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„Dass so viele Novellen von Autoren verwurstet werden und der Text aber auf den ersten Blick wie eine autobiografische Frauengeschichte aussieht – bei mir hat das genau ins Schwarze getroffen. Absolute Empfehlung.“
Miriam Zeh, Deutschlandfunk Kultur
Mit einem großzügig bemessenen Ferienaufenthalt auf einer italienischen Insel will ein Paar gemeinsam mit den nun volljährigen Söhnen symbolisch die Lebensphase als klassische Kernfamilie beschließen, Raum für schönes Neues schaffen. Nicht mehr Vater, Mutter, Kind spielen müssen, sondern anders, freiwilliger, freundschaftlicher verbunden sein. Vier Wochen in unterschiedlichen Konstellationen sind geplant, doch haben die Eltern, wie stetig einströmende Informationsschnipsel erst andeuten, dann belegen, die Rechnung ohne die jungen Erwachsenen und auch ohne sich selbst gemacht: Ihre Doppelhaushälfte am Berliner Stadtrand gerät zum vermüllten Partydomizil, was die Nerven der Nachbarn strapaziert. Parallel geht auf der Insel das Chillen in Alkoholexzesse über. Kann das harmonische Dolce Vita der Eltern der rauschhaften guten Zeit der Söhne standhalten?
Unerhört – im Sinne einer klassischen Novelle – wird das Geschehen dank digitaler Kommunikationstechnik und sozialer Medien. Die Familienmitglieder werden unausweichlich miteinander verbunden und übereinander informiert, ob sie wollen oder auch eher nicht.
„Christiane Frohmann erfindet mit Vier Wochen mal eben das Genre der Novelle neu und begibt sich in digitalen und zugleich sehr realen Familienkonstellationen mit großen Söhnen auf dünnes Eis, das dank ihres Formbewusstseins trägt und hält. Ich habe laut gelacht bei der Lektüre.“
Katharina Gerhardt, bluesky
„Christiane Frohmann ist Verlegerin, Autorin und Netzaktivistin. In ihrer Novelle Vier Wochen erzählt sie von einer kleinen griechischen Tragödie in Italien. Dort verbringen Vater, Mutter, zwei Söhne eine Art Familienurlaub in von Woche zu Woche variierenden Konstellationen. Die Jungen und ihre Freunde wissen noch nicht, dass ihr Dauerchillen nur wunschlos macht, nicht glücklich. Sie verspielen mehr, als sie gewinnen wollten.“
Janine Fleischer, Leipziger Volkszeitung
„Die Erzählperspektive ist aus Sicht der Mutter und so authentisch, dass man sich als Leser*in fast wie ein Teil der Familie fühlt.“
coffee2go, Lovelybooks
„Christiane Frohmann hat sich einen großartigen feministischen Scherz in Literatur erlaubt.“
Maryam Aras
„Ich habe lange auf die Rückkehr der Novelle gewartet. Sie kommt mit allem, was man will: Witz, Poesie, Schwermut und Leichtigkeit.“
Jackie Thomae
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2025
CHRISTIANE FROHMANNVIER WOCHEN
Cover: Inga Israel
Covervorlage: privat
Satz: Sarah Käsmayr
Schrift: Gentium Book Plus
www.mikrotext.de
ISBN 978-3-948631-59-8
Alle Rechte vorbehalten.
© mikrotext 2025
Das Buch
Die Autorin
Vier Wochen
Nachbemerkung
Über den Verlag
Vier Wochen Urlaub in unterschiedlichen Konstellationen einer Familie mit zwei Söhnen sind geplant, doch haben die Eltern, wie stetig einströmende Informationsschnipsel erst andeuten, dann belegen, die Rechnung ohne die jungen Erwachsenen und auch ohne sich selbst gemacht: Ihr Haus am Berliner Stadtrand gerät zum legendären Partydomizil, parallel geht in Italien das Chillen in Exzess über. Elterliche Projektionen tun ein übriges, und ein ungeahnter Generationenkonflikt entspinnt sich: apollinische Bedächtigkeit gegen dionysisches Feiern. Welche Kraft erweist sich als stärker?
