Vielleicht habe ich dich nur erfunden - Tatjana Scheel - E-Book

Vielleicht habe ich dich nur erfunden E-Book

Tatjana Scheel

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Beschreibung

What is love? - Über das Gefühl, das lähmt und belohnt, das zerstört und lebendig macht. "Und weil du eh nicht weißt, was du willst, machen wir jetzt einfach das, was ich will." Der erste Sprung ins kalte Wasser ist belebend. Als Alex wieder auftaucht, ist da Sheela. Selbstbewusst, unberechenbar, der Blick durchdringend. Ein paar Tage unter der Sonne Siziliens nur haben die beiden, um auszufechten: wer es an die Oberfläche schafft, wem Luft zum Atmen bleibt. Wer von den beiden bestimmt, in welche Richtung das Ganze geht. Alex steht kurz vor dem Abitur und weiß nicht, wohin mit ihren Gefühlen. Viel zu viel von ihr will nach draußen und sucht nach Widerhall in Sheela. Alex sehnt sich danach, sich fallen lassen zu können. Doch Sheela schreibt - ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer - ihre eigenen Regeln. Und verschwindet nur einen Moment später wieder. Damit beginnt es, das unbestimmte Verlangen, das Alex antreibt. Zwischen Hingabe und Selbstaufgabe: Wie viel bleibt von uns, wenn wir lieben? Jahre später lebt Alex in Berlin, sie möchte Regisseurin werden. Eigentlich könnte sie sich treiben lassen, das Leben genießen. Sich jeden Tag neu erfinden, ausleben, experimentieren mit der eigenen Sexualität und Identität. Alex bewegt sich in einer Welt, die ihr vermittelt: Selbstbestimmung und Erfüllung liegen nur einen Schritt außerhalb deiner Komfortzone. Erfüllt sich dieses Glücksversprechen für Alex? Was begehrt sie eigentlich? - Als Alex und Sheela in Berlin aufeinandertreffen, ist es, als hätten die letzten elf Jahre nicht existiert: Sheela übt immer noch Faszination auf Alex aus, aber auch Macht: psychisch, körperlich. Alex baut weiter Luftschlösser. Und gemeinsam mit Sheela an dem Netz, in dem sie sich immer weiter verfängt. Ist das Liebe? Oder kann das weg? In diesem Roman liegen Spannung, Verzweiflung und Witz so nah beieinander, wie Liebe und Obsession in Alex' und Sheelas Geschichte. Die beiden Frauen sind wie zwei Planeten, die sich auf ihren Umlaufbahnen näherkommen, aber doch immer wieder voneinander entfernen. Die nicht ohne, aber auch nicht miteinander können. Tatjana Scheel schreibt über das überwältigende Gefühl, verführt und geführt zu werden. Und über den Moment, in dem man merkt, dass man keine Luft mehr bekommt. Sie schreibt über Projektion und Begehren. Über Kontrolle und Macht. Über Sucht und das Suchen. Über die Notwendigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu definieren und auszusprechen, über das Schälen aus der Abhängigkeit. Und über das Glück, nackt im Wald zu tanzen.

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Tatjana Scheel

Vielleicht habe ich dich nur erfunden

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
TEIL I
Sizilien
TEIL II
Berlin: Elf Jahre später
TEIL III
Island: Sieben Jahre später
DANK
Tatjana Scheel
Zur Autorin
Impressum

Für Andrea, Takim und Taïma

Für schwarze Katzen

Für Mama – und alle,

die im Herzen bunt geblieben sind

Als niemand anrief, wusste ich, dass du es warst.

Steffi Kadenbach

Nasen sind wichtig. Das wusste ich schon immer, und als ich Sheelas Nase zum ersten Mal sah, musste ich sie sofort anfassen. Sheela war eine völlig Fremde, aber ich konnte nicht widerstehen, ich musste diese Nase berühren, um zu verstehen, was für ein Mensch sie war, ob sie zu mir passen würde oder nicht.

Sobald ich merkte, was ich da tat, zog ich schnell die Hand zurück und entschuldigte mich dafür. Andererseits war es doch logisch und richtig und sogar notwendig gewesen, dass ich diese Nase angefasst hatte! Wie sonst hätte ich für den Bruchteil einer Sekunde in die Zukunft blicken können? Schließlich hatte ich sofort erkannt, dass diese Frau eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen würde, weshalb ich jetzt ganz schnell entscheiden musste: Passt die Nase, oder passt sie nicht?

Natürlich passte sie. Groß, schief, markant – die perfekte Hakennase. Die Form stimmte, die Oberfläche, die Temperatur. Sie war wie gemacht für meine Hand. Wie hätte es auch anders sein sollen. Eine nicht passende Nase hätte ich bestimmt nicht einfach so angefasst. Man weiß ja doch, was man tut. Intuitiv weiß man so was.

