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Frau Freitag

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Beschreibung

»Ich schwöre, ich habe perfekt deutsch gesprochen. Ich glaube, ich habe sogar gesagt: Ich habe mein Praktikum absolviert. So spreche ich sonst nie. «Frau Freitags Klasse ist jetzt in der Zehnten. Alles dreht sich um den Abschluss. Wirklich alles? Während Frau Freitag ihre Schüler nachts auf Facebook an ihre Bewerbungen erinnert und tagsüber durch die Prüfungen schleust, haben Bilal, Emre und Mariam ganz andere Probleme: »Wie kam man eigentlich ins Internet, als es noch keine Computer gab?« – »Moment noch Frau Freitag, gleich fertig mit Handy.« – »Hab ich Selbstbräuner raufgesprüht und heute Morgen voll Schock: volldunkelbraun.« Aber wie soll eigentlich Frau Freitag ohne ihre Klasse überleben?

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Das Buch

»War voll schwer die Prüfung,vallah. Nur für Marina nicht. Sie meinte: Realschulprüfung war kein Gegner.«

Frau Freitags täglicher Battle geht in die letzte Runde. Ihre Klasse ist jetzt in der Zehnten, aber noch lange nicht fertig mit dem Schulalltag: Experimente mit Selbstbräuner, Handystress, Kopftuch-Styles, und nebenbei werden ein paar Prüfungen geschrieben. Ach, und bewerben wollten sie sich auch noch alle. Zum Glück hat Frau Freitag den Überblick und lotst ihre Klasse durch das Chaos.

Die Autorin

Frau Freitag, geboren 1968, unterrichtet Englisch und Kunst an einer Gesamtschule.

Ihr erstes BuchChill mal, Frau Freitagwar ein großer Erfolg. Trotzdem geht sie nach wie vor gerne jeden Morgen in die Schule und verbringt ihre Freizeit vor allem auf der Couch.

Frau Freitag

VOLL STRENG,

FRAU FREITAG

Neues aus dem Schulalltag

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2012

©Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Titelabbildung:©Illustration semper smile, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

Gesetzt aus der Berkeley

ISBN 978-3-8437-0258-4

Intro

»Frau Freitag, du hast Besuch!«, ruft mir Frau Schwalle entgegen. Ich hetze durch den Verwaltungstrakt.

»Wie – Besuch?«

»Der Ronnie rennt hier rum und sucht dich.«

Ronnie. Ronnie ist ein Reflexwort. Sofort denke ich: Oh Gott, Schlägerei, Polizei, Sitzungen, Gespräche, Ärger, Frust und Arbeit, Arbeit, Arbeit. Dann wird mir plötzlich klar: Ronnie ist gar nicht mehr mein Schüler. Ich bin jetzt die Klassenlehrerin von dieser entzückenden, leistungswilligen, netten Siebten. Die, die in Geschichte so super-duper-gut mitgemacht haben. Die, von denen der Mathelehrer total begeistert war. Die, die ich seiner Meinung nach »gut eingestellt« habe. Abdul, Samira, Fatma und Ronnie, das sind Namen aus längst vergangenen Zeiten.

Was will Ronnie hier? Oh Mann, wahrscheinlich ist irgendwas mit seinem Zeugnis nicht in Ordnung. Dann kann ich wieder stundenlang am Computer sitzen und mit dem Zeugnisprogramm kämpfen.

Ich gehe in meine Klasse. Wir haben Kunst. Plötzlich steht Ronnie in der Tür und grinst mich an.

»Ronnie, hi. Was machst du denn hier?«

»Ich wollte Sie besuchen. Wie geht es Ihnen?« Er kommt zu mir, gibt mir die Hand und guckt sich die Schüler an. »Ist das Ihre neue Klasse?« Ich nicke und erkläre den Kindern, wer Ronnie ist. Dann bitte ich ihn, meiner Klasse was Wissenswertes für deren Schullaufbahn zu erzählen. Ronnie will seinen Realschulabschluss nachholen, an einem Oberstufenzentrum.

»OSZ – weiß jemand, was das ist?«, frage ich meine Klasse – die sollen so viel wie möglich lernen. In jeder Minute sollen die was lernen.

Orhan meldet sich. »Ich weiß! Ist so was wie GEZ.«

»Ja, na ja, fast. Nicht ganz richtig. Wer hat denn noch eine Idee?«

Die Schüler fragen. Ronnie erklärt. Geduldig und erwachsen teilt er seine Erfahrungen. Ich bin ganz gerührt.

»Ronnie, wenn du jetzt so auf deine Schulzeit zurückguckst, was würdest du sagen, ist das Wichtigste?«

Ronnie stellt sich gerade hin, holt tief Luft. Die Siebtklässler starren ihn gebannt an.

»Ihr müsst von Anfang an richtig ranklotzen. Jetzt denkt ihr noch, die Schule ist leicht. Aber glaubt mir mal, das wird richtig hart.«

Keiner sagt was.

Es wird Zeit, dass wir mit dem Unterricht anfangen.

»Habt ihr noch Fragen an den Ronnie?«

Anil meldet sich.

»Ja, Anil?«

»Wann hast du Geburtstag?«

Ronnie guckt mich leicht verwirrt an.

»Anil, warum willst du das wissen? Willst du ihm was schenken? Haben die anderen noch Fragen?«

Hamid reißt seine Hand in die Luft.

»Ja, Hamid?«

»Ist deine Hose von Puma?«

Ronnie nickt. Jetzt meldet sich Anil wieder.

»Anil?«

»Frau Freitag, wie viel Jahre haben Sie?«

»Das heißt, wie alt sind Sie!«, schreit Yunus von hinten.

»Okay, Kinder. Ich glaube, wir beenden das jetzt und fangen mit Kunst an.«

Ich verabschiede mich von Ronnie und unterrichte die Stunde zu Ende. Draußen wartet Ronnie auf mich. Wir gehen einen Kaffee trinken und reden. Er ist müde, sagt er. Er war die ganze Nacht wach, weil vor seinem Haus eine Autoalarmanlage übelst laute Töne gemacht hat und er die Polizei gerufen hat. Hätte ja sein können, dass jemand das Auto anzünden wollte.

»Die Polizei hat mich auch gelobt. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig, haben sie gesagt.«

Ich bin beeindruckt. Ronnie ist ein richtiger Bürger geworden. Das war vor einem Jahr noch nicht abzusehen.