Christiane Frohmann, geboren 1969, lebt in Berlin und in Italien, ist Autorin und Verlegerin des Frohmann Verlags. Sie studierte Literaturwissenschaften, Philosophie und Germanistik an der Freien Universität Berlin und an der Yale University, New Haven. Frohmann publiziert plattformübergreifend und vermischt die Rollen von Verlegerin, Autorin und Netzaktivistin. Ihr Stil ist persönlich, analytisch und von Optimismus geprägt. In Vier Wochen unternimmt sie den Versuch, das „instantane Schreiben“, das sie in Social Media entwickelt hat und in dem Leben, Reflexion und Literatur zusammenfließen, offline zu simulieren. Von ihr erschienen zuletzt Präraffaelitische Girls erklären das Internet, Präraffaelitische Girls erklären Hexerei und Präraffaelitische Girls erklären Demokratie (Frohmann Verlag).
Christiane Frohmann
Novelle
Für Dittmar
BILDBESCHREIBUNG Rückenansicht von Natti. Lange dunkle Haare, knielanges weißes Kleid, nackte Beine und Füße. Sie steht vor einer petrolfarbenen Couch, auf der, eingewickelt in eine hellblaue Wolldecke und umgeben von Kissen in Blau- und Grüntönen mit zitronengelben Details, eine getigerte Hauskatze schläft. An der hell blauen Wand im Hintergrund hängt ein Ensemble passepartoutloser Bilder in goldenen Rahmen. Von oben nach unten, von links nach rechts:
Eine russisch-orthodoxe Ikone aus vergoldetem Metall. Dargestellt ist Maria mit Baby-Jesus. Im Metall sind zahlreiche Löcher zu erkennen, als wäre das Bild in zerstörerischer Absicht mit einem Messer oder einem Dolch bearbeitet worden.
Eine mit Alastair signierte symbolistische Bleistiftzeichnung. Dargestellt ist eine Person in einer Tanzbewegung. Neben ihr steht handschriftlich Herodias.
Ein Porträtfoto. Es zeigt Iggy Pop in seinen Dreißigern. Die dunklen Haare trägt er kurz mit längerem, seitlich gekämmtem Deckhaar. Seine Augen leuchten sehr blau, die Pupillen sind stark erweitert. Er trägt ein türkisfarbenes Hemd mit grafischem Seventies-Muster und raucht eine Zigarette.
Ein mit SW signierter Print im zeitgenössischen Cute-Stil. Dargestellt ist ein graugetigertes Kätzchen, es liegt auf einer königsblauen Chaiselongue und liest.
Ein impressionistisches Ölgemälde. Dargestellt ist eine junge Beduinin, weiß verschleiert, vor türkisem Hintergrund.
Eine surrealistische Aquarellzeichnung. Dargestellt sind zwei Kinderpuppen mit verdrehten Gliedmaßen. Das Fehlen eines Hintergrunds lässt sie schwebend erscheinen.
Sie hatte, ohne es zu bemerken, bei der Onlinearbeit innegehalten, war aufgestanden, ein paar Schritte von der Couch weggegangen, hatte sich umgedreht, den Blick im angenehmen Blau der Wohnzimmerwand und in den farblich passenden Bildern versenkt und war erstarrt, um sich einen Moment der Ruhe zu gönnen. Jedes der Bilder vor ihren Augen ragte in eine andere Vergangenheit, was, weil sie an den Anblick gewöhnt war, keine grellen Gefühle erzeugte, nur pastellfarbene Anklänge davon. Ideale Voraussetzungen für die ihr liebste Form des Nachdenkens, die zwischen philosophischer Tiefe und geistiger Leere hin- und herflirrte und am ehesten mit Tagträumen zu bezeichnen war. Ohne dieses auf hybride Weise den Tag taktende, halbbewusst einströmende, sie selbst in sich aufnehmende Denken würde sie nicht mit dem Leben klarkommen. Ja, Menschen waren immer in Beziehungen, nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu sich selbst in anderen Seinsarten und -weisen.
