Vertraue niemals einem Fremden! - Cathy Williams - E-Book

Vertraue niemals einem Fremden! E-Book

Cathy Williams

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Beschreibung

Attraktiv und verboten charmant! Nie hätte Brianna gedacht, dass sich ein Mann wie Leo Spencer je in den hintersten Winkel Irlands verirren würde. Und dann als Gast in ihrem Bed & Breakfast bleibt! Doch es kommt noch besser. Der geheimnisvolle Fremde scheint von ihr genauso fasziniert zu sein … wie seine Küsse ihr beweisen. Und selbst wenn es für ihn eine flüchtige Affäre bleiben soll, spürt Brianna, sie beide verbindet noch viel mehr als das … bis Leo seine wahre Identität enthüllt und plötzlich nichts mehr von ihr wissen will! Hat sich ihr Herz wirklich so in ihm getäuscht?

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Seitenzahl: 198

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IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2014 by Cathy Williams Originaltitel: „Secrets of a Ruthless Tycoon“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 2181 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Tina Beckmann

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733701697

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY, CORA CLASSICS

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1. KAPITEL

Mit Einsetzen der Dämmerung fragte Leo Spencer sich, ob diese Reise wirklich eine gute Entscheidung gewesen war. Die Straßen waren nach den neuen Schneefällen kaum passierbar, und ein Unfall war das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte. Der Flug nach Dublin war noch unkompliziert verlaufen, aber von da an hatte sich sein Trip in einen der hintersten Winkel Irlands zu einem Albtraum aus Staus und endlosen Umleitungen entwickelt.

Leo blickte von seinem Laptop auf, starrte aus dem Wagenfenster und ließ die trostlose Umgebung an sich vorbeiziehen. Er hatte lange gezögert, diesen Ort aufzusuchen, doch nun gab es keine Gründe mehr, sein Vorhaben noch länger zu verschieben. Vor einem dreiviertel Jahr waren kurz hintereinander seine Adoptiveltern gestorben. Solange sie noch lebten, wäre es Leo wie eine Respektlosigkeit erschienen, sich auf die Suche nach seinen biologischen Erzeugern zu machen. Aber jetzt war die Zeit gekommen.

Er schloss die Augen, und sein Leben zog an ihm vorbei wie zusammengeschnittene Filmsequenzen: Adoption direkt nach der Geburt durch ein wohlhabendes Ehepaar mittleren Alters. Sorglose, behütete Kindheit. Privatschule und Ferien im Ausland. Danach eine brillante akademische Karriere, gefolgt von einer mehrjährigen Tätigkeit bei einer Investmentbank, die als Sprungbrett für einen kometenhaften Aufstieg in der Finanzwelt diente.

Jetzt, im reifen Alter von zweiunddreißig, besaß Leo mehr Geld, als er je ausgeben konnte. Keine seiner geschäftlichen Unternehmungen war bisher fehlgeschlagen, darüber hinaus hatte er von seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen geerbt. Er konnte sich jeden erdenklichen Luxus leisten und genoss ein abwechslungsreiches Liebesleben mit einigen der schönsten und begehrtesten Frauen der Londoner Gesellschaft. Der einzige Makel in seiner ansonsten so perfekten Welt war die Frage seiner wahren Herkunft. Es nagte an ihm, ließ sich nie ganz verdrängen, und Leo wusste, dass er aktiv werden musste, um endlich zur Ruhe zu kommen.

Über seinen leiblichen Vater hatte er nichts herausfinden können, aber die Adresse seiner Mutter war ihm schon seit mehreren Jahren bekannt. Jetzt hatte er sich für eine Woche von seinem weitverzweigten Unternehmen losgeeist, um sie zu treffen und sich mit eigenen Augen ein Bild von ihr zu machen. Danach würde er nach London zurückkehren und sein gewohntes Leben wieder aufnehmen – für immer befreit von der Ungewissheit, die ihn so lange gequält hatte. Zwar hatte er bereits eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was ihn erwartete, aber er brauchte eine endgültige Bestätigung seiner Vermutungen. Dabei suchte er weder nach Erklärungen noch nach einer rührenden Versöhnung. Alles, was er wollte, war ein sauberer Abschluss.

