Vladimir - Julia May Jonas - E-Book

Vladimir E-Book

Julia May Jonas

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Beschreibung

Sie ist Ende fünfzig, Literaturprofessorin an einem kleinen College an der amerikanischen Ostküste und beliebt bei ihren Studentinnen. Seit dreißig Jahren ist sie mit John verheiratet, der am selben College unterrichtet. Sie war immer stolz darauf, mit John eine offene Beziehung zu führen, intellektuell, finanziell und emotional unabhängig zu sein. Als John jedoch seine Suspendierung fürchten muss, weil eine der vielen Studentinnen, mit denen er im Laufe der Jahre eine Affäre hatte, ein Verfahren gegen ihn angestrengt hat, gerät das Wertesystem der Ich-Erzählerin ins Wanken: Ihre Studentinnen und ihre Tochter fordern sie auf, sich zu trennen, die Fakultät möchte sie beurlauben. In dieser Situation trifft sie Vladimir Vladinski - ein 20 Jahre jüngerer Kollege und gefeierter Romanautor - und entwickelt für ihn eine folgenschwere Obsession.

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Seitenzahl: 392

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Das Buch

»Ich wollte Nähe, intime Nähe von dem Moment an, als ich ihn mit übergeschlagenen Beinen im Fenster gespiegelt sah. Es war, als hätte sich mir eine ganz neue Welt eröffnet, und wenn schon nicht eine Welt, dann ein bodenloser Abgrund … «

Sie ist Ende fünfzig, Autorin zweier mäßig erfolgreicher Romane und Literaturprofessorin an einem kleinen College an der amerikanischen Ostküste. Seit dreißig Jahren ist sie mit John verheiratet, der am selben College unterrichtet, und war immer stolz darauf, ihr eigenes Geld zu verdienen und eine offene Ehe zu führen – denn das bedeutete für sie Emanzipation: intellektuell, finanziell und emotional unabhängig zu sein.

Aber als John seine Entlassung befürchten muss, weil eine der Studentinnen, mit denen er im Laufe der Jahre eine Affäre hatte, ein Verfahren gegen ihn angestrengt hat, gerät das Wertesystem der Ich-Erzählerin ins Wanken. Ihre Studentinnen und sogar ihre Tochter Sidney fordern sie auf, sich von John zu trennen, und die Collegeleitung will sie beurlauben.

In dieser angespannten Situation trifft sie Vladimir Vladinski – zwanzig Jahre jünger als sie, gefeierter Romanautor, der neue Shooting-Star an ihrem Lehrstuhl und verheiratet mit einer so brillanten wie psychisch labilen Frau. Sie entwickelt eine Obsession für Vladimir und schmiedet einen Plan, um ihn zu verführen – ein Plan, der für niemanden in diesem verworrenen Beziehungsgeflecht ohne Folgen bleibt.

Die Autorin

JULIAMAYJONAS wurde in Galveston geboren und hat an der Columbia University Literarisches Schreiben studiert. Sie ist Dramatikerin und unterrichtet Schauspiel am Skidmore College in Saratoga Springs, New York. Vladimir ist ihr erster Roman. Jonas lebt mit ihrer Familie in New York.

Julia May Jonas

Vladimir

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Eva Bonné

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel

VLADIMIR

bei Avid Reader Press, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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[>>]:Sophokles. Werke in einem Band. Aus dem Griechischen übertragen, eingeleitet und erläutert von Rudolf Schottländer, Berlin und Weimar 1966, S. 273

[>>]:D. H. Lawrence: Lady Chatterley. Hamburg 1987, S.5.

(Ohne Übersetzernennung.)

[>>]:John Webster: Die Herzogin von Malfi. Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Plessen, Hamburg 1985, S. 230.

Copyright © 2022 by Julia May Jonas

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: geviert.com, Christian Otto

Coverabbildung: © Peter Hujar/The Peter Hujar Archive

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28668-2V003

www.blessing-verlag.de

Für Adam

Laßt, laßt mich mir selber, so gut ihr’s meint!

Dies Leid ist unheilbar, das weiß die Welt.

Sophokles, Elektra

Prolog

Als Kind habe ich alte Männer geliebt, und ich merkte, sie liebten mich auch. Sie liebten, wie eifrig ich versuchte, ihnen zu gefallen und wie sehr ich mir wünschte, dass sie Gutes von mir dachten. Sie zwinkerten mir zu und fanden mich altklug. Ich begegnete ihnen in der Kirche und bei Familientreffen, sie waren die Freunde der Eltern meiner Freundinnen. Sie waren die Ehemänner meiner Ballettlehrerin, Mathelehrerin, Geschichtslehrerin.

Ihre Anerkennung machte mich glücklich. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich ein Mädchen im weißen Kleid mit blauer Schleife vor mir. Girls in white dresses – ein Lied, geschrieben von einem alten Mann. Ich habe so ein Kleid nie besessen, aber ich erinnere mich, es getragen zu haben, besonders, wenn ich mit alten Männern sprach. Ich erinnere mich an das Gefühl, ein klassisches kleines Mädchen zu sein, an meine Überzeugung, ich wäre die Tugend in Person. Aus meinen Augen leuchteten Tugend und Intelligenz, und die Männer bemerkten das, selbst die ältesten und übellaunigsten.

Bis heute mag ich alles, was alte Männer gerne mögen. Jazz, Folk, Blues und virtuoses Gitarrenspiel. Lange, gut recherchierte Geschichtsbücher. Die Existentialisten und kraftstrotzende Prosa. Liederlichkeit und lustige, brutale Verbrecher. Gefühlsbetonten Rock ’n’ Roll. Niedertracht. Ich mag volksnahe Geschichten vom Leben in der Stadt und vom Leben auf dem Land und auch politische Anekdoten. Ich mag schlaue Witze, Gespräche darüber, wie sie funktionieren, idiomatische Ausdrücke, Kartenspiele und Kriegsgeschichten.

Aber was ich an den alten Männern am meisten liebe und was mich auf den Gedanken bringt, ich könnte selbst einer sein und nicht eine alternde weiße Frau Ende fünfzig (eine Identität, die in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen mir meistens peinlich ist), ist die Tatsache, dass alte Männer aus Begierde bestehen. Sie sind ein einziges Bedürfnis. Sie haben Lust auf Essen, Boote, Urlaub und Unterhaltung. Sie wollen stimuliert werden. Sie wollen schlafen. Sie lassen sich vom Begehren leiten, daraus besteht ihre ganze Welt. Der alte Mann, den ich im Sinn habe (und vielleicht spreche ich von einem ganz bestimmten Typus, dem ich in meiner Jugend begegnet bin und der sich in mein Denken eingeschrieben hat), kennt keine Welt oder kann sich keine vorstellen, die nicht komplett und absolut vom Prinzip des Wollens und Bekommens beherrscht wird. Und natürlich sehnt er sich nach der Hingabe einer Sexualpartnerin, und sei es nur in der Vorstellung, im blauen Licht eines Fernsehschirms.

Während ich dies schreibe, schaue ich auf Vladimirs wohlgeformten, bronzefarbenen, gegen die Stuhllehne gesunkenen Kopf. Seine Stirn ist ausladend – man könnte sie auch vorspringend nennen –, das Licht fällt auf die straff gespannte Haut über den maskulin wulstigen Stirnbeinen. Er ist vierzig und gehört zu der Sorte Mann, deren Gesicht erst schmaler wird und dann weich. Das graublonde Haar erinnert an zerzaustes Heu, noch ist es üppig, doch jetzt schon droht es, in späteren Jahren schütter zu werden und auszufallen. Er schläft im Sitzen, die Härchen auf seinem linken Arm (der, der nicht festgebunden ist) schimmern in der Spätnachmittagssonne. Beim Anblick dieser im Licht erglühenden Körperbehaarung steigt ein Schluchzer in mir auf. Ich streiche mit den Fingern über die fedrig weichen Haare, so leicht wie ein winziges, zurückhaltendes Insekt.

