Volle Tonne, leere Teller - Jochen Brühl - E-Book

Volle Tonne, leere Teller E-Book

Jochen Brühl

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Beschreibung

Jochen Brühl, Bundesvorsitzender der Tafel Deutschland, reist mit dem Zug kreuz und quer durch Deutschland und spricht mit Unterstützern und Kritikern seiner Arbeit über Fragen, die vielen unter den Nägeln brennen: Wie kann es sein, dass im reichen Deutschland Menschen arm sind? Was läuft da eigentlich genau schief? Ist nur der Staat verantwortlich? Wie können wir Lebensmittelverschwendung verhindern und sinnvolle Alternativen schaffen? Ein streitbares Debattenbuch, das Pro und Contra zulässt, Missstände beim Namen nennt sowie zum Nachdenken und Mitmachen aufruft. Und ein leidenschaftliches Plädoyer für das Ehrenamt, ohne das es in Deutschland finster aussehen würde. U.a. mit Jörg Pilawa; Moderator | Hannes Jaenicke; Schauspieler | Paula Schwarz; Unternehmerin | Henriette Egler; Bloggerin | FranzJosef Overbeck; Ruhrbischof | Barbara Hendricks; Bundesministerin a.D. | Gerhard Trabert; Arzt | Ulrich Schneider; Paritätischer Wohlfahrtsverband | Thomas Middelhoff; Ex-Manager | Irmgard Schwaetzer; Bundesministerin a.D. | Christina Brudereck; Autorin | Jürgen Kisseberth; Lidl | Raphael Fellmer; "Sirplus" | Tim Raue; Sternekoch | Sabine Werth; Tafelgründerin | Marianne Birthler; ExBundesbeauftragte für die Stasiunterlagen

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»WIR WÄHLEN DIE HOFFNUNG STATT DER ANGST. WIR SEHEN DIE ZUKUNFT NICHT ALS ETWAS AUSSERHALB UNSERER MACHT, SONDERN ALS ETWAS, DAS WIR ZU ETWAS BESSEREM FORMEN KÖNNEN, DURCH GEMEINSAME UND GESAMMELTE ANSTRENGUNGEN.«

Barack Obama

Für meine Eltern & meine (Klein- & Groß-)Familie,

Aloha,e/motion,Freundschaft & die 4-er-Bande plus 2und die unzähligen Menschen, die Tafel-Arbeit möglich, wertvoll und einzigartig machen.

Danke!

INHALT

Vorwort

Die Tafeln

»Worum es geht? Um alles!«

Sabine Werth

Jürgen Kisseberth

Dr. Irmgard Schwaetzer

Franz-Josef Overbeck

Tim Raue

Henriette Egler

Dr. Thomas Middelhoff

Ulrich Schneider

Paula Schwarz

Raphael Fellmer

Jörg Pilawa

Barbara Hendricks

Beatrice Moreno

Gerhard Trabert

Marianne Birthler

Hannes Jaenicke

Christina Brudereck

Vorwort

»Tafeln sind eine Anklage« – Heribert Prantl

Suppe wird dort nicht ausgeschenkt. Die Tafel ist keine Suppenküche im klassischen Sinn. Auf den Tischen liegen Sachen, die man gut mitnehmen kann: Brot, Obst, Gemüse, Wurst – Verderbliches oft, kurz vor dem Ablaufdatum gespendet. Marmelade, Schokolade, Tütensuppe. Die Tafeln sind Einkaufsorte, nein Ausgabestellen für Leute, die sich ein normales Einkaufen nicht leisten können. Dort finden sie Lebensmittel und oft auch Kleidung.

Wie nennt man Leute, die dort hingehen? »Kunden« klingt besser als »Arme«. Es gibt immer mehr Kunden an immer mehr Tafeln. An manchen Tafeln zahlt man einen Euro am Eingang, an anderen fünf. So einen Obolus finden fast alle gerecht, die da anstehen. Das hilft gegen das Gefühl, es würde einem alles geschenkt. Man nimmt, was man kriegt. Viele sagen, sie hätten nie gedacht, einmal »so was« in Anspruch nehmen zu müssen.

Die Tafeln gehören zu den erfolgreichsten Einrichtungen in Deutschland. Sie expandieren, weil Not und Bedürftigkeit in Deutschland expandieren. 940 Tafeln gibt es in Deutschland, dort versorgen eineinhalb Millionen Menschen sich und ihre Familienangehörigen. Die Tafeln bewirken, dass die Not in Deutschland nicht so laut schreit, wie sie das sonst täte. Die Tafeln breiten ein deutschlandgroßes Tischtuch über die Armut. Es wäre eine Katastrophe, wenn es diese gemeinnützige Einrichtung nicht mehr gäbe. Es ist aber auch eine Katastrophe, dass es sie geben muss. Tafeln dürfte es in einem der reichsten Länder der Erde eigentlich gar nicht geben.

