Verwurzelt! - Michael Herbst - E-Book

Verwurzelt! E-Book

Michael Herbst

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Beschreibung

Als Christen sind wir in einen ganz neuen Boden verpflanzt. Plötzlich gehören wir zur Familie Gottes, Gott selbst ist unser Vater und Jesus unser Bruder. Michael Herbst und Patrick Todjeras zeigen uns, wie wir in dieser neuen Heimat immer tiefere Wurzeln schlagen, die unser Leben fest verankern. Und wie wir immer mehr mit dem Sohn Gottes verwachsen, so dass durch das Kreuz in allen Lebensbereichen Neues sichtbar wird. Ein Buch voller Wahrheit und Liebe für das Evangelium.

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Stimmen zum Buch

»In Zeiten zahlloser Umbrüche eine starke und sichere Orientierung im Glauben. Ein beeindruckendes Werk, geistlich fundiert und reich an menschlicher Erfahrung. Ein großer Gewinn für jeden, der im Glauben wachsen will und auf ‚gesunde‘ Nahrung setzt.«

Otto Neubauer | Leiter der „Akademie für Dialog und Evangelisation“ in Wien

»Ohne die Geschichte Jesu bleibt Gott ungreifbar, der Glaube wirkungslos, die Kirche belanglos. Die Autoren öffnen ein herausforderndes Panorama, um in Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen zu können.«

Hans-Hermann Pompe | Generalsekretär der „Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste“ in Berlin

»In den Gemeinden wächst die Sehnsucht nach Tiefgang im Glauben. Dieses Buch gleicht einem faszinierenden Reiseführer, der durch theologische Insider-Tipps dabei hilft, sich bei Christus zu verwurzeln. Absolut lesenswert!«

Markus Weimer | Pfarrer der Ev. Landeskirche in Baden, Leitungsteam „churchconvention“

»Verpflanzt. Verwurzelt. Verwachsen. Durchdrungen. Michael Herbst und Patrick Todjeras eröffnen hier einen tief durchdachten Grundkurs für geistliches Leben. Darin verweben sie die Jesusgeschichte mit unserer eigenen. Praxisnah und theologisch verantwortet zugleich führen sie den Leser durch die zentralen Themen der Nachfolge. Ein Buch, das auch als Gruppe gelesen werden kann und hilft, dass wir werden wie ›Bäume, gepflanzt an Wasserbächen‹ (Psalm 1).«

Roland Werner | Generalsekretär des CVJM-Gesamtverbands und Prior der Christus-Treff-Gemeinschaften

Michael HerbstPatrick Todjeras

Verwurzelt!

Jesus und dem Lebenauf der Spur

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-6071-1 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6032-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2020 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017 © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weiter wurde verwendet:

BasisBibel. Das Neue Testament, © 2010 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

(www.basisbibel.de) (BB)

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen. (ELB)

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Witten/Holzgerlingen. (NLB)

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung, Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft, Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.

Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Bild S. 132: »Christus vor Pilatus«, Öl auf Leinwand, 1881, von Mihaly Munkacsy. Quelle: Privatsammlung,

www.mihalymunkacsy.org/Christ-Before-Pilate-1881.html.

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Autorenfoto Michael Herbst: Kilian Dorner

Autorenfoto Patrick Todjeras: Naemi Todjeras

Titelbild: Vanja Terzic

Satz: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Über die Autoren

Vorwort

Erster TeilVerpflanzt – Der Boden, in dem wir wachsen

Zeit, um Wurzeln zu schlagen

Zeit, um zu entscheiden

Zu Jesu Familie gehören

Eine Heimat im Exil?

Buße – der Weg zurück zu den Wurzeln

Eine gesunde Selbsteinschätzung

Zweiter TeilVerwurzelt – Der Grund von allem ist eine Person

Mit herzlosen Grüßen – Eine sperrige Geschichte vom Erbarmen

Wo Barmherzigkeit beginnt

Jesus behält den Überblick – Tranklötiger Drömmelpott

Jesus ist alles, immer und gleichzeitig

Klug durchs Leben

König und Kreuz

Auf dem Weg zum Kreuz – Im Garten

Auf dem Weg zum Kreuz – Vor Gericht

Dritter TeilVerwachsen – Wie etwas Neues sichtbar wird

Bereit für ein neues Leben?

Neues tun – Dinge nutzen und Menschen lieben

Nur Jesus ist alles möglich

Alles neu – Es geht ums Ganze

Neue Prioritäten – Wollen wir sein, was Jesus will und ist?

Eine neue DNA – Aus dem Sieg leben

Vierter TeilDurchdrungen – Wie wir durch Jesus Gott als guten Vater sehen

Warten, dass Gott mich sieht

Warten, dass ich Gott sehe

Sich dem Vater hingeben wie Jesus

Christus allein. Allein Christus.

Glaube allein. Allein Glaube.

SchlusswortNoch einmal: Verwurzelt in Jesus

Verfasserangaben

Anmerkungen

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Über die Autoren

Michael Herbst (Jg. 1955) ist seit 1996 Professor für Praktische Theologie in Greifswald und seit 2004 Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Er predigt bei GreifBar und ist ein gefragter Redner.

Patrick Todjeras (Jg. 1983) war bis 2014 als ev. Pfarrer in Oberösterreich tätig. Seither beschäftigt er sich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Greifswald mit Fragen einer erneuerten und innovativen Kirche.