Natürlich hatte Leo nicht vor, dieser Frau seine volle Identität preiszugeben. Am Ende hätte er noch eine verantwortungslose Schmarotzerin am Hals, die sich urplötzlich auf ihre mütterlichen Gefühle besann. Von einer möglichen Horde gieriger Halbgeschwister ganz zu schweigen. Bei dem Gedanken verzog er verächtlich den Mund.

„Können Sie nicht ein bisschen schneller fahren, Harry?“

Die buschigen Brauen seines Fahrers hoben sich. „Genießen Sie denn nicht die herrliche Landschaft, Sir?“

Leo seufzte. „Sie arbeiten jetzt seit acht Jahren für mich, Harry. Habe ich je den Eindruck erweckt, dass ich für das Ländliche schwärme?“

Seltsamerweise war der alte Chauffeur der einzige Mensch, mit dem Leo von Zeit zu Zeit vertrauliche Gespräche führte. Er hätte Harry sein Leben anvertraut und teilte Gedanken mit ihm, die er nie vor jemand anderem ausgesprochen hätte.

„Es gibt immer ein erstes Mal“, meinte Harry gelassen. „Und nein, Sir, ich kann auf keinen Fall schneller fahren. Die Straßen hier sind unberechenbar, und außerdem wurde ein weiterer Schneesturm angesagt.“

„Der soll sich gefälligst Zeit lassen, bis ich hier alles erledigt habe.“

„Ich fürchte, das Wetter lässt sich keine Befehle erteilen, Sir. Nicht einmal von einem so wichtigen Mann wie Ihnen.“

Leo grinste. „Sie reden zu viel, Harry.“

„Das sagt meine bessere Hälfte auch immer. Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht mehr brauchen, wenn wir in Ballybay angekommen sind?“

„Ganz sicher. Sie übergeben den Wagen wie besprochen einem Taxifahrer, der ihn nach London zurückfährt. Dann holt der Firmenjet Sie ab und fliegt Sie nach Hause. Susan hat schon alles arrangiert und schickt Ihnen eine SMS mit den Details. Wenn ich hier fertig bin, komme ich auf demselben Weg nach. Ich habe nicht die Absicht, diese Höllentour mit dem Auto in absehbarer Zeit zu wiederholen.“

Leo wandte sich wieder seinem Laptop zu und versuchte ohne viel Erfolg, sich auf die E-Mails zu konzentrieren, die seine Sekretärin Susan an ihn weitergeleitet hatte. Wahrscheinlich war Februar der schlimmste Monat, den er sich für seine Vergangenheitsbewältigung hatte aussuchen können, aber nun gab es kein Zurück mehr.

Zwei Stunden später erreichten sie Ballybay, das aus nicht viel mehr als einer Handvoll Häusern und einigen Geschäften inmitten von weiß verschneitem Niemandsland zu bestehen schien.

„Ist das alles?“, erkundigte Leo sich ausdruckslos.

Harry nickte. „Hatten Sie die Oxford Street erwartet, Sir?“

„Etwas mehr Leben auf jeden Fall. Gibt es hier überhaupt ein Hotel?“ Leo kam zu dem Schluss, dass er für sein Vorhaben statt der geplanten Woche höchstens zwei bis drei Tage benötigen würde.

„Da hinten ist ein Pub, Sir.“

Leo blickte in die Richtung, in die Harry deutete, und entdeckte einen Gasthof, dessen altmodisches Leuchtschild verkündete, dass noch Zimmer frei seien. Unwillkürlich fragte er sich, ob sich wohl je ein Tourist in diese Einöde verirrte.

„Sie können mich hier herauslassen und dann gleich weiterfahren, Harry.“ Er klappte seinen Laptop zu und verstaute ihn in seiner Reisetasche, die sein einziges Gepäckstück war.

Angesichts des eisigen Windes, der ihm beim Aussteigen entgegenschlug, wirkte der alte Pub regelrecht anheimelnd auf Leo. Er winkte Harry kurz zum Abschied zu, schulterte seine Reisetasche und stapfte zielstrebig durch den Schnee dem Eingang entgegen.