Es gab da aber gleichzeitig noch ein anderes Gefühl. Ein kurzes Erschaudern. Ein alarmiertes Aufhorchen wie bei Witterung akuter Gefahr. Eine flüchtige, aber schreckliche Vorahnung, gefolgt von dem Impuls, schreiend wegzurennen, um die eigene Haut zu retten. Aus irgendeinem Grund beschloss ich jedoch, diesem Gefühl nicht nachzugehen. Ich traf die falsche Entscheidung.

TEIL I

Sizilien

In drei Wochen schreibe ich Abitur, was mir völlig egal ist, da ich verliebt bin und einen neuen Freund habe. Blöderweise bin ich aber nicht in meinen neuen Freund verliebt, sondern in dessen besten Freund, den ich aber nicht haben kann, weil er mich nicht ausstehen kann. Also habe ich was mit seinem Freund angefangen, wir nennen ihn mal Donald Duck, weil bei ihm auf dem Klo immer diese Hefte rumliegen und weil ich seinen echten Namen nicht aussprechen kann, ohne einen Würgeanfall zu bekommen. Er ist vier Jahre älter als ich, außerdem ist er superreich und fährt ein abartig teures Angeberauto, was mich ein bisschen abtörnt, weil ich protzige Autos schon immer lächerlich fand. Als er mich zum ersten Mal damit abgeholt hat, muss ich wohl so was gesagt haben wie Ach schade, ich dachte, der da ist deiner – gemeint war ein orangener Volvo Kombi aus den Siebzigern –, woraufhin er mich angesehen hat wie eine Geisteskranke, oder wie einen Hippie, was für ihn ein und dasselbe ist.

Sein Vater hat irgendwas mit Pornos zu tun und seine Mutter, die Christiane heißt, ist einfach nur coole, reiche Hipster-Hausfrau, die den ganzen Tag sexistischen Gangster-Rap hört, den auch ich gerne höre, obwohl die Texte so scheiße sind. Wenn ich mir Christiane so ansehe, wie sie immer ganz cool mit dem Kopf zur Musik nickt und bei den wilderen Stellen extrem schnell und gekonnt twerkt, worum ich sie heimlich ein bisschen beneide, hoffe ich dann doch, dass ich in ihrem Alter woanders sein werde.

Donald Duck lädt mich in das Ferienhaus seiner Eltern nach Sizilien ein, und ich – obwohl ich dringend für das Abi lernen müsste – sage gegen den Willen meiner protestierenden Mutter zu. Ich wollte schon immer nach Sizilien. Obwohl das totaler Quatsch ist. Seit ich vor einem Monat The Godfather gesehen habe, bilde ich mir ein, schon immer nach Sizilien gewollt zu haben. Der Hauptgrund für meine Zusage ist allerdings das Meer, das man schon vom Flughafen von Palermo aus sehen kann und nach dem ich in gewisser Weise süchtig bin – eine meiner gesünderen Süchte. Donald Duck hingegen ist eindeutig sexsüchtig – genau wie sein Vater und seine Mutter –, was sich bei ihm allerdings erst jetzt zeigt, dafür aber in aller Deutlichkeit. Dabei hatte ich ihm von Anfang an klar zu verstehen gegeben, dass ich nicht mit ihm schlafen will und werde, weil sich unsere Körper gegenseitig abstoßen. Seiner zumindest meinen, was man dadurch erkennt, dass ich jedes Mal, wenn er mir körperlich zu nahe kommt, einen Ausschlag bekomme. Als ich ihm einmal, nachdem er mich gerade geküsst hat, zum Beweis unserer körperlichen Inkompatibilität meinen Arm mit den roten Flecken hinhalte, nickt er traurig, aber verständnisvoll, und damit ist die Sache erledigt. Für mich jedenfalls. Für ihn hingegen scheint das alles nichts weiter als ein lustiges Spiel zu sein, denn sobald wir sizilianischen Boden unter den Füßen haben, redet er ungehemmt und ohne jede Rücksicht über Sex und nichts anderes mehr. Er habe über zehn Lieblingsorte, an denen wir es miteinander treiben müssen, er sei schon ganz aufgeregt vor lauter Vorfreude, und schade eigentlich, dass wir nicht schon in der Flugzeugkabine mit dem Sex begonnen haben. Mir wird ganz mulmig zumute. Als wir dann nach fast zwei Stunden Autofahrt in einer wunderschönen Villa etwas außerhalb eines kleinen Dorfes ankommen, ist mein linker Arm bereits voller roter Pusteln. Christiane fragt, was es damit auf sich hat, und ich antworte ehrlich: „Die krieg’ ich immer, wenn ich mich nicht wohl fühle. Wenn mir jemand zu nahekommt.“

