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Sebastian Borger

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Beschreibung

Der Erstgeborene sollte seiner Familie Ehre bringen: Für Kweku Adoboli war nach Internat und Studium in England eine glänzende Karriere in Ghana vorgesehen. Doch der hochbegabte junge Mann ging zum Geldverdienen in die Londoner City, wo die Investmentbanker einer Schweizer Grossbank nach den Sternen griffen. Die UBS wurde seine Ersatzfamilie, bald liess sich Adoboli als Star-Trader feiern. Solange die Profite stimmten, blieben kritische Fragen aus. Dann gingen mehr als zwei Milliarden Dollar verloren. Der grösste Handelsverlust der britischen Geschichte hat die hochfliegenden Pläne der UBS zerstört und Kweku Adoboli hinter Gitter gebracht. Gestützt auf Gerichtsprotokolle und umfangreiche Hintergrundinformationen des Traders erzählt der erfahrene London-Korrespondent Sebastian Borger einen Thriller, der sich auf dem wichtigsten Finanzplatz der Welt abspielt: das Psychogramm eines talentierten und ehrgeizigen Aussenseiters, der auf die schiefe Bahn gerät; Aufstieg und Fall der UBS-Investmentbank; das Porträt einer Branche ohne Moral.

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Titelseite

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Autor

Sebastian Borger (*1964) war Kriminalreporter und «Spiegel»-Redakteur. Seit 1998 arbeitet er als freier Korrespondent in London. Die Finanzindustrie ist eines seiner Hauptthemen.

Impressum

Impressum

Die bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliografie ist über www.d-nb.de abrufbar.

© Stämpfli Verlag AG, Bern · 2013

www.staempfliverlag.com

Lektorat · Benita Schnidrig, Stämpfli Verlag AG, Bern

Gestaltung · Stämpfli Verlag AG, Bern

Umschlag · Nils Hertig, clicdesign, Liebefeld

E-ISBN 978-3-7272-1368-7

Die gedruckte Ausgabe dieses E-Books ist im Buchhandel unter der ISBN 978-3-7272-1245-1 erhältlich.

Printed in Germany

Inhalt

Ein Wort vorab

Shitstorm

Das innere Licht

Gier als Schreckgespenst

Ospels Welt der Gier

Scharfsinn und Einfallsreichtum

Testosteron im Handelssaal

Unter dem Regenschirm

Druck von aussen

Wie Gladiatoren

Gott oder Opferlamm?

Verzockt

Die Nabelschnur durchtrennt

Zu guter Letzt

Literaturverzeichnis

Ein Wort vorab

Der Prozess gegen Kweku Adoboli neigte sich dem Ende zu, als ich den Beschuldigten eines späten Oktobernachmittags 2012 nach Verhandlungsende vor dem Gerichtsgebäude stehen sah. Er rauchte eine Zigarette und unterhielt sich mit seiner Freundin. Ich ging vorbei, und wir grüssten uns freundlich.

In den langen Verhandlungswochen hatte sich unter den Prozessbeteiligten ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt, obwohl Juristen, Journalisten, die PR-Leute der UBS, nicht zuletzt der Angeklagte, seine Familie und Freunde aus sehr unterschiedlichen Gründen im Gerichtssaal zusammenkamen. Man tauschte freundliche Begrüssungen, gelegentlich auch die eine oder andere Beobachtung aus. Adoboli selbst schien die Aufmerksamkeit häufig zu geniessen, gelegentlich verschwand er auch rasch mit seinen Anwälten im Beratungszimmer. Journalisten stand er manchmal gern Rede und Antwort, manchmal wies er Nachfragen höflich zurück. Stets schien er sich selbst und seine Umgebung unter Kontrolle zu haben. Charmant, redegewandt, leutselig – es gab nicht wenige Beobachterinnen, die gern mal ein Bier getrunken hätten mit dem breitschultrigen, hochintelligenten Angeklagten.

An jenem Herbstabend vor dem Gerichtsgebäude übermannte mich die Neugierde. Ich wechselte also die Richtung, ging zu Adoboli hinüber und stellte ihm die Frage, die mich schon seit Wochen beschäftigt hatte: «How could you?» – Wie konnten Sie nur?

