Videojournalismus - Sabine Streich - E-Book

Videojournalismus E-Book

Sabine Streich

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Beschreibung

Videojournalismus ist nicht (nur) kostengünstig produziertes Fernsehen, sondern hat sich mittlerweile zu einem eigenen Genre entwickelt. Persönliche Zugänge, Auswahl der Kameraeinstellungen, Spüren des Schnittrhythmus’, eine besondere Nähe zu den Protagonisten, die innere Erzählhaltung, Auswahl von Musik – das macht die eigenständige Arbeitsform von VJ und die spezifische Autorenleistung aus. Wie man die vielfältigen Herausforderungen im Dreieck zwischen Journalismus, Dramaturgie und Technik lustvoll und professionell meistert, zeigt Sabine Streich in diesem praktischen Ratgeber.

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[1][2]

Sabine Streich ist Filmemacherin, Kamerafrau und Videojournalistin der ersten Stunde. Sie hat zusammen mit Michael Rosenblum die ersten VJ-Bootcamps geleitet. Trainerin bei vielen nationalen und internationalen Rundfunkanstalten und bei der ARD/ZDF-Medienakademie. Gründerin des internationalen VJ Awards und der Initiative Medienintelligenz. Viele Preise und Auszeichnungen, darunter der Stiftungspreis des Medienkompetenz Forums Südwest (2008) und »SCOOP«, der Nachwuchspreis der Axel-Springer Journalistenschule für das journalistische Internetprojekt »Talk to the Enemy« (2010). Begleitend zum Buchprojekt betreibt sie die Internetplattform www.vjakademie.de.

[3]Sabine Streich

Videojournalismus

Ein Trainingshandbuch

2., überarbeitete Auflage

UVK Verlagsgesellschaft Konstanz . München

[4]Praktischer Journalismus

Band 72

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISSN 1617-3570

EPUB-ISBN 978-3-86496-128-1

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

1. Auflage 2008

2. Auflage 2012

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012

Einband: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Einbandfoto: Stefan F. Sämmer, Zornheim

Satz: Claudia Wild, Stuttgart

Druck: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Inhalt

Einführung

Trainingseinheiten

Level 1

Wir zeichnen eine Obstschale – die 5-Shot-Technik als Grundlage des filmischen Erzählens

Level 2

Der erste Dreh – goldene Regeln für die Kameraführung

Level 3

Wir schneiden unseren ersten Film – Schnitt und Dramaturgie

Level 4

Schärfe, Helligkeit und Farbe – Kamera für Fortgeschrittene

Level 5

Go out and find a Story

Level 6

Schnitt einer Zufallsbegegnung – die Story im Material finden

Level 7

Recherche, journalistische Qualität und Ethik

Level 8

NiF, Newsbeitrag und Magazin – die Klassiker im Fernsehprogramm

Level 9

Auf allen Ebenen gestalten – Produktion eines Magazinbeitrags

Level 10

Königsklasse Reportage

Level 11[6]

Videojournalisten vor der Kamera

Level 12

Den eigenen Stil finden

Exkurse

Die Zukunft des Videojournalismus’ – 10 Thesen (Sabine Streich/Claus Fokke Wermann)

Ethische Grundsätze im Videojournalismus (Peter A. Pfaff)

My Way (Mike Kraus)

Wie der Videojournalismus nach Flandern kam (Philip Hilven)

Autoren und Interviewpartner

Literatur

Index

[7]Einführung

Können Sie sich noch an die alten Telefone mit den runden Wählscheiben erinnern? Man musste den Finger in ein Loch mit einer Nummer stecken und die Scheibe bis zum Anschlag drehen.

Ich kann mich an diese Telefone noch gut erinnern. An den Sound der Scheibe beim Wählen, an den großen runden Hörer, der sehr komfortabel in der Hand lag und an das Klingeln. Zu dieser Zeit gab es nur einen Klingelton für alle. Das scheint 100 Jahre her zu sein. Heute kann man diese Telefone nur noch auf dem Flohmarkt kaufen.

Wann waren diese Telefone auf dem Markt? 1960–1980? Genau weiß ich das nicht, aber aus meiner Kindheit sind mir die grauen Fernsprechapparate noch sehr präsent. Unserer stand auf einem kleinen Tischchen im Flur. Man ist etwa zehn Jahre alt, wenn man als Mädchen beginnt mit seinen Freundinnen stundenlang zu telefonieren. Die Gründe für den ausgeprägten Kommunikationswunsch sind die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Zu meiner Teeniezeit war das der Starschnitt von Nena in der letzten bravo-Ausgabe.

Hätte mir damals jemand gesagt: »In etwa 25 Jahren wirst Du immer noch stundenlang mit Deinen Freundinnen telefonieren, aber es wird keine Rolle mehr spielen von wo Du das tust. Du musst nicht mehr im Flur sitzen, wo jeder zuhören kann. Es wird dann Telefone zum Mitnehmen geben. Mit diesen kleinen transportablen Telefonen kannst Du auch kleine Briefe versenden, so genannte SMS. Oder Du kannst ein Foto von Deinem neuesten Verehrer aufnehmen. Dieses Foto kannst Du dann direkt von Deinem handgroßen silbernen Telefon zu Deiner Freundin nach England senden, damit sie auch gleich weiß wie der Neue aussieht. Du kannst aber auch einen kleinen Videofilm drehen und den verschicken, das dauert dann ein wenig länger, so drei Minuten etwa. Das geht alles mit einem Gerät, einer kleinen Wundermaschine mit Namen Handy.«

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht wie ich reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte ich diese Person für total verrückt gehalten. Mit einem Telefon will man telefonieren und nicht Briefe schreiben, fotografieren oder gar Videos drehen. Außerdem, überlegen Sie einmal wie die ersten Videogeräte ausgesehen haben. Das waren zwei Geräte, eines war die Kamera und ein anderes war das Aufnahmegerät. Die Videokassette allein war so groß wie das Mathebuch aus der Schule.

[8]Und heute? Heute versende ich eine SMS, egal wo ich gerade stehe oder gehe. Mit meinem Handy mache ich Fotos von wichtigen Familienereignissen und sende sie an die Handys anderer Familienmitglieder.

Das Zaubertelefon ist wahr geworden, die Utopie Realität. Ein ordinäres Telefon zu einem Multimedia-Tool geworden, auf dem ich neuerdings auch schon fernsehen kann. Die technische Entwicklung des Telefons hat nicht nur die Art der Kommunikation beschleunigt, sondern hat sie auch räumlich freigesetzt.

