbrechen es mit einem gedanklichen „Stopp!“ und gehen innerlich noch drei Schritte zurück und beobachten. Du kannst diesen Prozess unterstützen, indem du das Verhalten deines Kindes wie ein neugieriger Wissenschaftler betrachtest. Wissenschaftler sind neutral und offen für alle Ergebnisse. Stell dir vor, wie du innerlich deine neutrale Forscherbrille aufsetzt und das Verhalten deines Kindes betrachtest. Anstatt zu bewerten und zu urteilen, denkst du „Aha, interessant … wofür könnte das jetzt stehen? Was mag in meinem Kind vor sich gehen?“ Während Urteile und Bewertungen unseren Blick verengen, öffnet die neutrale Forscherbrille unsere Wahrnehmung und Haltung und erweitert damit auch unsere Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten.
Auch bei dieser Technik nutzen wir wieder die Fähigkeiten deines ausgereiften Gehirns. Dein Kind erscheint dir vielleicht gerade angespannter als sonst. Es ist ungeduldiger, schläft schlechter oder reagiert beispielsweise schneller wütend oder traurig als sonst. Du kannst diese Technik bei allen Herausforderungen nutzen, die in eurem Alltag phasenweise und über längere Zeiträume hinweg auftreten. Sie hilft aber auch im Tagesverlauf, um rückwirkend das Verhalten deines Kindes verstehen und einordnen zu können. Ich zeige dir anhand von einem Beispiel aus meinem Beratungsalltag, wie die Technik funktioniert:
Ben ist sieben Jahre alt. Er war den ganzen Nachmittag mit einem Freund und dessen Vater auf dem Spielplatz. Als er abends nach Hause kommt, ist er zunächst sehr fröhlich. Alle erzählen, was sie erlebt haben. Scheinbar plötzlich kippt die Stimmung. Ben geht an seinem sechsjährigen Bruder Anton vorbei, rempelt ihn dabei an und kneift ihn in den Rücken. Anton schreit und haut zurück. Die Brüder liegen sich in den Haaren und die Eltern verstehen die Welt nicht mehr. Alle hatten doch einen tollen Nachmittag, woher kommt nun der Ärger?
In meinem Gespräch mit Bens und Antons Mutter lassen wir die Situation und den Nachmittag gemeinsam langsam rückwärts ablaufen. Wer war wo, was ist wann passiert. Wir zoomen dazu ein wenig aus dem Moment heraus, in dem Ben Anton angerempelt hat und reisen langsam über den Zeitstrahl des Nachmittags. So bekommen wir einen Überblick. Der Mutter der Jungen fällt beim Erzählen ein, dass Anton spontan einen Jungen aus der Nachbarschaft mit zu sich nach Hause genommen hat. Das Kind spielt sonst öfter mit seinem Bruder Ben. Als Ben nach Hause kam, erzählte Anton unter anderem auch davon. Wir haben den Auslöser für Bens Verhalten gefunden. Zwar hatte er eine schöne Zeit. Zu erfahren, dass sein Freund mit dem Bruder gespielt hatte, gab ihm aber offensichtlich einen schmerzhaften Stich und verunsicherte ihn. Aufgrund seiner Entwicklung hat er keine andere Möglichkeit, als so zu reagieren. Er lernt jedoch Schritt für Schritt im Laufe der Zeit andere Strategien, wenn seine Eltern erkennen, was eigentlich los ist und dies für ihn benennen und dadurch verständlich machen.
Anstatt Ben zu bestrafen, können seine Eltern nun sagen: „Du hast dich gerade geärgert und warst traurig, als Anton erzählt hat, dass er mit Henrik gespielt hat, oder? Du warst dir unsicher, ob du deinem Freund noch genauso wichtig bist wie Anton. Deswegen hast du ihn gehauen, stimmt’s?“ Wenn Ben zu diesem Zeitpunkt bereit für ein solches spiegelndes Gespräch ist, wird er vermutlich zustimmen oder eine andere Erklärung nennen. In unserem Fall hat er genickt und ist dann in Tränen ausgebrochen. Seine Eltern haben benannt und für ihn sichtbar gemacht, was er nur schmerzlich empfinden konnte.