Massiver Kopffick

»Frau Freitag, ich hatte die ganzen Ferien massiven Kopffick! Das glauben Sie gar nicht«, begrüßt mich Ronnie am ersten Schultag. Sein Sommer war erlebnisreich. Er erzählt mir die seltsamsten Storys und schraubt sich dabei auf ein Wutlevel hoch, das ihn den Rest des Tages schlecht gelaunt und latent aggressiv vor mir sitzen lässt. Gleich zu Beginn der Ferien wurde ihm im Internetcafé sein Portemonnaie geklaut. Dann war er Zeuge bei einer Schlägerei vor Aldi, und als er bei der Polizei aussagen wollte, hat man ihn plötzlich beschuldigt, mit den Tätern unter einer Decke zu stecken, und vor zwei Tagen bekam er auch noch eine viel zu hohe Handyrechnung. Und überhaupt.

Schon nach zwei Stunden mit meinen Schülern bin ich völlig fertig. Klitschnasse Kniekehlen habe ich. Meine Klasse ist jetzt in der Zehnten. Dieses Jahr wird es ernst. Die letzten gemeinsamen zwölf Monate. Letzte Chance für die, noch einen Abschluss zu machen. Im Mai werden die Realschulprüfungen geschrieben. Im Winter müssen sie anfangen, sich auf Ausbildungsplätze zu bewerben. Jetzt heißt es erwachsen werden.

Ich freue mich, die Schüler wiederzusehen. Mehmet ist nicht mehr dabei. Er wiederholt die 9. Klasse. Gut für meine Nerven. Und Samira musste leider die Klasse wechseln. Sie hatte im zweiten Halbjahr der Neunten beschlossen, ihre Konflikte mit Mädchen aus zwei Parallelklassen nicht nur verbal zu bearbeiten. Sie sehe ich jetzt nur noch auf dem Hof. Samira findet ihre neue Klasse doof. »Ich kann mit niemandem quatschen. Ich bin die ganze Zeit still! Das ist so schrecklich!«

»Ist doch super, dann kannst du dich auf den Unterricht konzentrieren!« Sie sieht das irgendwie anders.

Abdul fastet. »Ist easy, Frau Freitag! Ich bin einfach die ganze Nacht wach und schlafe tagsüber.« Wird interessant, wie er das ab jetzt mit dem Schulbesuch macht.

Und jedes Jahr bekommt man auch ein paar neue Schüler. Das ist ein äußerst spannendes Glücksspiel. Es können ehrgeizige und nette Schüler sein, aber auch totale Nieten, die dir die ganze Klasse kaputtmachen. Mit meinen drei neuen Mädchen habe ich direkt Glück. Sie sind freundlich und teilen mir überzeugend mit, dass sie alles geben wollen, damit sie in diesem Schuljahr den Realschulabschluss schaffen.

Aber dann habe ich noch die absolute Knalltüte in die Klasse bekommen. Bilal. Kommentar von Kollege Werner, als er auf meine Klassenliste guckt: »Bilal? Wer hat dem denn erlaubt zu wiederholen? Und warum?«

Bilal ist zwei Meter groß, total dünn und hibbelig. Er kommentiert alles, was man sagt, und findet sich unheimlich lustig. Ich frage ihn am Ende der Stunde: »Bilal, warum wiederholst du die Klasse? Möchtest du hier einen besseren Abschluss machen, oder möchtest du hier der Spaßvogel werden?«

»Abschluss.«

»Okay, dann verhalte dich ab jetzt ruhig!«

Alles in allem war es eigentlich ein recht normaler Start. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich noch nie einen ruhigen ersten Schultag mit meiner Klasse verbracht habe. Vielleicht den allerersten in der 7. Klasse, als sie sich noch nicht kannten. Aber seit sie sich kennen, wird in der ersten Stunde erst mal gequatscht. Für meine Klasse war es wahrscheinlich ein schöner Einstieg ins neue Schuljahr. Nur Frau Freitag hat irgendwie wieder voll mies gestresst.

Meine Freundin Fräulein Krise sagt immer: »Jeder blamiert sich, so gut er kann.« Am zweiten Schultag blamiere ich mich nicht nur vor meinen neuen Schülern, sondern schäme mich auch noch in Grund und Boden für meine verdorbene Klasse. Eine von den drei netten neuen Schülerinnen kommt nach der Klassenleiterstunde, in der Hausaufgaben gemacht werden sollen, zu mir: »Frau Freitag, das geht ja gaaar nicht in dieser Klasse! Ich will einen guten Abschluss machen, und ich glaube nicht, dass ich hier was lernen kann. Hier kann ich ja noch nicht mal in Ruhe meine Schularbeiten machen.«

Ich bin peinlich berührt und total sauer auf die Quasseltaschen in meiner Klasse, die immer noch nicht gerafft haben, dass es in der Schule um was geht.

Meine Schüler können nicht still sein. Nie! Ständig unterbrechen sie mich, andere Schüler, sich selbst … Die gackern rum, weil in ihren Köpfen nur Hormone rumfliegen, die sich auf alle Synapsen gesetzt haben. Keine Möglichkeit, dass da Vernunft andockt, geschweige denn Wissenswertes. Licht an, aber keiner zu Hause.

Kann ich es den fleißigen Wiederholerinnen übelnehmen, dass sie die Klasse wechseln wollen? Ich habe gesagt: »Ich verstehe euch total. Mir ist es auch zu laut. Geht ruhig.«

Wären da doch nur Lautstärkeregler an den Schülern. Mit einer Universalfernsteuerung stünde ich vorne: »So, Marcella, du jetzt mal auf MUTE! Absolute Ruhe bitte, und Hausaufgaben machen!«

Aber das gucke ich mir jetzt nicht noch ein Jahr lang an. Nächste Woche sind sie dran. Dann kommt Frau Gnadenlos. Nicht mit mir! So geht das nicht! Nicht am Anfang der 10. Klasse!

Steiles Gefälle

»Also, ihr Lieben, in der letzten Englischstunde hat mir der Unterricht nicht gefallen. Ich habe gemerkt, dass es hier doch ein sehr starkes Leistungsgefälle in der Klasse gibt.«

Die Schüler: »Häh?«

Manchmal muss ich einfach über ihre Köpfe hinweg reden. Wenn sie jetzt noch nicht wissen, was ein Gefälle ist, dann macht das auch nichts. Irgendwann hören sie das Wort noch mal und denken: Äh, das kenne ich doch. Das hat doch Frau Freitag in dieser total verkackten Endlosstunde gesagt, als wir in diesen Gruppen arbeiten sollten … Sie wissen dann zwar immer noch nicht, was es bedeutet, aber was soll’s. Ich kann ja auch nicht immer nur so sprechen, dass sie mich verstehen. Sonst hätte ich gesagt: »Letzte Stunde, ja, war Unterricht voll mies scheiße, weil manche so null Checkung und andere erst voll Professor und voll mies abgestrebt und dann – gähn, weil zu leicht.«

»Jedenfalls habe ich mir etwas überlegt. Ich möchte euch in Gruppen aufteilen. Jeweils drei Leute sitzen zusammen. Ich will, dass der Zufall entscheidet. Wir losen die Gruppen aus!«

Und ab da geht es mit der Stunde bergab. Steil bergab! Ich weiß nicht, wie, aber der Zufall, dieser miese Hund, lost doch tatsächlich Abdul, Bilal und Emre in eine Gruppe. Die anderen Schüler lachen. »Das wird eh nichts mit denen, Frau Freitag.« Dann die drei Gackermädchen Elif, Asmaa und Fatma – alle in einer Gruppe. Für sie gleich wieder ein Grund loszukichern. Die anderen Gruppen gingen so.