Leben wie ein Baum am frischen Wasser

Als Christen sind wir in einen ganz neuen Boden verpflanzt. Plötzlich gehören wir zur Familie Gottes, Gott selbst ist unser Vater und Jesus unser Bruder. Michael Herbst und Patrick Todjeras zeigen uns, wie wir in dieser neuen Heimat immer tiefere Wurzeln schlagen, die unser Leben fest verankern. Und wie wir immer mehr mit dem Sohn Gottes verwachsen, sodass durch das Kreuz in allen Lebensbereichen Neues sichtbar wird. Ein Buch voller Wahrheit und Liebe für das Evangelium.

»Ohne die Geschichte Jesu bleibt Gott ungreifbar, der Glaube wirkungslos, die Kirche belanglos. Die Autoren öffnen ein herausforderndes Panorama, um in Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen zu können.«

Hans-Hermann Pompe, Generalsekretär »Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste« Berlin

»Dieses Buch gleicht einem faszinierenden Reiseführer, der durch theologische Insider-Tipps dabei hilft, sich in Christus zu verwurzeln. Absolut lesenswert!«

Markus Weimer, Pfarrer der Ev. Landeskirche in Baden, Leitungsteam »churchconvention«

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Vorwort

Ich, Michael, liebe den Wald. Patrick hat es eher mit den Bergen. Okay, jedem das Seine! Mir ist nicht so wohl (sehr vorsichtig formuliert), wenn es hoch hinaus- und – mehr noch – tief hinabgeht. Das ist in Wäldern eher selten der Fall, deshalb liebe ich sie. Laufen, Wandern, auf einer Bank sitzen und die Bäume anschauen. Im Frühjahr die Buschwindröschen bewundern und das frische Grün der Buchen. Im Sommer das Licht der Sonne bestaunen, das durch das Blätterdach fällt. Im Herbst die bunten, leuchtenden Blätter genießen. Im Winter auf knirschendem Schnee durch den Wald streifen.

Wälder tun der Seele gut, das ist erwiesen. Waldbaden ist in. Es baut Stress ab, stärkt das Immunsystem und hilft, Abstand von den Alltagssorgen zu bekommen. In unserer schönen vorpommerschen Boddenlandschaft gibt es auf der Insel Usedom den ersten »Kur- und Heilwald« Deutschlands. Inzwischen kann man sogar Kurse belegen und sich zum »Kursleiter« oder zur »Kursleiterin für Waldbaden« ausbilden lassen.1

So weit will ich es nicht treiben, aber in den Wald zieht es mich immer wieder und sooft wie möglich. Manchmal denke ich dabei über die Bäume nach, die ich in unserem Universitätsforst sehe. Ganz in unserer Nähe befindet sich an einer Kreuzung im Wald eine alte Linde. Man erzählt sich, dass der Forstmeister Plagens sie vor bald 90 Jahren pflanzte, eine Bank dazustellte und sich vornahm, hier seinen Ruhestand zu genießen.2 Was dieser Baum schon alles gesehen hat!

Die Linde steht da: fest, gesund, mit einem mächtigen Laubdach, alt, aber stabil. Ihre Wurzeln reichen hinab ins Erdreich, halten den Baum aufrecht, lassen ihn Wind und Wetter, Sturm und Schnee, Hitze und Frost überstehen. Am Wurzelstock (das ist der Übergang vom Stamm zu den Wurzeln) hängt das Wurzelsystem, das bei der Linde »Herzwurzelsystem« heißt. Über die Wurzel versorgt sich der Baum mit Nährstoffen, die aufgenommen, gespeichert und weitergereicht werden – bis in die Blätter hinein. Die Grobwurzeln sind dabei für das Gerüst zuständig und halten den Baum, die Feinwurzeln versorgen ihn.3

Bäume können sogar über ihre Wurzeln kommunizieren! Sie empfangen Informationen und geben sie weiter, am Baum selbst zwischen Blättern und Wurzeln (zum Beispiel, um in trockenen Zeiten die Verdunstung zu mindern), aber auch von Baum zu Baum. Schon Charles Darwin vertrat die Idee eines »root brain«, eines Wurzelgehirns. Die kanadische Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard (Universität British Columbia) spricht sogar von einem »Wood Wide Web«. Sie konnte nachweisen, dass Bäume »Nährstoffe und Informationen quer durch den Wald austauschen. Fehlen einem Baum Nährstoffe, versorgen ihn die anderen Bäume«.4 Diese Tatsache hat uns auch auf der Suche nach einem treffenden Titel für unser Buch inspiriert.

Wir sind jedoch nicht die Ersten, die sich vom Bild des Baumes und der Wurzel dazu anregen lassen, über den christlichen Glauben nachzudenken. In Psalm 1, der so etwas wie das Zugangstor zur Welt der Psalmen darstellt, wird der gesunde Baum zur Metapher für den Menschen, der Gottes Wort liebt und mit Eifer studiert. Ein solcher Mensch »ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl« (Vers 3).

Über die Gerechten heißt es in Psalm 92,15: »Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein.« Diese Vorstellung dürfte besonders den älteren Leserinnen und Lesern gefallen.

Auch Jeremia vergleicht den, der auf Gott vertraut, mit einem am Wasser gepflanzten Baum, dessen Wurzeln zum Bach hin ausgestreckt sind (Jeremia 17,8).

Jesus spricht von guten und faulen Bäumen, die man jeweils an ihren Früchten erkennen kann. Dabei denkt er an die Menschen, die sein Wort hören und danach leben (Matthäus 7,17–20). Das Wort zu hören ist so etwas wie der Nährstoff, den gesunde Bäume brauchen! Einen guten Baum muss man nicht auffordern, gute Früchte zu bringen. Er tut es wie von selbst. Es ist die unmittelbare Folge seines Wesens als guter und gesunder Baum.