Die technische Entwicklung im Bereich Journalismus, vor allen im visuellen Journalismus der letzten 25 Jahre, ist enorm und betrifft Printmedien gleichermaßen wie das Fernsehen und den Hörfunk. Dagegen wirkt die Entwicklung des Telefons läppisch. Gerade das Fernsehen lebt von diesen Veränderungen und ist in einem ständigen Entwicklungsprozess. Die Bilder für das Fernsehen wurden früher auf Film gedreht, erst auf 35, dann auf 16 Millimeter-Material, so wie der technisch ältere Kinofilm.

Die Produktion von Fernsehen war immer eine arbeitsteilige Angelegenheit. Ein durchschnittliches Kamerateam bestand früher aus Kameramann, Tonmann, Kameraassistent, Beleuchter und Autor. All diese Spezialisten waren nötig um einen Fernsehbeitrag zu realisieren. Warum waren so viele Personen nötig?

Der Kameramann hat gedreht, hat also einen realen Film belichtet. Die Kamera und das Filmmaterial mussten sehr gewissenhaft behandelt werden, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Und dazu brauchte der Kameramann einen Assistenten und einen Beleuchter. Der Tonmann sorgte dafür, dass die Bilder nicht stumm bleiben mussten, indem er den Ton auf ein getrenntes Tonbandgerät aufgenommen hat. Oft hat er dazu unterschiedliche Mikrofone eingesetzt. Der belichtete Film wurde nach den Dreharbeiten in einem Kopierwerk entwickelt und dann von einer Cutterin oder einen Cutter an einem Schneidetisch bearbeitet. Mit dabei, bei den Dreharbeiten und im Schneideraum, immer der Autor, Redakteur, Regisseur, der die journalistische Verantwortung trug.

Filmemachen war zu dieser Zeit eine kostenintensive Angelegenheit. Die Kamera war teuer, das Filmmaterial, der Kameramann, der Tonmann und vor allem der gute Autor waren keine Selbstverständlichkeit. Als man Fernsehen noch auf Film produziert hat, war viel Know-how nötig, um gute Ergebnisse zu erzielen. Mit Video ist das sehr viel einfacher geworden. Rein technisch gesehen! Mit guter Technik hat man noch lange keinen guten Beitrag. Video ist heute bei einer Entwicklungsstufe angekommen die kinderleicht zu bedienen ist.

Gerade diese technische Vereinfachung im Bereich des Filmemachens gibt jedem Journalisten, jedem, der etwas zu erzählen hat, neue Möglichkeiten sich kreativ zu entfalten. Nie waren die Chancen so groß. Man kann diesen Fortschritt gut mit der Entwicklung in der Fotografie vergleichen. Die erste Fotografie entstand 1826. 100 Jahre später kam die Leica auf den Markt. Mit dieser Kleinbildkamera entstanden[9] völlig neue Möglichkeiten für eine mobile, schnelle Fotografie. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Kameras nicht wirklich beweglich. Sicherlich kennen Sie die Bilder von den Urgroßeltern, die völlig steif in irgendeinem Atelier herumstehen. Mit der Einführung dieser Kamera hat sich die Fotografie grundlegend verändert. Menschen wie Robert Capa und Henri Cartier-Bresson, die Gründer der berühmtesten Fotoagentur der Welt, Magnum Press, haben mit diesen Kameras den Bildjournalismus geprägt. Gleichzeitig hat die Leica die Fotografie populär gemacht. Da der Preis für diese Kameras irgendwann fiel, konnte sich jeder ein solches Gerät leisten. Damit wurde die Fotografie zu einem Massenmedium. Mit dem Filmemachen sind wir heute an einer ähnlichen Schwelle angekommen. Bisher war das Erstellen eines Films, rein technisch gesehen, sehr kostspielig. Die Kameras waren teuer, und die Geräte für die Weiterbearbeitung des Schnitts waren noch teurer. Mit ein Grund warum die Kameraleute eine fundierte und lange Ausbildung brauchten. Die Geräte waren einfach extrem wertvoll. Um technisch hochwertige Bilder zu produzieren, waren sie aber nötig.

Neben der Weiterentwicklung der Kameras im professionellen Segment, hat sich die technische Qualität im Bereich der Consumerkameras aber enorm verbessert. Ähnlich der Entwicklung der Kleinbildkameras. Digitale Videocamcorder, die man in jedem gut sortierten Hifi-Markt erwerben kann, machen heute Bilder die technisch gesehen sendefähig sind.

Der größere Sprung vollzog sich aber im Bereich der Postproduktion. Die Idee mit billigen kleinen Kameras zu filmen, ist fast so alt wie der Film selbst. Aber die Nachbearbeitung, sprich der Schnitt, war bisher immer noch ein Problem. Schneidetische, auf denen Film im wahrsten Sinne des Wortes geschnitten wurden, waren teuer, Schnittcomputer waren noch teuerer. Von den Kosten für die Unterhaltung und Pflege dieser Geräte ganz zu schweigen. Die Geräte im Consumerbereich waren zwar nicht ganz so teuer, dafür brauchte man aber starke Nerven, wenn man es wirklich wagen wollte, an einem heimischen Videorekorder-Schnittplatz einen kurzen Film zusammenzuschneiden. Das ging dann schließlich irgendwie, war aber in jeder Hinsicht unbefriedigend. Da konnte es schon einmal vorkommen, dass aus den bunten farbenfrohen Rohaufnahmen nach dem Zusammenschnitt ein trister Schwarz-Weiß-Film entstand.

Die Anfänge des Computerschnitts waren auch nur was für Leute mit starken Nerven. Natürlich ist es etwas übertrieben wegen eines abgestürzten Computers zu heulen. Aber wenn alles weg ist, alle kreativen Inputs, alle guten Gedanken, alle Arbeitsschritte, und das kurz vor der Ziellinie, das ist schon schlimm. Beim Schneiden mit diesen Dingern hatte man immer einen hohen Adrenalinspiegel und kurz gekaute Fingernägel. Ich habe mir in dieser Zeit angewöhnt, immer nett mit meinem Schnittcomputer zu reden, ihm also immer gut zuzureden, damit er mich nicht im Stich lässt.

[10]Heute muss man beim Schneiden nicht mehr heulen, und man braucht auch keinen hohen Adrenalinspiegel mehr zu haben. Die Schnittprogramme auf den Computern sind mittlerweile sehr stabil und leicht zu bedienen. Man hat dadurch von Anfang an mehr Raum zum Spielen. Die kreative Entfaltung steht im Vordergrund und nicht das Überwinden von Software- und Hardwareschwächen.

Die Entwicklung der Software und Hardware ist eine Sache, die Verfügbarkeit von Schnittprogrammen eine andere. Heute findet man auf jedem Rechner – sei es Desktop oder Laptop, sei es PC oder Apple – ein einfaches Schnittprogramm. Auf jedem! Diese hohe Verfügbarkeit einer Software, mit der ich einen sendefähigen Film schneiden kann, beschleunigt die Veränderung um ein Vielfaches. Was bisher Profis mit teuren Maschinen vorbehalten war, kann heute jeder machen, der einen neueren Computer zu Hause auf dem Schreibtisch stehen hat.