Der erste Aufgabenzettel steckt in einer Klarsichtfolie, die Aufgabenbeschreibung steht auf der Rückseite. Zunächst sollen die Schüler mündlich einen englischen Text anhand von Fakten über Frau Freitag ausarbeiten. Späterer Transfer – Fakten über sich selbst aufschreiben. Noch späterer Transfer – einen Text aus diesen Fakten SCHREIBEN. 100 Wörter.

»Äh,wassollen wir machen?«

Mustafa legt gleich den Kopf auf den Tisch, ohne etwas zu lesen, und macht die Augen zu.

Die Schüler, die sich nicht gleich auf den Tisch legen, holen ein Blatt raus. »Ihr sollt jetzt noch gar nichts schreiben. Da steht: Erst mündlich!«

Ich gehe von Tisch zu Tisch und erkläre die Aufgabe. Dann gehe ich von Tisch zu Tisch und zwinge jeden, mindestens einen Satz zu formulieren. Dann gehe ich von Tisch zu Tisch und erkläre die zweite Aufgabe. Dann bin ich das von Tisch zu Tisch rennende Deutsch-Englisch-Wörterbuch. Dann bin ich Zeitmahner und Ideengeber: »Dir fallen keine 100 Wörter zu deinem Leben ein? Was willst du denn später mal arbeiten?« Dann bin ich Korrekturleser und Welterklärer. »Nein, Emre, Bordell wird anders geschrieben. Da gibt es ein englisches Wort für. Meinst du hier, du hastpupilsgekillt oderpeople? Und du denkst, dafür bekommst du nur vier Jahre Haft?«

Am Ende der Stunde hat eine Handvoll Schüler einen Text mit 100 Wörtern und die meisten nicht mehr als:I live in Germany. I have one brother and one sister. My hobby is football play and basketball play.

Beim Klingeln bin ich fix und fertig. Aber wenigstens habe ich meinen Unterricht bis zu den Herbstferien vorbereitet, denn wir haben heute nur eine von sechs Aufgaben geschafft.

Es ist ein Junge

Ach, meine Klasse. Vielleicht arbeiten die ja nur in meinem Unterricht nicht. Frau Hinrich sagt, sie machen gut mit. Die neue Geschichtslehrerin fragt: »Welcher ist denn bei dir der fiese Gemeine?«

Ich sage: »Hab ich nicht. Die sind alle nett, und gemein ist keiner. Die verstehen sich auch untereinander prima. Das ist ja das Problem. Sie sind einfach zu fidel. Aber gemein? Nö.«

Sie sind nicht nur nicht gemein, sie sind auch irgendwie echt rührend.

Ein Kollege und eine Kollegin hatten sich vor Jahren ineinander verliebt. Ich habe das gar nicht gemerkt. Nachdem es die ganze Schule erfahren hatte und ich endlich auch, sage ich zu meinen Mädchen: »Wusstet ihr, dass Herr Schwarz mit Frau Sömke zusammen ist?«

Die Mädchen augenrollend: »Frau Freiiitag, das wissen wir schon seit Mooonaaaten! Erst sind sie immer zusammen nach Hause gegangen. Und außerdem hat er doch dauernd vor ihrer Klasse gewartet. Und wenn wir bei ihr hatten, dann kam er immer rein. Frau Freitag, haben Sie das echt nicht gemerkt?«

Meine Antennen in Sachen Liebe sind wahrscheinlich ein wenig eingerostet. Jedenfalls haben die beiden nun ein Baby bekommen, das erzähle ich meiner Klasse.

Die sind völlig aus dem Häuschen: »Wir müssen Karte kaufen!«

Gesagt – getan. Funda bringt eine kitschigeEs-ist-ein-Junge-Karte mit in die Hausaufgabenstunde. Funda und Marina setzen sich zusammen und verfassen den Text. Parallel dazu wird Emre überredet, einen Rap zu schreiben. Ich sage, das Kind heißt Max, und alle schreiben und dichten schön über den neugeborenen Erdenbürger. Am Ende der Stunde stellt sich Funda vorne hin und liest vor: »Und dann haben Sie sich gefunden und die Liebe wuchs und ein Baby ist der schönste Beweis einer Liebe … und möge er das schwierige und doch auch abenteuerliche Leben mit alle seinen Problemen und seinen wunderbaren Momenten genießen und so weiter.«

Dann Emre: »Yo, yo, yo, Liebe, Baby, Max hier, Max da … rap rap rap.« Alle sind begeistert, klatschen und unterschreiben die Karte.

Dann geht es zum Unterricht bei Herrn Schwarz. Ich begleite meine Schüler.

Herr Schwarz kommt rein. Die frisch gewählten Klassensprecher, Bilal und Marina, stehen vorne und bitten ihn, sich erst mal hinten hinzusetzen, denn die Klasse hätte eine Überraschung für ihn. Dann trägt Emre seinen Rap und Funda den Text von der Karte vor. Danach erzählt Herr Schwarz von der Geburt. Alles ist rührend und toll. Ich bin stolz auf meine Klasse und auf mich. Dann guckt Herr Schwarz zu mir, grinst und sagt: »Aber das Baby heißt Moritz.«

Und unter wüstem: »Frau Freiiiiiiitaaag, oh Maaann, Sie sind schuld. Sie haben voll verkackt!«, schleiche ich mich geduckt aus dem Raum.