Der Stuhl ist schwer, gotischer Stil, aus dunklem Kiefernholz gefertigt und glatt von der Abnutzung. Er stand in einem Trödelladen, und davor in einer pleitegegangenen Bierhalle an der Route 9. Ins Holz sind schwarz klebrige Namen und Initialen eingeritzt, manche paarweise in einem Herz, andere mit Datum. Wenn ich auf der Suche nach einer Eingebung bin, konzentriere ich mich auf einzelne Kerben: J. S. + R. B. 1987. Ich denke mir Namen zu den Initialen aus, Jehan Soon und Robert Black zum Beispiel – ein schwules Pärchen, das aus New York City hergezogen ist, um dem Grauen der AIDS-Krise zu entkommen. Beide sind Architekten, Jehan, Sohn koreanischer Einwanderer, ist in Flushing, Queens, zur Welt gekommen und aufgewachsen, Robert Black ist der Nachfahre einer Mayflower-Familie, ein, Achtung: Wortwitz, blaublütiges schwarzes Schaf. Sie kaufen eine großzügige Holzvilla im viktorianischen Stil und richten sie zwanghaft stilbewusst mit antiken Möbeln und Kuriositäten ein, wie man sie nur in der Zeit vor dem Internet finden konnte, bevor jeder den Wert von allem kannte, vom Eames Chair bis hin zu kitschigen Porzellanfiguren aus den Sechzigerjahren. Eines Abends gehen sie in der neuen Stadt spazieren und entdecken die Bierhalle. Es ist ein warmer Frühlingsabend, sie setzen sich, sehr romantisch, unter die mit Blüten schwer beladenen Bäume vor dem Gebäude. Es regnet Blütenblätter. Jehan hat einen Schwips und will kuscheln, doch Robert, der sich in Upstate New York fürchtet, besonders vor den großen Gruppen bulliger Männer, die vielleicht nicht gerade Mitglieder der Hells Angels, aber in Sachen Erscheinungsbild durchaus von ihnen inspiriert sind, stößt ihn weg. Sie streiten sich heftig und gehen wütend nach Hause. Jehan fühlt sich gedemütigt, Robert fühlt sich hilflos. Viel später, als sie sich längst wieder vertragen haben, geht Robert allein zur Bierhalle und schnitzt ihre Initialen in einen Stuhl, und am ersten Jahrestag ihres Umzugs in die neue Stadt bringt er Jehan dazu, auf dem Stuhl zu sitzen. Er zeigt ihm die Schnitzerei.

Und dann gehen sie spontan in Flammen auf.

Zum Beispiel.

Vladimir schnarcht leise, ein sanftes, tröstliches Schnurren. Das Geräusch ist süß und gleichmäßig. Lebte ich mit ihm zusammen, wäre ich seine kleine Frau, ich würde mich an ihn klammern und von seinem Schnarchen einschläfern lassen wie von Meeresrauschen.

Ich könnte die Hütte aufräumen – die Limetten von unseren Drinks liegen zerquetscht auf dem Küchentresen, die Schuhe im Vorraum zeigen in alle Himmelsrichtungen. Ich könnte etwas schreiben, an meinem Buch arbeiten, aber eigentlich möchte ich nur hier sitzen und beobachten, wie das Licht über ihn hinwegkriecht. Ich werde mir des Augenblicks als eines perfekten Beispiels für meinen Schwellenzustand bewusst. Noch lebe ich in einer Realität, in der Vlad nicht aufgewacht ist. Ich wünschte, meine Studierenden mit ihrer postadoleszenten Vorliebe für Stilmittel wären jetzt hier. Ich bin mir sicher, auch sie könnten es spüren. Die Un-verortet-heit und die Zeit-frei-heit des Hier und Jetzt. Den pulsierenden Moment zwischen vielen anderen Momenten.

1

Obwohl ich Vladimir bereits gesehen hatte und ihn hatte sprechen hören – im Postgraduiertenseminar, beim Bewerbungslunch und auf der Klausurtagung des Fachbereichs –, hatte ich bis zum Herbstsemester keine Gelegenheit gehabt, mehr als ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Ich hatte ihn im Frühjahr kennengelernt, als er seine Vollzeitstelle als Juniorprofessor antrat und ich zu allen Dozententreffen zu spät kam und früher ging, um mit niemandem reden zu müssen. Ich hielt es kaum aus, neben Florence zu sitzen, nicht mal mit drei Plätzen Abstand; Wutblitze schossen mir aus der Vagina in Arme und Beine. Immer schon ist der Ausgangspunkt meiner Wut meine Vagina gewesen; es wundert mich, dass das Phänomen in der Literatur kaum erwähnt wird.

An einem Abend Anfang September, in der ersten Semesterwoche, war er bei mir zu Hause, und da unterhielten wir uns zum ersten Mal richtig. Ich saß gerade im Wohnzimmer unseres Hauses, genoss die kühle Brise, trank Mineralwasser – ich habe eine Regel, derzufolge ich, wenn ich allein bin, Alkohol erst ab einundzwanzig Uhr trinken darf, eine praktische Taktik, mein Gewicht zu kontrollieren – und las ein Buch über die Geschichte der Hexen in Amerika, als es an der Tür klingelte. Seit die Vorwürfe gegen meinen Mann laut geworden waren, konnte ich keine Romane mehr lesen. Normalerweise las ich in den Sommermonaten viel und mit Begeisterung, und immer fand ich ein paar neue Kurzgeschichten oder einen Romanauszug, den ich später in meinen Seminaren durchnehmen konnte. Für meine Studierenden und für mich war es wichtig, mit der Stimme der Gegenwart in Verbindung zu bleiben. Aber in dem Sommer hatte ich das Gefühl, mein Blick könnte sich nicht auf die gedruckten Wörter fokussieren. Die fiktiven Welten, die Konstruiert-heit und Abgekupfert-heit der Texte, die vielen Figuren – all das erschien mir wie eine dürftige, kümmerliche Opfergabe. Ich brauchte Daten, Fakten, Zahlen und Statistiken. Waffen. Dies ist unsere Welt, und das ist darin passiert. In meinem Einführungsseminar las ich normalerweise einen Abschnitt aus der Poetik laut vor. Aristoteles erläutert darin den Unterschied zwischen Poesie und Geschichtsschreibung und warum die kunstvolle und theoretische Poesie in der Darstellung des Menschlichen überlegen ist. Dieses Jahr habe ich den Teil ausfallen lassen. Genau genommen habe ich dieses Jahr die komplette Einführung ausfallen lassen, meine ganze lange, mit viel Vorlauf zusammengestellte und eingeübte Litanei aus Anspielungen und Zitaten, die meine Studierenden ebenso einschüchtern wie motivieren soll. Stattdessen habe ich sie gebeten, über sich und ihre Erfahrungen zu sprechen. Ich würde gern behaupten, meine Entscheidung habe etwas mit dem Wunsch zu tun, sie kennenzulernen, aber so war es nicht. In meinen Seminarnotizen steht: »Lass sie reden! (Sie interessieren sich ohnehin nur für die eigenen Gedanken.)«

Ich hörte sein Auto in der Einfahrt und dann seine Schritte, als er über das Grundstück lief und sich fragte, welche Tür die richtige sei. In unserer kleinen Stadt ist es allgemein Sitte, ein Haus über die hintere Veranda zu betreten, von der man, solange das Gebäude nicht kernsaniert wurde, in die Küche gelangt. Sie stammt noch aus der Zeit, als Hausangestellte üblich waren und die Hausarbeiten an sich noch keine Zurschaustellung von Vorlieben, Kompetenzen und gutem Geschmack.