Brianna Sullivan spürte, dass sich Kopfschmerzen anbahnten. Selbst mitten im Winter war es hier wie an jedem Freitagabend brechend voll, und obwohl sie ihren Gästen für ihre Treue dankbar war, sehnte sie sich nach Ruhe und Frieden.

Sie hatte den Pub vor fast sechs Jahren von ihrem Vater geerbt und seitdem praktisch keine Zeit mehr für sich gehabt. Wie auch? Es gab nur sie, und der Pub war ihre Existenzgrundlage. Für persönliche Wünsche bestand da kein Raum.

„Sag Pat, dass er sich wie alle anderen seine Getränke selbst an der Bar abholen soll“, raunte sie Shannon zu, die sich gerade mit einem voll beladenen Tablett an ihr vorbeiquetschte. „Er soll sich bloß nicht einbilden, dass du ihn und seine Kumpane bis in alle Ewigkeit bedienst, nur weil er sich vor sechs Monaten das Bein gebrochen hat.“

Am anderen Ende der Bar stimmten Aiden und zwei seiner Freunde ein schwülstiges Liebeslied an, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

„Ich schmeiß euch gleich wegen Randaliererei raus!“, warnte sie die drei, als sie ihnen eine neue Ladung Bier über den Tresen zuschob.

Aidan warf ihr eine Kusshand zu. „Du liebst mich, Baby, und du weißt es!“

Brianna verdrehte die Augen und teilte ihm mit, dass dies sein letztes Glas gewesen sei, falls er nicht auf der Stelle seine offene Rechnung beglich.

Sie brauchte dringend Verstärkung hinter der Bar, aber was sollte sie mit dem zusätzlichen Personal während der Woche machen, wenn hier nicht so viel los war? Und wie sollte sie die Kosten dafür aufbringen? Andererseits musste sie neben dem allabendlichen Tresendienst auch noch die Buchhaltung machen, Bestellungen aufgeben, das Lager in Ordnung halten und tausend andere Dinge erledigen, während die Jahre nur so dahinrasten. Sie war jetzt siebenundzwanzig. Ehe sie sich versah, war sie dreißig, vierzig, fünfzig. Würde sie dann immer noch hier stehen und verzweifelt versuchen, mal auszuspannen? Sie war noch jung, aber es war schon lange her, dass sie sich auch so gefühlt hatte.

Aidan machte mit seinen Kaspereien weiter, doch Brianna blendete ihn aus ihrer Wahrnehmung aus. Sie hatte nicht studiert, um für den Rest ihrer Tage als Kneipenwirtin zu schuften. Sie liebte ihre Freunde, die eng verbundene Gemeinschaft, in der sie lebte. Aber hatte sie nicht auch das Recht auf ein bisschen Spaß? Nur sechs Monate nach ihrem Abschluss an der Uni war sie wieder hierher zurückgekehrt, um sich um ihren Vater zu kümmern, der ganz unerwartet an einem schweren Lungenemphysem erkrankt war.

Nicht ein Tag verging, an dem er Brianna nicht fehlte. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte es zwölf Jahre lang nur sie beide gegeben. Was würde er dazu sagen, dass sie immer noch hier war? Er hatte stets gewollt, dass sie in die Welt hinausging und sich als Künstlerin einen Namen machte. Da war es schon bitter, dass ausgerechnet er es dann war, der das verhinderte.

Plötzlich fiel Brianna auf, dass es im Lokal seltsam still geworden war. Sie hob den Kopf und sah im Türrahmen den umwerfendsten Mann stehen, der ihr je untergekommen war: groß, leicht verwegen, mit windzerzaustem dunklem Haar und einem geradezu unverschämt schönen Gesicht. Es schien ihn nicht im Mindesten zu verunsichern, dass sämtliche Anwesenden ihn offen anstarrten. Langsam schweifte der Blick seiner schwarzen Augen durch den Raum und blieb endlich an Brianna hängen.

Sekundenlang stand sie da wie gebannt und spürte, dass ihre Wangen unter der beiläufigen Musterung heiß wurden. Dann kehrte sie hastig zu dem zurück, was sie gerade getan hatte, und alle anderen folgten ihrem Beispiel. Der Geräuschpegel stieg wieder, die Witzeleien begannen erneut. Der alte Connor fing an, eine italienische Opernarie zu schmettern, bis er von der Menge niedergelacht wurde.