Ich werde Diseinerin

Zum Elternabend kommt genau ein Elternteil. Die Mutter von Funda. Sonst NIEMAND. Ich hatte den Schülern vor einer Woche die Einladungen mitgegeben. Ich bekam drei Rückmeldungen. Ich sagte ihnen, dass es um Berufsberatung gehen und ich die unterschiedlichen Schulabschlüsse erklären würde. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Berufsberatung, Schulabschlüsse … vielleicht sind das schlimme Tabuworte. Vielleicht ist es zu hart, von den Schülern und den Eltern zu verlangen, sich damit auseinanderzusetzen. Eine Zumutung, sich mit der eigenen Zukunft zu beschäftigen. Läuft doch alles. Sie gehen zur Schule, und das Geld kommt schon irgendwie aufs Konto. Selber Geld verdienen – am Ende noch einen Beruf erlernen … wo kommen wir denn da hin, chill mal, Frau Freitag! Sie stressen!

Und wenn sich meine Schüler irgendeine Tätigkeit vorstellen können – na, dann muss die aber gleich mit 10.000 Euro entlohnt werden. Die haben so gar keine Ahnung von der Welt.

Heute habe ich ihnen gesagt, dass sie sich dieses Jahr bewerben müssen. Eigentlich schon im ersten Halbjahr. Sie wurden ganz still und starrten mich nur entsetzt an, als hätte ich gesagt, sie würden in der kommenden Stunde hingerichtet werden. Abdul sagt, er will zur Polizei, und Bilal will zur Feuerwehr. Fehlt nur noch, dass einer Pilot oder Lokomotivführer werden will. Die Polizei wird Abdul nicht wollen. Auch wenn sie ihn immer wieder vorlädt. Und die Mädchen? Fatma will »Diseinerin« werden. Und Emre möchte einen Puff leiten. So einen gibt es in jeder Klasse. Wie viele Puffbesitzer braucht Deutschland eigentlich? Und wer soll da arbeiten? Hure habe ich als Berufswunsch noch nie gehört.

Zuckerfest

Zuckerfest – muslimischer Feiertag. Meine Klasse ist dezimiert auf vier Kinder, die sich an mich rankuscheln – im übertragenen Sinne –, sie sitzen einfach mal in der ersten und zweiten Reihe und plaudern über ihr Leben. Handzahm fressen sie alles, was ich ihnen hinwerfe, und die Stunde verfliegt wie im Nu. (Wo ist das Nu eigentlich sonst? In den Doppelstunden in der 7. Klasse, da bräuchte ich das Nu, das zieht sich immer so zäh hin.)

»Frau Freitag, Erol und Karim haben es gut. Die tanzen sooo geil, und die verdienen ein Schweinegeld damit«, sagt Marcella voller Bewunderung. Und recht hat sie. Erol und Karim sind Hip-Hop-Götter.

»Wie verdienen die denn damit Geld? Geben die Unterricht? Oder treten sie irgendwo auf?«

»Die haben auch Auftritte mit ihrer Gruppe. Aber die gehen einfach immer vors Center und tanzen da, da kriegen die übertrieben viel Kohle.«

»Na, Marcella, die haben ja auch richtig viel geübt dafür.«

»Ja, ich weiß. Die haben es gut. Die machen was, was ihnen Spaß macht, das können sie auch noch voll gut, und dann bekommen sie dafür noch Geld.«

»Na, das kannst du doch auch machen.«

»Ja, da müsste ich schon fürs Schlafen bezahlt werden. Das ist das Einzige, was ich gut kann.« Marcella sieht super aus, aber mir fällt auch keine spezielle Fähigkeit ein, die sie auszeichnen würde. Und für ständiges Zuspätkommen wird sie wahrscheinlich auch niemand entlohnen.

»Die haben wahrscheinlich die ganze Zeit Tanzen geübt, während du geschlafen hast.«

»Frau Freitag, haben Sie gehört, dass da welche den Koran verbrennen wollen?«, fragt Marina.

»Ja, hab ich gehört. Was haltet ihr denn davon?«

»Ist mir egal, aber haben Sie auf YouTube das Video gesehen von dem Mädchen, das überfahren wurde, weil zwei Jungs sie erschreckt haben?«

»Habtihr auch von der Sarrazin-Debatte gehört?«, frage ich.

»Ist das der, der so viel Scheiße labert?«, fragt Marcella. »Der dieses Buch geschrieben hat?«

»Ja, genau der.«

»Ach, der Typ ist doch krank.« Ah, sie haben sich mit dem Thema also schon auseinandergesetzt.

»Warum ist der krank?«

»Keine Ahnung. Was steht denn in dem Buch?«

Tja, wenn ich das wüsste, ich habe es auch nicht gelesen. Trotzdem gebe ich kurz ein paar erklärende Sätze von mir.

»Findet ihr denn, dass die sogenannten Ausländer sich hier gut integriert haben?« – Die Hälfte meiner vier anwesenden Schüler hat auch einen Migrationshintergrund. Aber sie sind nicht muslimisch, sondern katholisch und müssen deshalb heute zur Schule kommen.

»Frau Freitag, wissen Sie, was mich an den Deutschen nervt? Wenn man in den Bus geht, oder auf der Straße, die gucken immer so ernst. Nie lacht mal einer, und nie lächeln die sich mal an. Das ist bei den Ausländern nicht so«, sagt Marcella.

Und da musste ich ihr zustimmen. Gerade heute war die Stimmung in den öffentlichen Verkehrsmitteln irgendwie anders, auffallend ruhig, alles wirkte wie betäubt. Es war seltsam unaufgeregt auf der Straße, und irgendwann fiel mir auf, warum – Zuckerfest! Weit und breit kein Muslim unterwegs.

Am nächsten Tag fehlt die Hälfte meiner Klasse gleich noch mal. Irgendwie haben die muslimischen Schüler immer noch nicht mitgekriegt, dass sie nur einen Tag feiern dürfen beziehungsweise nur einen Tag schulfrei bekommen. Komischerweise fehlen auch einige Nichtmuslime. Nun ja, dadurch haben wir Anwesenden einen angenehmen Tag.

Ich versuche ja möglichst oft, meine Schüler daran zu erinnern, dass sie sich im 10. Schuljahr befinden, und dass der Ernst des Lebens auf sie wartet. Interessiert sie allerdings nur mäßig.

»Und denkt daran, wenn dann diese Berufsberaterin kommt und mit euch das Bewerbungstraining macht, das ist für EURE Zukunft. Ich möchte da keine blöden Bemerkungen hören.«

Elif guckt mich durch ihre Brille ganz verzweifelt an: »Frau Freitag, wissen Sie, das ist jetzt das letzte Jahr, in dem wir alle zusammen sind.«

»Ja, ein Glück auch«, sage ich leise.