Patrick und mir ist besonders ein Abschnitt aus dem Epheserbrief wichtig geworden: Es ist eine der wenigen Stellen, an denen uns ein »apostolisches Gebet« vorliegt. Paulus betet für die Gemeinden, an die er schreibt. Sein Anliegen ist klar:

Ich kann nur meine Knie beugen vor Gott, dem Vater, dem Vater von allem, was im Himmel und auf der Erde ist. Ich bete, dass er euch aus seinem großen Reichtum die Kraft gibt, durch seinen Geist innerlich stark zu werden. Und ich bete, dass Christus durch den Glauben immer mehr in euren Herzen wohnt und ihr in der Liebe Gottes fest verwurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Gläubigen ihr ganzes Ausmaß erfassen, die Breite, Länge, Höhe und Tiefe. Und ihr könnt auch die Liebe erkennen, die Christus zu uns hat; eine Liebe, die größer ist, als ihr je begreifen werdet. Dadurch wird euch der Reichtum Gottes immer mehr erfüllen.

Epheser 3,14-19; NLB

Das ist offenbar das Ziel, zu dem wir als Christen unterwegs sind: Der inwendige Mensch, das neue Leben, das uns durch Taufe und Glauben geschenkt ist, soll stark werden. Und das verdeutlicht Paulus durch Bilder aus der Natur und dem Bauwesen: Wir sind dann »eingewurzelt« wie die Linde im Weitenhäger Universitätsforst und fest gegründet wie ein solides Haus auf seinem Fundament. Christus selbst hat Wohnung in unserem Herzen genommen, der Mitte unseres Menschseins. Wir wachsen in der Erkenntnis und in der Liebe. Kopf und Herz folgen dem, was sie von Christus lernen, und das Handeln folgt auf dem Fuß.

Etwas später im Epheserbrief nimmt Paulus diesen Faden noch einmal auf. Durch die verschiedenen Dienste, Aufgaben, Rollen und Ämter in der Gemeinde soll der Leib Christi erbaut werden. Dabei werden die Christen allmählich wachsen: »zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Menschen, zum vollen Maß der Fülle Christi, damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen« (Epheser 4,13). Hier verwendet der Apostel Kategorien menschlicher Reifung: Mündig sollen die Christen werden. Das ist ein wesentliches Ziel, dem die Dienste, Aufgaben, Rollen und Ämter in der Gemeinde gewidmet sein sollen. Darum sprechen wir in unserer Gemeinde in Greifswald, wenn wir über das Leben von Jüngerinnen und Jüngern nachdenken, stets von lebendigem, mündigem Christsein.5

Dabei denke ich wieder an den ersten Psalm: Wer Gottes Wort und Weisung liebt, wer sich mit der Schrift befasst, sie wieder und wieder liest und bedenkt, von dem heißt es, dass er ein fruchtbares Leben führt – wie ein fest verwurzelter Baum. Anders gesagt: Er wird lebendig und mündig im Glauben.

Im Neuen Testament ist das alles auf Jesus ausgerichtet: Lebendiges, mündiges Christsein ist nichts anderes als Nachfolge. Christus nachzugehen ist Berufung jedes Getauften, ist Wesen lebendigen Glaubens. Auf Jesus zu hören, ihm zu vertrauen, von ihm getragen (sicher auch: ertragen) zu werden, von ihm alles Nötige zu bekommen, das unser Leben nährt, das ist der Weg des christlichen Glaubens. »In Christ alone«6, singen wir in einem bekannten Lobpreislied; »Solus Christus«, Christus allein, ist der Ruf der Reformatoren.

Da findet sich nun alles zusammen: Lebendiges und mündiges Christsein hat damit zu tun, dass wir in der Liebe Christi verwurzelt sind. Diese Wurzel gibt uns Halt, sie versorgt uns mit allen nötigen Nährstoffen, macht uns belastbar und vital. Jetzt können wir alles, was wir über Wurzeln gelernt haben, sinnbildlich übertragen. Wenn ich durch den Wald laufe oder wandere, dann betrachte ich die (gesunden) Bäume und denke: So fest verwurzelt möchte ich sein, in der Liebe Christi, in Erkenntnis und Wesen des Gekreuzigten und Auferstandenen.

Darum haben wir ein Buch geschrieben, in dem wir gemeinsam »Jesus nachgehen«. Paulus hat es einmal als sein Ziel beschrieben, den Christen in Galatien Jesus Christus als den Gekreuzigten vor Augen zu malen (Galater 3,1). Der Weg des Wachstums und der Reifung im Glauben führt nicht über mehr »Innerlichkeit« im Sinne einer tieferen Einkehr in das eigene Selbst, sondern er hat mit einer Änderung der Blickrichtung zu tun: von uns weg auf Jesus hin.

Der Glaube lässt sich Jesus Christus als den Gekreuzigten vor Augen malen. Da schaut er hin. Und wenn er wieder weggeschaut und mit sich selbst befasst ist, sei es stolz über das Erreichte, stolz über Geleistetes, über Anerkennung, über Fortschritte im Glauben, sei es deprimiert über das Verfehlte, erschüttert über Versagen und Zurückbleiben, gekränkt durch Zurückweisung, dann heißt Umkehr vor allem Umkehr der Blickrichtung: zurück zu Jesus, zu seiner unverrückbaren Gnade, seiner Treue, seiner Aufmerksamkeit, seiner Vergebung und seinen Mandaten für unser Leben. Der lebendige und mündige Glaube schaut auf Jesus. Er geht Jesus nach. In Gedanken. Im Gespräch. In der Gemeinschaft. In der Anfechtung. Im Dank. Im tätigen Dasein. Im Erfolg. Im Leiden. In der Liebe zu den Menschen, zu denen Jesus unterwegs ist.