Brianna tat ihr Bestes, den Fremden zu ignorieren, war sich jedoch seiner Anwesenheit überdeutlich bewusst. Als sie das nächste Mal den Kopf hob, stand er direkt vor ihr.

„Auf dem Schild draußen steht, dass Sie noch freie Zimmer haben. Ist das richtig?“

Leo musste regelrecht schreien, um sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. Offenbar hatte sich hier die gesamte Einwohnerschaft von Ballybay versammelt. Hinter der Bar arbeiteten zwei junge Frauen auf Hochtouren, um den Bestellungen nachzukommen. Eine kleine, vollbusige Brünette und die, mit der er gerade sprach. Sie war groß, sehr schlank und hatte kupferrotes, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar. Außerdem besaß sie die grünsten Augen, die Leo je gesehen hatte.

„Warum fragen Sie?“, wollte Brianna wissen.

„Was glauben Sie wohl? Weil ich ein Zimmer brauche und den Eindruck habe, dass man hier nirgendwo sonst eins bekommen kann.“

Seine tiefe Stimme löste ein unerwünschtes Flattern in Briannas Magen aus. „Ist es denn hier nicht gut genug für Sie?“, erkundigte sie sich spitz und hob das Kinn.

„Ich würde gern mit dem Besitzer sprechen.“

„Der steht vor Ihnen.“

Leo musterte sie erneut, diesmal etwas gründlicher. Ihr Teint war zart, blass und so makellos wie Porzellan. Keine Sommersprossen, trotz der roten Haare. Die Kleidung war unspektakulär: verwaschene Jeans und ein schlichter langärmeliger Pullover, was ihre natürliche Schönheit noch unterstrich.

„Ich verstehe“, sagte er langsam. „Also, wie gesagt, ich brauche ein Zimmer.“

„Ich bringe Sie nach oben, sobald ich eine freie Minute habe. Möchten Sie in der Zwischenzeit etwas trinken?“

Was in aller Welt tat dieser Mann hier? Er kam nicht aus der Gegend und schien auch niemanden der Gäste zu kennen.

„Was ich jetzt brauche, sind eine heiße Dusche und ein paar Stunden Schlaf.“

„Beides wird noch warten müssen, Mr …?“

„Ich heiße Leo, und wenn Sie mir den Schlüssel geben und den Weg erklären, gehe ich allein nach oben. Ach übrigens, wo bekommt man hier etwas Anständiges zu essen?“

„Dazu werden Sie zu Monaghan’s gehen müssen“, informierte Brianna ihn kühl. „Ich könnte Ihnen ein Sandwich machen, aber …“

„… darauf werde ich ebenfalls warten müssen, bis Sie die Zeit dazu finden.“ Er winkte mit einer ungeduldigen Geste ab. „Vergessen Sie das Essen. Wenn Sie eine Kaution brauchen, sagen Sie mir, wie viel, und dann geben Sie mir den Schlüssel.“

Was für ein arroganter Typ! Brianna spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, als ungebetene Erinnerungen an einen anderen attraktiven, weltgewandten Mann in ihr aufstiegen. Sie bedachte den Fremden mit einem verärgerten Blick und rief dann Aidan zu: „Halt hier für einen Moment die Stellung, ich bin in fünf Minuten zurück. Aber keine Freigetränke! Wenn ich feststelle, dass du dich an dem Bier bedient hast, gibt’s eine Woche Hausverbot.“

Aidans Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. „Ich liebe dich auch, Brianna!“

„Für wie lange brauchen Sie das Zimmer?“, erkundigte sich Brianna, als sie dicht gefolgt von Leo die enge Treppe zum Gästetrakt hinaufstieg. Seine physische Nähe bewirkte, dass ihre Körpertemperatur dramatisch anstieg. Wieder stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Verflixt! Lebte sie schon so lange allein, dass der bloße Anblick eines gut aussehenden Mannes genügte, um ihr den Schweiß ausbrechen zu lassen?