Sie hätte nicht sagen können, woran sie in den letzten Minuten gedacht hatte, aber weckte sich gerade ungewöhnlich schnell wieder auf. Mit dem Hinweis an sich selbst, die drängende Arbeit besser nicht zu verdrängen, holte sie sich zurück, setzte sich wieder in Bewegung, zurück auf die Couch, legte sich hin, nicht ganz, nur so weit, dass ihr Rücken die Seitenlehne berührte und sie in etwa die Pose des lesenden Kätzchens auf dem Bild einnahm, nur dass sie auf den angewinkelten Beinen statt eines Buches ihren Rechner platzierte. Diese halb hingestreckte, zwischen Liegen und Sitzen schwebende Haltung bei der Arbeit mit dem Laptop nannte sie Siegen, weil sie dem Kapitalismus wenigstens sprachlich Widerstand leisten wollte, gern poetisch die deutsche Sprache zerstörte und grundsätzlich nie am Schreibtisch, meist im Bett und manchmal, wie jetzt, auf dem Sofa arbeitete. Die Katze, die wirkliche, Chat, nicht die Katze auf dem Bild, schätzte es, nicht allein auf dem Sofa liegen zu müssen, ihr Leben wurde dadurch spürbar besser. Warum also sollte sie, der Mensch, nicht die Arbeit vom Bett, wo die Katze nicht liegen durfte, dorthin verlagern, wo ihre Anwesenheit die Katze glücklich machte. Aber war Chat wirklich wirklich? Ließen sich Katzen im konventionellen Sinne so bezeichnen? Waren sie nicht gerade dadurch so interessant, dass sie einer anderen Art von Wirklichkeit anzugehören schienen? Waren Bilder, nicht nur Bilder von Katzen, nicht ebenfalls auf andere Weise wirklich? Ergab der Ausdruck virtuell im postdigitalen Zeitalter noch einen Sinn? War sie ein Bild von sich, für sich selbst?
Das Internet wird im Liegen regiert, hatte sie mal ins Internet geschrieben, aber das war absichtlich nur die halbe Wahrheit gewesen. Sie und viele andere Menschen wollten gar nicht regieren, Macht erlangen, haben, erhalten, ausüben. Nicht über andere bestimmen zu wollen, war die selbstgewählte Bestimmung. Bei ihrem Siegen, das als Körperhaltung die allegorische Position des Dazwischen war, ging es ums Sein und ums Lassen: das als falsch Erkannte freiwillig zu unterlassen und andere Menschen frei, sicher und würdevoll existieren zu lassen. Es ging um gute Leben für alle, für sie war das der Inbegriff von Kultur. War sie selbst jemals nicht im Tagtraummodus, war sie wirklich? War sie nur im Tagtraum wirklich? Zu viel Tagtraum, ah, die Realität trat nach ihr, bedeutete unweigerlich mehr Altersarmut. Diese Erkenntnis war schwerwiegend genug, um sie nun wirklich zurückzuholen. Husch, husch.
Der Laptop war schon aufgeklappt, nun ging auch ihre Aufmerksamkeit online. Sie stellte in ihrem Shop neue T-Shirts ein, lud Fotos hoch, versah sie mit Alt-Texten, verfasste Produkt- und Bildbeschreibungen, tippte Schlagworte. Als sie zum wiederholten Male ihre Arbeit speicherte, was wegen eingestellter Automatisierung sachlich überflüssig war und darauf hinwies, dass sie eine Art digitalen Aberglaubens entwickelt hatte, der das Speichern emotional notwendig machte, bebte plötzlich die Erde, nein, ihr Smartphone, das direkt neben ihrem linken Fuß auf der Couch lag.