Doch Vladimir war neu in der Stadt und klingelte am Vordereingang. Den kleinen, kalten Flur nutzten wir eigentlich nur als Durchgang zum Obergeschoss. Ich öffnete die Tür, er stand im Rampenlicht des Eingangsbereichs und schob sich schnell die Hand in die Hosentasche, als hätte er sich gerade das Haar geordnet. Er wirkte verlegen. Ich erinnerte mich, wie ich mich als junge Mutter Mitte dreißig mit jungen Vätern darüber unterhalten hatte, auf welche Grundschule ihre Kinder gingen oder ob sie mit Karate anfangen würden; an meinen Schauder des Entzückens, wenn sie sich unbewusst in die Haare fassten oder die Kleidung zurechtzupften. Eine nervöse kleine Verbeugung vor der Macht der Anziehung, die ich damals besaß.

In der anderen Hand hielt er eine Flasche Rotwein, unter dem Arm klemmte ein Buch. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, lagerte er beides um und schob sich den Wein unter den Arm wie eine Geige in der Spielpause. Er trug eine Häkelkrawatte mit gravierter Klemme über einem karierten Hemd, dessen Ärmel aufgerollt waren, dazu eine gut geschnittene Hose und hochwertige Lederschuhe mit dicker weißer Sohle. Ganz eindeutig war er aus der Stadt hierherverpflanzt worden; kein heterosexueller Mann, der lange genug hier gelebt hatte, würde so aussehen. Selbst mein eitler Ehemann mit seiner Vorliebe für teure irische Strickpullover hatte die Detailverliebtheit und die leichte Ironie des urbanen Stils vergessen. Er trug, woran er glaubte, und hatte jenes Gespür für Kostümierung und Selbstdarstellung verloren, das gut gekleidete Stadtmenschen ganz intuitiv besitzen. Dieses anhaltende Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen.

Vladimir hielt mir das schmale Buch entgegen, flaschengrün mit einem Titel in Sans Serif. »Ich wollte sagen, ich wäre gerade in der Nähe gewesen, aber das stimmt nicht, ich komme von der Uni … Ich wollte … John und ich haben uns heute unterhalten, und ich wollte ihm und natürlich auch Ihnen, Ihnen, das hier bringen.«

»Und das«, fügte er hinzu und hob die Weinflasche in die Höhe. »Ich würde mir niemals einbilden, mein Buch allein wäre Anlass genug für einen Besuch.«

Ich ignorierte den Wein und nahm die Haltung der zugeneigten Matrone ein, wie ich sie meinen Studierenden und überhaupt jungen Menschen gegenüber immer häufiger an den Tag legte. Ich ließ, wie es so schön heißt, meinen mütterlichen Charme spielen. »unmaßgebliche allgemeingültigkeit, von Vladimir Vladinski«, las ich. »Ihr Buch. Wie aufregend. Bitte, kommen Sie doch herein.«

Nach einem kurzen Gerangel mit der Tür, bei dem sich seine Krawatte kurz am Knauf verfing, folgte er mir ins Wohnzimmer. Als ich durch den Flur vorausging, griff ich nach meinem Paschminaschal und legte ihn mir um den Hals. Ich ziehe es vor, meinen Hals zu bedecken.

»John ist leider nicht da, aber kann ich Ihnen einen Drink anbieten? Wo Sie schon nicht in der Nähe waren?«

Er willigte ein, warf dabei aber einen Blick auf die Uhr. Die Geste sollte mir signalisieren, dass seine Zeit begrenzt war.

»Kommen Sie, wir gehen in die Küche. Möchten Sie einen Wein oder lieber ein Bier oder einen Martini?«

Ich bin von Natur aus eine geschäftige Gastgeberin, und im Gegensatz zu vielen Leuten mag ich geschäftige Gastgeberinnen sehr. Wenn ich Besuch habe, bin ich die meiste Zeit in Bewegung, räume auf, koche Kaffee oder wische Oberflächen ab. Meine Mutter hielt nur still, wenn sie las, tippte, Schecks ausschrieb oder schlief, und ich habe diese Eigenschaft geerbt. Wenn ich bei einer Person zu Besuch bin, deren Aufmerksamkeit geteilt ist, weil sie vor meinen Augen die Hausarbeit erledigt, einen Koffer packt oder den Boden wischt, entspanne ich mich sofort. Immer schon mochte ich das Gefühl, einfach nur irgendwo herumzuhängen, und Gastgeber, die mir zu viel Aufmerksamkeit schenken, machen mich nervös.

Damals in der Stadt, als Lehrbeauftragte kurz vor der Dissertation, hatte ich eine flüchtige Affäre mit einem jungen Mann, der sich immer sehr langsam bewegte und intensiven, langen Blickkontakt suchte. Er saß in meinem Seminar über »Frauen in der Literatur«, und wenn er sich zu Woolf, Eliot oder Aphra Behn äußerte, ruhte sein durchdringender Blick so hartnäckig auf mir, dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Anfangs fand ich es lustig, irgendwie liebenswert. Je mehr Zeit wir im selben Raum verbrachten, desto süchtiger wurde ich nach diesem Blickkontakt, und manchmal blinzelte ich während des Gesprächs bewusst langsam und verschaffte mir damit das Gefühl, aus dem warmen Bad seiner Augenaufmerksamkeit zu steigen und dann wieder darin abzutauchen. Als wir den Flirt später durch Beischlaf besiegelten, stellte ich (obwohl es mich kaum hätte überraschen dürfen) entsetzt fest, dass er die Kommunikation während des Liebesakts nicht aufrechterhielt, sondern sich schielend in sich selbst zurückzog wie jeder Einundzwanzigjährige. (Bevor Sie jetzt entsetzt sind: Ich war selbst erst achtundzwanzig.) Nachdem die Affäre beendet war, empfand ich seine langen Blicke erst als lästig, dann machten sie mich rasend, und zuletzt fand ich ihn einfach nur noch kuhäugig und stumpf. All diese Phasen musste meine Wahrnehmung durchlaufen. Ich glaube, er ist jetzt in der »freien Wirtschaft« und Republikaner.

»Na ja, also, ein Martini, warum nicht«, sagte Vladimir und klang von meinem Vorschlag angenehm überrascht.

»Ich mache sie mit Wodka, nur damit Sie Bescheid wissen. Ich mixe Kleinstadt-Martinis. Dreckig und süffig, mit einem großen Schuss Olivenlake und Wermut.«

Er versicherte mir, das sei in Ordnung, wundervoll, genau so möge er sie am liebsten. Ich öffnete den Unterschrank, stellte mich auf die Kante und angelte zwei Gläser aus dem Regal. Ich bin eine kleine Frau. Die anatomischen Tatsachen stehen anscheinend im Widerspruch zu meiner Persönlichkeit. Mein ganzes Leben lang haben die Leute sich, wenn sie von meiner Körpergröße erfuhren, darüber gewundert, dass ich nur eins sechzig groß bin. Die meisten schätzen mich auf mindestens eins achtundsechzig oder eins siebzig. Wenn ich mich auf Fotos sehe, staune ich, wie klein ich neben meinem Mann wirke und wie weit meine Kleidung, in der ich zu versinken scheine. In meiner Vorstellung sind wir gleich groß.