Die Veränderung unseres Lebens hat eine Nebenwirkung: Wir schauen weniger auf uns und mehr auf ihn. Wir sehen uns in ihm verwurzelt: unsere Schuld vergeben, unser gutes Ende besiegelt, unsere Bestimmung geklärt, unsere Angst beruhigt, unser Sehnen gestillt, unser Schutz garantiert. Unter der Hand ändert sich dabei vieles, aber wir registrieren es nicht als »unsere Fortschritte«. Andere vielleicht schon, wir nicht, denn wir sind ja mit Jesus beschäftigt und nicht mit unseren Fortschritten. Bei uns weiß die Rechte nicht so genau, was die Linke tut. Wir tragen unsere Siege nicht mehr wie Trophäen vor uns her. Wir stürzen durch unsere Niederlagen nicht mehr in Verzweiflung. So oder so sind wir – durch Taufe und Glauben und Nachfolge – in Jesus verwurzelt.

Dieses Buch soll dem nacheifern, wovon Paulus spricht: Es soll Menschen Jesus Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen vor Augen malen. Die Texte im ersten Teil folgen dem Weg Jesu und zeigen, was es bedeutet, zu ihm umzukehren und zu seiner Familie zu gehören. Im zweiten Teil beschreiben wir, wozu uns Jesus aussendet. Im dritten Teil geht es darum, zu zeigen, wie durch Jesus alles neu werden kann. Der vierte Teil ist ein kräftiger Schlussakkord, der noch einmal das »Solus Christus« herausarbeitet.

Wir Autoren sind seit einigen Jahren brüderlich, kollegial und freundschaftlich miteinander unterwegs: als Prediger bei GreifBar, unserer Gemeinde in Greifswald, und als Kollegen in der Leitung des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Dieses Buch ist aus der Arbeit unserer Gemeinde entstanden. Wir hoffen, dass es Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern hilft, Jesus nachzugehen.

Zusätzlich haben wir Material entwickelt, das dabei hilft, die Texte in Gruppen zu besprechen, sodass dieses Buch auch in Hauskreisen und Kleingruppen, für Freizeiten und Mitarbeiterrunden genutzt werden kann.

Wir danken denen, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zustande gekommen wäre: den Theologiestudentinnen Miriam Best und Juliane Franke, die bei der ersten Sichtung der Texte geholfen haben, Christiane Herbst für akribisches Korrekturlesen, Annalena Pabst für die vorzügliche Betreuung im Auftrag des Verlags, Christiane Kathmann für das intensive Lektorat und last but not least all jenen, die uns auf unserem Lebensweg immer wieder ermuntert haben, Jesus nachzugehen.

Michael Herbst, Weitenhagen und Sjöhagen

Patrick Todjeras, St. Georgen im Attergau

Im September 2019

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Zeit, um Wurzeln zu schlagen

Es gibt tatsächlich einen Menschen, der seine Rechner mit 300 Millionen Daten gefüttert hat, um herauszufinden, welcher Tag im letzten Jahrhundert besonders ereignislos war. Wer heute im Rentenalter ist, kann sich vielleicht noch an diesen Tag erinnern – oder auch nicht. Laut William Tunstall-Pedoes Recherchen war der 11. April 1954 der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts. Nichts Besonderes ist an diesem Tag passiert. Gar nichts! Es gab eine Wahl in Belgien und ein türkischer Universitätsrektor wurde geboren. Für seine Eltern war das bestimmt etwas Besonderes, und die Wahl hat vermutlich für ein paar Schlagzeilen gesorgt, aber im Blick auf die Weltgeschichte ist dieser Tag bedeutungslos.7

Sicher ist es interessanter, die spannendsten Tage zu suchen. Große Momente wie das Wunder von Bern 1954, der Warschauer Kniefall 1970, der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 oder als die deutsche Fußballnationalmannschaft im Sommer 2014 Weltmeister wurde. Schreckliche Begebenheiten wie das Attentat auf Martin Luther King 1968, der Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City am 19. April 1995, der Tsunami im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004 oder die Pariser Attentate am 13. November 2015. Tage, an denen große Reden gehalten wurden, sind ebenfalls interessant. Oft waren das Tage, an denen wichtige Menschen ihr Amt antraten.

Manche Sätze aus diesen Reden sind sehr bekannt. Wer sagte beispielsweise zum Amtsantritt: »Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, sondern fragt, was ihr für euer Land tun könnt«?8

Und von wem stammt dieses Zitat: »Von heute an müssen wir uns aufraffen, uns den Staub abklopfen und wieder mit der Arbeit beginnen, Amerika zu erneuern. … An diesem Tag sind wir hier, weil wir die Hoffnung statt der Furcht gewählt haben.«? Schon schwerer! Ein Tipp, das war genau 48 Jahre später.9

Wer sagte vier Jahre später an einem anderen großen Tag: »Und nun möchte ich den Segen erteilen. Doch zuerst bitte ich euch um einen Gefallen. Bevor der Bischof das Volk segnet, bitte ich darum, dass ihr den Herrn bittet, damit ich gesegnet werde.«?10

Ein Letztes noch: Wer sagte in seiner Antrittsrede: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!«?11

War der Tag, an dem Jesus zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auftrat, einer der langweiligen oder einer der aufregenden Tage? Das ist schwer zu sagen, denn wir kennen nicht einmal das Datum. Wir haben nur eine äußerst knappe Zusammenfassung seiner ersten Rede und erfahren ein paar der Ereignisse, die auf diese Rede folgten. Hand aufs Herz, wir würden eher sagen, die Heilige Nacht (Lukas 2,6-20) war aufregend, und ganz sicher war jenes Wochenende aufregend, an dem Jesus hingerichtet wurde und plötzlich wieder lebendig war (Markus 14,32–16,14). Warum aber sollte dieser Tag seiner ersten öffentlichen Rede aufregend sein?