„Ich weiß, was du meinst.“ Sie legt mir ihre Hand auf den Rücken. Eine Berührung, die sich falsch anfühlt, so als käme sie nicht von Herzen, als hätte sie einen Hintergedanken, den ich bloß noch nicht einordnen kann. „Ich verstehe. Du hast Angst vor Nähe.“ Christianes Stimme wird plötzlich ganz weich, als würde sie mit einer Zehnjährigen sprechen. „Das kenne ich, glaub mir. Ist ganz normal. Aber man darf dem halt nicht nachgeben, sonst wird’s immer schlimmer. Niemand weiß das besser als ich, ich hab das alles durch, glaub mir. Aber schließlich ist Angst doch dazu da, überwunden zu werden, stimmt’s? Capisci?“ Sie lacht und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ihre Stimme ist inzwischen hart und viel zu laut, als gäbe es irgendwo irgendwelche Zuschauer, die nicht verpassen dürfen, was hier geredet wird. „Cause if you don’t do it, you’ll loose it, you know!“ Sie streut gerne fremdsprachige Wörter und Redewendungen ein, um zu betonen, dass sie nicht bloß eine einfache Deutsche, sondern eine echte Weltenbürgerin ist. Allerdings bin ich etwas überfordert. Hat sie mir gerade versucht zu sagen, dass ich mit ihrem Sohn schlafen soll? Ich fühle mich bedroht und schließe mich direkt für zwei Stunden im Badezimmer ein. Wie gerne würde ich jetzt meine Mutter anrufen, die doch schon immer geahnt hat, dass mit Donald Duck und dessen Familie etwas nicht stimmt, aber zu allem Unglück ist vorhin mein Handy ins Klo gefallen und seitdem kaputt.

Donald Duck ruft nach mir und fragt, ob ich nicht mal aus dem Bad kommen will, er habe schon das Bett vorgewärmt. Mir kommt das nackte Grausen und ich fange an zu heulen.

Zwei ganze Tage halte ich das durch, wobei ich mir die absurdesten Ausreden einfallen lasse, um mir den Kerl vom Leib zu halten, und mich immer wieder stundenlang im Bad verkrieche. Doch dann ist plötzlich der Badezimmerschlüssel verschwunden, sodass ich mich nirgendwo mehr verstecken kann. Kaum hat Christiane das Haus verlassen, um einkaufen zu gehen, kommt Donald Duck hereinspaziert, ohne anzuklopfen. Er baut sich vor mir auf, nackt und siegessicher grinsend, und sofort juckt es mich am ganzen Körper.

„Ich will jetzt mit dir schlafen“, sagt er.

„Ich will nicht“, sage ich.

Er wird wütend. „Wenn du nicht mit mir schlafen willst, warum fährst du dann mit mir in den Urlaub?“

Gute Frage. Aber mir fällt keine Antwort ein. Außer: „Hast du vielleicht Alkohol da?“ Eine bessere Strategie habe ich – leider – nicht.

Er grinst. „Klar.“

Wir gehen rüber und trinken irgendwas Starkes, ich bekomme nicht mit, was es ist, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, bin nur froh über den kurzen Aufschub, den er mir gewährt, bis er plötzlich wieder vor mir steht. Sein Penis gefällt mir überhaupt nicht. Er legt sich lasziv aufs Sofa und fragt mich, ob ich ihm einen blasen will. Ich antworte, dass ich das absolut nicht will, sonst müsse ich sofort kotzen. Er sieht mich an, forschend und auch ein bisschen streitlustig, dann zieht er mich zu sich hin und sagt, dass ich es trotzdem tun soll, tun muss, das sei ich ihm nun wirklich schuldig – und ich fange an.

Es dauert keine fünf Sekunden, bis ich kotzen muss. Direkt auf ihn drauf. Er kreischt laut und schubst mich angewidert von sich weg, so fest, dass ich gegen einen Stuhl knalle. „Tut mir leid“, stammle ich noch, doch er scheint mich nicht zu hören.

„Ich mach’ dich fertig, du hässliche Nutte!“, brüllt er wie ein Wahnsinniger, und ich muss plötzlich lachen. Aber kein souveränes, über den Dingen stehendes Lachen, das der Situation vielleicht angemessen wäre, sondern ein hysterisches, verzweifeltes Lachen, mit dem ich nur kaschieren will, wie sehr ich mich schäme und wie sehr es mich gleichzeitig ärgert, dass ich mich schäme, weil es, verdammt noch mal, keinen Grund gibt, sich zu schämen!

„Selber schuld“, höre ich mich leise murmeln, und das hat er trotz des Lärms ganz genau gehört.

„Ich mach dich fertig“, sagt er wieder und wischt sich mit einem Kissen die restliche Kotze vom Körper.

Ich höre mich wieder lachen – oder ist das ein Weinen? Beides wahrscheinlich, und mein Gleichgewicht muss ich auch verloren haben, denn auf einmal finde ich mich auf dem Boden wieder.

„Hör auf zu lachen, du Fotze!“, brüllt er mir jetzt entgegen, und ich höre tatsächlich schlagartig auf. Mit Leuten, die Fotze als Schimpfwort benutzen, will ich nichts zu tun haben, das war mir schon immer klar. Und diese Klarheit ist es, die mich jetzt aufstehen und aus dem Zimmer gehen lässt. Ruhig, entschlossen und ohne Eile. Ich kann meine eigene Angst nicht mehr spüren.