Ich holte zwei Gläser vom Regal und hatte das Gefühl, Vladimir wäre dicht hinter mir, und tatsächlich, als ich mich umdrehte und ihm die Gläser reichen wollte, drückte ich sie ihm praktisch an die Brust.

»Sorry«, sagten wir wie aus einem Mund.

»Verhext«, sagte ich.

Ich mixte die Martinis und führte ihn dann ins Wohnzimmer. Er nahm mir gegenüber auf dem Zweiersofa Platz und machte es sich auf eine anziehende, maskuline Weise gemütlich, indem er die weit gespreizten Beine so übereinanderschlug, dass der Fuß des einen auf dem Knie des anderen zu liegen kam. Er erzählte, er habe eine kleine Tochter, drei Jahre alt (Philomena, aber sie nannten sie Phee), und dass seine Frau (im Fachbereich galt sie als faszinierende Gestalt, sie werde als Gastdozentin einen Kurs über autofiktionales Schreiben leiten) mit dem Umzug in die Kleinstadt nicht gut zurechtkam. Er fragte, wo mein Mann sei, und wirkte ziemlich überrascht, als ich sagte, John sei mit einer ehemaligen studentischen Hilfskraft etwas trinken gegangen.

»Mit einer Frau?«

Ich erklärte, dass es sich um einen jungen Mann handele, und er war beruhigt.

Mein Ehemann John leitet unseren kleinen Fachbereich für Englische Literatur an unserem kleinen College in Upstate New York. Wir haben weniger als zweitausendzweihundert Studierende. Zu Beginn des Frühlingssemesters im Januar war bei der Verwaltung eine von über dreihundert Leuten unterschriebene Petition eingegangen, die seine Entlassung forderte. Angehängt waren eidesstattliche Erklärungen von sieben Frauen unterschiedlichen Alters, ehemaligen Studentinnen des College, die während Johns achtundzwanzigjähriger Lehrtätigkeit sexuellen Kontakt zu ihm gehabt hatten. Wohlgemerkt nicht in den vergangenen fünf Jahren; nicht seit Beziehungen zwischen Lehrkräften und Studierenden ausdrücklich verboten sind. Früher hätte man diese Kontakte einvernehmlich genannt, was sie auch waren, zudem hatte John mein stillschweigendes Einverständnis gehabt. Doch heutzutage haben junge Frauen in romantischen Beziehungen offensichtlich keinen Handlungsspielraum mehr. Heutzutage hat mein Mann seine Macht missbraucht, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn überhaupt nur wegen seiner Macht begehrt hatten. Wie immer es in meiner Ehe gerade aussehen mag, beim Gedanken daran gerät mein Blut in Wallung. Meine Wut richtet sich weniger gegen die Vorwürfe an sich als vielmehr gegen die mangelnde Selbstachtung dieser Frauen, ihr fehlendes Selbstbewusstsein und ihr Unvermögen, sich selbst nicht als kleine, vom Wind einer fremden Welt herumgewirbelte Blätter zu sehen, sondern als starke, sexuelle Wesen voller Neugier auf ein bisschen Gefahr, auf einen kleinen Regelbruch, auf ein bisschen Spaß. Angesichts der weitverbreiteten, höchst fragwürdigen und populistischen Tendenz, auf Moral als ästhetischer Kategorie zu beharren, empfinde ich, eine Frau, diese nachträgliche Prüderie als Beleidigung. Es deprimiert mich, dass die Begegnung mit meinem Mann ihnen Schuldgefühle verursacht und bewirkt hat, dass sie sich ausgenutzt fühlen. Ich möchte sie alle zu einem Slut Walk einladen und ihnen zeigen, dass es, wenn sie traurig sind, wahrscheinlich nicht am Sex liegt, sondern wohl eher daran, dass sie zu viel Zeit im Internet verbringen und sich zu oft fragen, wie andere über sie denken.

Vladimir Vladinski, der junge neue Kollege, der sich, so stellte ich mir vor, während seiner Professur, sollte er eine bekommen (bestimmt, in Anbetracht seiner Schlagfertigkeit, seines literarischen Rufs, seiner Jugend und seines ungetrübten Ehrgeizes), bis zum Fachbereichsleiter hocharbeiten würde, sah sich im Wohnzimmer um. Ich folgte seinem Blick zu einem riesengroßen Poster von Buñuels Belle de Jour, erstanden auf einem Fundraiser des Film-Forums, das seinen Lagerbestand an Postern verkaufte, und zu einer Serie gerahmter Drucke aus den Häusern großer amerikanischer Schriftsteller. Wir hatten sie nach einer abenteuerlichen Überlandfahrt mit unserer Tochter Sidney, damals acht, zusammengestellt und auf der Karte die Heimatstädte der wichtigsten Romanautorinnen und -autoren markiert, von Hemingway über Faulkner und O’Connor bis hin zu Morrison, Wright, Cather und Didion in Los Angeles. An der Wand zu seiner Linken hingen aufgezogene Broschüren aus dem Babel-Museum, dem Dostojewski-Museum, dem Tolstoi-Museum und dem Turgenjew-Museum, Andenken an unsere Russlandreise. Auf der Ablage unter dem Kaffeetisch stapelten sich Programmhefte der Theateraufführungen, die wir bei unseren jährlichen einwöchigen Besuchen in New York gesehen hatten. Fast eine ganze Wand war Darstellungen von Don Quijote gewidmet, dazwischen hing eine Karte von Spanien, auf der seine Reise mit angepinnten Bierdeckeln aus Cafés der jeweiligen Stadt markiert war. In einem Schrein in der Ecke lagen Mitbringsel von unseren Fernreisen, darunter eine authentische Shite-Maske aus dem japanischen Nō-Theater, einige kleinere Statuen von einem Markt in Nigeria, geschnitzte Buchstützen aus Norwegen, eine antike schwedische Kaffeekanne, eine indische Sitar und ein marokkanischer Wandteppich.

»Ihre Einrichtung ist fantastisch«, sagte er, nahm einen Flyer aus Frida Kahlos Haus in Mexiko City in die Hand und drehte ihn um.

»Nun ja, sie dokumentiert verstrichene Zeit und gesehene Dinge.« Vorsichtig stellte ich meinen Martini auf dem antiken Standascher ab, den wir als Beistelltisch verwendeten. »Manchmal erscheint es mir wie ein erfülltes Leben. Manchmal will ich alles verbrennen und Minimalistin werden.«

Er schüttelte den Kopf. »Aber das ist doch die beste Sorte von Krimskrams … Hier sieht es aus wie in einem Museum … kein Müll aus dem Billigladen, keine Kunststoffbehälter, keine Fernbedienungen.«

»Die sind versteckt. Ich habe eine Tüte, in der ich Tüten sammle. Aber will man wirklich ständig mit so viel Kultur leben? Es ist ein bisschen anstrengend, immerzu von Höchstleistungen umgeben zu sein«, sagte ich.

»Das glaube ich Ihnen nicht. Wenn Sie es anstrengend fänden, könnten Sie in der akademischen Welt nicht überleben«, sagte er. Zu meinem Entzücken war er auf ein Wortgefecht aus.

»Nun, wer sagt, ich könnte das?« Ich zog die Augenbrauen hoch und setzte ein schiefes Lächeln auf, was hoffentlich aussah wie eine wissende Verneigung vor der menschlichen Komödie.