Das war, wie mir eine Sekunde später einfiel, vielleicht keine sonderlich einfühlsame Annäherung an einen Angeklagten, der zu diesem Zeitpunkt noch um seine Freiheit kämpfte. Ich versuchte also zu erklären, was ich meinte. Die City of London, der wichtigste Finanzplatz der Welt, steckt voller Leute, die – völlig legitim – möglichst rasch möglichst viel Geld verdienen wollen. Andere Interessen, Verpflichtungen gegenüber anderen, gar ein Verantwortungsgefühl für die weitere Gesellschaft kennen sie nicht. Adoboli wirkte anders: als ältester und einziger Sohn geprägt von tiefem Verantwortungsgefühl für seine westafrikanische Familie, umgeben von einem treuen Freundeskreis, stets höflich und zuvorkommend gegenüber seiner Umwelt. Na ja, typisch Betrüger, hätte die Staatsanwältin abschätzig gesagt und mich für naiv gehalten. Meine Frage zielte aber gar nicht auf den Milliardenverlust – Adoboli hatte gegen geltendes Recht und Gesetz verstossen, an seiner Verurteilung hegte ich keinen Zweifel. Mich beschäftigte etwas anderes: Warum hatte dieser begabte Mann sein Glück in der Finanzwelt gesucht und ausgerechnet bei der Schweizer Grossbank UBS angeheuert? Warum war er auch im Prozess noch immer nicht in der Lage, sich der Wichtigtuerei, dem nahezu sektenhaften Jargon der City-Zocker zu entziehen?

Die Frage scheint mir über den individuellen Straftäter hinaus relevant. Zu viele kluge, hervorragend ausgebildete, sozial kompetente junge Leute wie er sind in den vergangenen Jahrzehnten in einer Branche verschwunden, in der es zu viele Glücksspieler und zu wenig Aufsicht gab und bis heute gibt. Das ist schlecht für die Gesellschaft und häufig unheilvoll für die Betroffenen, gerade für die sensibleren unter ihnen.

In der Branche lassen sich enorme Summen verdienen. Damit einher gehen die Jobunsicherheit und der ständige Druck zur Gewinnmaximierung. Obwohl wir mit einer immer höheren Lebenserwartung rechnen können und ein dementsprechend längeres Berufsleben vor uns haben, gelten über 40-jährige Trader als alt. Nicht umsonst klagen viele Banker über Depressionen. In der City of London gibt es Anzeichen für eine rasante Zunahme psychischer Erkrankungen. Im Prozess gegen Adoboli deutete manches darauf hin, dass der UBS-Angestellte in den Wochen, bevor sein Milliardenverlust bekannt wurde, einem Zusammenbruch sehr nahe war. Kein Wunder, findet die Staatsanwaltschaft, er sei kurz davorgestanden aufzufliegen, das bringe auch den geschicktesten Betrüger aus der Ruhe.

Im Ballsaal des globalen Kasinokapitalismus, mitten in der City of London, konnte ein entwurzelter, vom Glamour des grossen Geldes geblendeter junger Mann jahrelang eine Schattenbuchhaltung führen in einem Unternehmen, das ihm Ersatzfamilie geworden war. Am Ende, nach jahrelangen Falschbuchungen, hohen Gewinnen und noch viel gigantischeren Verlusten, wusste Adoboli nicht mehr, was richtig und was falsch war. Vieles spricht dafür, dass dies für seine Bank sowie das riskante Ende des Investmentbankgeschäfts insgesamt gilt.

Im Strafprozess im Herbst 2012 schlug die Staatsanwältin dem Angeklagten schon in ihrer Auftaktrede 26 Mal das Schimpfwort Gambler (Glücksspieler, Zocker) um die Ohren. Die Anklage unternahm den Versuch, einen klaren Trennstrich zu ziehen zwischen Adobolis Vorgehen und der Tätigkeit eines erfolgreichen Traders im Rahmen der Gesetze. Alle Investmentbanken, nicht nur die UBS, legen Wert auf die Feststellung, dass ihre Angestellten eben nicht Glücksspiel betreiben, sondern – ja, was denn? Was ist eigentlich «normal» in der Bankenwelt? Wie viel Gier ist erlaubt, wie wenig Rücksichtnahme auf die Gesellschaft, wie wenig Bezug zur Realwirtschaft? «Wie konnten sie nur?» – das fragt die ungläubige Öffentlichkeit, seit der Finanz-Crash 2007/08 die Weltwirtschaft in die schwerste Krise seit 80 Jahren gestürzt hat. Nicht wenige wünschen sich, die Konzernverantwortlichen der grossen Banken würden vor Gericht gestellt.