Eine Nachricht von Karlo im Gruppenchat Kernfamilie: Essen am Sonntagabend um 20 Uhr? Ich habe Neuigkeiten.
Sie antwortete sofort: Ja.
Gio antwortete nach einer Stunde: Gern.
Vic antwortete gar nicht, und es war auch nicht erkennbar, ob er die Nachricht gelesen hatte, diese Option hatte er ausgestellt. Sie fragte sich, ob aus Gründen der Datensicherheit oder des fuck you. Zumindest glaubte sie, dass er die Funktion deaktiviert hatte, sie selbst benutzte diesen Großkonzern-Messenger erst seit kurzem und nur widerwillig und hatte sich aus falsch verstandenem Protest nicht wirklich intensiv damit beschäftigt.
Karlo rief aus dem Keller an. Er habe Vic angerufen und der käme auch. Ob sie bitte Gio Bescheid geben könne, dass das Treffen wirklich stattfinden werde. Sie legte auf. Warum hieß es, obwohl ein Smartphone keinen Telefonhörer hatte, immer noch auflegen? Sie rief Gio im ersten Stock an.
– Das Familienessen am Sonntag findet statt.
– Schön, und was will Papa?
– Keine Ahnung, es klingt für mich, als ginge es um etwas Positives.
– Bin gespannt.
BILDBESCHREIBUNG Gio, Vic, Natti und Karlo sitzen an einem gedeckten Tisch. Die Beleuchtung durch die Deckenlampe direkt über ihnen lässt die Szene bühnenhaft wirken.
Vater, Mutter, Kind hatte sie als Kind nie gern gespielt, aber das hatte wohl nicht viel zu bedeuten gehabt, denn just in diesem Moment saß sie am Tisch mit Karlo und Vic und Gio und war die Mutter bei Vater, Mutter, Kind, Kind, mittlerweile schon im Sequel Vater, Mutter, erwachsenes Kind, erwachsenes Kind.
Von Karlo zusammengerufen, saßen sie in der durch Gewohnheit festgeschriebenen Sitzordnung. Immerhin saß nicht der Vater am Kopf der Tafel, sondern am einen Ende Vic und am anderen Ende sie. Ihr Status als Familie der Mittelschicht war, egal wie locker einzelne Mitglieder es mit der einen oder anderen gesellschaftlichen Konvention und dem einen oder anderen Gesetz hielten, durch Stoffservietten und silberne Serviettenringe mit eingravierten Vornamen ausgewiesen. Sie, die Klassenaufsteigerin, empfand sich auch heute noch als nicht so richtig zu den Servietten passend. Karlo hatte einen Nudelsalat nach einem Rezept des Starkochs ihrer Generation zubereitet, der wie alles zu ihrer Zeit ein Pop-Image mitverkaufte. Es stammte aus einem zwanzig Jahre alten Kochbuch – mittlerweile nutzten sie, wie fast alle, meist das Internet, um Ideen und Rezepte für Speisen zu finden. Dieses eine Gericht aber gehörte zu ihrer Familiengeschichte wie bestimmte Songs, Filme, Bücher und oft erzählte Anekdoten. Für die Kinder würden vermutlich einige Gerichte, die auf TikTok viral gegangen waren, das Gefühl ihrer Zeit konservieren. Nein, nicht nur für die Kinder, auch für sie.
Sie war wieder kurz in sich weggewesen, schnell zurück zu Vater, Mutter, Kind, Kind. Einerseits wirkten alle vier hier am Tisch gelassen, sie konnten sich ihrer gegenseitigen Liebe gewiss sein. Andererseits waren drei von vier, wohl wegen der unklaren Themenstellung des Treffens, sichtlich in Hab achtstellung: Würde von ihnen etwas gewollt werden, das nicht passte, nicht hier, nicht jetzt, gar nicht?