Er trank einen großen Schluck und verschüttete dabei ein paar Tropfen auf seine Chinos, genau auf die Stelle zwischen seinen übergeschlagenen Beinen, wo der Stoff sich spannte wie ein Trampolin. »Ein Wunder, dass er hinausdarf.«

Er sah zum Fenster, eine schwarze Spiegelfläche, dahinter der Abend. Von dort, wo wir saßen, konnten wir den jeweils anderen darin sehen, aber nicht uns selbst. Ohne es zu wollen, sahen wir einander in die Augen. Wir lächelten beide, schüchtern und mit zusammengekniffenen Lippen. Er wendete den Blick ab.

An unzähligen Abenden danach war es sein Bild in der schwarzen Fensterscheibe, das mich verfolgte und wärmte. Der über die Kissen ausgestreckte Arm, das hochgerutschte Hosenbein, unter dem eine gestreifte Socke zum Vorschein kam, der leicht geneigte Kopf, der gesenkte Blick, wie bei einer Bühnenschauspielerin aus längst vergangenen Zeiten, die verschämt einen Blumenstrauß betrachtet.

Normalerweise sprach ich nicht offen über meine Ehe und manchmal frage ich mich, warum ich ausgerechnet gegenüber Vladimir Vladinski, dem experimentellen Romanautor und Juniorprofessor für Literatur an unserem kleinen College, so aufgeschlossen war. Kein Wunder, sage ich mir dann sofort. Ich wollte Nähe, intime Nähe von dem Moment an, als ich ihn mit übergeschlagenen Beinen im Fenster gespiegelt sah. Es war, als hätte sich mir eine ganz neue Welt eröffnet, und wenn schon nicht eine Welt, dann ein bodenloser Abgrund. Das anhaltende, berauschende Delirium des freien Falls.

Und so gab ich alles preis. Dass mein Mann und ich eine stillschweigende Übereinkunft getroffen hatten, verheiratet, aber sexuell freizügig zu sein. Keine Fragen, keine Erklärungen, lediglich beiläufige Kommentare oder ein Nicken. Wir diskutierten nie darüber, gütiger Himmel, wer hätte Zeit für so etwas? Das wäre peinlich, kleinlich und ehrlich gesagt nicht unser Stil. Ich genoss die Vorstellung seiner Männlichkeit und den Freiraum, den seine Affären mir verschafften. Ich war Literaturprofessorin, Sidneys Mutter und Autorin. Einen Mann, der meine Aufmerksamkeit wollte, konnte ich nicht gebrauchen. Ich wollte meiden, und ich wollte gemieden werden. Was das Alter der Frauen anging, war mir meine eigene Collegeerfahrung noch zu nah, um dagegen zu protestieren. Während meiner Studienzeit hatte ich ein überwältigendes Verlangen nach meinen Dozenten empfunden. Egal, ob sie männlich oder weiblich waren, schön oder hässlich, brillant oder durchschnittlich – ich begehrte sie alle aus tiefstem Herzen. Ich begehrte sie, weil sie meinem Glauben nach die Macht hatten, mich über mich selbst aufzuklären. Hätte ich damals nur einen Hauch von Chuzpe gehabt oder auch nur von Selbstbewusstsein, wäre ich direkt in ihr Büro marschiert und hätte mich ihnen an den Hals geworfen. Was ich nicht getan hatte. Aber wenn einer von ihnen gepfiffen hätte, wäre ich gesprungen.

Und mein Mann war schwach. Er wollte begehrt werden, er lebte davon, es war seine Sonne und sein Wasser und sein Sauerstoff. Jedes Jahr strömte eine neue, frische Gruppe junger, feuriger Frauen herein, und ihre Haut wurde jedes Jahr strahlender und schöner, vor allem im Vergleich zu unserer, die umso fahler und trockener wurde, je länger wir hier in Upstate New York lebten, wo es von Oktober bis Juni kalt war.

In meinen Zwanzigern und Dreißigern hatte auch ich Affären gehabt. Die bereits erwähnte mit dem Studenten (er sollte der einzige Student bleiben – schon im Alter von achtundzwanzig Jahren war ich mir meines alternden Körpers bewusst und verglich mich mit den jüngeren, geschmeidigeren Frauen, mit denen mein Geliebter höchstwahrscheinlich geschlafen hatte) und weitere mit Männern aus der Gegend: mit Thomas, dem Handwerker, der unser Bad im Obergeschoss renoviert hatte; mit Robert, Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, und Boris, einem Maler, der ein paar Orte weiter wohnte und mich in seinem Atelier empfing, einer umgebauten Scheune (filmreif).

Mit Ende dreißig machte ich den Fehler, mich auf einen Kollegen aus unserem Fachbereich einzulassen. Es endete ungut, mit Tränen, Drohungen, auf die Gabel geknallten Telefonhörern und verletzten Gefühlen. Meine Tochter war neun und wurde sich der Welt, die sie umgab, zunehmend bewusster. Es war kompliziert und aufreibend. Ich entschied mich für die Abstinenz, für einen Rückzug vom Spielfeld. Ich würde mich ganz auf meine Arbeit, mein Zuhause und mein Schreiben konzentrieren. Die Ablenkung durch den Kollegen, so spannend sie auch gewesen war, gab mir das Gefühl, lächerlich und würdelos zu sein, verzweifelt, schwach und bedürftig. Von nun an würde ich nach Würde, Eleganz und Gelehrtheit streben. Ich sagte mich von Lust und Verlangen los. Ich schrieb mehrere Aufsätze über Form und Struktur. Ich veröffentlichte meinen zweiten Roman.

Nachdem ich Vlad das alles erzählt hatte, verzog er gequält das Gesicht. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass ich die Unschuld meines Mannes verteidigen und von einer Schmutzkampagne gegen ihn und seinen guten Ruf sprechen würde. Dass das College alle alten weißen Männer loswerden wolle und so weiter. Er trank den Martini in wenigen Minuten aus.

Er lutschte auf einem Olivenkern herum und stellte mir eine Frage: »Dann wussten Sie also, dass Ihr Mann vielzählige Affären mit Studentinnen hatte?«

Ich machte große Augen. Auf keinen Fall sollte es aussehen, als rollte ich sie. »Vielzählige Affären. Was für ein alberner Ausdruck. Er hat sie gevögelt und sie ihn. Er war scharf auf ihre schimmernde Haut, und sie bekamen von seiner Bewunderung nasse Höschen. Sie wollten es so, und er konnte nicht anders.«

Er wand sich. Spießer. »Er konnte nicht anders? Wohl kaum. Ich glaube nicht, dass man in so was einfach reinrutscht.«

»In eine Affäre?«, fragte ich. »In den Kontrollverlust?«

»In beides. Es gibt da immer einen Teil in uns, der nachlässig wird. Man muss so etwas nicht tun, wenn man nicht will.«

Er war jetzt errötet und verstört. Er erinnerte mich an einen Prediger im Neuengland des neunzehnten Jahrhunderts – an einen transzendentalistischen Unitarier mit strikten Prinzipien. Er sah aus wie ein Veganer. Das gefiel mir. Ich mochte seine arrogante Wut.

Ich faltete die Hände im Schoß. »Ich fürchte, ich habe Sie verärgert.«

»Das macht nichts.« Er sah aus wie ein überforderter Teenager. (Das ist unfair!) »Deswegen sollte man niemanden bewundern. Am Ende wird man nur enttäuscht.«

»Sie können meinen Mann bewundern, auch ohne sein Verhalten gutzuheißen«, sagte ich. Als wäre es an dir, hier irgendwas gutzuheißen, dachte ich.