Wohlgemerkt: Die meisten Bankangestellten, bei UBS und anderswo, arbeiten hart und ehrlich, Millionenboni kennen sie nur aus den Medien. Zudem hat der Crash viele Mitverantwortliche. Natürlich haben sich die Bürger einiger westlicher Länder – in den USA und Grossbritannien, aber beispielsweise auch in Irland und Spanien – mit unglaublicher Sorglosigkeit verschuldet. Scheinbar gebildete und charakterfeste Menschen liessen sich vom leicht zu habenden Geld blenden. Im Wutgeheul auf Wall Street und City of London schwingt ein gewisses Mass von Selbstverachtung über so viel Leichtsinn mit. Gewiss haben die Aufseher westlicher Länder, auch in der Schweiz, Österreich und Deutschland, versagt. Bestimmt haben viel zu viele Politiker und Journalisten kritiklos nachgeplappert, was verblendete Wirtschaftswissenschaftler quasi als Naturgesetze darstellten.

Auf die Turbo-Exzesse der Finanzindustrie konzentriert sich die Kritik wohl aus drei Gründen: Zum einen war dort die Gier nach immer noch mehr Millionen am sichtbarsten, wenn man einmal von den unerfreulichen Zuständen im Spitzensport absieht; zweitens geht die Krise der Realwirtschaft von ihr aus; schliesslich gibt es auch im Jahre 5 nach Lehman noch keine erkennbare Selbstkritik und Neubesinnung. «Wir sind alle zu arrogant gewesen», hat der amtierende UBS-Investmentbankchef Andrea Orcel im Januar 2013 vor britischen Parlamentariern eingestanden und beteuert, nun sei alles besser. Nachfragen nach katastrophalen Fehlern in der Vergangenheit wischte er mit ähnlich pauschalen Äusserungen vom Tisch. Das wirkte – na ja, ein wenig arrogant. So lässt sich die tiefe Vertrauenskrise nicht überwinden.

Wer Bankchefs wie Orcel, Jamie Dimon von JP Morgan oder Anshu Jain von der Deutschen Bank reden hört, dürfte viel eher James Featherby Recht geben. Der langjährige Spezialist für grenzüberschreitende Firmenkäufe bei einer Londoner City-Kanzlei schreibt in seinem Buch «Of Markets and Men» («Von Märkten und Menschen»):

Das notwendige Mass von Wandel in der Finanzindustrie wird wahrscheinlich nicht von der derzeitigen Führungsebene bewerkstelligt werden. Sie sind im gleichen Stall aufgewachsen wie die Bosse, die uns die Finanzkrise eingebrockt haben. Sie sind ganz ehrlich davon überzeugt, dass die Verhältnisse genau richtig waren, von einigen kleineren Anpassungen und besserem Training in ethischem Verhalten abgesehen. Ich glaube, dass sie Unrecht haben.

«How could you?» – in abgewandelter Form habe ich diese Frage Kweku Adoboli noch mehrfach gestellt. Wie kam es dazu? Was dachten Sie sich dabei? Wie sehen Sie das heute? Der frühere Trader hat brieflich und bei einem Gefängnisbesuch auch persönlich alle Fragen ausführlich beantwortet. Auch andere Beteiligte haben mir mit Informationen geholfen. Zudem bot der Prozess tiefe Einblicke in die Mechanismen der Finanzindustrie. So ist das Psychogramm eines Mannes entstanden, aber auch das Porträt eines Unternehmens mit spannenden Wurzeln und tiefsitzenden Problemen in einer Branche im Umbruch. Was folgt, ist ausschliesslich meine Version des tiefen Falls von Kweku Adoboli und der UBS.

Sebastian Borger, London, im April 2013

Shitstorm

Mittwoch, der 14. September 2011. Die Wettervorhersage hat für London einen milden, sonnigen Spätsommertag angekündigt. Als Kweku Adoboli am frühen Morgen die Tür seines schicken Apartments im Stadtteil Whitechapel hinter sich zuzieht, weiss der junge Investmentbanker schon, dass an diesem Tag ein Abschnitt seines Lebens enden wird. Wie abrupt das vor sich gehen wird und dass er für lange Zeit die letzte Nacht als freier Mann verbracht hat, davon macht sich der 31-Jährige zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung.

Auf dem Weg zur Arbeit nimmt der gebürtige Ghanese einen Umweg. Adoboli ist gläubiger Christ und besucht sonntags gern den Gottesdienst. Unter der Woche, an einem ganz normalen Werktag, gehören Kirchenbesuche eigentlich nicht zu seiner Routine. An diesem Tag macht er eine Ausnahme: Der breitschultrige Mann setzt sich in eine Bank der katholischen Marien-Kirche, senkt den Kopf und betet. Vergleichsweise spät, gegen acht Uhr, trifft er an seiner Arbeitsstätte ein: im Gebäude der UBS-Investmentbank an der Finsbury Avenue, gleich neben dem Kopfbahnhof Liverpool Street im Londoner Finanzdistrikt. Seine drei Kollegen sitzen bereits am Delta One Desk, dem Handelstisch für börsennotierte Aktienbündel (exchange traded funds, kurz: ETFs), wo Adoboli sein Geld verdient.