Elif: »Und nächstes Jahr arbeiten wir.«

»Ja, hoffentlich!«

Und jetzt vergrößern sich ihre Augen so, dass sie fast ein wenig schielt: »Aber … aber wir sind doch noch Kinder!«

Bitte nicht wieder bowlen

»Sagt mal, mit dem Wetter und so … es regnet ja nun schon seit Tagen, und es scheint auch nie mehr aufzuhören. Was machen wir denn am Wandertag, wenn das Wetter so bleibt? Habt ihr Ideen?« Eigentlich wollte ich mit meiner Klasse draußen rumwandern, an irgendeinem Ort, an den sie ohne mich nie in ihrem Leben kommen würden. Aber jetzt brauche ich einen Plan B.

Bilal: »Ins Museum!« Bilal ist ja neu in der Klasse und zeigt leichte Einschleimtendenzen. Wirkungsvolle allerdings, denn ich schreibe sofort »Museum« an die Tafel, obwohl ich schon weiß, dass ich dafür nie eine Mehrheit finden werde. Dann kommt das unvermeidliche Bowlen – waren wir schon zweimal. War nett, aber reicht jetzt auch. Beim letzten Mal waren wir in einem Bowling Center, da waren außer uns nur Senioren, die immer zu zweit eine ganze Bahn besetzten. Uns verfrachtete man in die hinterste Ecke mit nur drei Bahnen, so dass jeder Platz belegt war. Eigentlich wollten wir mehr Platz haben, schließlich waren wir fast 30 Leute. Und zwischen uns und den Senioren waren auch noch viele unbelegte Bahnen. Aber irgendwie wollte man wohl nicht, dass wir uns zu sehr ausbreiten. Während die Klasse schön ruhig und nett miteinander spielte, wurden wir die ganze Zeit misstrauisch beäugt, als würden meine Schüler gleich auf die Bahn springen und sich hinten in den Kegelumfallschlund stürzen. Ich fand das sehr unverschämt. Die Klasse hat sich echt gut benommen. Außerdem haben wir da auf einen Schlag fast 200 Euro gelassen. Und trotzdem wurden wir wie Störenfriede behandelt. Für 200 Euro müssen die Omas und Opas ziemlich oft kommen. Da gehen wir nie wieder hin.

Jedenfalls steht heute wieder Bowling an der Tafel. UndIndoor Soccer,und dann kommt der Vorschlag, der meine Klasse total charakterisiert. Sie wollen:gemeinsam essen gehen. Plötzlich wird wild durcheinandergeschrien, wer wen kennt, der ein suuuper Restaurant hat, und wir können vorbestellen, und dann gehen wir noch alle zu Abduls Vater in die Bäckerei und holen uns Baklava und, und, und … und können wir uns nicht am frühen Abend oder nachmittags treffen, ist doch dann voll gemüüütlich …

Ich denke, der Wandertag ist geplant. Vielleicht können wir vorher noch ein wenig alibimäßig rumwandern und dann voll gemütlich essen gehen. Elif wird hoffentlich danach sagen: »Frau Freitag, Wandertag war voll schööön.«

Aber was, wenn der Chef selbst raucht?

»Was ist denn eine typenfreie Autowerkstatt?«, fragt die Berufsberaterin Abdul.

»Äh, hm, weiß ich nicht.«

Marcella meldet sich wild: »Ich weiß, ich weiß, ich glaube, das ist eine Autowerkstatt, wo nur Frauen hinkönnen.«

»Oder wo nur Frauen arbeiten, voll schön!«, sagt Elif.

»Ach, ich weiß!«, ruft Funda. »Da sitzen die Männer nur rum und müssen nicht arbeiten, und die Frauen reparieren ihre Autos selbst. Da haben die Typen immer frei.«

Das heitere Rätselraten wird von Mustafa aufgelöst, der uns erklärt, dass es sich hierbei um Automarken unspezifische Reparaturwerkstätten handelt, im Gegensatz zu Vertragswerkstätten.

»Und du, Peter, willst also Maler und Lackierer werden. Dann erzähl mir doch mal was über Farben!«

»Es gibt verschiedene.«

»Ja, das stimmt«, sagt die Berufsspezialistin und grinst mich an. »Werde mal etwas genauer.«

Peter guckt sich im Raum um: »Also, zum Beispiel Rot.« Irgendwann stammelt er dann noch was von Hauptfarben. Ich werde morgen auf jeden Fall die Grund- und Sekundärfarben wiederholen.

Dann kommt das für meine Schüler typische Endlos-im-Kreis-Gefrage. Wir klären gerade, ob man beim Bewerbungsgespräch Getränke annehmen sollte, wenn sie einem angeboten werden.

»Ja, das könnt ihr ruhig machen. Wie ist es mit einer Zigarette?«

Die Wiederholer melden sich alle sofort, denn sie haben sich gemerkt, dass man das nicht tun sollte.

Dann Bilal: »Aber wenn der Chef selbst raucht?«

Die Berufsberaterin: »Nein, auch dann nicht.«

»Aber wenn man selbst auch Raucher ist?«

»Nein, auch dann nicht.«

»Aber wenn man doch gerne eine rauchen möchte?«

Plötzlich reicht es mir: »Bilal! NEIN, NEIN, NEIN! Was ist daran so schwer zu verstehen? Möchtest du in dem Moment einen Ausbildungsplatz bekommen, oder ist dir das Rauchen wichtiger?«

»Aber mein Freund hat in einem Gespräch eine Zigarette angeboten bekommen und geraucht, und er hat den Job trotzdem bekommen.«

Die Macht des letzten Wortes. Ich gebe auf. Bei den anderen ist das NEIN, NICHT BEIM BEWERBUNGSGESPRÄCH RAUCHEN angekommen, und Bilal wird wenigstens an mich denken, wenn er die Zigarette anzündet und am Ende ohne Ausbildungsplatz dasteht.

Dschinges erzählt vom Ficken

Ich unterrichte in der letzten Stunde meiner Arbeitswoche immer eine sehr kleine 7. Klasse. In dieser Klasse befinden sich auch wieder der dicke Dirk und Dschinges. Die beiden waren bereits letztes Jahr in der Siebten. Nicht zuletzt waren meine schlechten Kunstnoten schuld daran, dass sie sitzengeblieben sind. Und nun kommt’s: Die alte 7b ohne den dicken Dirk und Dschinges, die jetzt die 8b ist, hat einen neuen Kunstlehrer, und ich unterrichte die beiden wieder, nur halt in einer anderen Klasse. Oh, grausames Schicksal.

Ich will – oder eher: ich soll – mit ihnen eine Wand in ihrem Klassenzimmer streichen. Wir haben keine Kittel, und die Farbe geht nicht mehr aus den Klamotten raus. Spätestens bei dieser Information hätte Fräulein Krise, die erfahrene Superlehrerin, das Unternehmen »Handlungsorientierter Kunstunterricht« gestoppt. Die dumme Frau Freitag dagegen rennt nichtsahnend in die bisher stressigste Stunde des neuen Schuljahres.