„Ich will, dass du mein Haus verlässt!“, ruft er mir noch hinterher. Überflüssigerweise, denn ich bin sowieso längst auf dem Weg zu meinem Koffer, den ich bis jetzt nicht ausgepackt habe. Ohne einen Blick zurück verlasse ich die Villa.

***

Ich sitze auf den Stufen einer dem Verfall überlassenen Hausruine und betrachte die in warmes Abendlicht getauchte Umgebung. Mir ist bewusst, dass um diese Zeit keine Busse mehr fahren und dass ich heute nicht mehr weit kommen werde, aber es kümmert mich nicht. Für mich zählt nur, dass ich wieder atmen kann. Seit meiner Ankunft in Sizilien habe ich nicht vernünftig geatmet und das hat sich bereits ungünstig auf mein Gehirn ausgewirkt. Jetzt sitze ich da, umgeben von friedlicher Ruhe und schönster Natur, und bekomme endlich wieder Luft. Salzige Meeresluft. Als würde ich erst jetzt merken, wo ich bin. Zum ersten Mal nehme ich den typischen Geruch des Südens wahr. Den Geruch des Meeres, obwohl das Meer gar nicht so nah ist, vermischt mit etwas Verbranntem, da sie im Süden komischerweise immerzu irgendwas verbrennen müssen. Ich weiß noch aus meiner Kindheit, dass es auf den zahlreichen Autofahrten nach Italien immer irgendwann nach Verbranntem zu riechen begann, und da wusste ich, dass das Meer nicht mehr weit sein konnte. Die ersten Palmen würden zu sehen sein, gefolgt von Pinien, Oliven- und Eukalyptusbäumen. Etwas später würde ich die ersten Möwen schreien hören, die natürlich auch zum Meer gehören und die ich daher so gerne mag. Im Gegensatz zu den meisten Italienern, die die Möwen nicht ausstehen können, unter anderem wegen ihres lauten Geschreis um sechs Uhr morgens. Plötzlich fällt mir auf, dass ich, seit ich hier bin, noch keine einzige Möwe gesehen habe, auch nicht unten am Meer. Entweder es gibt sie nicht auf Sizilien, oder es liegt daran, dass ich überhaupt noch nichts gesehen habe, so angespannt und blind war ich durch die letzten Tage gestolpert. Wie ein Huhn, das eine diffuse Ahnung davon hat, dass ihm gleich der Kopf abgehackt wird.

Ich nehme einen langen und tiefen Atemzug, wie um mir nochmals klarzumachen, dass ich jetzt frei bin und der Gefahr entronnen. Wie traumhaft es hier ist! Wie ruhig und friedlich und, obwohl noch nicht mal Sommer, schon relativ warm. „Welcome to Sicily“, sage ich, Christiane imitierend, in die Stille hinein, „benvenuto.“

Nach ein paar Stunden oder Wochen oder Jahrhunderten – es ist bereits dunkel und leider auch frisch geworden – kommt eine Nonne vorbei und sieht mich seltsam fragend an. Doch vor Nonnen habe ich mich schon immer gegruselt, also sehe ich trotzig in die andere Richtung und lasse sie vorbeiziehen.

Und nun? Ich muss pinkeln, habe Durst, Hunger und außerdem tut mir mein Herz weh. Aber noch sind die Schmerzen nicht groß genug, um mich zum Handeln zu bewegen. Nach der Nonne kommt niemand mehr vorbei. Die Gegend ist komplett ausgestorben. Fast schon unwirklich, so tot wirkt alles. Komisch, dabei sagt man doch, Sizilien sei so lebendig und voller Touristen!

Aber dann passiert doch noch etwas. Ich bin gerade am Pinkeln, wobei ich darauf verzichte, mich hinter einem Baum zu verstecken, da hier sowieso niemand vorbeizukommen scheint, als sich in ebendiesem Moment ein laut ratterndes Mofa nähert, darauf zwei Jungs. Den einen nehme ich gar nicht wahr, aber nur, weil der andere so schön ist. Er hat schwarze, verwuschelte Haare und eine Nase, wie sie mir gefällt, ganz krumm und schief und unverhältnismäßig groß, er sieht aus wie ein böser Zauberer, der aber nur zu den Bösen böse ist, und da ich gut bin, habe ich von ihm nichts zu befürchten. Schnell ziehe ich mir die Hose hoch. Er lächelt mich im Vorbeifahren an, und ich lächle artig zurück, obwohl ich eigentlich viel zu erschöpft dafür bin und mir auch gar nicht nach einem Lächeln zumute ist. Aber so bin ich eben erzogen worden: Wenn man angelächelt wird, hat man zurückzulächeln.

Mit lautem Knattern verschwindet das Mofa wieder in der Dunkelheit. Mein Kopf fällt schwer auf den Koffer neben mir und ich schlafe sofort ein.