An diesem Tag lässt das Auf und Ab der Märkte den smarten Banker kalt. Er berät sich mit den Kollegen, eilt zu Zigarettenpausen und Kurzbesprechungen vors Gebäude. Vor allem aber nimmt er dreimal den Anruf eines firmeneigenen Revisors entgegen. William Steward hat vor drei Wochen zum ersten Mal um Auskunft zu kuriosen Einträgen in Adobolis Büchern gebeten, weil ihm ein Fehlbetrag von 3,57 Milliarden Dollar aufgefallen war. Das ist selbst am wichtigsten internationalen Finanzplatz der Welt, wo routinemässig mit Millionen und Milliarden jongliert wird, viel Geld. Er habe bei den Buchungen «eine Abkürzung» genommen, weil er unter hohem Zeitdruck stand, lautet Adobolis erste Auskunft. Steward lässt sich einstweilen abspeisen: Zwar findet er die Erklärung «nicht sehr eindrucksvoll, aber sie ergab einen Sinn». Fehlbuchungen gibt es immer wieder einmal, schliesslich hat man es mit Menschen zu tun.

Und Adoboli ist nicht irgendjemand: Er dominiert den hochprofitablen ETF-Desk, wenn dieser auch nominell von einem anderen Trader geleitet wird. Vorgesetzte und Kollegen loben ihn in höchsten Tönen: Kweks, so sein Kosename, sei «freundlich, stets hilfsbereit, auch in Stresssituationen ruhig», ein Botschafter für die Bank, kurzum: ein vorbildlicher Angestellter. Im Programm für die zukünftige Führungsreserve haben die Verantwortlichen bereits einen Platz für ihn reserviert.

Steward rechnet nach, spricht mehrfach mit dem Trader, lässt dessen zunehmend widersprüchliche Erklärungen auf sich wirken. Dem Buchhalter wird die Sache mulmig. Er verständigt die Risiko-Abteilung. Dort fallen die Kollegen aus allen Wolken, denn auf ihren Radarschirmen war der ETF-Desk nicht als Problemfall erkennbar. Aber warte mal: Gab es da nicht einen Fall bei der Société Générale? Einen Mann namens Jérôme Kerviel, einen Verlust von 5 Milliarden Euro, und zwar am ETF-Desk? Plötzlich macht sich «ziemlich grosse Beklemmung» breit, wie sich Steward später erinnert. An jenem 14. September werden seine Nachfragen immer drängender, die Ausflüchte des Traders immer abstruser. Am Mittag, beim dritten Telefongespräch, holt der milde Steward einen taffen Kollegen zu Hilfe. «Wir brauchen jetzt die Namen Ihrer Handelspartner», blafft dieser in den Apparat, «und zwar bis Geschäftsschluss heute Abend.»

Wenig später verlässt der Trader seinen Desk und stürmt aus dem Bankgebäude. In der Tasche trägt er sein iPhone mit dem Entwurf einer E-Mail. Zuhause überspielt er den Entwurf auf seinen Laptop, adressiert das Schreiben an Steward, kopiert dessen Kollegen sowie seinen eigenen Vorgesetzten mit ein und drückt die Sendetaste. Es ist genau 14 Uhr 30. In diesem Augenblick findet Kweku Adobolis Karriere als glänzender Investmentbanker am wichtigsten Finanzplatz der Welt ein jähes Ende. Mit ihr liegt auch der Traum der UBS-Führung von einer Weltmachtstellung im Investmentbanking (IB) in Trümmern.

Betreff: Eine Erklärung zu meinen Trades

Hallo Will,

ich bin sehr gestresst und enttäuscht, dass ich diese E-Mail schreibe.

Erstens, die ETF-Trades, die Sie auf dem Ledger sehen, sind, anders als von mir bisher beschrieben, ohne Handelspartner gebucht worden. Ich habe diese Buchungen benutzt, um Verluste zu unterdrücken, die bei Off-Book-Trades entstanden waren. Diese Trades, die ursprünglich profitabel waren, begannen Verluste zu machen, als während des Ausverkaufs im Juli und Anfang August aggressive Verkäufe am Markt getätigt wurden.