Der Evangelist Markus findet die Heilige Nacht offenbar nicht so interessant. Er erzählt nicht einmal von ihr. Stattdessen beginnt er sein Evangelium mit einer Vorstellung, wer Jesus war, erzählt von seiner Taufe und dann geht es los – mit dieser ersten Rede. Wäre Markus persönlich hier, würde er sagen: »Das ist die größte Rede, die ich je vernommen habe!«

Und ich denke: »Wäre ich nicht so träge und abgebrüht, müsste es mich aus den Schuhen hauen, was hier von Jesus gesagt wird! Wenn ich das ernst nähme, würde kaum etwas bleiben, wie es ist!«

Zeit, in der wir leben

Nachdem aber Johannes überantwortet wurde, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!

Markus 1,14-15

Jesus beginnt seine Antrittspredigt mit einer Zeitansage: »Die Zeit ist erfüllt«, so übersetzt Luther. »Die von Gott bestimmte Zeit ist da«, heißt es in der BasisBibel und: »Die Zeit ist gekommen«, in der Neuen Genfer Übersetzung. Anschließend verkündet Jesus: »Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.« Man kann auch übersetzen: »Sein Reich wird sichtbar in der Welt« (BB) oder »Das Reich Gottes ist nahe« (NGÜ). Ich würde es so ausdrücken: »Es ist so weit. Der von Gott bestimmte Zeitpunkt ist da. Die Zeit ist erfüllt.« Dabei schwingt mit: Es reicht jetzt! Vorbei ist das Warten!

In meiner Familie gibt es seit meiner Kindheit ein kleines Glöckchen, das nur einmal im Jahr zum Einsatz kommt. Das Weihnachtszimmer ist für alle tabu, für unsere erwachsenen Kinder und erst recht für die Enkel. Erst wenn das Glöckchen erklingt, dürfen sie hinein, den Baum bestaunen, den Duft riechen, die Weihnachtsmusik hören. Vorher herrscht große Spannung, doch plötzlich ist der große Moment da: Es ist so weit. Vorbei ist das Warten. Bis heute geht dann ein kleiner Ruck durchs Herz: Endlich. Jetzt kann das Fest beginnen!

Jesus sagt nicht weniger: »Jetzt, in diesem Moment ist es so weit. Das Reich ist im Kommen. Es wird alles neu. Gott lässt das Neue beginnen. Von nun an scheidet sich die Zeit in ein Vorher und ein Nachher. Die Zeit ist erfüllt. Weil ich da bin. Indem ich da bin.«

In Greifswald sind wir Teil einer Gemeinde mit dem etwas seltsamen Namen GreifBar. Mit großem B, weil es bei uns immer etwas zu essen und zu trinken gibt. Im Logo haben wir das »G« aus dem Greifswalder Stadtmarketing, weil wir für diese Stadt und in dieser Stadt Gemeinde sind, Teil des Volkes von Jesus, das er hier hat. Aber eben auch schlicht greifbar: Das, was Jesus ist und gibt, das soll greifbar sein, zugänglich, nicht hinter den Mauern von Tradition und Sitte verborgen, offen für jeden, in der ganzen Stadt. Das Leben mit Gott ist greifbar. Wer es möchte, muss nur zugreifen. Das Leben mit Gott steht für alle offen, selbst für diejenigen, die religiös bisher »unmusikalisch« sind. Für alle, die zu klug oder zu schlicht sind, um sich mit dem Glauben zu beschäftigen, oder die das alles bisher nur für eine Nebensache gehalten haben. Greifbar nah kommt uns Gottes Liebe. Jahrelang war das unsere (selbst gedichtete und musikalisch nicht gerade anspruchsvolle) Hymne: »Greifbar nah bist du mir, o Herr.«

Unser Name ist eine einzige Wiederholung: Jetzt ist das, was Gott schenkt, verfügbar, erreichbar, greifbar, denn die Zeit ist erfüllt. Für uns. Jetzt, nicht damals in grauer Vorzeit. Jetzt, nicht irgendwann in einer unklaren Zukunft.

Kraft, aus der wir leben

Das, was jetzt greifbar ist, nennt Jesus das »Reich Gottes«. Im Grunde ist das missverständlich. »Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen« – Ist das Reich ein Gebiet? Könnten wir sagen: »Die Zeit ist erfüllt und Deutschland ist herbeigekommen?« Ganz sicher nicht. Jesu Worte bedeuten eher Folgendes: »Die Zeit ist erfüllt. Gott tritt die Regierung an.« Der König kommt. Unser Gott kommt und regiert.

Allerdings steckt in dieser Lösung das nächste Problem: Wieso kommt der König erst jetzt und beginnt zu regieren? Hat er das vorher nicht getan? Wer hat denn dann vorher regiert? Wenn das Reich kommt, »am Kommen zugange« ist, wie man in Westfalen sagt, heißt das ja, dass es vorher nicht da war. Oder nicht?

Jetzt könnte man sich stundenlang in den schwierigsten Fragen verlieren. Regiert Gott alles? Oder haben wir es noch mit anderen Mächten zu tun, zum Beispiel mit dem Teufel, der Jesus in der Wüste in die Knie zwingen wollte? Regiert Gott heute mehr als früher? War Gott früher etwa nicht König?