„Einige Tage.“ Sie bewegte sich so anmutig wie eine Tänzerin. Leo war versucht, sie zu fragen, warum ein Mädchen wie sie mitten im Nirgendwo einen Pub betrieb. Sicher nicht wegen der Ruhe. Sie sah erschöpft und abgehetzt aus, was er gut verstehen konnte, wenn hier jeden Abend so viel los war.

„Und darf ich fragen, was Sie an diesen schönen Fleck von Irland geführt hat?“ Sie öffnete die Tür zu einem der vier Gästezimmer und forderte ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten auf.

Leo nahm sich die Zeit, in aller Ruhe seine Umgebung zu inspizieren. Schließlich zog er seinen Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Das Zimmer war klein, aber sauber. Er musste aufpassen, sich nicht an den Deckenbalken den Kopf zu stoßen, doch es würde gehen.

„Sie dürfen fragen“, erwiderte er und beließ es dabei. Was hätte er auch sonst sagen sollen? Ihr mitzuteilen, dass er ein Millionär auf der Suche nach einem verschollenen Elternteil war, kam wohl kaum infrage. Ein Hinweis in diese Richtung, und es wäre am nächsten Tag in ganz Ballybay herum. Das Aufspüren seiner Mutter musste in aller Diskretion vonstatten gehen, da würde er sich nicht von einer neugierigen Pubbesitzerin ausfragen lassen. So hübsch sie auch sein mochte.

Als er sich vom Fenster abwandte und zu Brianna umdrehte, wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Er schien den ganzen Raum mit seiner Präsenz zu dominieren, und nachdem er sich seines Mantels entledigt hatte, war sie nun auch noch dem Anblick seines fantastisch gebauten Körpers ausgesetzt. Er trug einen schwarzen Pulli zu einer ebenfalls schwarzen Jeans und besaß genau die Art von olivfarbener Haut, die einen Schuss exotisches Blut verriet.

„Aber Sie werden es mir nicht erzählen. Das ist okay.“ Brianna zuckte mit den Schultern. „Frühstück gibt es zwischen sieben und acht. Ich bin hier allein und habe nicht viel Zeit, um Logiergäste zu bedienen.“

„Was für ein herzliches Willkommen.“

Brianna wurde rot und besann sich etwas verspätet darauf, dass er ein zahlender Gast war und nicht einer von den Typen unten, mit denen sie reden konnte, wie ihr der Schnabel gewachsen war. „Es tut mir leid, wenn ich unhöflich war, Mr …“

„Leo.“

„… aber ich weiß im Moment kaum, wo mir der Kopf steht.“ Sie deutete auf eine weiß gebeizte Tür. „Da ist das Bad, und auf dem Tisch dort finden Sie alles, um sich einen Tee oder Kaffee zu machen.“

Sie wandte sich zum Gehen, obwohl es ihr schwerfiel, sich von seinem Anblick loszureißen. Vieles an ihm erinnerte sie an Daniel Fluke, allerdings handelte es sich bei diesem Leo um eine entschieden bedrohlichere Version. Er war größer, maskuliner und setzte nicht auf diesen aalglatten Charme – allein das hatte schon eine gefährlichere Wirkung. Und sie wusste immer noch nicht, was ihn in diesen Winkel der Welt verschlagen hatte.

Als sie schon halb zur Tür hinaus war, blieb sie noch einmal stehen und räusperte sich. „Wenn Sie jetzt bitte die Kaution für Ihr Zimmer bezahlen würden …“ Sie beobachtete schweigend, wie er einige Banknoten aus seiner Brieftasche zog, und nahm dann den geforderten Betrag entgegen.

„Was kann man denn hier unternehmen?“ Leo schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und neigte leicht den Kopf zur Seite. „Ich vermute, Sie kennen hier alles und jeden?“

„Sie haben sich eine schlechte Zeit für Ihren Urlaub ausgesucht, Mr … äh … Leo. Man kann hier ganz wunderbare Wanderungen machen, und es gibt auch viele Möglichkeiten zum Angeln, aber ich fürchte, das Wetter lässt weder das eine noch das andere zu.“

„Das sehe ich auch so“, pflichtete Leo ihr bei. „Aber ich will einfach nur ein wenig die Stadt erkunden.“ Wirklich bemerkenswerte Augen. Und dazu diese dichten, dunklen Wimpern! Ein toller Kontrast zu der hellen Haut. „Ich hoffe, ich mache Sie nicht nervös, Miss … Tut mir leid, Sie nannten mir Ihren Namen nicht, aber ich nehme an, er lautet Brianna …?“