Zunächst hatte ich im Juni eine Short-Position für Futures, und diese machten Verluste, nachdem die griechische Regierung die erste Vertrauensabstimmung Mitte Juni gewann. Ich versuchte, das Geld wieder reinzuholen, indem ich die Positionen während der Markterholung auf Long umstellte. Obwohl ich ein paar Möglichkeiten hatte, die Long-Positionen mit geringfügigen Verlusten abzuwickeln, habe ich nicht schnell genug reagiert. Die Marktschwäche infolge der ersten schlechten Marktdaten und dann die Eskalation der Eurokrise führten zu den Verlusten, die Sie sehen werden, wenn die ETF-Buchungen gelöscht sind. Das Ziel war, das Geld vor dem Ablaufdatum im September zurückzugewinnen, aber das ist natürlich fehlgeschlagen.

Es bestehen noch offene Trades, die abgewickelt werden müssen. Und zwar eine Short-Position für DAX Futures (die auf ein Ablaufdatum im Dezember verlängert wurden) und eine Short-Position für S&P 500 Futures, die am Freitag ausläuft. Aus Diskretionsgründen habe ich jetzt das Büro verlassen. Ich werde wiederkommen müssen, um diese Positionen zu besprechen und im direkten Gespräch zu erklären, aber aus offensichtlichen Gründen hielt ich es für unklug, heute Nachmittag am Trading-Desk zu bleiben.

Ich rechne fest damit, dass Fragen gestellt werden, warum sonst niemand von diesen Trades wusste. Die Wahrheit ist, dass ich meinem Team, BUC, den Trade-Support-Mitarbeitern und John DiBacco gegenüber stets vorgegeben habe, dass es sich um echte Trades handelt. Ich übernehme die volle Verantwortung für mein Handeln und den Shitstorm, der jetzt folgen wird. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen dieses Schlamassel hinterlassen und dass ich meine Bank und meine Kollegen gefährdet habe.

Danke,

Kweku

Adobolis E-Mail schlägt an der Finsbury Avenue ein wie eine Granate. Der «gestresste und enttäuschte» Trader gibt zu: Eine Vielzahl seiner Buchungen waren fiktiv, die behaupteten Handelspartner existieren nicht. Die beanstandeten Deals dienten der Verschleierung riesiger Verluste, die bei fehlgeschlagenen Wetten entstanden sind. Zunächst hatte Adoboli auf den weiteren Niedergang der Aktienindices spekuliert, später auf eine Markterholung gehofft. Statt der von Steward entdeckten 3,57 Milliarden klafft nun eine Lücke von mehr als 8 Milliarden Dollar, weil der Trader die Entwicklung des deutschen Aktienindexes Dax Futures und der US-amerikanischen S&P Futures 500 falsch eingeschätzt hat. Mit Hilfe des reumütigen Täters kann die Bank noch manches retten. Am Ende wird sich der Schaden auf 2,25 Milliarden Dollar belaufen. Der grösste illegale Handelsverlust der britischen Börsengeschichte wird dem jungen Mann gut ein Jahr später eine Gefängnisstrafe von sieben Jahren einbringen.

Damit nicht genug. Der Granaten-E-Mail lässt Adoboli in langen Verhören bis tief in die Nacht hinein offenherzige Erklärungen folgen, die den Zuhörern das Ausmass der Probleme für die Bank verdeutlichen. Die Fehlbuchungen begannen vor beinahe drei Jahren. Ehe Steward endlich nachhakte, haben also die Kontrollsysteme des Unternehmens jahrelang versagt. Dass Adoboli allein gehandelt haben will, wie er zu diesem Zeitpunkt noch behauptet, erscheint gänzlich unrealistisch. Aber selbst wenn Kollegen, Vorgesetzte und Kontrolleure wirklich allesamt nichts wussten – die UBS und der ohnehin schwer gebeutelte Finanzplatz London werden einen immensen Rufschaden davontragen, das ist allen klar.

Was sich da anbahnt, bleibt zuallererst die ebenso faszinierende wie traurige Entwicklung eines hochtalentierten Aussenseiters vom Nachwuchsstar zum verurteilten Straftäter. In Ghana als Sohn eines UN- Diplomaten geboren, in England teuer und gründlich ausgebildet, für die UBS schon zu Unizeiten als Rekruteur tätig, später ins Programm für zukünftiges Führungspersonal aufgenommen – dieser Fall beinhaltet mehr als die klassische Story vom Finanzjongleur, der über die eigene Arroganz stolpert. Das liegt einerseits an Adobolis Hautfarbe. Mögen die Medien gewissenhaft jeden Anschein von Rassismus vermieden, mag das Gericht vollkommen farbenblind agiert haben – in der City sind Schwarze noch immer Ausnahme genug, um aufzufallen. Das liegt, zweitens, an seiner Herkunft. Für den jungen Mann, der vom 13. Lebensjahr an fernab seiner Familie aufwuchs, wurde das Schweizer Unternehmen rasch zu weit mehr als nur zu einem guten Arbeitgeber. «Die UBS war meine Familie», hat er unter Tränen vor Gericht gesagt. Er sei «am Boden zerstört, dass ich die UBS in diese Lage gebracht habe».