– Ich habe eine Überraschung für euch. Wir werden, sofern ihr das möchtet, in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam Urlaub in Italien machen, auf dieser Insel, die wir vor langer Zeit bei dem Tagesausflug vom Campingplatz aus entdeckt und so traumhaft gefunden haben. Der Plan umspannt vier Wochen, nächstes Jahr, den ganzen Mai über. In der ersten Woche werden Mama und ich zu zweit dort sein, in der zweiten und vierten Woche zusammen mit je einem von euch und einer anderen Person eurer Wahl, und die dritte Woche verbringt die klassische Kernfamilie unter angenehmsten Umständen wiedervereint. Wir wollen nicht in alte Eltern-Kind-Muster zurückfallen, sondern in maßvoller zeitlicher und räumlicher Nähe das Zusammensein genießen. Ich habe deshalb ein ganzes Haus direkt am Corso gemietet, es gibt drei Stockwerke und eine Dachterrasse mit Meerblick. Das genaue Gegenteil von den Urlauben, die wir sonst als Familie gemacht haben. Kein Camping, sondern Luxus, euer Traum wird endlich wahr. Es ist für uns nur bezahlbar, weil Vorsaison ist. Das ist mein Geschenk an uns alle als Familie, vielleicht kann es eine neue Tradition werden, dass wir einmal im Jahr entspannt Zeit miteinander verbringen. Wir finden es vollkommen nachvollziehbar, dass du ausgezogen bist, Vic, aber wir vermissen dich auch sehr. Indem wir in diesen Urlaub nahe Menschen von euch mitnehmen, beleben wir das Konzept des offenen Hauses wieder, das in der Pandemie verloren gegangen ist.
Karlo hatte geendet und sie nickte. Sie vermisste ihren Sohn tatsächlich sehr und hatte deshalb eine Art symbolischen Stellvertreter auf der Couch in ihrem Zimmer sitzen, einen Animecharakter aus Plüsch. Mit Anime-Vic arbeitete sie in ihrem Innern den Abschiedsschmerz durch. Gleichzeitig fand sie es schön, dass ihr Sohn sein Unabhängigkeitsbedürfnis erkannt und das Leben entsprechend für sich eingerichtet hatte. Abrupt musste sie ihren idealisierenden Tagtraum verlassen, denn ihr Instinkt wies sie harsch zurecht, dass gerade wohl eher Alarmbereitschaft angebracht sei. Mit dem wohlbekannten Gefühlsmix aus Milde, Faszination und Horror beobachtete sie, wie Bruder Bruder ansah und beide irgendwie beunruhigend zu lächeln begannen. Schöne junge Wölfe, die wie im Märchen das Haus umpusten wollten. Der Vergleich machte sie selbst zu einem kleinen Schweinchen, nun ja. In einem anderen Märchen hätten die jungen Wölfe genug Kreide gefressen, um ihr – dieses Mal als Geißlein dabei –, auf den ersten Blick vertrauenswürdig zu erscheinen, aber nicht genug, um als wirklich ungefährlich durchzugehen. Manchmal fand sie ihre Kinder unheimlich, sie hatte Angst vor Wölfen.
Vic schien sich vergewissern zu wollen, ob er richtig gehört hatte.
– Ihr seid vier Wochen weg, das heißt, wir sind hier einen ganzen Monat lang allein?
Ein Lachen brach aus ihm heraus und minimal zeitverzögert auch aus Gio, ein unkontrolliertes, die soziale Ordnung störendes Lachen, bei Frauen hätte man es hysterisch genannt. Mutter sah Vater an und Vater Mutter. Blicke wurden gewechselt, welche Außenstehende sorgenvoll genannt hätten, die aber von Kindern aus Pragmatismus ignoriert wurden. Karlo und sie nickten, was blieb ihnen übrig, Vic hatte die Sachlage weitgehend richtig zusammengefasst. Das Haus würde sich vier Wochen lang außerhalb der elterlichen Kontrolle befinden. Die Gefühlslage war noch mal ein anderes Thema.