Aber mit theoretischen Abhandlungen und Diskussionen würde man es nur unnötig kompliziert machen. Gott kommt, Gott wird König, Gott beginnt zu regieren, Gottes Herrschaft setzt sich durch. Wenn Jesus das sagt, dann meint er nicht: »Vorher hatte Gott nicht die Hand am Steuer«, sondern: »Ab jetzt wird das Gute und Heilsame geschehen, das Gottes tiefstes Wollen ist. Ab jetzt wird sich sein guter Wille mehr und mehr durchsetzen, und zwar in einer Welt, über die er sicher die Kontrolle hat, über die er schützend und fördernd die Hand hält, die nicht des Teufels ist, aber in der so vieles geschieht, was mit Sicherheit nicht Gottes Wille ist.« Dass Gottes Reich kommt, dass Gott König wird, dass seine Herrschaft naht, das ist die Frohe Botschaft: Er setzt durch, was wirklich gut ist. Er macht ein Ende mit dem Bösen, Zerstörerischen, mit all dem, was kränkt, verletzt, tötet, zerstört, beschädigt, verdunkelt, mit all dem, was Chaos bringt statt Kosmos. Er macht Schluss mit allem, was Tod bringt statt Leben, Entzweiung statt Liebe, Krankheit statt Lebendigkeit, Zerstörung statt Entfaltung, Menscheneinsamkeit statt Gotteskindschaft, In-sich-Verdrehtsein statt Aufeinander-Bezogensein. Er sagt: »Schluss! Die Zeit ist erfüllt! Es reicht, jetzt geht es los! Erfüllung, nicht nur Erwartung, jetzt!«

Jesus sagt auch: »Das ist mein Auftrag. Ich bin es sozusagen in Person: Gott wird König und alles wird neu. Von jetzt an. Wo immer ich hinkomme, kommt Gottes Reich.« Wir beten: »Dein Reich komme«, und sagen damit: »Jesus, komm, sei König.« Darum folgt sofort: »Dein Wille geschehe.« Denn es ist ja sein Reich und sein Wille, das ist nichts anderes, als dass endlich alles gut und heil wird.

Das ist die Kraft, aus der wir leben. Sie ist nicht in uns, wir sind nicht König. Jesus ist es. Aber wir rufen ihn und er verkündet: »Jetzt ist es so weit. Ich komme, ich bin der König, ich mache alles neu.« Jesus sagt nicht: »Nun ist eine neue Zeit. Gebt euch mal mehr Mühe und bringt die Dinge für mich in Ordnung«, sondern: »Ich bin da, und wo ich hinkomme, wo ich mit euch hingehe, da wird es neu.« Markus erzählt in den ersten Kapiteln, wie das aussieht: Da werden Gebundene frei (der Satan regiert nicht), da werden Kranke gesund (die Krankheit hat nicht das Sagen), da werden Schuldige versöhnt (die Fesseln alter Schuld fallen ab). Tolkien lässt in »Herr der Ringe« die alte Ioreth sagen: »Die Hände des Königs sind die Hände eines Heilers.«12 So ist es!

Wenn wir als Christen Gemeinde des Königs sind, leben wir aus dieser Kraft. Und dann liegen wir auf den Knien und rufen: »Dein Reich komme.« Jesus antwortet darauf: »Die Zeit ist erfüllt, meine Regierung ist im Kommen.«

Als Gemeinden organisieren wir nicht ein religiöses Vereinsleben. Wir sind keine christlichen Kleingartenvereine. Wir sind die Boten des Königs! Und wir wollen sehen, wie sein Reich kommt, und unseren Teil dazu beitragen: Kinder leben ein anderes Leben, Schuldige werden frei, alte Geschichten (auch in der Gemeinde) werden endlich vergeben und zu den Akten gelegt, Alkoholiker werden trocken, Ehen repariert, hochmütige Akademiker heiter und demütig, in sich verdrehte Egozentriker dienen, Verzweifelte hoffen, Sterbende sterben getrost, manch Kranker wird gesund, Menschen mit wenig Bildung nehmen ein neues Leben in Angriff, Eltern lernen erziehen. Das Reich kommt!

Freude, die uns erfasst

Das alles nennt Jesus in seiner Antrittspredigt ein Evangelium, eine gute Nachricht oder eine frohe Botschaft. Evangelium ist ein ganz weltliches Wort. Der erste Marathonläufer, ein Mann namens Pheidippides, lief im Jahr 490 vor der Geburt unseres Königs von Marathon nach Athen. Leider starb er kurz nach seiner Ankunft vor Erschöpfung (das ist eine Warnung an alle Läufer!). Aber er überbrachte zuvor ein Evangelium: »Die Schlacht der Hellenen gegen die Perser ist gewonnen.« Das war eine gute Nachricht: »Wir haben gesiegt!« Eine gute Nachricht, die das Schicksal der Menschen damals gewendet hat. (Wenn diese Geschichte nur erfunden ist, ist sie wirklich gut erfunden!)