Am Abend des 14. September 2011 greift der damalige Leiter der In­vestmentbank, Carsten Kengeter, zum Telefon und ruft bei UBS-Konzernchef Oswald Grübel an. Der befindet sich im Flugzeug, das Mobiltelefon hat er abgeschaltet. Nach der Landung findet Grübel Kengeters Nachricht vor: Bitte dringend zurückrufen. «Das ist nichts Gutes», weiss der erfahrene Banker sofort. Ein Jahr später wird er im Schweizer Fernsehen bei Roger Schawinskis Talkshow den Wortlaut des folgenden Telefonats so wiedergeben:

Grübel: Wo brennt’s?

Kengeter: Diesmal brennt es richtig.

Grübel: Ist es mehr als eine Milliarde?

Kengeter: Zwei.

Grübel: Wow. Das war’s dann.

Tatsächlich tritt Grübel zehn Tage später als CEO der UBS zurück, Kengeter muss sich fortan mit der Rolle als Abwickler ungeliebter Geschäftssparten begnügen, im Februar 2013 nimmt er endgültig seinen Hut. Die unmittelbaren Kollegen und Vorgesetzten des Täters kündigen selbst ihre Jobs oder werden wegen «groben Fehlverhaltens» gefeuert. Über die personellen Konsequenzen hinaus beendet der Fall Adoboli unwiderruflich einen lang gehegten, zäh verfolgten Traum der UBS-Führung. Zur Weltspitze, zu bewunderten Geldhäusern wie JP Morgan und Goldman Sachs sollte die Investmentbank des Konzerns aufschliessen – so lautete der Plan seit Anfang des Jahrhunderts, und kein Rückschlag, so schien es, konnte die Firmenleitung von diesem Ziel abbringen.

Das lag an der Person des starken Mannes bei der UBS. An der Spitze des Konzerns stand nach der Fusion 1997 zehn Jahre lang ein Kasinobanker par excellence. Aus kleinsten Verhältnissen hatte sich der Basler Marcel Ospel beim Schweizerischen Bankverein (SBV) nach oben gekämpft, hatte bei Aufenthalten in London und New York die neue Dynamik und glänzende Bezahlung im angelsächsischen Investmentgeschäft kennengelernt, zwischenzeitlich für Merrill Lynch gearbeitet. Erst beim SBV, dann bei der UBS kaufte sich der hemdsärmelige Banker ein Imperium zusammen, um das kleine internationale Geschäft des Schweizer Konzerns aufzublähen: in Chicago das Optionenhaus O’Connor und den Vermögensverwalter Brinson, in London die ehrwürdige Merchantbank S.G. Warburg, in New York die Investmentboutique Dillon Read und den Vermögensverwalter Paine Webber. Bis auf das Schnäppchen Warburg zahlten die Schweizer stets zu viel und handelten sich oftmals schwierige Sanierungsfälle ein. Egal – Hauptsache, die Bilanz sah eindrucksvoll aus, was auch die Spitzengehälter in die Höhe trieb.

Der globale Finanzcrash hat den mit Kreditgiftmüll vollgestopften Konzern 2007/08 mit voller Wucht getroffen, die Abschreibungen von mehr als 50 Milliarden Franken schossen weltweit den Vogel ab. Die Schweizer Steuerzahler mussten die grösste Bank des Landes mit einer Milliardenunterstützung retten. Seit dem Crash gehen die Behörden der USA sowie europäischer Nachbarländer mit harten Bandagen gegen Steuerbetrüger vor, und natürlich hatten sie die grösste Bank der Schweiz im Visier. Im UBS-Hauptquartier in Zürich, am IB-Standort in London wechselte in immer kürzeren Abständen das Führungspersonal. Doch wer auch immer gerade in Basel, Zürich und London den Ton angab – hartnäckig hielt die Konzernleitung an den hochfliegenden Plänen fest. Bis zum Fall Adoboli. «Das war’s dann.»

Unter dem neuen Führungsduo, Verwaltungsratspräsident Axel Weber und CEO Sergio Ermotti, sollte es noch mehr als ein Jahr dauern, bis der Strategiewechsel vollzogen war: Erst Ende Oktober 2012, da stand ihr einstiger Angestellter gerade wegen Betrugs und Bilanzfälschung vor Gericht, verkündete die Bank den radikalen Rückbau der IB-Sparte. Tiefsitzende Probleme hatten die Londoner Kasinobanker schon lange; Adobolis Granate am 14. September 2011 hat den nicht mehr zu reparierenden Strukturschaden vollendet.