***

Als ob ich mich keinen Millimeter bewegt hätte, wache ich pünktlich zum Sonnenaufgang in genau derselben Haltung auf. Es ist mir unerklärlich, wie ich trotz Durst, Hunger und Kälte so gut habe schlafen können. Ich freue mich, dass ich am Leben bin, dass mich niemand belästigt oder entführt oder mir eine Niere entwendet hat und dass mir nicht mal etwas geklaut wurde. Zur Feier des Tages setze ich mir meine Kopfhörer auf, wobei ich mir jetzt extra nicht Nirvana anhöre, sondern den wunderschönen Sicily Song aus The Godfather: Brucia la terra. Eine Träne der Erleichterung kullert mir die Wange runter, und das schon so früh morgens, ich bin gerührt von meiner eigenen Rührseligkeit.

Der erste Tourist, ein Jogger mit Hund, läuft an mir vorbei, gefolgt von ein paar Einheimischen in alten, meist recht kleinen Autos oder auf Rollern. Wohlgemut gehe ich los Richtung Dorf, aus dem man schon die Kirchenglocken bimmeln hört. Auf dem Weg dorthin komme ich an zwei überfahrenen Katzen vorbei, von denen mich die erste nicht weiter interessiert, weil sie aussieht wie Matsch und nicht mehr viel mit Katze zu tun hat, die zweite aber sehr unangenehm berührt, weil sie so klein und verzweifelt aussieht und ihr Mund offen steht, als hätte sie gerade noch voller Hoffnung nach ihrer Mama geschrien, bevor sie schon im nächsten Atemzug unter die Räder geraten war. Es kommt mir so vor, als hätte ich während meines bisher nur sehr kurzen Sizilienaufenthalts unverhältnismäßig viele tote Katzen gesehen. Würde sowas in einem Film passieren, müsste man dies sofort als schlechtes Omen deuten. Hoffentlich ist mein Film anders.

In einem der nicht wenigen Cafés des Dorfes, die sie hier Bar nennen, sitzen ein paar Männer und frühstücken. Ich kaufe mir eine Flasche Wasser, Kaffee und eine brioche alla crema. Selten hat mir ein Frühstück so gut geschmeckt. Ausgehungert wie ich bin, bestelle ich das Gleiche direkt nochmal, als ein bayerisches Pärchen um die dreißig auf das Café zugeschlendert kommt und schließlich an einem der Nebentische Platz nimmt.

Den bayerischen Touristen findet man ja immer und überall in Italien, das lässt sich leider nicht vermeiden, weder wenn man außerhalb der Saison reist noch wenn man auf irgendwelche Berge hochklettert – der bayerische Tourist ist immer da und es stört mich jedes Mal, ihm zu begegnen, obwohl ich ja selbst einer bin, wenn auch unfreiwillig. Das Pärchen ist hart am Diskutieren, wobei die Stimme des Mannes unangenehm schrill ist, sodass ich gezwungenermaßen jedes einzelne Wort mitbekomme. Es geht darum, dass der Mann einen solchen Hunger hat, dass er jetzt nicht bloß ein kleines Frühstück haben will, sondern was Ordentliches braucht, ein Steak zum Beispiel, oder noch besser: Schpaghetti Bollo. Die Frau versucht ihm zu verklickern, dass er in diesem Café ganz sicher keine Schpaghetti Bollo bekommt, erst recht nicht um diese Uhrzeit. Aber der Mann will nicht hören. Er winkt den Kellner herbei, mit seiner lauten Stimme und dem rollenden R, und wundert sich dann sehr, dass es hier tatsächlich keine Schpaghetti Bollo für ihn gibt.

„Hab ich doch gesagt“, schimpft die Frau, und der Mann erwidert: „Hoid dai Bapn!“

Ich weiß nicht, ob es einfach nur dieser Dialekt ist, der mir jedes Mal die Nackenhaare aufstellt, oder diese typisch bayerische Mia-san-mia-Einstellung, ein Stolz und eine Überheblichkeit, die mir gerade angesichts des Dialekts völlig unbegründet erscheinen. Jedenfalls bin ich unsäglich erleichtert, als die beiden schließlich aufstehen, um woanders ihre Suche nach den ersehnten Schpaghetti Bollo fortzusetzen.

Sobald sie weg sind, zwinkert mir ein gut gekleideter Opi von einem der Nebentische verschwörerisch zu. Ich ergreife die Gelegenheit und frage ihn in meinem dürftigen Schulitalienisch nach dem Weg zum Flughafen. Der Opi strahlt fröhlich, und mir fällt auf, dass er außergewöhnlich attraktiv ist. Für einen Opi. Er erklärt mir – wobei er sogar extra aufsteht und zu mir an den Tisch kommt –, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ich nehme den Zug, der aber ziemlich weit weg ist, oder den Bus, bei dem man sich jedoch nie sicher sein kann, wann er kommt, und ob überhaupt. Der Opi fragt, seit wann ich hier bin, und als mir klar wird, dass dies mein dritter Tag ist, bringt mich das für einen Moment aus der Fassung, da ich mich absolut nicht daran erinnern kann, was ich in den letzten beiden Tagen getan haben soll, außer mich im Bad zu verstecken. Drei Tage seien sowieso zu kurz, findet der Opi und rät mir zu bleiben. Gerade jetzt beginne nämlich die schönste Zeit. Es werde warm, aber nicht zu sehr, und die Touristen kämen erst in einem Monat, oder noch später. Plötzlich greift er mit seinen beiden Händen nach den meinen und sieht mich freundlich, aber auch sehr eindringlich an.