Mit dieser weiten Verbreitung der Produktionsmittel Kamera und Schnittcomputer öffnet sich der Zugang zum individuellen Filmemachen für jedermann. Früher entschieden Produktionsmittel, heute entscheidet die Idee.

Dieses Buch wird Ihnen helfen, Ihre Ideen in die Realität umzusetzen und damit ein unabhängiger Videojournalist (VJ) zu werden. Die Erkenntnisse von erfahrenen Fernsehmachern und VJ aus USA, Belgien und Deutschland fließen mit in dieses Buch ein.

[11]Trainingseinheiten

[12][13]LEVEL 1

Wir zeichnen eine Obstschale – die 5-Shot-Technik als Grundlage des filmischen Erzählens

Wir haben in der Einleitung einiges über die Veränderungen im Journalismus gehört, über technische Entwicklungen im Bereich Kamera und Computer, über die Verschiebung von Werten und Normen. Jetzt geht es zur Sache. Ganz praktisch! Über einen kreativen Prozess zu reden ist eine Geschichte, ihn auszuführen eine andere. Ein netter Co-Trainer von mir pflegte zu diesem Thema zu sagen, »Transpiration vor Inspiration.«

Noch eine kleine Anmerkung zu den einzelnen Levels. Ich bitte Sie, die Level wirklich nacheinander durchzuarbeiten. Sie bauen stark aufeinander auf. Wenn Sie sich an die Abfolge halten, haben Sie größere Chancen zu einem optimalen Ergebnis zu kommen. Wenn Sie sich an diese Vorgabe halten, werden Sie technisch sicherer und gewinnen Freiraum für kreatives Spielen. Die Technik wird ab einem gewissen Zeitpunkt in den Hintergrund rücken. Das ist unser Ziel, bis dahin müssen Sie einige praktische Dinge erlernen.

Dieses Buch ist nach neusten Lernerkenntnissen geschrieben, es baut an machen Stellen auf Wiederholung, denn nur dadurch festigt sich das Erlernte.

Man kann den ersten Schritt gut mit dem beim Malen und Zeichnen vergleichen. Wenn Sie zu malen beginnen, fangen Sie erst einmal mit einfachen gegenständlichen Objekten an. Normalerweise beginnt man nicht damit, Eier auf eine Leinwand zu werfen und sich dann als innovativer Künstler zu fühlen. Man beginnt etwas zu zeichnen, das man kennt und beobachten kann. Vielleicht zeichnet man mit einem Bleistift Gegenstände, die einem ins Auge springen, eine Kaffeetasse, ein Spielzeugauto oder die Sonnenblume auf dem Tisch. Ich würde mir was suchen, das sich nicht bewegt, sein Äußeres nicht verändert und nicht weglaufen kann. Gegenstände, die ich arrangieren kann und die nicht böse sind, wenn ich für einen Bleistiftstrich eine kleine Ewigkeit brauche. Also keine Menschen und keine Tiere. Landschaften erscheinen mir auch sehr schwierig, weil sie sehr detailreich sind und sich mit dem Lauf der Sonne auch permanent verändern. Sie wissen natürlich schon längst worauf ich hinaus will: Die berühmte Obstschale. Die kann nicht weglaufen, man kann sie gut arrangieren. Der Apfel wird auch selten ungeduldig [14]mit einem ungeübten Zeichner, er fault höchstens irgendwann. Dadurch hat man viel Zeit zum Üben.

Natürlich will man nicht nur nach der Natur zeichnen können, sondern eigene innere Bilder zum Ausdruck bringen. In den seltensten Fällen sind die inneren Bilder Obstschalen. Aber die muss man eben erst einmal zeichnen können, um das Handwerk zu beherrschen. Dann kann ich weitergehen und meine persönliche Sicht, meine Gefühle, meine Haltung, meine Ideen umsetzen. Es gibt Naturtalente, die das Handwerk mit in die Wiege gelegt bekommen haben. Die meisten müssen aber einfach das Handwerk erlernen.

Gute Filme haben im Allgemeinen wenig mit Zufall zu tun, auch wenn sie manchmal diesen Anschein erwecken. Das Gegenteil ist oft der Fall. Nehmen wir als Beispiel die Fluxus- und Happeningbewegung der 60er-Jahre. Während meines Studiums, habe ich an der Uni eine Dokumentation über Fluxus gesehen. Da waren ein paar Künstler, die nach einem gewissen Rhythmus teure Instrumente zertrümmert haben. Als ich das gesehen habe, dachte ich: »Das ist ja toll, das will ich auch machen! Sachen zertrümmern und dann dafür berühmt werden. Warum schlage ich mich eigentlich mit Statistik rum?« Natürlich war das naiv von mir, weil ich nur die vordergründige Aktion gesehen habe, aber den Hintergrund nicht verstanden habe, der sie zum Zertrümmern der Instrumente veranlasst hat.

Später habe ich verstanden, dass all diese Künstler mit ihren Aktionen auf die eingefahrenen Strukturen und Mächte in der Kunst, in der Gesellschaft und in der Politik aufmerksam machen wollten. Es war ein Ausbrechen, ein Aufbegehren gegen die herrschende Klasse, gegen das System. Eine Bewegung, die international war und die die Gesellschaft nachhaltig verändert hat. All diese Künstler hatten eine klassisch-konservative Ausbildung. Sie wollten sich weiterentwickeln und nicht nur konventionelle Erwartungshaltungen erfüllen. Das konnten sie aber nur, weil ihr handwerkliches Können ihnen die Grundlage hierfür gab.

Ähnlich ist es mit dem Filmemachen. Einiges, wie ein gutes Bild- und Sprachgefühl haben wir vielleicht schon in uns. Um gute Filme zu machen, brauche ich handwerkliche und gestalterische Kenntnisse. Ich muss die Regeln kennen. Erst wenn ich weiß, was ich mit meiner Kamera machen kann, wenn ich weiß wie die Wirkung hintereinander montierter Bilder ist, wenn ich weiß, welche Bedeutung Töne und Geräusche für unser Empfinden haben, erst dann kann ich ein Ziel bewusst umsetzen. Bis dahin ist das was ich produziere, nur Zufall und hat nur bedingt mit meiner Kreativität zu tun.