Als die Bank tags darauf an die Öffentlichkeit geht, steht rasch fest: Die «unerlaubten Handelsgeschäfte» lassen auch die UBS und den gesamten Finanzplatz London in einem düsteren Licht erscheinen. Der Milliardenskandal bestärkt die Briten im Gefühl, im Reich der Finanzjongleure habe sich nichts verändert. Vergeblich preist Stuart Fraser, der damalige Cheflobbyist des Finanzdistrikts, in jenen Tagen die City of London an als «unentbehrlichen Teil unseres Wirtschaftslebens»: In der britischen Hauptstadt würden «die Klügsten und Besten» aus aller Welt für ihre Geschäfte zusammenkommen. Adoboli, suggerieren die Apologeten der UBS, sei ein Einzelfall, vergleichbar dem selbsternannten Rogue Trader Nick Leeson, der 1995 die traditionsreiche englische Barings Bank in den Ruin getrieben hatte.

Doch so einfach kommen die Propagandisten nicht davon. Frühere Marktteilnehmer wie Geraint Anderson, Autor des Bestsellers «Cityboy», bestätigen den Eindruck einer Branche, die ausser Kontrolle geraten ist: «Investmentbanken belohnen ehrgeizige Macho-Spieler, deren Arroganz nur noch von ihrer Skrupellosigkeit übertroffen wird.» Insofern sei das Gerede vom kriminellen Rogue Trader Unsinn: «Risikoreiches Handeln wird systematisch belohnt.» Ins gleiche Horn stösst auch der liberale Wirtschaftsminister Vince Cable. Er spricht von der UBS als einer «Schurkeninstitution» (rogue institution), die den Staat «dem Risiko finanzieller Massenvernichtungswaffen» aussetze.

Was in jenen Spätsommertagen 2011 noch Gegenstand von Spekulationen war, hat der Prozess ein Jahr später in aller Deutlichkeit bestätigt. Zu viele in der Bank wussten von der Schattenbuchhaltung, dem sogenannten Regenschirm, des Star-Traders – oder schauten darüber hinweg, solange die Gewinne stimmten. Adoboli war Teil eines Systems, in dem das Geldverdienen um beinahe jeden Preis wichtiger war als die Einhaltung langweiliger Vorschriften. Unter dem Brennglas eines Strafprozesses bestätigten viele frühere und derzeitige UBS-Akteure die Analyse des langjährigen Investmentbankers und Buchautors John Reynolds («Ethics in Investment Banking»): «Finanzhäuser leiden an einer Abwesenheit von Moral.»

Fünf Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise, vier Jahre nach dem Konkurs von Lehman Brothers, der die Weltwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte, bot das Verfahren gegen Adoboli tiefe Einblicke in die Welt der Turbobanker. Anders als die Konzernchefs – Chefinnen gibt es in dieser Branche kaum – musste sich der auf Abwege gelangte Trader für sein Tun verantworten. Ein rasches Schuldbekenntnis, wie von seiner ersten Anwaltskanzlei empfohlen, hätte dem jungen Mann, seiner Bank und der gesamten Branche viele Peinlichkeiten erspart und ihm womöglich ein milderes Urteil eingebracht. Doch der Trader wollte im Strafprozess seine Geschichte erzählen: Er fühle sich «nicht schuldig», weil er aus seiner subjektiven Sicht nicht unehrlich gehandelt hatte.

Man mag das für Schutzbehauptungen halten und Adoboli für seine mangelnde Einsicht tadeln. Immerhin gelang es dem Trader und seinem Anwaltsteam, die Geschworenen mehrheitlich davon zu überzeugen, dass seine jahrelange Bilanzfälschung nicht strafbar gewesen war. Das gilt unter Juristen als bemerkenswerter Erfolg, wenn dieser auch von der gleichzeitigen Verurteilung wegen Betrugs überdeckt wird. Vor Prozessbeginn hatten Experten eher das umgekehrte Ergebnis für möglich gehalten. Zweifel daran, dass Adoboli hinter Gittern enden würde, hegte kaum jemand. Dafür klang seine Granaten-E-Mail zu eindeutig nach dem Schuldbekenntnis eines willigen Opferlamms.