„Du willst lieber hierbleiben. Ist besser“, sagt er und wirkt dabei leicht besessen.

Befremdet ziehe ich meine Hände zurück, doch schon im nächsten Moment merke ich, dass der Opi absolut recht hat. Ich möchte tatsächlich lieber hierbleiben, schließlich wollte ich schon immer nach Sizilien, und außerdem bin ich jung und frei und voller Abenteuerlust.

„Du bleibst also hier“, sagt der Opi.

„Ich bleibe also hier“, sage ich.

***

Obwohl ich eigentlich nur der Straße hätte folgen müssen, die den Berg runterführt, gelingt es mir trotzdem, mich zu verlaufen. Nach etwa einer Stunde Fußmarsch komme ich dann doch am Meer an, und da ich sowieso schon so weit gelaufen bin, kann ich jetzt auch noch ein bisschen weiterlaufen, um die perfekte Badestelle zu finden.

Ich entscheide mich für die Mole, die, abgesehen von ein paar Fischern, leer ist. Da fällt mir ein, dass ich meinen Bikini bei Donald Duck vergessen habe. Schade, denn der war neu und auch nicht billig. Schnell vergewissere ich mich, dass die beiden Fischer gerade nicht gucken, dann springe ich nackt ins Wasser. Es ist eiskalt, aber so schön! Ich fühle mich wie eine Abenteurerin und lache ganz laut vor mich hin, auch weil mir die Kotzszene mit Donald Duck wieder einfällt, die ich jetzt, im Nachhinein und in wiedererlangter Freiheit, sogar lustig finden kann. Wie einen unterhaltsamen Film, den ich mir vom Sofa aus ansehe, mit dem ich persönlich aber nichts zu tun habe. Da höre ich sie plötzlich rufen: „Ehi!“

Eine Frauenstimme von irgendwo hinter dem Felsen.

Und schon sehe ich sie auf mich zu hüpfen, keine Ahnung, wo sie so plötzlich hergekommen ist.

„War das dein Handtuch, das rote da?“, fragt sie mit Zigarette im Mund auf Italienisch, was sie dann, als ich nicht antworte, in fließendem Deutsch wiederholt. Erst jetzt bemerke ich, dass mein Handtuch, das ich extra direkt neben der Treppe platziert hatte, verschwunden ist.

„Der Typ dahinten hat es mitgenommen.“ Sie zeigt vage in Richtung Strand, wo ich jedoch niemanden erkennen kann.

Wer nimmt denn einfach ein fremdes Handtuch mit, frage ich mich entsetzt und stelle im nächsten Moment erleichtert fest, dass wenigstens der Koffer noch da ist. Dennoch muss ich recht panisch aussehen, denn auf einmal fängt sie schallend an zu lachen.

„Hier!“ Sie zieht mein rotes Handtuch aus ihrer Tasche und wirft es wieder zurück an seinen Platz neben der Treppe. Sie steht jetzt direkt vor mir, auf ihrem schwarzen T-Shirt steht in weißer Schrift: I can’t have kids, my cat is allergic, was ich sonderbar finde für eine Frau, die kaum älter ist als ich.

„Kommst du von hier?“, frage ich sie auf Deutsch und komme mir dabei peinlich banal vor.

„Ne“, sie schüttelt den Kopf, „und du ganz offensichtlich auch nicht.“ Sie grinst mich frech an.

Ich möchte aus dem Wasser raus und warte darauf, dass sie mal kurz wegguckt, was sie aber nicht tut, obwohl ich nackt bin, wie sie genau erkennen kann. Aber sie steht einfach da, raucht und hört nicht auf mich anzustarren. Selten bin ich von jemandem so direkt und unverblümt angestarrt worden – ist diese Frau vielleicht nicht ganz dicht? Groß wirkt sie auf mich, fast riesig, und auch ein bisschen prollig, weil sie ihre langen, glatten Haare mit sehr viel Gel nach hinten gekämmt hat. Außerdem hat sie eine schöne olivenfarbene Haut, pechschwarze Augen und – wie der eine auf dem Moped – eine auffällig große Hakennase. Ihr linker Unterarm ist voller Narben, die mich neugierig machen, aber auch ein bisschen ekeln. Es sind keine Narben vom Ritzen, sondern, wie mir scheint, von ausgedrückten Zigaretten. Sie sieht wirklich ganz merkwürdig aus, und irgendetwas stimmt mit ihren Proportionen nicht. Die Augen und die Nase sind beeindruckend groß, ebenso die Füße und auch der Mund, die Hände hingegen sind winzig, an den Hüften wiederum wirkt sie eher dick, und das trotz der langen Beine, und ihr Hals ist so unnatürlich dünn, dass man sich wundert, dass der Kopf nicht runterkullert. Sie ist die wahrscheinlich schönste Frau, die ich je gesehen habe, aber vielleicht liegt das auch nur an meiner besonderen Verfassung, in der ich anscheinend alles und jeden wunderschön finde.