Welche Kamera Sie benutzen, um Ihren Videofilm zu drehen, spielt im Endeffekt keine Rolle. Wollen Sie für eine Fernsehstation arbeiten, sollten Sie sich an dem Standard des Fernsehkanals orientieren. Ansonsten sollte Ihr Arbeitsgerät eine Bildqualität haben, die Sie persönlich zufrieden stellt. Sie bearbeiten das gedrehte Material[15] weiter und wollen Ihre Zuschauer damit fesseln. Sie sollten vermeiden, dass Sie von Anfang an unzufrieden sind mit der Qualität, schließlich sehen Sie Ihr Material ziemlich häufig wieder bei der Nachbearbeitung. Es gibt nichts Quälenderes, als einen Film vorzuführen, mit dem man selbst unzufrieden ist. Ein befreundeter Kameramann sagt immer: »Die Hölle besteht darin, dass ich das von mir gedrehte Material in alle Ewigkeit immer wieder anschauen muss.«

Freunden wir uns also jetzt mit der Kamera an. Die meisten VJ (Videojournalisten) die ich kenne, arbeiten mit Sony, Panasonic oder Canon. Das liegt hauptsächlich daran, dass sich die Fernsehsender auf den einen oder anderen Kameratyp festgelegt haben. Mittlerweile haben sich fast alle Kamerahersteller auf diesen »Zwischenmarkt« eingestellt. Früher waren die Märkte sehr viel stärker getrennt. Es gab auf der einen Seite den Broadcast Bereich, der Fernsehsender und Produktionsfirmen bedient hat. Auf der anderen Seite stand der Verbrauchermarkt, Consumermarkt genannt, damit sind alle Home- und Hobbyfilmer gemeint. Die Überschneidung dieser beiden Bereiche war noch nie so ausgeprägt wie heute. Journalisten aus Fernsehsendern nutzen durchaus Kameras aus dem semiprofessionellen Segment.

Die Marke der Kamera ist nicht wichtig. Denn der Story ist es egal, mit welcher Kamera sie gedreht wird und der Zuschauer interessiert sich auch nicht dafür. Mit kleinen DV-Kameras wird heute alles Mögliche gedreht, auch Kinofilme. Eine Kamera für den VJ sollte gut in der Hand liegen und nicht zu schwer sein, denn man ist oft den ganzen Tag damit unterwegs. Es sollte keine Schulterkamera mit Sucher sein, da man als VJ meist allein arbeitet. Der Blick durch den Sucher versperrt das Gesichtsfeld derart, dass man auf der rechten Seite blind wird. Das bedeutet, dass bildwichtige Geschehen und Gefahren auf der rechten Seite nicht erfasst werden können. Unersetzlich ist deshalb für eine VJ-Kamera das ausklappbare Display. Dieses ermöglicht es, den Überblick über das gesamte Geschehen zu behalten, und man bleibt für die Menschen vor der Kamera sichtbar und damit ansprechbar. Entgegen den Empfehlungen der Hersteller sollten Sie versuchen, die Kamera in der rechten Hand zu halten. Das Gewicht der Kamera liegt auf der rechten Handfläche auf. Mit der linken Hand am Display stützen und stabilisieren Sie die Kamera, führen sie mit leichtem Fingerdruck und halten sie in der Waagerechten. Das Hauptgewicht liegt also in der rechten Hand, die linke Hand ist für die Fein arbeit.

Beide Hände sollten immer an der Kamera sein. Falls die Situation es erfordert, mit der rechten Hand in der Schlaufe zu drehen oder die rechte Hand durch die Schlaufe zu stecken, sollten Sie die Kamera mit der linken Hand stabilisieren.

[16]

Kamerahaltung: So behalten Sie die Kontrolle.

Wenn Sie die Kamera nur mit der Schlaufe hielten, wäre sie instabil und würde Sie beim schnellen Wechsel der Perspektive behindern. Die Schlaufenhaltung kann auch zu einer Überbeanspruchung der Sehnen führen, weil man die Kamera dann nur mit dem Druck des Handrückens gegen die Schlaufe hält. Wenn Sie ein Ziehen im rechten Unterarm spüren, kann das auch daran liegen, dass die [17]Schlaufe nicht eng genug eingestellt ist. Versuchen Sie, auf die Dauer eine eigene bequeme Handhaltung aus dieser Grundhaltung zu entwickeln. Etwaige Probleme können Sie vermeiden, wenn Sie vorher zu Hause »Trockenübungen« machen.

Beide Hände an der Kamera – das erhöht die Stabilität.

Der Vorteil einer kleinen Kamera gegenüber einer großen Schulterkamera liegt in der Möglichkeit des sehr physischen Drehens, insbesondere, wenn Sie die vorher empfohlene Handhaltung beherzigen. Was bedeutet physisches Drehen? Es bedeutet, dass Sie sich, gemeinsam mit Ihrer Kamera auf das Objekt oder den Menschen, den Sie filmen wollen, zu und wieder weg bewegen.

Probieren Sie Folgendes aus: Nehmen Sie ihre Kamera, wählen Sie den weitesten Aufnahmewinkel, den Ihre Kamera hergibt und zoomen Sie sich ein Objekt heran. Schauen Sie sich Ihr Bild genau an, was fällt Ihnen auf?

Weitwinkel

Großaufnahme im Tele

Jetzt stellen Sie Ihre Kamera wieder auf Weitwinkel, nehmen die Finger von der Zoomwippe – im Fachjargon auch »Rentnerwippe« – genannt und bewegen sich auf Ihr Objekt zu. Welche Unterschiede stellen Sie fest?

Bei der Zoomfahrt findet nur eine Herausvergrößerung des Objektes statt, beim physischen Rangehen an das Objekt verschiebt sich dieses zum Hintergrund. Die Konturen des Objektes verschieben sich gegen die Linien des Hintergrundes, dadurch entsteht ein Raumgefühl. Ein weiterer wichtiger Vorteil der weitwinkligen Objektiv-Einstellung ist, dass Kamerabewegungen dabei weniger auffallen.

Die Zoomwippe wird deshalb Rentnerwippe genannt, weil sich der Kameramann beim Anfertigen der Bilder weniger bewegen muss, wenn er sich einfach alles heranzoomt. Sie sind bestimmt ein bewegungsfreudiger Mensch, auch wenn Sie Rentner sind, oder?

[18]Großaufnahme im Weitwinkel

Adrian Aiboiv kommt aus Rumänien und ist stolzer Kapitän eines Fährbootes. Die Fähre verbindet den Wiesbadener Stadtteil Biebrich mit der Rheininsel Rettbergsaue und dem Schiersteiner Hafen. Von März bis September schippert Adrian mit seiner Tamara, so heißt sein Schiff, Ausflügler auf dem Rhein hin und her. Eine Rundfahrt dauert etwa eine Stunde. Anlässlich des Saisonendes habe ich einen kleinen Film über ihn gemacht.