Seine Eltern konnten ihn dann trösten, was ihn aufgefangen und beruhigt hat. Schimpfen und Bestrafungen verschlimmern in solchen Momenten die Ängste und Sorgen der Kinder und verstärken ein solches Verhalten eher noch.
SPULE LÄNGERE ZEITRÄUME ZURÜCK
Genauso kannst du auch Wochen eures Alltags zurückspulen und aus Gesamtzusammenhängen herauszoomen. Viele Vorschulkinder werden beispielsweise in den Wochen vor ihrer Einschulung angespannter. Etwa durch den Schulranzenkauf und Fragen Verwandter wird ihnen die nahende Veränderung immer wieder präsent und Gefühle entstehen. Diese wiederum sorgen für ein bestimmtes Verhalten. Die Tage sind in Familien oft turbulent, vieles läuft schnell und wenig bewusst ab, sodass wir auf die Schnelle nicht verstehen, warum es zu gewissen Konflikten und Verhaltensweisen kommt. Uns kognitiv von Situationen und Verhalten zu entfernen, sie langsamer und aus der Vogelperspektive zu betrachten, bringt uns Erkenntnisse, die wir im „Getümmel am Boden“ nicht erlangen können.
Gedankliche Fragen, die dir bei der inneren Spurensuche helfen:
• Was ist in letzter Zeit anders?
• Seit wann ist es so?
• Was hat sich im Außen verändert?
• Ist etwas vorgefallen?
• Wann ist es besonders anstrengend?
• Wann ist es entspannter?
• Wann fällt es dir leichter, mit dem stressenden Verhalten umzugehen?
Du wirst nicht nur Antworten finden, die dir Klarheit bringen und dir helfen, das Verhalten deines Kindes einzuordnen. Du wirst darüber hinaus auch erste Hinweise darauf entdecken, was dir hilft etwas zu verändern. Oft können wir die Veränderungen der Gefühlslagen unserer Kinder und ihres Verhaltens an kleineren und größeren Begebenheiten oder Anspannungen festmachen. Wenn du so achtsam die letzten Tage und Wochen Revue passieren lässt, stößt du nicht nur auf wichtige Hinweise. Du wirst vermutlich spüren, dass auch schon eine große Portion deines inneren Drucks und der Anspannung schwindet. Das liegt daran, dass du dich nicht länger einfach nur hilflos fühlst, sondern durch die Spurensuche konkret ins Handeln kommst. Außerdem wird so das Verhalten deines Kindes für dich nach und nach erklärbarer. Du beginnst, Verständnis zu entwickeln und mitzufühlen.
Benutze den Kompass und den Bedürfnisbaum aus dem Kapitel „Drei Bilder, die dein Familienleben verändern“, um wie ein freundlicher und wohlwollender Detektiv die Bedürfnisse zu ermitteln, die hinter dem Verhalten deines Kindes stecken. Du siehst Wut, folgst der Richtung, die diese Emotionen anzeigen und landest bei der Wurzel Autonomie. Vielleicht wollte dein Kind etwas selbst bestimmen und du hast „Nein“ gesagt. Dein Kind sagt nicht die Wahrheit, du spürst Unsicherheit und Angst und landest bei der Wurzel Sicherheit. Dein Kind wollte sich vor Ärger, Scham und dem Abbruch eurer Verbindung schützen. Du nimmst Trauer wahr? Spüre auf, wo in eurem Alltag dein Kind die Verbindung zu jemandem oder zu etwas verloren hat. Mit etwas Übung wirst du Verhalten, Gefühle und Bedürfnisse souverän miteinander kombinieren und den Ursachen auf die Spur kommen, die dein Kind bewegen.
Die vorherigen Punkte waren für den Umgang mit deinen eigenen Gefühlen hilfreich und haben dir außerdem Werkzeuge für deine innere Arbeit vorgestellt. Nun kümmern wir uns um die Strategien, die dir im Alltag immer wieder helfen, aktiv mit deinem Kind in Kontakt zu kommen, Verbindung herzustellen und es zu begleiten.