Brianna ignorierte seine Frage. „Hier kommen nicht oft Fremde her, ganz besonders nicht im Winter.“

„Und jetzt vermieten Sie ein Zimmer an jemanden, von dem Sie weder wissen, was er macht, noch wer er ist. Verständlich, dass Sie das etwas beunruhigt.“

Leo schenkte ihr ein Lächeln und wartete den Effekt ab. Wartete darauf, dass sie sich entspannte. Sein Lächeln erwiderte. Ihn verstohlen von oben bis unten musterte. Normalerweise hatte er diese Wirkung auf Frauen, aber Brianna tat nichts dergleichen. Sie zog nur leicht die Stirn kraus und erwiderte kühl seinen Blick. Versuchte klar, ihn einzuschätzen.

„Stimmt, es macht mich unruhig.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen.

Leo stellte fest, dass er mit einer solchen Situation nicht gerechnet hatte. Vor allem hatte er nicht erwartet, dass Ballybay so klein sein würde. Natürlich war ihm klar gewesen, dass es nicht reichen würde, einfach bei seiner Mutter vorbeizugehen, um seine Charaktereinschätzung vornehmen zu können. Aber einer Horde von Trunkenbolden in einer überfüllten Dorfkneipe Informationen über sie aus der Nase zu ziehen, schien ihm genauso unmöglich. „Ich …“, hob er an und verstummte gleich darauf wieder.

„Ja?“ Brianna sah ihn weiter abwartend an. Sie war zwar dankbar für das Geld, schließlich standen um diese Jahreszeit Übernachtungsgäste nicht gerade Schlange. Andererseits war sie hier ganz allein. Woher sollte sie wissen, dass er kein wahnsinniger Massenmörder war?

Es war zwar unwahrscheinlich, dass so jemand seine Absichten offen kundtat, nur weil sie danach fragte, aber falls dieser Leo sich als zu suspekt herausstellen sollte, würde sie ihn wieder wegschicken, Geld hin oder her.

„Ich bin nicht unbedingt stolz darauf, aber …“ Leos Blick blieb kurz an dem hervorragend gemalten Aquarell über dem Bett hängen und wanderte dann weiter zu dem Regalbrett voller ordentlich aufgereihter Bücher. „… ich habe vor vierzehn Tagen einen echten Topjob aufgegeben.“

„Und was für ein Job war das?“ Brianna wusste, dass es sich nicht gehörte, ihn so scharf ins Kreuzverhör zu nehmen. Er war ihr in keiner Weise Rechenschaft schuldig, und außerdem hatte Aidan inzwischen sicher schon einige Runden Whisky auf ihre Kosten geschmissen. Trotzdem stand sie immer noch da wie am Boden festgenagelt, unfähig, etwas anderes zu tun, als Leos schönes markantes Gesicht anzusehen und dieser tiefen, faszinierenden Stimme zu lauschen.

„Ich habe in London für eine dieser großen, seelenlosen Firmen gearbeitet“, antwortete er vage. Genau genommen stimmte das sogar, auch wenn sein Unternehmen weniger seelenlos war als die meisten. „Aber dann habe ich beschlossen, mein Glück mit etwas anderem zu versuchen. Ich wollte immer schreiben, also habe ich mir eine kleine Auszeit genommen, um ein wenig in Übung zu kommen und zu sehen, wohin mich das führt.“

Er ging wieder ans Fenster und blickte in das dunkle Nichts hinaus. „Ich dachte, Irland könnte ein guter Ort sein, um einen Anfang zu machen. Es ist bekannt für seine inspirierende Umgebung, und das brachte mich auf den Gedanken, meine Geschichte hier anzusiedeln …“ Über die Schulter hinweg warf er Brianna einen raschen Blick zu. „Das Wetter spielt nicht gerade mit, aber was soll’s?“ Er hob leicht die breiten Schultern. „Hier bin ich nun.“

Ein angehender Schriftsteller? Brianna fand, dass er überhaupt nicht danach aussah, aber warum sollte er so etwas erfinden? Seinen eigenen Worten zufolge war er bis vor Kurzem noch einem Topjob nachgegangen. Vermutlich hatte er als Führungskraft in einem dieser riesigen Glaspaläste gearbeitet, was sein urbanes Auftreten und die Aura unübersehbarer Autorität erklären würde, die von ihm ausging.