– Das wird episch.
Gio sprach aus, was Karlo und sie befürchteten.
Die charmanten jungen Wölfe waren gegangen, um irgendwo mit irgendwem zu chillen, und Karlo und sie saßen an ihrem schwarzen Eiermann-Tisch, der sonst ziemlich stylish aussah, aber jetzt zusammen mit ihnen wie das Interieur eines bedrückenden Hammershøi-Gemäldes wirkte.
– Alles wird gut gehen, sie sind erwachsene Menschen und wissen, wie sehr es uns abfucken würde, wenn sie uns abfucken sollten.
– Ja, bestimmt … hoffentlich.
Sie seufzten synchron. Das war noch niemals geschehen. Sie vermieden es, sich anzusehen, so unangenehm war es ihnen.
Als die Kinder im Grundschulalter gewesen waren, hatte sie mal bei ihrer damaligen Lieblingsplattform Twitter geschrieben: Ich bin bei der Geburt meiner Kinder vertauscht worden. Dieser Satz war wahr gewesen oder zumindest wahrhaftig. Viele Eltern neigten dazu, sich durch die Fürsorge so stark zu verändern, dass es sich in besonders ausgelaugten Momenten wie ein Persönlichkeitsverlust anfühlte. Eine heimliche Doppelgängergeschichte, bei der man nicht merkte, dass sie gruselig war. Aber so kontextlos im Netz hingeschrieben, klang es – dieser Effekt hatte sie damals belustigt –, als würde sie meinen: Ich bin durch die Erfahrung der Geburt und Mutterschaft irgendwie gewachsen, weiser geworden, vielleicht sogar etwas erhaben. Haha, als ob … In Wirklichkeit war sie als Mutter nur müder geworden, sehr viel müder. Schlaf- und Selbstbestimmungsmangel hatten eine bodenlose Erschöpfung erzeugt, die aus ihr, einer grundoptimistischen Person, einen zum Verzweifeln neigenden Menschen gemacht hatten. Denken war damals auch nicht wirklich drin gewesen. Insgeheim hatte sie damit gerechnet, dass, wenn die Kinder groß sein würden, eine dritte Version ihrer Persönlichkeit auf sie wartete. In diesem Fall hatte das Leben mal eine angenehme Überraschung für sie bereitgehalten. Als die Kinder etwa 16 und 18 waren, hatte sie sich schlagartig wieder wie die Person vor den Kindern gefühlt, also nicht weiser, aber wach und am Denken interessiert. Es war sehr angenehm, wieder sie selbst zu sein. Hätte sie ein schlechtes Gewissen haben sollen, weil sie so sauber von der Mutterrolle abdocken konnte, wo doch Frauen gesellschaftlich signalisiert wurde, dass gute Mütter lebenslang vor allem eines waren, Mütter? Nein, diesen patriarchalen Schuh zog sie sich nicht an – wieder klar denken zu können, war wirklich praktisch. Sie wusste selbst, dass sie ihren Mutterjob keinesfalls perfekt, aber nicht schlecht gemacht hatte. Ihre Söhne und deren befreundete Personen unter ihrer temporären Obhut waren erfolgreich lebendig ins Erwachsenenalter befördert worden. Diese Kernfamilie war die erste in der Familiengeschichte, in der alle Mitglieder Abitur gemacht hatten. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern war nicht spannungsfrei, aber gut. Sie wusste sogar fast immer, was bei ihren Söhnen los war, weil diese ihr von ihren Leben erzählten, Vic in so etwas wie Quartalsberichten, wenn er in zugewandter Stimmung war, und Gio meist zeitnah oder auch sofort, wenn sie ihn direkt nach Neuigkeiten fragte. Auf diese Offenheit, dieses Vertrauen zwischen ihnen war sie ein bisschen stolz, und daran hielt sie sich auch fest, wenn Karlo oder sie ihren Kindern wieder einmal dabei helfen mussten, eine Krise zu managen, die komplett vermeidbar gewesen wäre. Sie machte unwillkürlich einen Laut der Missbilligung, als sie sich an den Ordner erinnerte, in dem sie alle die Kinder betreffenden Mitteilungen zu Verstößen gegen die Schulordnung, sämtliche Tadel, Besinnungsaufsätze, Vorladungen, Einladungen zu Aufklärungsgesprächen und Ähnliches aufbewahrte. Mit dieser ordentlich abgelegten Dokumentation des juvenilen Chaos wollte sie sich absichern für den Fall, dass irgendwann einer ihrer Söhne sich vor sie hinstellen und sagen würde: So schlimm war ich doch gar nicht. (Doch.) Sie wollte sich auch für den Fall ab sichern, dass sie sich irgendwann selbst fragen würde, warum sie in den zwanzig Jahren mit den Kindern alles in allem so wenig auf die Reihe bekommen hatte. Sie hatte sehr viel auf die Reihe bekommen, nur betraf vieles davon Inhalte, mit denen sie sich nicht freiwillig beschäftigt hatte, wie etwa staatliche Care-Notstände auszugleichen, rare Plätze an nicht ganz so schlimmen Schulen zu besorgen, mit beim waghalsigen Spielen verletzten Kindern in Notaufnahmen rumzusitzen und immer wieder kleine bis mittelschwere Untaten sozial auszubalancieren. Zum Glück hatten Vic und Gio für Berliner Verhältnisse relativ spät mit dem Kiffen begonnen, so dass die kleinkriminelle Phase nur wenige Jahre umspannte. Auf Kontakt mit der Polizei hatte sie nun wirklich gar keine Lust. Ihre eigene Mutter hätte an dieser Stelle dreimal auf Holz geklopft oder gesagt, dass man es tun müsste. Positiv betrachtet, dieser Perspektivwechsel war ein wichtiges mentales Werkzeug für sie, um auch in überfordernden Zeiten irgendwie klarzukommen, hatten Vic und Gio als Kinder gelten können, die, abgesehen von ihrer lebensbedrohlichen Verwegenheit, sehr leicht zu betreuen waren, weil sie abends freiwillig ins Bett gingen, schnell einschliefen, nur wenige Speisen ablehnten, schnell und dauerhaft sozial Anschluss fanden. In Kombination mit dem Umstand, dass Karlo ein zugewandter Vater war, der nicht nur mit guten Absichten ins Elternleben gestartet war, sondern wirklich viel Zeit mit den Kindern und auch deren Betreuung zugebracht hatte, konnte sie den Verlauf ihres Lebens als Mutter alles in allem wohl als Jackpot betrachten. Trotzdem war das Gefühl von Erschöpfung oft größer als das Glücksempfinden gewesen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sie sich nicht im Geringsten vorstellen konnte, wie müde alleinerziehende Mütter, von Partnerpersonen im Alltag hängengelassene Mütter, kranke Mütter, arme Mütter sein mussten. Im Internet, das fiel ihr jetzt wieder auf, war sie wirklich dauerhaft vertauscht worden, denn erst als Person, die in sozialen Medien Kritik an sich herangelassen hatte, darunter auch sehr schmerzhafte, am Selbstbild des guten Menschen kratzende, war sie wirklich Feministin geworden und hatte nicht nur den Wortsinn, sondern auch gefühlt begriffen, was es bedeutete, solidarisch zu sein.
BILDBESCHREIBUNG Gio sitzt mit gebeugtem Kopf am Tisch und isst etwas. Sein Gesicht ist von einer roten Cap verborgen, auf der weiß gestickt „Cap“ steht.
„Witzig“, dachte sie, vermutlich Off White