Das ist Evangelium: Der Sieg ist errungen. Euer Schicksal hat sich gedreht, eure Schuld ist vergeben. Der Grund: Die Zeit ist erfüllt. Das Reich ist gekommen. Johannes der Täufer sagte: »Kehrt bloß um, denn das Gericht Gottes steht vor der Tür. Nur wer umkehrt, hat eine Chance« (vergleiche Matthäus 3,1-12). Jesus stellt das auf den Kopf und verkündet: »Das Reich kommt, darum kehrt um. Es soll alles gut werden, das werdet ihr doch wohl nicht verpassen wollen!«

Bei seiner Taufe sagte der Vater zu Jesus: »Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich so viel Freude, ich bin so unglaublich froh, dass es dich gibt und dass du mein Kind bist.« Das Evangelium ist, dass der Vater zu uns genau das Gleiche sagt: »Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn. Ich bin so froh, dass es dich gibt. Ich freue mich unbändig, dass ich dein Vater bin.« Und das sagt er nicht zu den Feinen, Fertigen und Vollkommenen. Das sagt er zu uns Unfertigen und Unvollkommenen. Ich entgegne also: »Aber, Vater, schau doch hin, was ich alles nicht hinbekommen habe, was mir unter den Händen zerbrochen ist, wo ich so elendig versagt habe, wo mein Leben nicht vorzeigbar ist. Du müsstest dich doch abwenden, meiner schämen, mich hart ins Gericht nehmen.« Doch er antwortet: »Ach, mein Kind, du bist immer noch mein geliebter Sohn, du bist nichts als meine geliebte Tochter, und nichts soll sich daran ändern.« Henri Nouwen schreibt: »Das legt die innerste Wahrheit eines jeden Menschen frei.«13 Das ist die Freude, die uns erfasst, wenn die Zeit erfüllt ist und die Kraft Gottes uns regiert.

Die Richtungsänderung unseres Lebens

Am Ende seiner Antrittspredigt sagt Jesus: »Nun vertraut bitte dieser guten Nachricht. Vertraut ihr mehr als euren wechselnden Stimmungen und euren zweifelnden Überlegungen. Vertraut und kehrt um.«

Kehrt um, das heißt dreierlei:

1.     Kehrt heim

Wir könnten sagen: »Hm, so furchtbar viel königliches Regieren von Jesus sehen wir nicht.« Aber das hat damit zu tun, dass der König seine Herrschaft nicht mit Sklaven beginnt, sondern mit heimkehrenden Söhnen und Töchtern. Seine Herrschaft breitet sich von Mensch zu Mensch aus, immer einzeln und hoffentlich in großen Zahlen. Die Herrschaft des Königs beginnt mit Um-Kehr als Heim-Kehr der Kinder.

Im engsten Freundeskreis habe ich den Schmerz von Eltern erlebt, deren erwachsene Kinder sich von ihnen abgewendet haben. Nicht so ein bisschen pubertärer Aufstand, sondern die sich hart, aggressiv, hasserfüllt, verbittert losgerissen, den Kontakt aufgekündigt haben und die Eltern verwaisen lassen. Ich glaube, es gibt kaum Schwereres. Genau das macht der Vater im Himmel millionenfach durch. Gott leidet schmerzhaft als verlassener Vater.

Jesus sagt: »Kehrt um. Kommt zum Vater. Geht heim.«

Vielleicht sagen Sie: »Das habe ich hinter mir.« Vielleicht wäre es dann an der Zeit, hier und heute neu oder zum ersten Mal zu sagen: »Vater, ich komme heim.« Nicht nur »coming home for Christmas«, sondern: »Es ist Zeit. Ich komme heim. Danke für die offene Tür. Danke für die Arme, in die du mich schließt. Danke für deinen Schmerz. Danke, dass ich wieder neu kommen darf.«

2.     Kehrt euch ab

Zum anderen bedeutet »Kehrt um!«: »Kehrt euch ab! Ändert euren Kurs. Lasst alles, was Gott hasst.«

Markus berichtet in seinem Evangelium direkt nach der Antrittspredigt davon, wie Jesus die ersten Jünger beruft. Sie lassen alles stehen und liegen und folgen ihm nach. Er ist ja der König. Fortan zählt, was er gut nennt. Dazu müssen die ersten Jünger ihre Eltern, ihre Heimat, ihre Lehrstelle verlassen.

Nun würden vielleicht manche sagen: »Och, das ist nicht so schwer, ich bin froh, dass ich da weg bin!« Aber dann geht es in ihrem Leben vielleicht um etwas anderes. Jeder muss etwas verlassen, um Jesus zu folgen, und sei es nur unser Eigenwille. Jesus folgen, wohin immer er will? Jesus vertrauen, auch wenn mir das, was er will, vollkommen gegen den Strich geht? Jesus zu willen sein, auch wenn er ganz behutsam fragt, ob er denn jetzt mal über dieses eine Thema reden darf, das ich vor ihm immer verborgen habe, der Bereich, in dem ich ihn nie zugelassen habe?

»Kehrt euch ab!«

Es geht darum, die eigene Hand in Gottes Hand zu legen und zu sagen: »Wo immer du mich hinführst – Wie sollte es da nicht gut für mich sein!«

3.     Kehrt euch hin

Und schließlich bedeutet »Kehrt um!«: »Kehrt euch hin.« Jesus beruft die Jünger zu sich und sagt: »Es ist so weit. Meine Regierung beginnt. Mit euch. Ich brauche euch in meiner Regierung. Keine Angst: Ich tue das Wesentliche. Aber ich brauche euch. Ihr sollt es weitersagen. Ihr sollt Menschen in meine Nähe rufen.«

Das ist der Dienst, und dieser Dienst geschieht durch die Gemeinde. Sie ist die Vorhut des Königs. Deshalb müssen wir so viel Wert darauf legen, dass wir in der Gemeinde auch füreinander und für unseren Dienst greifbar und verlässlich werden. Weil es um diesen Dienst geht, den keiner allein tut, den wir zusammen tun. Darum beruft Jesus nicht Einzelne, sondern die erste Gemeinde, den Kreis der Jünger.

»Kehrt heim, kehrt euch ab, kehrt euch hin. Denn die Zeit ist erfüllt. Das Reich ist da. Der König kommt und regiert. Freut euch und vertraut.« Was für eine Rede!