Wir haben nur eine Rolle und zwei runtergewirtschaftete Pinsel. Der Raum, in dem die Wand ist, hat einen TEPPICH. Keiner will abkleben: »Ist doch egal, machen Sie mal die Farbe auf, ich will umrühren!« Zeitungen auslegen? Wozu denn?! Also mach ich das. Die Farbe deckt nicht. Mit den blöden Pinseln macht es keinen Spaß, und das Ergebnis sieht auch nicht gut aus. Sie prügeln sich um die Rolle. Immer auf der Zeitung, die schon mit Farbe bekleckst ist. Die Aufmerksamkeit lässt nach: »Ich habe keine Lust mehr. Kann ich rausgehen? Ich gehe Cafeteria, ja?«

»Nein, du bleibst hier, Dschinges, hier, sortier mal die Bilder, die wir aufhängen wollen.« Die Bilder werden über den Boden verteilt. Die anderen Schüler latschen darauf rum. Dschinges erzählt vom Ficken. Er hält sich für den großen Aufreißer. »Wir machen das auch mit fünf Kumpels und einem Mädchen.« Ich bin entsetzt und glaube ihm kein Wort. »Sie glauben nicht? Ich kann Ihnen Handyvideos zeigen.«

»Ach, du filmst dich noch dabei?«

»Nein, aber mein Kumpel filmt.«

Ich muss unbedingt mit der Erzieherin, dem Klassenlehrer und seinen Eltern sprechen. Aber nicht jetzt. Beim dicken Dirk kleckert Farbe auf die Hose: »Scheiße, Frau Freitag, geht die wieder raus? War 80 Euro, die Hose!«

»Ja, ja, das geht wieder raus.«

Dann das Klingeln. Zack, und schon sind alle weg. Die Wand sieht so schlimm aus, dass ich dem Klassenlehrer einen Brief auf dem Pult hinterlasse, dass wir da noch mal drübergehen müssen. Dann mache ich mich alleine ans Aufräumen. Es ist 14.30 Uhr. Der Stuhl, auf dem die Farbe stand, ist total eingesaut. Den schleppe ich durch das ganze Schulhaus zu einem Waschbecken. Dann die bekleckste Zeitung entsorgen und mich notdürftig säubern. Völlig verschwitzt schleiche ich irgendwann ins Wochenende zu Fräulein Krise, die mir freudig von ihrem perfekten Tag erzählt. Ich fühle mich wie lebendig begraben.

Mein System ist king

Jetzt hab ich den Salat. Meine ganzen Vorsichtsmaßnahmen in Sachen Krankheitsprävention waren für die Katz. Dabei habe ich in den letzten Wochen sicher sieben Meter Abstand von den schniefenden Kollegen gehalten, wenn ich mit ihnen redete. Falls sie mir am Vertretungsplan von hinten oder seitlich mit ihrem kontaminierten Tröpfchenmist zu nahe kamen, habe ich demonstrativ meinen Hefter zwischen sie und mich gehalten und wütend gefaucht: »Du bist ja immer noch krank.« Die Kollegin lächelt leicht schuldbewusst, aber ich erkenne auch diesen Märtyrer-mäßigen Ich-komme-trotzdem-auch-wenn-ich-krank-bin-Blick. Auf ein Lob von mir können die lange warten. »Mann, bleib doch zu Hause, verdammt. Du steckst uns doch alle an. Willst du mich anstecken? Ich will nicht krank werden!« Die kranken Kollegen sind dann echt verwirrt.

Jedenfalls hat meine Anmecker nichts genutzt. Seit gestern habe ich Halsschmerzen. Ich versuche, sie in Tee und Kaffee zu ertränken und mit Zigaretten auszuräuchern. Mal sehen, ob das gelingt.

Fräulein Krise sagt, es seien gar nicht die Viren, die rumfliegen und mich angreifen, das hätte vielmehr mit meinem Immunsystem zu tun. Einen Dreck hat das mit meinem System zu tun. Mein System ist king!

Aber die sollen nur warten, diese kranken, in die Schule kommenden Kollegen, wenn die wieder ganz gesund sind, dann kommeichkrank zur Arbeit – sehr krank – und sehr ansteckend und klebe mich an sie, fasse alles an, was ihnen gehört, spucke auf ihre Kaffeetassen, begrapsche ihre Stifte, lecke den Griff ihrer Schultasche und die Klinken in ihren Klassenräumen an. Und dann können sie mal sehen. Und das mache ich direkt VOR DEN FERIEN!

Schantalle

Ich habe dann heute doch gar nichts angeleckt. Weder Türklinken noch Lichtschalter, es gab auch keine Zungenküsse mit den noch nicht erkrankten Kollegen. Ich bin schön pflichtbewusst zur Schule, mit Mundschutz und zehn Meter Sicherheitsabstand zu jedem Kollegen schlich ich durchs Lehrerzimmer. Ich habe noch nicht einmal erwähnt, dass es mir gestern und vorgestern nicht gutging.

Mein Plan war ja ursprünglich, bis kurz vor der Mittagspause zu warten und mich dann röchelnd ins Schulleiterbüro zu schleppen und mit letzter Kraft zu verkünden, dass ich nicht mehr kann, kurz vorm Exitus stehe und jetzt sofort nach Hause und ins Bett muss. Und selbstverständlich kann ich morgen nicht kommen.

Und was habe ich getan? Gar nichts. Schön den vorbereiteten Unterricht abgehalten, in meinen Freistunden dies und das organisiert und dann wieder Unterricht, Test schreiben lassen – von dem mal wieder nur ich wusste –, einen Spickzettel und ein Handy abgenommen. Der Typi hatte doch echt nur faul die Arbeitsblätter fotografiert und sich dann schön das Handy neben das Aufgabenblatt gelegt: Täuschungsversuch – null Punkte.

Meine ganz spezielle Freundin in dieser Klasse, Schantalle, versuchte, mich vorher noch zu überreden, den Test erst nächste Woche zu schreiben.

Schantalle kommt vom Gymnasium und ist bei uns toootal unterfordert. In meinem popligen Kunstunterricht stöhnt sie seit Stunden, wie pillepalle-einfach das doch alles sei.

»Warum müssen wir denn die Fragen abschreiben? Ich kann doch auch gleich die Antworten auf das Blatt schreiben.«

Oder: »Was Perspektive ist, weiß ich doch. Hallo?! Ich will später in den Leistungskurs – das ist hier alles ein Witz …«

Jedenfalls geht mir die Madame gehörig auf die Ketten und ich ihr wahrscheinlich auch.