Ohne sich die Klamotten auszuziehen, aber mit Zigarette im Mund macht sie plötzlich eine fette Arschbombe direkt neben mich ins Wasser. Wir lachen beide und ich bemerke, dass sogar ihre Zähne außergewöhnlich groß sind.

„Ich bin übrigens Sheela“, sagt sie, „und du? Woher kommst du, wer bist du und was willst du vom Leben?“

„Ich bin Alex und komme aus München“, antworte ich und fühle mich dabei wie immer seltsam. Als würde ich lügen. Als wäre mein Name nicht mein echter Name und mein Geburtsort nicht mein echter Geburtsort. Schon immer hatte ich das Gefühl, ich sei verwechselt worden, vielleicht direkt nach der Geburt, oder im Mutterleib, oder sogar schon vor der Empfängnis. „Und was ich vom Leben will, muss ich mir erst noch überlegen.“

Ich lächle sie an, doch sie macht sich nicht die Mühe, zurückzulächeln.

„München, aha. Da wohne ich auch. Aber eigentlich komme ich aus Starnberg, kennst du das?“

„Klar, aber nur vom Namen her.“

„Ein Kaff voller Bonzen. Man muss schon schön blöd sein, um freiwillig an so einem Ort zu leben.“

Wieder so eine Bayerin, die keine sein will.

Sie greift nach einem Seil, das man nehmen muss, um auf die Steintreppe zu gelangen. „Achtung, hier gibt’s Seeigel!“

„Und warum sprichst du so gut Italienisch?“ Ich sehe ihr dabei zu, wie sie einen meterlangen Anlauf nimmt und sich für den nächsten Sprung vorbereitet.

„Mein Vater ist Italiener. Denkt er jedenfalls.“

Sie rennt los und landet wieder im Wasser. Wir gucken uns an. Lachen. Plantschen im Wasser wie Babyenten, die gerade schwimmen gelernt haben und mächtig stolz darauf sind, obwohl sie es noch nicht richtig beherrschen. Bis die Stimmung von einer Sekunde auf die andere kippt und Sheela mich vorwurfsvoll ansieht. „Normalerweise bade ich auch gerne nackt, aber wenn du da bist, mag ich das nicht.“

Ich weiß wirklich nicht, was ich auf so was antworten soll. Ob das als Kritik gemeint ist oder was sie mir damit sagen will. Also zucke ich nur mit den Schultern und bewege mich ein bisschen von ihr weg. Ich tu so, als würde ich Bahnen schwimmen, während sie mir die ganze Zeit neugierig dabei zusieht. Schon wieder hat sie diesen starren, viel zu direkten Blick. Langsam beginne ich mich über die Situation zu wundern. Wurde sie vielleicht von jemandem geschickt? Hat sie was mit Donald Duck und dessen verrückter Familie zu tun? Dass sie mich überhaupt so schnell als Deutsche identifiziert hat, obwohl ich so deutsch doch wohl hoffentlich nicht aussehe, kommt mir zudem verdächtig vor.

Da mir inzwischen schrecklich kalt ist, gehe ich jetzt einfach aus dem Wasser – soll sie mich halt nackt sehen – und hülle mich in mein Handtuch. Meine Zähne klappern und ich beginne auf und ab zu hüpfen, um mich aufzuwärmen. Dann ziehe ich mich an. Aus Versehen habe ich Donald Ducks schwarzen Kapuzenpulli mitgenommen, der mir jetzt sehr gelegen kommt.

Nachdem Sheela eine Weile geschwommen ist, steigt auch sie aus dem Wasser und setzt sich neben mich auf die warmen Steine. Ich biete ihr mein Handtuch an, das sie gerne annimmt, sowie ein paar meiner Klamotten. Sie zieht sich umständlich um. Und da passiert es, ich greife einfach nach ihrer Nase, spüre für einen Moment, wie sie in meiner Handfläche liegt, und ziehe dann schnell meine Hand zurück. „Sorry“, sage ich, „aber ich musste das tun.“

Sheela sieht mich belustigt an. „Kein Problem.“ Sie wirkt kein bisschen irritiert, sondern scheint tatsächlich zu verstehen, warum ich das gerade tun musste.

„Hast du ne Zigarette?“, frage ich und bin ganz verwundert über mein eigenes Verhalten. Sie zündet uns beiden jeweils eine an. Wir rauchen schweigend und blicken auf das klare türkisfarbene Meer. Die Fischer haben ihre Arbeit beendet und packen ihre Sachen zusammen. Als sie kurz darauf an uns vorbeigehen, gaffen sie Sheela unverhohlen an, mich hingegen scheinen sie nicht mal wahrzunehmen.