Nach der 5-Shot-Regel habe ich die Situation folgendermaßen aufgelöst: Adrian steht in der Kajüte und steuert das Schiff. Bitte stellen Sie sich die Situation für einen Moment vor. Sie betreten die Kajüte! Wo wandert Ihr Blick zuerst hin? Zu den Händen am Steuerrad? Wenn das so ist, dann ist mit Ihrer persönlichen Wahrnehmung alles in bester Ordnung. Unser Instinkt lenkt unsere Aufmerksamkeit[19] auf die Bewegung und unser Auge folgt dieser. Dieses Verhalten liegt in der Natur des Menschen und ist ein uralter Überlebensreflex aus den Jäger- und Sammlerzeiten der Menschheit. Bewegung bedeutet Gefahr und deshalb reagieren wir darauf.

Das, was das Auge wahrnimmt, ist eine Naheinstellung der Handbewegung. In unserem Fall die Hände auf dem Steuerrad. Wir sehen eine Naheinstellung (ein Close-Up) vom Steuern. Welche Information trägt diese Einstellung?

Die Einstellung erzählt uns, WAS passiert. Jemand steuert.

Der erste von 5 Shots: eine Großaufnahme der Hände

Der zweite von 5 Shots: eine Großaufnahme des Gesichts

Und danach, wo wandert unser Blick dann hin? Zu Adrian, zu seinem Gesicht. Die Einstellung erzählt uns, WER das Schiff steuert. Auch die zweite Einstellung ist eine »Nahe« (Naheinstellung).

Was wollen wir jetzt wissen?

Die nächste Einstellung erzählt uns, WO das alles stattfindet. Deshalb ist die dritte Einstellung eine Totalansicht der Situation. Man nennt diese Einstellung deshalb Totale.

Der dritte von 5 Shots: Orientierung geben

[20]Mit diesen drei Einstellungen kann man schon eine Sequenz bilden, deshalb sind sie so etwas wie das Pflichtprogramm beim Eiskunstlaufen.

Wir sollten jetzt die Verbindung zwischen Aktion und Person noch deutlicher werden lassen – durch eine Einstellungsvariante, der Over-Shoulder-Einstellung.

Der vierte von 5 Shots: setzt mit einer anderen Perspektive Mensch und Handlung miteinander in Bezug.

Die Einstellung zeigt die Aktion (Steuern) und die Anbindung an die Person Adrian.

Die vierte Einstellung unterstreicht noch einmal den Zusammenhang zwischen Was und Wer und ist ein Beleg dafür, dass Aktion und Person tatsächlich zusammen gehören. Einen anderen Zusammenhang könnte auch Wer und Wo bilden. Das kann man auch gut mit einer Over-Shoulder-Einstellung erreichen, wenn der Drehort dies zulässt.

Was sollte die fünfte Einstellung sein? Wir sprechen ja von der 5-Shot-Technik.

Im Idealfall könnte das die Beantwortung der Warum-Frage sein. Das geht in diesem Fall aber leider nicht. Deshalb sollte man nach einem Wow-Shot Ausschau halten. Wow steht für ungewöhnlich, besonders, schön. Einen Wow-Shot machen Sie, wenn Sie auf Ihr Display schauen, ein Bild sehen und am liebsten laut Wow sagen würden.

Der vierte von 5 Shots (alternativ): Verbindung von Mensch und Handlung mit der Umgebung

[21]Der Wow-Shot ist eine wirkungsvolle Einstellung, die neben der reinen Information auch eine besondere gestalterische Komponente enthält (deshalb auch »Beauty-Shot« genannt). Das könnte eine ungewöhnliche Perspektive sein, eine Spiegelung des Geschehens, eine schöne Schattenbildung oder eine Silhouette. Es geht dabei darum, von der Szenerie zurückzutreten, um noch einmal einen distanzierten Blick auf die Situation zu werfen und eventuell einen persönlichen visuellen Akzent zu setzen.

Der fünfte von 5 Shots: eine besonders schöne oder außergewöhnliche Einstellung – der Wow-Shot

In meinem Fall ist der Wow-Shot ein Durchblick in die Kajüte mit einer Spiegelung des Wassers.

Tipp: Drehen Sie die 5 Shots am Anfang Ihrer VJ-Karriere immer in dieser Reihenfolge. Erstens vergessen Sie dann keine Einstellung, zweitens halten Sie sich viele Schnittmöglichkeiten offen. Wenn Sie 5 sauber von einander abgesetzte Einstellungen einer Tätigkeit drehen, haben Sie später 5×4×3×2×1=120 Möglichkeiten, die Einstellungen miteinander zu kombinieren.

Die 5-Shot-Technik ist in vielen Drehsituationen anwendbar. Sie ist vergleichbar mit den Grundschritten eines Tanzes. Sie ist einfach zu erlernen und hat man die Schrittfolge erst einmal verinnerlicht, dann kann man sich weiterentwickeln und die nächsten Schritte lernen. Genauso ist es beim Drehen. Folgen Sie Ihrer eigenen Wahrnehmung und lösen Sie die Situationen in 5 Shots auf. Wenn Sie am Anfang unsicher sind, spielen Sie die Situation in Ihrer Vorstellung durch. Üben Sie »trocken«.

Stellen Sie sich Luigi vor, den italienischen Koch. Der steht in der Küche und schneidet Karotten. Wo wandert Ihr Auge zuerst hin? Und dann weiter, wohin springt Ihr Auge dann? Oder denken Sie an Traudel, die oberbayerische Floristin, die einen Blumenstrauß bindet. Stellen Sie sich die Situation vor. Wie würden die 5 Shots von dieser Situation aussehen?

[22]Es wird nicht immer möglich sein, die 5 Shots schulbuchmäßig zu drehen. Das Leben, der Alltag sind viel zu schnell und Handlungen sind oft zu kurz, um sie in 5 Shots festzuhalten. Sie sollten dennoch immer versuchen, die ersten drei Shots, also das WAS, WER, WO zu bekommen, denn drei Einstellungen brauchen Sie, um eine Sequenz bilden zu können. Betrachten Sie die 5-Shot-Technik nicht als Dogma. Sie ist ein guter Weg, um drehen zu lernen und mit schneidbarem Material nach Hause zu kommen, mehr nicht!

Übung: Nehmen Sie Ihre Kamera und versuchen Sie, verschiedene Situationen in 5 Shots aufzulösen. Legen Sie eine Kassette oder Aufzeichnungskarte ein und filmen Sie Ihren Alltag. Drehen Sie Ihren Partner wie er die Wäsche aufhängt, oder filmen Sie Ihre Frau wie sie die Winterreifen aufzieht. Gut geeignet sind Bewegungen, die sich wiederholen. Bleiben Sie dabei so weitwinklig wie möglich und bewegen Sie die Kamera nur, um die Einstellungen zu verändern. Schalten Sie zwischen den verschiedenen Einstellungen die Kamera aus. Das fördert die Konzentration auf die einzelnen Shots. Wiederholen Sie die Einstellungen so lange, bis Sie zufrieden sind oder es die Situation erlaubt. Achten Sie auf Klarheit in den Bildern. Beim Drehen sollten die Bildinhalte WAS, WER, WO klar zum Ausdruck kommen.