Brianna spürte, wie sich ihr Misstrauen ein wenig legte. „Gegen Ende des Abends wird es etwas ruhiger“, sagte sie. „Wenn Sie dann noch nicht schlafen, kann ich Ihnen etwas zu essen machen.“

„Das ist sehr nett von Ihnen“, murmelte Leo und verdrängte den Anflug von schlechtem Gewissen. Warum sollte er auch Schuldgefühle haben? Er hatte nur kreativ auf eine unerwartete Entwicklung reagiert.

Seine nächste Überlegung war, dass es durchaus von Vorteil für ihn sein könnte, sich gut mit Brianna zu stellen. Gastwirte wussten immer alles über jeden. Bestimmt würde er ihr die eine oder andere Hintergrundinformation über seine Mutter entlocken können.

„Okay, dann …“, murmelte Brianna befangen. „Müssen Sie noch etwas wissen über … das Zimmer? Wie der Fernseher funktioniert? Oder das Telefon?“

„Ich denke, das finde ich schon allein heraus“, versicherte Leo trocken. „Sie können ruhig wieder zu Ihrer Rowdytruppe hinuntergehen.“

„Es sind Rowdys, oder?“ Brianna lachte leise und hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihrer Jeans.

Leo registrierte, wie sein Körper mit jäher Erregung auf die Bewegung reagierte. Dabei war diese Frau mit ihrer knabenhaften Figur überhaupt nicht sein Typ. Normalerweise fühlte er sich von kurvigen Schönheiten angezogen, die kein Problem damit hatten, ihre Reize offen zu zeigen.

Entschlossen brachte er seine Libido wieder unter Kontrolle. „Sie sollten ein paar Aushilfen einstellen“, schlug er brüsk vor.

„Vielleicht sollte ich das.“ Brianna spürte sofort, dass sich die Atmosphäre zwischen ihnen verändert hatte, und rief sich ins Bewusstsein, dass allzu anziehende Männer – Schriftsteller oder nicht – Probleme verhießen. Es ging so schnell, dass man auf das glänzende Äußere hereinfiel und all das Hässliche übersah, das sich darunter verbarg.

Sie verabschiedete sich kühl und ging wieder nach unten. Wie erwartet, genehmigte sich Aidan gerade einen kräftigen Schluck Whisky. Als er Brianna entdeckte, stellte er das Glas hastig auf dem Tresen ab.

Shannon schien den Tränen nahe und schleppte entgegen Briannas Anweisungen eine Ladung Drinks zu der Gruppe schwer angesäuselter Männer am Ecktisch. Mit den meisten war Brianna zur Schule gegangen, aber das war kein Grund, ihnen ständig eine Extrawurst zu braten. Der alte Connor versuchte sich erneut als Startenor, aber er bekam kaum noch eine klare Silbe heraus.

Mit anderen Worten, es war genauso wie immer. Erneut packte Brianna die Schwermut. Sie war noch keine achtundzwanzig und fühlte sich wie mindestens zweiundachtzig. Zu allem Überfluss hatte es wieder angefangen zu schneien.

Shannon ging als Letzte, wobei Brianna sie förmlich wegjagen musste. Für ein junges Mädchen von neunzehn hatte sie einen ungewöhnlich stark entwickelten Mutterinstinkt und machte sich ständig Sorgen um ihre Freundin, die ganz allein über dem Pub wohnte.

„Na, wenigstens hast du heute ein echtes Sahnestück von einem Mann im Haus!“ Sie wickelte sich mit einem vielsagenden Augenzwinkern ihren dicken Schal um den Hals und winkte Brianna zum Abschied zu.

„Nach meiner Erfahrung geht das sogenannte starke Geschlecht schon beim ersten Anzeichen von Gefahr in Deckung“, rief Brianna ihr nach. „Und das gilt auch für die Sahnestücke!“