ES WÄRE EINE KATASTROPHE, WENN ES DIE TAFELN NICHT MEHR GÄBE. ES IST ABER AUCH EINE KATASTROPHE, DASS ES SIE GEBEN MUSS. EIN STAAT, DER TAUSEND TAFELN BRAUCHT, IST KEIN GUTER SOZIALSTAAT.

Heribert Prantl

Was soll man von einem Sozialstaat halten, in dem Menschen ihrer Armut wegen öffentlich sichtbar Schlange stehen müssen für billige oder kostenlose Lebensmittel? Was soll man von einem Sozialstaat halten, der sich darauf verlässt, dass es Tafeln gibt, an denen den Bedürftigen eine Art Gnadenbrot serviert wird? Da stehen Obdachlose neben Leuten, die sich gerade noch die Miete leisten können; Rentnerinnen, die von der Rente nicht leben können, neben Flüchtlingen, die das Asylbewerberleistungsgesetz sehr knapp hält.

Die Tafel in Essen hat im Jahr 2018 eine Zeit lang die »Neuaufnahmen von Neukunden mit Migrationshintergrund« für drei Monate ausgesetzt. Natürlich konnte man die Verantwortlichen der Tafel, die das taten, heftig kritisieren. Natürlich war und ist es so, dass Bedürftigkeit keine Nationalität kennt. Die Essener Tafel hatte festgestellt, dass ein Verdrängungswettbewerb stattfindet, dass immer mehr junge Flüchtlinge kamen und immer weniger alte Leute; und es gab nicht mehr die Kapazitäten, alle Bedürftigen bedienen zu können. Die alten Leute kamen nicht mehr, weil sie sich zurückgedrängt fühlten und auch zurückgedrängt wurden. Sollte man sie zu bekehren versuchen? Soll man der alten Frau sagen, dass sie sich nicht fürchten muss vor dem jungen Flüchtling? Soll man dem Arbeitslosen sagen, dass er sich nicht genieren muss, neben dem Obdachlosen zu stehen? Es ist problematisch, Toleranz und Souveränität ausgerechnet von denen zu verlangen, die um ihre Würde, um einen Rest von Würde kämpfen müssen.

Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Tafel in Essen auf anfechtbare Weise den großen Andrang zu sortieren versuchte. Das Problem besteht darin, dass die Tafeln per se einen Zustand der staatlichen Unterversorgung perpetuieren und einer Gesellschaft, die massenhaft Lebensmittel wegwirft, ein gutes Gewissen verschafft; der Staat sieht zu, wie sich die Armen und Bedürftigen an den Tafeln drängen – und diese Tafeln müssen dann die Konkurrenz der Bedürftigen ausbaden.

Tafeln dürfte es in einem der reichsten Länder der Erde eigentlich gar nicht geben. Die vielen Tafeln zeigen, dass die Not zurückgekehrt ist in ein reiches Land. Natürlich ist diese Not eine andere Not als die in Kalkutta. Die Armen in Deutschland sind relativ arm – sie sind arm dran. Armut in Deutschland hat viele Gesichter: Da ist der wegrationalisierte Facharbeiter, da ist die alleinerziehende Mutter, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft; da sind Familien mit Kindern, Migranten, Niedriglöhner, Langzeitarbeitslose, Ein-Euro-Jobber und Rentner. All diese relativ Armen haben wenig gemeinsam, es verbindet sie nur Hartz-IV. Die Hartz-Gesetze sind der große Hobel der deutschen Gesellschaft. All die relativ Armen, ob sie arbeiten oder nicht, verbindet das Faktum, dass ihnen das Geld zum Leben nicht reicht. Sie stehen für billige, ansonsten unverkäufliche Lebensmittel an.

Die Nutzer der Tafeln sind keine Randgruppe, weil eineinhalb Millionen Menschen keine Randgruppe sind. Das »Gesetz über die Grundsicherung von Arbeitssuchenden« (so heißt das Hartz-IV-Gesetz im Wortlaut) hat der deutschen Gesellschaft die Grundsicherheit genommen, die Sicherheit darüber, dass es in Deutschland eine ausreichende soziale Basis-Sicherung gibt. Hartz-IV war und ist die Chiffre dafür, dass das Sichere nicht sicher ist. Und die Tafeln sind der Beleg: Ihre Zahl hat sich seit Einführung der Hartz-Gesetze vervielfacht. Wenn man von den Erfolgen der Agenda-Gesetze redet, gehört das auch dazu. An den Tafeln kann man studieren, wie sich die Ungleichheit der Gesellschaft verändert. Nicht nur Arbeitslose kommen da hin, sondern auch Leute, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Die Spaltungslinien der Gesellschaft verlaufen nicht mehr nur zwischen arbeitenden und arbeitslosen Menschen. Sie verlaufen kreuz und quer. Auf diesem Kreuz-und-Quer stehen die Tafeln.