In der Pause kommt sie zu mir: »Frau Freitag, wir sollen doch heute einen Test schreiben …«

»Ja.«

»Können wir den denn nicht nächste Woche schreiben?«

»Ach, Schantalle, das wird sooo einfach, und du fühlst dich ja die ganze Zeit unterfordert. Das machst du doch mit links.«

Schantalle: »Ja, ist ja jetzt auch nicht wegen mir, aber die anderen haben nicht gelernt.«

Und dann zu Beginn der Stunde: »Frau Freitag, gucken Sie mal, keiner hat gelernt, und Sie wollen doch, dass alle eine gute Zensur schreiben. Wir könnten doch den Test nächste …«

»Du, mir persönlich ist es egal, was ihr für Zensuren schreibt, ich möchte vor allem jetzt den Test schreiben lassen.«

»Aber wie kann Ihnen das denn egal sein? Sie sind doch die Lehrerin, und Sie bringen uns doch was bei, und wenn alle eine Fünf schreiben, dann sind Sie doch dafür verantwortlich.« Blöde Schnalle, wie kommt die mir denn? Ich bin doch nicht dafür verantwortlich, wenn die nicht lernen.

Gnadenlos habe ich die Blätter verteilt und getestet. Zumindest haben sie gelernt, dass ich mich nicht bequatschen lasse. Und darauf bin ich sehr stolz. Hätte jemand anderes als Schantalle gefragt, ich hätte den Test wahrscheinlich sogar verschoben.

Meine Klasse spielt draußen mit Ballons

Neulich war ich mit meinen Schülern auf einer Messe, auf der sich mehrere Ausbildungsbetriebe vorgestellt haben. Das war sehr interessant. Draußen gab es so Spiel- und Spaß-Kram für Kinder, mit Luftballons und Dosenwerfen, Glücksrad-Drehen und so. Und drinnen waren dann die Betriebe mit ihren Ständen und haben auf Fragen zur Ausbildung ganz konkrete Antworten gegeben. Die waren alle total nett. Es gab die Meister, die Azubis und sehr viele Informationen. Es gab sogar richtige Adressen, wo man sich bewerben kann.

Und was es noch gab … ganz viele Lehrer wie mich, die rumrannten, Faltblätter sammelten und sich die unterschiedlichsten Berufe erklären ließen, weil die lieben Kleinen, die sich eigentlich dafür interessieren müssten, ja draußen mit Luftballons spielten und sich schlechte Tanzgruppen ansahen.

Aber was wäre ich denn für eine Lehrerin, wenn ich mir nicht bereitwillig alles anhören würde: »Ach ja, okay, erklären Sie mir doch bitte, wie man Parkettleger und Isolierfacharbeiter wird.« – »Ah, Zerspanungsmechaniker, soso, drei Jahre Berufsschule …«

Mir brummte ganz schön der Schädel, weil ich mir ja alles merken musste, um es später meinen Schülern zu erzählen. Jedem Einzelnen. Ach, Abdul wollte doch zur Polizei, die sitzt dahinten … Und Samira ist zwar nicht mehr in meiner Klasse, aber die wollte doch Flugbegleiterin werden, ich frage die Frau da drüben mal, wie das geht.

Kein Einziger meiner Schüler hat sich blicken lassen. Und hat es mich gewundert? Überhaupt nicht. Hat es mich gestört? Irgendwie auch nicht. Wie ein fanatischer Sammler habe ich jede Broschüre an mich gerissen und in meinen Beutel gesteckt. An manchen Ständen gab es auch Kugelschreiber und Schlüsselanhänger, aber selbst nachdem ich mir stundenlang vom stotternden Azubi den Beruf des Betongießers hatte erklären lassen, habe ich mich nicht getraut, nach einem Gratisstift zu fragen. Auch den Kaffee und Kuchen der katholischen Altenpflege habe ich nur angestarrt, während ich nach der Möglichkeit fragte, die Ausbildung mit Kopftuch zu absolvieren. Die Nonnen waren nett, aber haben sie mir einen Kaffee angeboten? Nein. Und darf man ein Kopftuch tragen? Nein, Doppel-Nein!

Meine erbeuteten Infoschätze habe ich bei dem sehr netten Mann eines großen Discounters zwischengeparkt. Am Ende hatte ich zwei fette schwere Taschen mit ALLES, WAS ES GIBT drinne. Damit bin ich dann nach Hause gedackelt. Mein Kreuz tat weh, aber ich war glücklich.

Der Mann vom Discounter fragte mich, als ich meine Beute abholte, ob das für meine Kinder sei.

»Sie glauben doch nicht, dass meine Kinder nicht wüssten, was sie mal machen sollen?! Das ist für meine faule Loserklasse, von denen noch keiner weiß, was er werden will. Das schleppe ich für die in die Schule. Die sind ja draußen und spielen mit den Ballons. Ich habe sogar zwanzig Hausaufgabenhefte für die ergattert.«

»Na, hoffentlich lesen die das dann auch.«

»Dafür werde ich sorgen – darauf können Sie Gift nehmen, dass die das lesen. Die werden jeden einzelnen Flyer auswendig lernen müssen. Und sich bei mindestens zwanzig Unternehmen bewerben. Wer soll denn sonst später meine Rente zahlen?«

Und genau so werde ich das machen. »Keiner geht, bevor nicht die wöchentlichen drei Bewerbungen bei mir abgegeben wurden!«

Abo, voll schööön!

So, nun ist es endlich passiert: In meiner Klasse gibt es den ersten Fall von Hornhautzerkratzung! Yeah! Das muss sich jetzt nur noch rumsprechen.

Seit einigen Jahren – wahrscheinlich seit es bei Lidl, Aldi oder Kick gaaanz billig farbige Kontaktlinsen zu kaufen gibt – kommt mindestens einmal in der Woche ein Mädchen in meinen Raum, stellt sich vor mich, reißt die Augen auf und fragt: »Frau Freitag, was sagen Sie? Sieht gut aus?«

Mal unter uns – es sieht nie gut aus. Befremdlich. Zombieartig. Irgendwie alienesk. Diese bildhübschen dunkelhaarigen, solariumgebräunten oder mit rotbraunem Make-up zugekleisterten Teenagerinnen stehen da plötzlich, mit cyanblauen oder hellgrünen Augen. Leider sieht es nie echt und deshalb nie gut aus.