»Ich wünschte, das könnte ich. Vielleicht wäre es möglich. Sorry. Ich habe kaum was gegessen, bevor ich den hier getrunken habe.«

Wir wechselten das Thema und unterhielten uns über den neuen, nicht üblen Roman eines bekannten Schriftstellers und ein New Yorker Theaterstück, das wir beide gesehen hatten, wobei wir uns fragten, ob es sich um die feministische Nacherzählung eines Klassikers handelte oder um patriarchale Zuhälterei. Ich drängte ihm etwas Käse und Brot auf, und Wasser. Wir sprachen über den Unterschied zwischen den Studierenden im ersten und zweiten Jahr (die im ersten waren Nieten, die im zweiten mit Leidenschaft dabei). Ich strengte mein Gedächtnis an und zählte ihm die Freizeiteinrichtungen in der Umgebung auf, die man mit einer Dreijährigen besuchen konnte.

Wir trennten uns in absoluter Finsternis. Ich versicherte ihm noch einmal, wie sehr ich mich darauf freute, sein Buch zu lesen. Beim Abschied wirkte er ein bisschen unkonzentriert, er sagte, er würde »liebend gern« erfahren, wie wir es fänden, besonders ich. Nachdem er sein Auto aus der Einfahrt zurückgesetzt hatte, ging ich hinters Haus und nahm in einem breiten Holzliegestuhl neben dem Pool Platz. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Sternenhimmel. Obwohl ich seit zwanzig Jahren nicht geraucht hatte, sehnte ich mich nach einer Zigarette. Eine wachsende Aufregung und Wildheit kroch durch mein Nervensystem, eine kribbelnde Bewusstheit, die in den Knochen saß und nach außen strahlte. Ich stellte mir vor, wie Vladimir Vladinski mir mit großen, rauen Händen die Haare aus dem Gesicht strich. Am Ende des Grundstücks, hinter dem Maschendrahtzaun, der den Garten begrenzt, reflektierten die Augen einer streunenden Katze oder eines Fuchses das Terrassenlicht. Sie glühten wie die Augen eines Dämons.

2

In der darauffolgenden Woche las ich sein Buch. Ich ging in die Bibliothek auf dem Campus und setzte mich in einem der gläsernen Alkoven des Ruhebereichs in einen Lehnsessel. Das Bibliothekspersonal hatte Bilder von den Brontës und von Jane Austen mit an die Lippen gelegtem Zeigefinger ausgedruckt und an die Kopfseiten der Regalreihen geklebt. Pssst! Von meinem Platz im Alkoven aus sah ich vier Stockwerke auf den Rasen hinunter. Es war acht Uhr morgens, schläfrige Studierende in Jogginghose oder Pyjama schleppten sich zu den ersten Veranstaltungen des Tages. Ein paar Jogger trabten mit erhabener Miene vorbei; die Joggerinnen sahen aus, als wollten sie sich selbst bestrafen. Einige Studentinnen waren sorgsam gekleidet und aufwendig geschminkt, ihr Blick schoss hin und her, um zu sehen, ob sie jemand anschaute. Ein paar fehlgeleitete junge BWL-Studenten trugen schlecht sitzende Anzüge, weil sie irgendwelche vagen Botschaften über Kleider internalisiert hatten, die Leute machen.

Ich wollte nicht in meinem Büro sitzen, wo ich jederzeit von Kollegen oder Studierenden hätte gestört werden können. Normalerweise pflegte ich zu den jungen Leuten ein gutes Verhältnis, denn unser College ist eine lernorientierte Einrichtung, keine Forschungsstätte, und vor der Sache mit John hatte ich mich gern mit ihnen unterhalten und mir von ihren Leidenschaften und Träumen erzählen lassen. Ich teilte gern Lebensweisheiten aus, so, wie ich gern mein Wissen über Essays oder Bücher austeilte, und mir gefiel, dass sich einige wenige von ihnen, mutiger als ich es in meinem Leben einer Autoritätsperson gegenüber je gewesen war, auf das Sofa gegenüber von meinem Schreibtisch fallen ließen und mich zur Augenzeugin ihrer quälenden Orientierungslosigkeit machten.

Doch längere Texte las ich am liebsten in der Bibliothek. Selbst mit achtundfünfzig, selbst in diesem College, an dem ich seit fast dreißig Jahren unterrichte, empfinde ich beim Betreten der Bücherei immer noch einen Nervenkitzel. Immer noch spüre ich das Potenzial junger Menschen, die darauf hinarbeiten, etwas aus sich zu machen; die Anstrengung, der rastlose Geist, die Neugier auf die Person, die man einmal sein wird, sind zwischen den Lesetischen und Bücherregalen als leichtes Vibrieren wahrnehmbar. Mich hier hineinzubegeben finde ich unendlich belebender, als allein in einem abgeschlossenen Raum zu sitzen. Hier habe ich das Gefühl, Teil des Projekts Wissen zu sein. In meinem Büro teile ich nur aus, was ich ohnehin schon weiß. In meinem Büro bin ich das College, nicht Teil des Collegelebens. In der Bibliothek bin ich mittendrin. Ich höre das Wummern in den Hirnen und Herzen der Studierenden, unzensiert vom Szenario des Seminarraums. In der Bibliothek sitze ich im Wirbel ihres Lebens. Ich erfahre von ihren romantischen Verstrickungen, ihrem Groll und Hass und ihren Obsessionen, und alles pulsiert in einer Frequenz, in der ich nie wieder fühlen werde. Ich werde nie wieder lieben, wie sie lieben, oder hassen, wie sie hassen. Ich werde nie wieder wollen, was sie wollen, nicht mit dieser starken und unerschütterlichen Bestimmung.

Unser Gespräch hatte mich so beeindruckt, dass ich beschloss, mir mit Vlads Buch ein paar Tage Zeit zu lassen. Nicht, dass es ihn überhaupt interessierte; aber für mich war das untypisch. Normalerweise war ich für die Ängste einer Person, die ein Manuskript eingesendet hat, so empfänglich, dass ich alles unverzüglich las. Ich erinnere mich, wie dringend ich von anderen hatte hören wollen, wie sie meine ersten Schreibversuche fanden, und wie viel Anstoß ich nahm, wenn ich den Eindruck bekam, jemand hätte auf den von mir eingesendeten Text nicht schnell genug reagiert. Ich hatte oft mit dem schriftstellerischen Nachwuchs zu tun (neben den Literaturseminaren unterrichtete ich jedes Frühjahr einen Kurs in Kreativem Schreiben), und falls ich wegen zu viel Arbeit oder wegen meiner Verpflichtungen als Fakultätsmitglied einmal nicht dazu kam, etwas sofort zu lesen, gab ich den Betroffenen gleich Bescheid und sagte ihnen, wann ich mich melden würde. Aber nun merkte ich, dass ich Vlad diesen Gefallen nicht tun konnte.