Der Fall Adoboli ist Teil eines systemischen Problems im Investmentbanking. Anzeichen dafür gibt es viele. Noch während der einstige UBS-Mann sich auf sein Verfahren vorbereitete, musste Marktführer JP Morgan im Mai 2012 einen Milliardenverlust einräumen. Im Londoner Büro des US-Konzerns war ein «Wal» gestrandet: Trader Bruno Iksil, wegen seiner Riesenwetten in der Branche als «Londoner Wal» bekannt, hatte sich mit Kreditausfallversicherungen (CDS) verzockt. Der Schaden für die Bank wurde zunächst mit 2, später mit mindestens 5,8 Milliarden Dollar angegeben. Anders als Adoboli handelte der Franzose Iksil mit ausdrücklicher Billigung seiner Vorgesetzten, jedenfalls hat es die Bank so dargestellt und von einer Strafverfolgung abgesehen.

Wenige Wochen später kam ein Skandal ans Tageslicht, der schon des Namens wegen untrennbar mit der City verbunden ist: Der Interbankenzins Libor, abgekürzt für London Inter Bank Offered Rate, beeinflusst Finanzdeals in Billionenhöhe und wurde jahrelang unter der Ägide der britischen Bankenvereinigung (BBA) ermittelt. Der Interessenverband stützte sich dabei auf die Mitteilungen von 20 globalen Finanzhäusern. Nach mühseligen Ermittlungen der Aufsichtsbehörden steht fest: Jahrelang haben angesehene Konzerne wie UBS, Barclays, Citibank oder Deutsche Bank ihre Angaben gefälscht und dabei saftige Gewinne eingestrichen. Bei Barclays trat die gesamte Konzernspitze zurück, UBS musste kriminelles Verhalten einräumen und eine Milliar­denstrafe bezahlen. Die Schadensersatzansprüche geprellter Anleger werden den Finanzplatz London noch lang beschäftigen, selbst wenn die nun ins Auge gefasste Reform des Libor gelingt.

Als sei die Libor-Manipulation noch nicht genug, machten im Sommer 2012 britische Banken auch durch immer neue Skandale von sich reden, die nichts mit der Investmentsparte zu tun hatten. Im HSBC-Konzern hatte die mexikanische Tochter jahrelang Drogenmilliarden gewaschen; der zuständige Ausschuss des US-Senats sprach angewidert von einer «durch und durch versauten Unternehmenskultur», das Unternehmen musste 1,9 Milliarden Dollar Strafe bezahlen. Ähnliche Vorgänge, diesmal im Zusammenhang mit Terrororganisationen im Nahen Osten, kosteten das Londoner Bankhaus Standard Chartered eine Strafe von 340 Millionen Dollar.

London, immer wieder London. Es gebe da «ein beunruhigendes Muster», glaubt die New Yorker Kongressabgeordnete Carolyn Maloney: «In den letzten Jahren ist London buchstäblich zum Zentrum von Handelskatastrophen geworden.» US-Finanzaufseher sprechen abfällig von «Londoner Schlupflöchern». Deren Kollegen in der britischen Hauptstadt arbeiten fieberhaft an neuen Regeln, die der Glaubwürdigkeit der City aufhelfen sollen. Für die Briten steht viel auf dem Spiel, zu wichtig bleibt die Branche in einem Land, das an Weltmarktführern sonst allenfalls noch den Triebwerkbauer Rolls-Royce zu bieten hat. Sollte London seine Vormachtstellung als internationaler Finanzplatz verlieren, käme dies einer wirtschaftlichen Katastrophe gleich, höchstens noch vergleichbar mit der totalen Anspannung und anschliessenden Erschöpfung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Dass die Bankenmetropole damals den Neuanfang schaffte und nicht mit dem britischen Empire unterging, verdanken die Londoner nicht zuletzt einem Einwanderer und hochtalentierten Aussenseiter: Siegmund Warburg, dessen Institut S.G. Warburg von der UBS gern als «zentraler Pfeiler unserer heutigen Investmentbank» gefeiert wird. Warburg brach nach dem Krieg verkrustete Strukturen auf, brachte den Briten die Lust an feindlichen Übernahmen bei und erfand mit den Eurobonds quasi das erste globale Finanzinstrument, auf das natio­nale Aufseher keinen Zugriff mehr hatten. Der gelernte Privatbankier aus dem traditionsreichen Hamburger Haus M.M. Warburg hatte nach der Emigration aus Nazideutschland bei null anfangen müssen. Zeit seines Lebens hielt er an einer Geschäftsmoral fest, die beim «zentralen Pfeiler» der UBS in Vergessenheit geriet: unbedingte Kundenorientierung, ehrliche Beratung, Abscheu vor Gier. Mit der strikten Beschneidung der Investmentbranche gilt der Schweizer Konzern in London wieder als Pionier, auch andere Finanzhäuser wollen ihr Geschäftsmodell auf eine solidere Grundlage stellen. Ohne eine genauere ethische Prüfung ihrer Praktiken dürfte dies zum Scheitern verurteilt sein.