Im zweiten Level werden Sie selbst mit der Kamera in der Hand rausgehen und Ihre erste kleine Story drehen. Denken Sie dabei immer an die 5-Shot-Technik. Wenn man zum ersten Mal mit der Kamera draußen ist, um die Realität einzufangen, kommt einem das Leben doppelt oder gar dreimal so schnell vor. Die gewöhnlichsten Abläufe scheinen in Lichtgeschwindigkeit stattzufinden. Vorgänge, die man normalerweise mit etwas Ungeduld betrachtet, bekommen ein atemberaubendes Tempo. Das nächste Kapitel enthält einige goldene Regeln für eine sichere Kameraführung.

[23]LEVEL 2

Der erste Dreh – goldene Regeln für die Kameraführung

Ihren ersten Dreh sollten Sie im vollautomatischen Modus absolvieren. Mit zunehmender Sicherheit und Routine werden Sie in der Lage sein, nach und nach alle Automatiken abzuschalten und Ihre Kamera über die Knöpfe zu bedienen.

Vor Ihrem ersten Dreh müssen Sie nicht das komplette technische Innenleben einer Kamera kennenlernen. Bei der Fülle an technischen Details würde Ihnen vermutlich die Lust am Filmemachen genommen. Letztendlich kommt es nicht auf die Technik an, sondern darauf, das Interesse des normalen Zuschauers zu wecken. Das schafft man mit einer guten Geschichte, über den Unterhaltungs- oder Informationswert eines Themas und die Denkanstöße, die es gibt. Das heißt, es kommt in erster Linie auf die Qualität der Story an und auf die Art und Weise, wie sie erzählt wird.

Technische Grundlagen

Selbstverständlich heißt dies nicht, dass die Technik völlig unerheblich ist. Vielmehr ein optimales Zusammenspiel zwischen Technik und Inhalt sollte Ihr Ziel sein. Haben Sie die Kameratechnik verstanden und Ihr Schnittsystem gut im Griff, können Sie technisch saubere Bilder und Töne in einer bestimmten Reihenfolge produzieren. Um eine Geschichte gut und interessant zu erzählen, reichen diese Fähigkeiten alleine jedoch nicht aus. Zwar sollte ein professioneller VJ beide Seiten beherrschen, grundsätzlich geht aber Inhalt vor Technik. Der Zuschauer akzeptiert auch einmal einen technischen Fehler, wenn die Geschichte gut und spannend erzählt wird. Ist die Geschichte langweilig, kann die Technik helfen, sie etwas interessanter zu machen. Ist aber die Geschichte langweilig und die technische Umsetzung amateurhaft, wird Ihr Zuschauer abschalten.

Bei der ersten Übung geht es darum, sich mit der Kamera vertraut zu machen und herauszufinden, welche Art von Geschichtenerzähler Sie sind. Da im vollautomatischen Modus gedreht wird, können Sie alle Funktionen wie Schärfe, Blende [24]und Belichtungszeit außer Acht lassen. Suchen Sie bei Ihrer Kamera nach einem Schalter, der »Auto«, »A« oder »Autolock« heißt.

Bei Panasonic-Modellen befindet sich die Taste meist auf der linken Seite bei den »USER«-Tasten.

Bei Canon-Kameras dreht man ein Rad.

Dank der Automatik können Sie sich vor allem auf den Inhalt konzentrieren. Aber nach und nach sollten Sie auch einen Blick für die Funktionen der Automatik bekommen, um zu erkennen, wie sie in bestimmten Situationen reagieren können. Sie schulen damit nicht nur Ihre Aufmerksamkeit, sondern werden auch ein Gefühl dafür bekommen, wann Sie eine Automatik-Funktion zum Erreichen eines Ziels einsetzen können und wann nicht.

[25]Beachten Sie den ND-Filter!

Ein wichtiges technisches Detail, auf das Sie auch bei Ihrem ersten Dreh achten müssen, ist der so genannte ND-Filter. Fast alle Kameras haben ihn, um auf Veränderungen von Licht und Helligkeit reagieren zu können. Diesen Filter könnte man auch als »Sonnenbrille« der Kamera bezeichnen. Stellen Sie sich vor, Sie wären besonders lichtempfindlich und könnten bei normalem Tageslicht nur mit Sonnenbrille und bei Sonnenschein sogar nur mit sehr stark verdunkelten Gläsern nach draußen gehen. Da Kameras sehr lichtempfindlich sind, brauchen sie bei Sonnenlicht eine Sonnenbrille, den ND-Filter. ND steht dabei für »neutrale Dichte« oder im Englischen für »neutral density.« Dahinter steckt nichts anderes als ein Graufilter, der den Lichteinfall auf den Chip Ihrer Kamera reduziert. So wie eine Sonnenbrille die Lichtmenge reduziert, die Ihre Augen erreicht, reguliert der ND-Filter grob die Intensität des Lichts, das durch das Objektiv fällt. Die Farben des Bildes werden dabei beibehalten. Für diese Funktion haben die meisten Kameras zwei Schalterstellungen.

Suchen Sie nun an Ihrer Kamera nach einer Taste oder einem Schalter mit der Bezeichnung »ND-Filter«. Er befindet sich oft dicht hinter dem Objektiv und hat folgende drei Einstellungsmöglichkeiten: »Off« für keinen Graufilter vor dem Chip, »Stufe 1« für leichten und »Stufe 2« für starken Sonneneinfall. Je nach Hersteller können die Bezeichnungen variieren, bei Sony heißt es beispielsweise »1« und »2«, während bei Panasonic oft »1/8« oder »1/64« neben der Taste steht.

Der ND-Filter bei Panasonic

[26]

Der ND-Filter bei Canon

Canon verwendet die Bezeichnungen »1/6« und »1/32«.