„Worüber hast du eigentlich so irre gelacht vorhin, als du dachtest, du bist allein und dich hört niemand?“, fragt Sheela nach einer Weile. Und da ich plötzlich unendlich froh bin, jemanden zu haben, mit dem ich reden kann, erzähle ich ihr die ganze Geschichte. Wie ich hierhergekommen bin und die letzten Tage erlebt habe und wie das Ganze mit Donald Duck geendet ist.

„Das war richtig, dass du ihn vollgekotzt hast“, stellt sie am Ende meiner Erzählung nüchtern fest.

„War ja keine Absicht.“

„Trotzdem ein starkes Statement.“ Sie sieht mich aufmunternd an. „Aber wenn du den Typen von Anfang an nicht leiden konntest, wieso bist du dann überhaupt mit ihm hierhergekommen?“

„Ich konnte ihn schon leiden, ich wollte nur nicht mit ihm zusammen sein. Ich dachte, wir könnten einfach als Freunde Urlaub machen. Schon ein bisschen naiv, oder?“

Sie überlegt. „Ich glaube, dass du genau wusstest, dass es hier Ärger geben wird. Und trotzdem hast du es drauf ankommen lassen. Du bist einfach gekommen, um was Krasses zu erleben. Dann bewundern dich alle, und du bewunderst dich selbst, und dann kannst du allen erzählen, wie toll du bist und was für verrückte Sachen du machst. Ist doch cool, dann weißt du wenigstens, dass du wirklich lebst und nicht nur stumpfsinnig vor dich hinvegetierst. Oder?“

Ich sage nichts dazu.

„Oder?“, fragt sie noch mal und sieht mich dabei schon wieder viel zu lange, viel zu direkt und ohne jeden Filter an.

Sie hat Augen wie schwarze Ufos, und ich frage mich, ob ich jetzt verliebt bin.

***

Da Sheela noch nicht gefrühstückt hat und auch ich noch ein weiteres Frühstück vertragen könnte, nimmt sie mich auf ihrem Roller mit ins Dorf. Den Koffer verstaut sie dabei vorne zwischen ihren Beinen. Wir fahren nur wenige Minuten, was schade ist, denn was gibt es Schöneres, als im Frühling mit dem Roller durch Italien zu brausen!

Zielstrebig steuert Sheela auf ein bestimmtes Café zu. Die Menschen, die uns entgegenkommen, starren sie alle an, ich verstehe nur nicht, weshalb. In dem Café treffen wir zu meinem großen Erstaunen auf die Jungs von gestern, den bösen Zauberer und seinen Begleiter, den ich auch jetzt wieder fast übersehe, da der andere so schillert. Die beiden sind gerade in ein intensives Gespräch über ein physikalisches Problem vertieft, von dem ich kein Wort verstehe. Anscheinend ist Sheela mit ihnen befreundet.

„Das ist Alex“, stellt sie mich kurz vor, die beiden Jungs sehen mich verwirrt an.

„Ah, die Frau, die gepinkelt hat!“, sagt der eine, der Nicht-Zauberer, und streckt mir seine Hand entgegen. „Frühstückst du mit uns?“

„Tut sie“, antwortet Sheela an meiner Stelle, und noch bevor ich dem Nicht-Zauberer die Hand schütteln kann, zieht sie mich mit sich zu einem der Tische. Die beiden Jungs nehmen ihr Physik-Gespräch wieder auf und folgen uns langsam. Der Zauberer setzt sich als Letzter hin, mir gegenüber. Er hat mich bisher noch kein einziges Mal richtig angesehen. Die drei reden kurz über einen der Kellner, woraus ich schließe, dass sie häufig hierherkommen, und über das Essen. Sie sprechen hauptsächlich Italienisch miteinander, manchmal aber auch Französisch und nur dann, wenn sie sich explizit an mich wenden, Deutsch. Das alles verwirrt mich vollkommen. Wer sind diese Leute, wie stehen sie zueinander und weshalb sprechen sie so viele Sprachen?

Der Zauberer mit der Nase heißt Ennis und der andere Theo oder Matteo – so viel habe ich immerhin schon mal verstanden. Während Sheela und Theo/Matteo jetzt ein paar Worte miteinander wechseln, sitzt Ennis mit kerzengeradem Rücken da, sieht die beiden streng an und schweigt. Wenn er dann doch mal etwas sagen muss, weil er direkt angesprochen wird, lispelt er leicht, was mir bisher noch gar nicht aufgefallen war, was ich aber äußerst charmant finde, da ich seit jeher eine Vorliebe für lispelnde Jungs habe. Die Coolen und Schönen, in die die Mädchen aus meiner alten Klasse immer verliebt waren, haben mich nie interessiert. Ich stehe mehr auf die Mathe- und Physik-Nerds, aber nicht auf die dicken, unsportlichen mit den Hornbrillen und Zahnspangen, in denen noch Essensreste vom Frühstück hängen, sondern eher auf die dünnen, schweigsamen, die mindestens eine Klasse übersprungen haben und auch Hornbrillen und Zahnspangen tragen, aber immerhin ohne Essensreste. Diese Nerds sind coole Nerds