Markus sagt: »Das war der aufregendste Tag! Der Tag, an dem Jesus seine Regierungserklärung abgegeben hat!«

Nichts davon ist Vergangenheit. Das ist unser Leben, hier und jetzt. Zeit, um Wurzeln zu schlagen. In Jesu Nähe.

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Zeit, um zu entscheiden

Ein außergewöhnlicher Patient saß im Jahr 1982 im Wartezimmer des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio.14 Elliot war einige Monate zuvor ein Tumor aus dem Frontalhirn operiert worden. Der Tumor war klein gewesen, doch die Folgen tragisch: Aus ihm war ein chronischer Zögerer geworden. Er konnte sich nicht mehr zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden. Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Er konnte kein Wort schreiben, wenn er einen schwarzen und einen blauen Stift zur Wahl hatte. Elliot war alltagsuntauglich geworden. Sein Intelligenzquotient war unverändert – nur entscheiden konnte er sich nicht mehr.

Elliot ist ein ganz besonderer Patient und doch haben wir mit ihm gemeinsam, dass wir immer wieder in Situationen kommen, in denen wir Entscheidungen treffen müssen, die uns schwerfallen. Da gibt es die großen Entscheidungen, wie Partnerwahl, Studienortwechsel, ein neuer Job oder ein Autokauf. Manche fällen solche Entscheidungen schnell, andere langsam. Dann gibt es die kleinen Entscheidungen, wie Briefmarkenkauf, Restaurant-Reservierung oder Abheftsystem. Auch hier entscheiden sich einige schneller als andere.

Der Kauf eines Gebrauchtwagens kann zur Qual werden: Farbe, Kilometerstand, Kofferraumvolumen, Beinfreiheit, Benzinverbrauch, Schiebedach. Die Angelegenheit ist komplex, viele Faktoren sind unbekannt, manche sind unverfügbar, etwa ob das Auto mehr Zeit in der Werkstatt verbracht hat als auf der Straße. Außerdem funken unsere Gefühle dazwischen. Das eine Auto erscheint uns besonders sicher, weil unser Vater die Marke fuhr. Mit jenem könnte man den Nachbarn beeindrucken. Beim dritten ist uns der Verkäufer sympathisch. Wie viel Zeit benötigen wir, um uns zu entscheiden?

Selbst Forscher beginnen gerade erst damit zu verstehen, was bei Entscheidungen in uns vorgeht. Wir werden beeinflusst von Hormonen, Tricks von Verkäufern, der eigenen Herkunft, von spontanen Gefühlen.

Damasio unterzog Elliot diverser Tests und kam zu dem Schluss, dass dieser emotional erkaltet war. Der Neurologe erinnert sich: »In den vielen Stunden des Gesprächs mit ihm sah ich nie den Hauch einer Emotion. Keine Traurigkeit, keine Ungeduld, keine Frustration.«15 Elliot konnte sich nicht entscheiden, weil sich alles gleich anfühlte. Gefühlsarmut und Entscheidungsunfähigkeit hängen also zusammen.

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert war die herrschende Meinung, dass Menschen rational entscheiden. Elliot brachte ans Licht, dass ohne Gefühl der Verstand hilflos ist. Das Geheimnis guten Entscheidens besteht darin, beides, Gefühl und Verstand, mitreden zu lassen. Wer Gefühl oder Verstand verliert, verliert sich im Dickicht der Möglichkeiten.

Eine schnelle Entscheidung

Sich zu entscheiden, ist wie Wurzeln zu schlagen. Wir wählen eine bestimmte Möglichkeit und bleiben dabei. Wie das gehen kann, lesen wir in der folgenden Geschichte:

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach.

Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wirst du bleiben? Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.

Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.

Johannes 1,35-42

Andreas und der andere Jünger, dessen Namen wir nicht kennen, gehören wohl zu der Sorte, die bei Entscheidungen nicht lange fackeln – zumindest bei der Entscheidung, Jesus nachzufolgen, geht es bei ihnen sehr schnell. Sie werden von ihrem Lehrer Johannes dem Täufer unspektakulär auf den vorbeigehenden Jesus aufmerksam gemacht. Beiläufig wird auf den hingewiesen, an dem sich die Geschichte ihres jüdischen Volkes, ja der ganzen Welt, entscheiden wird. Jesus aus Nazareth ist ein Lehrer mit einer neuen Botschaft, einer, der Wunder tut, den Verachteten nachgeht und mit den Ausgestoßenen isst. Er lebt und verkündet Freude, erzählt von seinem Vater im Himmel und spricht über das, was uns Menschen von diesem Vater trennt. Jesus, der Sohn Gottes, erbarmt sich über die Reumütigen und ärgert sich über die Hochmütigen. Wir hören hier – ganz undramatisch, fast eher angedeutet –, dass dieser Jesus die Hoffnung ist, auf die Johannes der Täufer und seine Jünger gewartet haben.

Wie viel Zeit braucht man, um sich zu entscheiden? Andreas und der andere Jünger entscheiden sich sofort. Sie entscheiden sich, Jesus zu folgen, von ihm leben zu lernen, ihn nachzuahmen. Sie folgen Jesus bis zu seinem Tod am Kreuz und erleben seine unwahrscheinliche Auferstehung. Diese beiden Jünger entscheiden sich, Jesus gegenüber loyal zu sein, sich Jesus gegenüber verantwortlich zu fühlen und Jesus als ihren Meister und Herrn anzunehmen. Sie wollen Jesus lieben und ihr altes Leben neu im Licht dessen ordnen, was Jesus sagt, wie er lebt, und was er für wichtig hält.

Aus dem Alltag des Lebens

Andreas und der andere Jünger finden zu Jesus oder anders gesagt: Sie fangen an zu glauben.