Kommt ein Mädchen mit diesen Teilen in die Schule, geht sofort der übliche Zirkus los: »Abooo, voll schööön.« Dann in der nächsten Stunde: »Kann ich auch mal?« Und schon werden mit den dreckigen Fingern die Kontaktlinsen rausgepult und in die noch gesunden Kinderaugen gesetzt. »Abooo, sieht bei dir auch voll schön aus!«

»Echt? Hast du Spiegel? Gib mal!«

»Ja,vallah, voll süß!«

Unterricht ist dann nicht mehr möglich, weil die spontane Bedürfnisbefriedigung im Vordergrund steht. Grundbedürfnis Nummer 1: voll schööön aussehen. Kommt noch vor Essen und Trinken. Wie oft habe ich schon meinen Hygienevortrag gehalten: »Keime, Reinigungsflüssigkeit, Zerkratzen – ja, sogar Ablösung der Hornhaut, Erblindung … BRILLE – ein Leben lang.« Nützt alles nichts.

»Abo, voll schööön, darf ich auch mal?«

Und dabei weiß ich, wovon ich spreche. Jahrzehntelang war ich zu eitel, eine Brille zu tragen, und zu faul, die Vorschriften für die Kontaktlinsenpflege zu befolgen.

»Die Reinigungsflüssigkeit in diesen Döschen jeden Tag wechseln? Ach was, die wollen doch nur möglichst viel davon verkaufen. Diese Krümel, die da in dem Behälter rumschwimmen, die kann ich doch locker mit den Fingern rausfischen.«

Ich bin mit den Linsen eingeschlafen, wenn ich zu müde war, sie rauszunehmen, ich habe mal eine in der Disko verloren, auf dem Boden wiedergefunden (leider kaputt) und einfach wieder ins Auge getan – was soll sein? Sonst sehe ich doch nichts.

Und dann kam der Schock: ein fettes Geschwür auf der Hornhaut. Direkt über dem Sehnerv. Krankenhaus. Tägliches Tropfen, mehrere Tage ganz blind – weil es sich auf das gesunde Auge übertragen hat, und ständig der Chefarzt: »Klar können Sie weiterhin Kontaktlinsen tragen, wenn Sie auf Ihr eines Auge verzichten können …«

Und seitdem muss ich eine Brille tragen. Aber meine Schülerinnen – hat sie meine authentische, voll selbsterlebte Horrorkontaktlinsengeschichte beeindruckt? Natürlich nicht. »Ja, ja, lass die Alte mal quatschen, was weiß die schon?! Die mit ihrer doofen Brille … Und wenn die die abnimmt, sieht die sowieso aus wie ein Maulwurf. Ist doch gut, dass die die trägt. Was ist Geschwür überhaupt?«

Aber jetzt haben wir den ersten Hornhautzerkratzungsfall in der Klasse. Marcella, die sooo schöne Augen hat, von Geburt an, war heute und gestern nicht in der Schule. Ich rufe sie an.

Sie kleinlaut: »Ich habe Kratzer auf der Hornhaut.«

Ich denke: Yes! Endlich! »Ach, du Arme. Von den Kontaktlinsen?«

Ihr leises »Ja« höre ich kaum.

»Na, kurier dich mal aus. Dann kannst du ja auch nicht mit zum Wandertag. Wir sehen uns also nächste Woche. Tschüüüs.«

Manchmal macht das Leben echt den besten Unterricht.

Brötchen belegt mit Chips und Schokoladenkeksen

Wandertag mit meiner Klasse. Ohne die zerkratzte Marcella. Da es wider Erwarten aufgehört hat zu regnen, begeben wir uns nun doch in die Natur. Die Restaurantpläne wurden verschoben.

Erst mal sind nur Ronnie und Christine da. Die haben sich in der Siebten und Achten immer nur gestritten. Jetzt stehen sie ruhig nebeneinander und erzählen sich, mit welchen Bussen sie gekommen sind und wo man umsteigen musste. Wir wollen um 10 Uhr los.

Um 09.55 Uhr stehe ich immer noch mit Christine und Ronnie und keinem weiteren Schüler am Treffpunkt und warte. Zum Glück kommt wenigstens mein Kollege Herr Müller mit. Herr Müller ist neu, na ja, mittlerweile ist er auch schon ein halbes Jahr bei uns. Wir rauchen immer zusammen, und er ist sehr nett, etwas freakig. Nicht der typische Lehrer. Seine Klamotten und seine Ausdrucksweise sind einfach etwas zu cool für die Schule. Ich hatte ihn gefragt, ob er nicht mitkommen wollte, da er ganz in der Nähe der Natur wohnt, in der wir rumwandern wollen. Außerdem unterrichtet er viele Schüler meiner Klasse.

»Sag mal, Frau Freitag, was ist mit diesem Emre … der hat doch nichts drauf, oder?«

»Nein, nein, Emre ist okay. Der ist sogar ziemlich schlau. Der wirkt immer sehr verschlossen, ist er aber eigentlich gar nicht.«

Mein heimlicher Lehrplan dieses Ausflugs ist nämlich, dass Herr Müller meine Klasse besser kennenlernt, sie dann mehr mag und ihnen am Ende des Schuljahres mildere Zensuren gibt. Um 10.10 Uhr kommen Elif, Funda und Ayla an und telefonieren hektisch mit ihren Handys rum. Es stellt sich raus, dass der Rest der Klasse auf öffentliche Verkehrsmittel in der ganzen Stadt verteilt ist.

Um 10.30 Uhr sind wir endlich vollzählig, und alle Schüler sind sich einig, dass wir uns nächstes Mal vor der Schule treffen sollten. »Sagt mal, Leute, ihr seid teilweise schon 18. Ihr geht in die 10. Klasse, habt Freundinnen oder Freunde, einige von euch hatten bestimmt schon Sex, und ihr wollt mir erzählen, dass ihr es nicht schafft, mit ein paar Bussen zu fahren?«

Später stellt sich raus, dass Emre, Bilal und Abdul noch bei Edeka waren und endlos lang Süßigkeiten gekauft haben. Jetzt trotten sie alle drei mit ihren Plastiktüten vor mir her. Ich habe ein Déjà-vu, als ich Abdul mit der vollgepackten Tüte sehe. Als ich letztes Jahr mit meiner Klasse im Heidepark war, hatte er sich Wodka besorgt und mit 1,5 Liter River Cola gemischt. Diese Straftat aufzuklären, inklusive der Zeugenbefragung, um herauszubekommen, wer davon getrunken und wer den Alkohol besorgt hatte, dauerte den ganzen Nachmittag. Ich beschließe, seine Tüte heute zu ignorieren.

Wir fahren alle zusammen mitnocheinem Bus, und ich bin mir sicher, dass die Schüler spätestens jetzt nicht mehr nach Hause finden würden, wenn ich sie hier allein ließe.