Und natürlich lag der Fall hier anders. Vladimirs Buch war bereits erschienen, in einem großen Verlag. Es existierte in der Welt und war auf meine Gedanken und mein Feedback nicht angewiesen, war jetzt schon unempfänglich dafür. Wir hatten die Rezensionen und die Lobeshymnen gelesen, wir hatten es kurz nach Erscheinen auf den Bestenlisten gesehen. Die Times berichtete nicht darüber, wohl aber die Washington Post; es wurde in der Buchkolumne des New Yorker erwähnt und bei Booklist und Kirkus hervorragend bewertet. Als die ersten Vorwürfe gegen John laut wurden, bat man ihn, das Personalkomitee zu verlassen. Ich hätte bleiben können, doch ich reichte meinen Rücktritt ein. Ich wusste, welche Worte durch den Raum geschossen wären, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hätte, ich wusste, dass meine Anwesenheit eine Belastung gewesen wäre, denn sie hätten dann nicht mehr offen über ihre Pläne sprechen können, jemanden einzustellen, der den Ruf des Fachbereichs niemals auf diese Weise beflecken würde. Ich war mir sicher, dass sie keinesfalls einen weißen, heterosexuellen Mann einstellen würden; doch das College war es nicht gewohnt, Bewerbungen von Leuten mit Vladimirs Renommee zu erhalten. Sein erster Roman hatte sich nicht sonderlich gut verkauft, doch in der Literaturbranche für einigen Wirbel gesorgt. Er hätte sich an einem weniger provinziellen College bewerben können und dennoch gute Chancen gehabt. Und das Bewerbungsgespräch, in dessen Verlauf er angeblich (wie gesagt, ich war nicht zugegen) einige erschreckende private Einblicke gab (von denen ich bereits gehört hatte), war anscheinend extrem überzeugend gewesen.

Womit ich nur sagen will, dass ich sein Buch, bevor er zu Besuch kam, aus Trotz und bewusster Ignoranz nicht gelesen hatte. Und wenn er es an dem Abend nicht vorbeigebracht und wenn ich nicht seinen Blick in der dunklen Fensterscheibe aufgefangen hätte; wenn er nicht in liebenswerter und offener Verlegenheit die Augen niedergeschlagen hätte, wäre es vielleicht nie dazu gekommen.

Ich las den ganzen Vormittag, und dann hetzte ich zu meinem Seminar um halb zwölf. Eigentlich hatte ich mir unterwegs einen Kaffee holen wollen, was ich aber vergaß, und als ich den Seminarraum erreichte, mit Verspätung und leicht verwirrt, war ich so in Gedanken, dass ich die Studierenden erst einmal nach ihrem Befinden fragen und mich, während sie antworteten, an das Thema der heutigen Sitzung erinnern musste. Zum Glück reden meine Studierenden über nichts lieber als ihr seelisches Wohlbefinden, sodass meine Zeitschinderei auf bereitwillig dargebotene Schilderungen von Meditationen, Seelsorgestunden auf dem Campus, Zeitmanagement und ADHS traf und ich mich in Ruhe sortieren konnte.

Nach dem Unterricht schlenderte ich zu meinem Büro und traf dort auf Edwina, eine besonders anhängliche Studentin, die mich um zwei Empfehlungsschreiben bat. Edwina wollte im Sommer an gleich zwei Programmen teilnehmen. Einem Praktikum in einer Schwarzen, von Frauen geführten Produktionsfirma, deren letzter Spielfilm in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte, und einem Semiotik-Sommerkurs an der Brown. Sie wolle Filmproduzentin werden, erklärte sie, aber eine, die allseits respektiert würde und einen kulturellen Wandel anstoße. Letzten Sommer habe sie wieder einmal ein Praktikum in einer Produktionsfirma gemacht, und da sei diese Frau gewesen, eine Produzentin mit einem Harvard-Abschluss in klassischer Philologie. Wann immer sie den Raum verlassen habe, habe sich ehrfürchtiges Getuschel erhoben, und ihr akademischer Titel sei erwähnt worden. Edwina wollte sein wie sie: eine Wolkenschieberin, eine Wettergöttin, eine Naturgewalt und gleichzeitig ein verehrter Geist mit beeindruckendem Universitätsdiplom.

Ich erklärte mich bereit, die Briefe zu schreiben (in der Tat halte ich jeden, der um ein Empfehlungsscheiben gebeten wird und sich weigert, für ein Monster, und obwohl ich der egoistischste Mensch bin, den ich kenne, stelle ich sie bereitwillig aus; und nein, ich lasse mir von der bittstellenden Person keinen Entwurf vorlegen, sondern formuliere alles selbst), gab ihr schnell noch ein paar gute Ratschläge und scheuchte sie hinaus. Ich konnte sehen, dass sie enttäuscht war und gern noch länger mit mir gesprochen hätte. Ich mochte sie wirklich gern, ich ließ mir gern erzählen, was sie gerade las, ich gab ihr Tipps und hörte mir den neuesten Klatsch über ihre Seminare, ihre Mitstudierenden und die anderen Lehrkräfte an, aber diesmal konnte ich ihr keine Aufmerksamkeit schenken. Ich dachte nur noch an Vladimirs Buch. Ich zwang mich, nicht dort in meinem Büro weiterzulesen, das wäre zu demütigend gewesen, aber ich dachte darüber nach und versuchte, mich an den Wortlaut einzelner Passagen zu erinnern.

Als ich in der Bibliothek saß und las, überflutete mich eine Welle aus aufrichtiger Bewunderung und rasender Eifersucht. Das Buch war lustig, klar, hellwach, lebendig. Die Prosa war knapp, ohne dass die Erzählstimme der präzisen Wortwahl zum Opfer gefallen wäre. Sie klang wie das Leben selbst und ging gleichzeitig darüber hinaus. Er war ein wahrhaft großer Autor, und obwohl sein Buch, ein epigrammatischer Schlüsselroman, ihm möglicherweise nicht über Nacht zu Ruhm verhelfen würde, hatte ich bei der Lektüre keine Zweifel mehr, dass er alles bekommen würde – den Bestseller, die Interviews, die Kolumnen, Artikel nicht nur über seine Bücher, sondern auch über seine Einrichtung, sein Sportprogramm, sein Arbeitszimmer, seine Ernährung, seine Arbeitsmethode, seine Schlafgewohnheiten und seine politische Haltung.

Nur zu Ihrer Information: Ich habe zwei Romane veröffentlicht, den letzten im Alter von dreiundvierzig Jahren. Seitdem habe ich hauptsächlich literarische Fachtexte in akademischen Zeitschriften publiziert; wenn es besonders eng wurde auch Buchkritiken für unsere Lokalzeitung. Mein erster Roman galt als vielversprechend, der zweite als Katastrophe. Der erste war meinem Gefühl nach eine große Lüge, der zweite bedeutete mir etwas, wurde aber rundweg als solipsistisch abgetan. Seither, während der vergangenen fünfzehn Jahre, habe ich versucht, das Wichtige und das Wahrhaftige in ein Gleichgewicht zu bringen. Was endlos viele Fehlstarts bedeutete, lange Recherchen, die ich letztendlich aufgab, und Tage, an denen ich um fünf Uhr morgens aufgewacht bin, für eine klare Erzählstimme gebetet habe und natürlich enttäuscht wurde. Ich habe erlebt, wie das Schreiben über Weiblichkeit, insbesondere über Mutterschaft (Thema meines zweiten Romans), binnen der letzten zehn Jahre einen Aufschwung erfuhr und plötzlich gelobt und beachtet wurde. Ich glaube nicht, dass ich meiner Zeit voraus war; ich glaube, ich war einfach nur weniger kompromisslos als die nachkommende Autorinnengeneration. Die neuen jungen Mütter schreiben mit Wucht, Witz und Humor. Sie erfüllen die Ich-Perspektive mit Leidenschaft. Sie schrecken nicht davor zurück, die existenziellen Banalitäten der Mutterschaft zu benennen – das Mittagessen an der Raststätte, die körperliche Erschöpfung, die hässlichen, peinlichen Spielzeuge, Lebensmittel und Spiele, die unglamourösen Urlaube und Kompromisse, die das falsche Totem der Selbstachtung wie eine Lawine unter sich begraben. Wahrscheinlich war ich einfach nur zu schüchtern gewesen, diese Banalität unverblümt anzusprechen. Mein zweites Buch handelte von drei Frauen. Eine macht Karriere, eine wird Mutter, eine ist Künstlerin. Wir lernen jede in ihrer Welt kennen, der ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Dann beginnen die Erzählstränge, sich zu kreuzen. Im Laufe des Romans wird klar, dass es sich um ein und dieselbe Frau handelt. Die Reaktionen der Kritik, einige von Männern, die meisten von Frauen, liefen hinaus auf wen interessiert’s? Ich möchte nicht sagen, ich sei unterschätzt worden, denn das glaube ich nicht. Zur selben Zeit räumte Alice Munro mit ihren sanften, weisen Geschichten über die weibliche Erfahrung jeden Preis ab. Sei ihr gegönnt! Margaret Atwood schrieb aufregende Bücher, die praktisch in einer Gebärmutter spielten. Toll gemacht! Da waren noch andere – Lorrie Moore, Joy Williams, Joyce Carol Oates, Barbara Kingsolver. Die Liste derer, die wie ich über die weibliche Erfahrung geschrieben haben, ist lang. Nein, mein Text war einfach nicht genug – nicht laut genug, nicht kraftvoll genug, nicht realistisch genug, nicht poetisch genug, nicht witzig genug, nicht fantasievoll genug, nicht gut genug.