Checkliste: Goldene Regeln für Ihren ersten Dreh

Drehen Sie alles aus der Hand, so sind Sie flexibel und beweglich. Denken Sie an das, es erleichtert Ihnen das Verfolgen einer Situation.Drehen Sie alles mit der größstmöglichen Weitwinkeleinstellung Ihres Zoomobjektivs. Am besten benutzen Sie die Zoomwippe am Anfang nicht. Für eine Naheinstellung (Close-Up) gehen Sie mit der Kamera nah an das Objekt heran. Für eine ortsbestimmende Totale, bewegen Sie sich körperlich weiter weg. Der erste Vorteil beim Drehen im Weitwinkelbereich (also mit kurzer Brennweite) ist die große Tiefenschärfe der Kamera. Damit sind große Bereiche des Bildes scharf, während sich Unschärfen eher verspielen. Der zweite Vorteil ist, dass bei einem weitwinklig gedrehten Bild unbeabsichtigte Kamerabewegungen (Wackler) weniger auffallen.Drehen Sie mit Disziplin. Legen Sie am Drehort nicht gleich los, sondern verschaffen Sie sich zunächst einen Überblick. Entscheiden Sie dann: Was muss sofort gedreht werden, weil die Gelegenheit sonst vorbei ist? Welche Situationen könnten sich demgegenüber später wiederholen?Schalten Sie die Kamera bewusst ein und aus. Suchen Sie nicht mit laufender Kamera (rotes Record-Zeichen im Display) die nächste Einstellung. Andernfalls laufen Sie Gefahr, dass keine Einstellung gezielt ausgewählt ist und lange genug steht.[27]Jede Einstellung mindestens zehn Sekunden stehen lassen. Am besten zählt man in Gedanken von eins bis zehn mit. Um die Tonaufnahmen jedoch nicht zu gefährden, unbedingt lautes Mitzählen vermeiden!Immer das Display im Blick behalten und nicht durch den Sucher schauen. Als VJ sollte man am Drehort stets den Überblick behalten. Verwendet man den Sucher, ist das gesamte rechte Blickfeld von der Wahrnehmung ausgeschlossen.Drehen Sie nur stehende Einstellungen. Halten Sie die Kamera so ruhig wie möglich und verzichten Sie auf Schwenks, Fahrten und Zooms. Diese erfordern sehr viel Können und Erfahrung. Sie misslingen leicht und lassen das Material amateurhaft wirken. Je weniger Sie die Kamera bewegen, desto leichter wird hinterher der Schnitt. Stehende Bilder entsprechen zudem am ehesten unserer natürlichen Wahrnehmung.Drehen Sie klare Einstellungen, das heißt zeigen Sie, was der gewünschten Aussage nützlich ist.Denken Sie an die Geschichte, die Sie erzählen möchten. Vermeiden Sie daher sinnlose Einzel- oder Schnittbilder, wie etwa die Uhr an der Wand, den Aschenbecher auf dem Tisch oder den Kronleuchter an der Decke, welche die Story nicht voran bringen.Machen Sie keine Sitzinterviews und statischen O-Töne, bei denen beispielsweise jemand auf dem Sofa sitzt oder vor einer Bücherwand steht und etwas erzählt. Stellen Sie Ihre Fragen aus der Situation heraus, im passenden Moment. Sitzen oder ruhig stehen wird der Interviewpartner vermutlich bei Interviews, die Ruhe und Nachdenklichkeit erfordern. Die Kamera kommt dann eher auf das Stativ.Nicht inszenieren! VJs folgen dem Leben und gestalten es nicht um!Drehen Sie nicht zu viele O-Töne (sprechende Köpfe). Diese sollten nicht mehr als ein Fünftel Ihres gesamten Drehmaterials ausmachen. Stattdessen sollte, die Person, über die Sie einen Film machen, mehr bei Tätigkeiten abgebildet werden.Tragen Sie immer Kopfhörer, um den Ton zu kontrollieren. Ein Bild ohne dazugehörigen Ton ist verschenkt.Behalten Sie die Ruhe, egal was kommt. Vermeiden Sie es auf jeden Fall, sich von einer Situation antreiben zu lassen. Atmen Sie ab und zu tief durch. Und falls Sie eine Situation verpasst haben, halten Sie sich nicht mit dem Ärger darüber auf, sonst geht Ihnen auch die nächste gute Gelegenheit durch die Lappen.

[28]Übung: Für Ihren ersten Film sollten Sie sich ein einfaches und überschaubares Thema wählen, um die Herausforderungen der Technik besser meistern zu können. Er sollte z. B. von einer Person oder einem Ort erzählen. Idealerweise verrichten die Menschen dort eine handwerkliche Tätigkeit, die nicht sehr komplex ist. Vermeiden Sie es am Anfang, schnellen Aktionen folgen zu müssen. Der Film könnte ein kleines Porträt über einen Schuster, einen Koch, eine Putzfrau, Floristin, Friseurin und andere Berufe oder Tätigkeiten sein. Drehort könnte auch ein Restaurant, eine Dönerbude oder eine Autowerkstatt sein. Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Sie bestimmen, über was Sie einen Film machen möchten.

Vorgehensweise: Suchen Sie nach einer einfachen Story über einen Menschen oder einen Ort, der Ihnen auffällt oder Ihr Interesse weckt. Wenn Sie Ihr Thema gefunden haben, überlegen Sie sich grob, welche Geschichte Sie innerhalb dieses Themas erzählen wollen: Die Probleme eines Schusters in der Wegwerfgesellschaft, eines Studenten, der in der Dönerbude arbeitet, um sich das Studium zu finanzieren oder die Probleme des ersten vegetarischen Restaurants mit WLAN. Die Geschichten liegen förmlich auf der Straße, finden Sie etwas, das Sie persönlich interessiert und Sie Ihren Freunden erzählen würden.

Sollte an Ihrem Drehort wider Erwarten nichts passieren, gehen Sie woanders hin oder erzählen Sie, dass nichts passiert ist. Sie müssen in dieser Situation aber abwägen, ob diese Ereignislosigkeit eine erzählenswerte Geschichte ist und ob Sie sich einen solchen Film gerne ansehen würden. Wenn Sie Ihre Geschichte selbst langweilig finden, warum sollte dann jemand anders sie interessant finden? Sie machen diese Übung nur für sich, finden Sie also eine kleine Story, für die Sie sich begeistern können, das lohnt sich auch für Ihre Zuschauer.

Beachten Sie die Kiss-Regel! Kiss steht für »Keep it simple stupid!« Versuchen Sie nicht, in Ihrem ersten Film die Komplexität des Lebens und die Probleme der ganzen Welt aufzuarbeiten oder zu erklären. Heben Sie sich die tiefgründigen Stories für später auf, wenn Sie mit der Technik und Arbeitsweise vertrauter sind. Die ersten Übungen sollen einfach sein und Ihnen zu mehr Sicherheit verhelfen.

Verwenden Sie die 5-Shot-Technik und halten Sie auf jeden Fall die goldenen Regeln für Dreharbeiten ein. Falls Sie eine Geschichte über einen Ort machen, sollten dort Menschen agieren, sonst wird es schwierig mit den 5 Shots.