Als Doktorandin aß ich einmal mit einem Schriftsteller zu Mittag, der als Gastdozent an meinem College unterrichtete. Zu der Zeit war ich ziemlich durcheinander, eine aufgedunsene, kettenrauchende Siebenundzwanzigjährige mit gelben Zähnen und geschmacklosen Klamotten, dennoch hatte ich die Einladung als Flirtversuch aufgefasst. Was sie vielleicht auch war – wenn ich heute meine Studentinnen betrachte, selbst die chaotischsten, schmuddeligsten, diejenigen, die schon morgens um neun Pepsi One trinken, sehe ich nichts als die Schönheit der Jugend. Die Schönheit ihrer drallen, halb ausgeformten Körper, ihrer wie von innen leuchtenden Haut. Das Mittagessen sollte mir eine Gelegenheit bieten, den Schriftsteller zur Vereinbarkeit von künstlerischer und akademischer Tätigkeit zu befragen. Ich war für Englische Literatur eingeschrieben, und das Mittagessen hatte sich so ergeben, weil ich in einem seiner Seminare gesessen und erwähnt hatte, selbst schreiben zu wollen; weil er einst denselben Weg gegangen war, hatte er seinen Rat angeboten. Er schlug ein Restaurant vor, das mir wie der Inbegriff der Eleganz erschien – nicht übertrieben schick, nicht angestrengt hip, einfach nur klassisch und kultiviert –, die Sorte Restaurant, auf die ich nie gekommen wäre. John und ich waren verlobt und würden Ende des Jahres heiraten. Während des Mittagessens mit dem Gastdozenten (den ich damals für eine Karriere bewunderte, die mir heute eher wie eine fortlaufende Serie aus Fehlschlägen und Kränkungen vorkommt) ergab sich ein Moment, in dem er nach meiner Hand greifen wollte und ich sie wegzog wie von einer heißen Herdplatte.

Bis heute weiß ich nicht, ob er es wirklich auf meine Hand abgesehen oder ich die Geste missverstanden hatte. Möglicherweise wollte er nur nach dem Salzstreuer greifen. Die Szene ist mir vor allem deshalb im Gedächtnis geblieben, weil sie zeigt, wie verschüchtert ich war (mein Gott, bist du eine Memme, schrie Sidney bei einem ihrer pubertären Amokläufe). Ich hatte den Gastdozenten begehrt und ausgeklügelte Fantasien davon entwickelt, wie wir uns auf dem dunklen Flur begegnen oder er allein im Seminarraum auf seinem Platz sitzt und ich rittlings auf seinem Schoß. Aber als er seine Hand auf meine legte, war ich so scheu und gehemmt wie eine Heldin aus einem Edith-Wharton-Roman. Ein Strudel aus Angst und moralischen Bedenken schoss in mir hoch, ich riss meine Hand zurück und legte sie mir in den Schoß. Wir unterhielten uns weiter, als wäre nichts passiert (was, wie gesagt, gut möglich war). Ich erinnere mich an eine seiner Äußerungen über das Schreiben, die mich in ihrer Abgedroschenheit sehr verärgerte. Ich hatte ihn gefragt, vermutlich ziemlich gestelzt, ob er beim Schreiben ein Credo befolge, irgendein übergeordnetes Prinzip, und er antwortete: »Ich schreibe nur, wenn ich etwas zu sagen habe.«

Diese nichtssagende Äußerung machte mich unglaublich wütend. Wie banal und pathetisch! Aber meine Wut ging tiefer – ich spürte die Wut der Beschämten. Ich war eine junge Frau aus der Arbeiterklasse, die trotz der Scheidung ihrer Eltern und einer leidvollen Jugend an einer anständigen Universität studiert hatte. Das akademische Umfeld war wie eine Energiequelle für mich, ich hatte es sogar bis in ein renommiertes Graduiertenprogramm geschafft und dort meinen zukünftigen Ehemann kennengelernt. Aber ich würde niemals etwas zu sagen haben. Theoretisch wusste ich, dass immer und überall etwas passierte, dass ich mich nur hinsetzen und genau beobachten müsste, um eine erzählenswerte Story zu finden. Doch mir war nicht klar, dass viele Autoren erst während des Schreibens entdecken, was sie eigentlich sagen wollen. Nach diesem Mittagessen ging ich dem Gastdozenten aus dem Weg. Er rief noch ein paarmal an, um sich zu einer Kurzgeschichte zu äußern, die ich ihm geschickt hatte, aber ich meldete mich nie zurück. Viele Jahre später traf ich ihn bei einer Konferenz wieder. Wir warteten zusammen auf den Aufzug. Ich sagte Hallo, aber er ignorierte mich demonstrativ, die ganze Woche lang. Es war schon fast zum Lachen.

Als ich über Vladimirs Buch nachdachte, wurde mir plötzlich klar, dass ich es hier mit jemandem zu tun hatte, der aus welchem Grund auch immer etwas zu sagen hatte. Ich recherchierte seinen Werdegang. Er war der Sohn russischer Einwanderer, natürlich, und in Florida aufgewachsen. Er hatte ein Ivy-League-College besucht, sich freiwillig zum Friedenskorps gemeldet und wie sein großes Vorbild Norman Rush eine Weile in Afrika gelebt. Nach seiner Rückkehr war er in ein anerkanntes MFA-Programm aufgenommen worden. Danach waren die Dinge ins Stocken geraten, vermutlich hatte er es nicht geschafft, seine Abschlussarbeit als Buch zu verkaufen. Er heiratete Cynthia, eine Kommilitonin aus dem MFA-Programm, und arbeitete an verschiedenen New Yorker Colleges als Juniorprofessor. Irgendwann erschienen seine Texte in Literaturzeitschriften, er schloss den ersten Buchvertrag ab. Zu dem Zeitpunkt war er achtunddreißig, nun war er vierzig. Cynthia hat unterdessen ein noch unvollendetes Memoir an HarperCollins verkauft. Mit zweiunddreißig.