Ihr erster Film sollte etwa zwei Minuten lang sein, so dass nicht mehr als ca. 20 Minuten Rohmaterial notwendig sind. Nehmen Sie sich etwa drei bis vier Stunden Zeit für Ihren ersten Dreh. Seien Sie diszipliniert, halten Sie die Kamera ruhig – das erleichtert die Arbeit im Schnitt später und Sie haben mehr Spaß. [29]Bedenken Sie auch, dass viele Protagonisten erst einmal alles erzählen oder kommentieren wollen, was sie tun. Dies geschieht aus Hilfsbereitschaft, weil sie Ihnen helfen wollen zu verstehen, was sie machen. Erklären Sie daher Ihrem Protagonisten, dass Sie ihn erst einmal nur bei seinen täglichen Arbeiten beobachten wollen. Der klassische Fernsehspruch gegenüber den Protagonisten an dieser Stelle ist: »Tun Sie so, als seien wir gar nicht da!« Jeder, auch der Zuschauer, weiß jedoch, dass Sie da sind, schließlich sind Sie stellvertretend für ihn da. Reden Sie daher mit Ihrem Protagonisten, erklären Sie ihm, was Sie möchten. Soll er beispielsweise nicht in die Kamera schauen oder alltägliche Dinge seines Lebens für Sie tun, sagen Sie ihm das bzw. bitten Sie ihn darum. Schauen Sie sich zunächst seine Tätigkeiten an und filmen Sie es erst dann. Schaffen Sie eine lockere Atmosphäre zwischen Ihnen und Ihrem Protagonisten und geben Sie ihm das Gefühl, wirklich an seiner Geschichte interessiert zu sein. Machen Sie keinen Laienschauspieler aus ihm, indem Sie ihm sagen, was er tun soll, sondern sagen Sie ihm, welche Situationen Sie für Ihren Film brauchen. Haben Sie noch nicht herausgefunden, was interessant sein könnte, verbringen Sie etwas Zeit mit ihm und beobachten Sie, was er macht. Überlegen Sie dabei, was das Besondere oder Erzählenswerte daran sein könnte.

Wenn es für Ihre Geschichte wichtig ist, dann sind Sie als Person und Erzähler präsent. Umgekehrt müssen Sie sich zurücknehmen, wenn es für Ihre Geschichte störend ist. Die Erfahrung zeigt, je schwerer ein Thema ist, desto mehr nimmt sich der Erzähler zurück. Ihre Haltung sollte dem Film angemessen sein, reagieren Sie flexibel auf die Situation.

Für die Gestaltung des Films, die Sie auch immer im Auge behalten sollten, ist es notwendig, darauf zu achten, dass Ihr Protagonist nicht permanent redet. Sie sollten etwa zu 80 Prozent Aktionen filmen, also Situationen, in denen Ihr Protagonist tatsächlich etwas tut. In dieser ersten Übung können Sie aber auch ganz auf Interviews und O-Töne verzichten.

[30][31]LEVEL 3

Wir schneiden unseren ersten Film – Schnitt und Dramaturgie

Wie war Ihr erster Dreh? Haben Sie das Gefühl, dass das Leben viel zu schnell abläuft? Dass man die 5-Shot-Technik gar nicht anwenden kann, weil schon alles vorbei ist, bevor Sie zum zweiten Mal bis zehn gezählt haben? Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen einfache Vorgänge wie Bierzapfen, Blumenstraußbinden oder Zwiebel schneiden hochkomplex erscheinen? Meinen Sie gar nicht mitbekommen zu haben, was ihr Protagonist so erzählt hat? Haben Sie einen schweren Arm vom Halten der Kamera?

Ja? Dann ist alles in Ordnung! Sie sind auf dem besten Weg, ein Videojournalist zu werden. Es ist völlig normal, dass Sie sich bei Ihrem ersten Dreh überfordert gefühlt haben. Ich hoffe nur, Sie hatten trotzdem etwas Spaß dabei.

Fahren Sie Auto? Dann denken Sie einmal an Ihre erste Fahrstunde. Wie war das? Können Sie sich noch erinnern?

Also ich weiß noch genau wie das war. Der Fahrlehrer hat mir erst alles gezeigt und erklärt. Die Zündung, die Pedale, wie man einen Gang einlegt und so weiter. Die ganze Zeit musste ich überlegen, auf welches Pedal ich jetzt treten muss, damit das passiert was ich will. Bremsen, Kuppeln, Schalten und Gas geben und dabei die Kupplung los lassen. Ich weiß nicht mehr genau, wie oft das Auto am Anfang abgesoffen ist, aber ich kann mich gut daran erinnern dass ich mich Anfangs überfordert gefühlt habe. Ich glaube, ich habe die Kupplung immer zu schnell losgelassen, zu wenig Gas gegeben. Das Auto ist erst wie ein Hase gehüpft und dann ausgegangen. Nach dem fünften Mal war ich völlig genervt. Da ich aber einen netten Fahrlehrer hatte, habe ich nicht aufgegeben, bis ich das richtige Gefühl für das Zusammenspiel zwischen Kupplung und Gas intus hatte. Autofahren ist so selbstverständlich in unserem Wissen verankert, dass wir nicht mehr darüber nachdenken während wir es tun. Während des Fahrens suchen wir einen Radiosender, bedienen das Navigationsgerät und fahren im dicksten Berufsverkehr von einer Spur auf die andere und manchmal flirten wir noch mit anderen Autofahrern. Wenn mein Fahrlehrer in meiner ersten Fahrstunde von mir verlangt hätte, Auto zu fahren, dabei zu telefonieren, zu rauchen und einen neuen Sender im Radio zu suchen, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Heute ist das kein Problem.

[32]Falls Sie sich bei Ihrem ersten Dreh überfordert gefühlt haben, weil alles viel zu schnell abläuft, machen Sie sich also keine Sorgen. Eine Kamera bedienen ist nicht schwieriger als Autofahren und auch nicht sehr viel komplexer. Sie müssen viel üben und es immer wieder tun, um Routine zu bekommen. Eine Kamera gut zu führen, lernt man nicht in der Theorie, man lernt es nicht, indem man ein Buch liest. Filmen und Filme machen lernt man nur, indem man es tut. Deshalb nehmen Sie so oft wie möglich eine Kamera in die Hand. Verinnerlichen Sie die 5 Shots. Sie kommen irgendwann an den Punkt, an dem Sie nicht mehr darüber nachdenken, ob Sie nun die eine oder andere Einstellung schon gedreht haben. Sie tun es einfach, genauso wie Sie heute nicht mehr darüber nachdenken, welches Pedal Sie treten müssen um einen Gang einzulegen.

Schnittsysteme früher und heute

Schnittsysteme sind heute digital, nonlinear und überall verfügbar. Gerade diese Verfügbarkeit treibt die Entwicklung im Bereich des filmischen Erzählens an. Die Idee, mit kleinen Kameras zu drehen, ist so alt wie der Film selbst. Zu Filmzeiten, also zu den Zeiten als Film noch Zelluloid war, ein beschichteter Filmstreifen, waren Postproduktion und Schnitt sehr aufwändig. Der Film musste entwickelt und kopiert werden und wurde dann als Filmstreifen zerschnitten – »geschnitten« – und wieder zusammengeklebt, so dass eine neue Reihenfolge von aneinander geklebten Bildern entstand: der fertige Film.