Die Tafel-Bewegung ist derzeit eine der größten Bürgerbewegungen der Bundesrepublik. Mehr als 60.000 Menschen arbeiten ehrenamtlich dafür, dass Bedürftige ihr täglich Brot bekommen. Sie sammeln die Lebensmittel, die sonst als Biomüll entsorgt werden müssten. Davon profitieren die Bedürftigen und die Spender. Erstere haben was zu essen, Letztere ersparen sich Entsorgungskosten (zum Teil werden diese an die Tafeln weitergegeben, weil letztlich doch einiges im Müll landet). Und der Staat erspart sich ein Sozialsystem, das den Bedürftigen wirklich das gibt, was sie brauchen.

Tafeln sind etwas Wunderbares, weil sie Pragmatismus mit Wohltätigkeit verbinden, weil die Idee, die hinter den Tafeln steckt, so verblüffend einfach ist. Aber: Soll man wirklich als Großtat der Bürgergesellschaft feiern, was eigentlich ein Armutszeugnis ist?

Tafeln sind ein Notbehelf, sie bieten Almosen, sie liefern die Krümel vom Überfluss, sie sind Gnadenbrot. Aber sie sind keine geeignete Antwort auf Not und Armut in einer reichen Gesellschaft – sondern eine Anklage. Wenn der Staat sich auf die Tafeln verlässt, verstößt er gegen seine soziale Fürsorgepflicht. Vielleicht sollten die Wohlfahrtsverbände, die die Tafeln organisieren, einmal streiken. Armutsbekämpfung verlangt mehr als Barmherzigkeit. Ein Staat, der tausend Tafeln braucht, ist kein guter Sozialstaat. Aber die zigtausend Menschen, die diese Tafeln aufstellen, tun ein gutes Werk. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Die Tafeln

Größter Lebensmittelretter Deutschlands und sozial-ökologische Ehrenamtsbewegung

Die Tafeln sind Lebensmittelretter: Bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr vernichtet. Die Tafeln kämpfen seit über 25 Jahren dagegen. Sie sind der größte und älteste Lebensmittelretter Deutschlands. Jeden Tag sammeln die über 940 Tafeln bei Supermärkten, Bäckereien, Großmärkten und Herstellern im ganzen Land viele Tonnen noch genießbare Lebensmittel ein, die sonst im Müll gelandet wären. Über 260.000 Tonnen Lebensmittel haben die Tafeln im Jahr 2018 gerettet und leisten damit aktiven Klimaschutz.

Die Tafeln sind Brückenbauer: Während die Lebensmittel auf der einen Seite im Überfluss vorhanden sind, haben nahezu 15 Millionen Menschen in ihrem Alltag nicht genug davon. Deshalb verteilen die Tafeln die geretteten Lebensmittel in über 2.000 Ausgabestellen bundesweit an Menschen, die arm oder in Notsituationen geraten sind – kostenlos oder zu einem kleinen symbolischen Beitrag. Die Tafeln unterstützen auf diese Weise jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen. Bis heute ist diese Idee einzigartig in Deutschland und hat viele Unterstützerinnen und Unterstützer, Helferinnen und Helfer gefunden. Die Tafeln sind eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen Deutschlands.

Die Tafeln sind Begegnungsorte: Durch die Möglichkeit, beim Einkauf zu sparen, verschaffen die Tafeln ihren Nutzerinnen und Nutzern kleine finanzielle Spielräume. Genauso wichtig: Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer bei den Tafeln hören zu und vernetzen Menschen miteinander. Hier können sich Menschen treffen und unterhalten, die sich einen Besuch im Café nicht leisten können oder einsam sind. Und bei den Tafeln kommen Leute miteinander in Kontakt, die sich sonst kaum begegnen würden: Die ehrenamtliche Rechtsanwältin trifft auf eine alleinerziehende Mutter, der Langzeitarbeitslose auf einen Flüchtling aus Syrien. Das baut Vorurteile ab und hilft, Verständnis füreinander zu entwickeln.

Die Tafeln sind Lebenshilfe: Viele Tafeln tun darüber hinaus noch mehr und haben entsprechend der Bedarfe ihrer Nutzerinnen und Nutzer Projekte entwickelt, die dabei unterstützen sollen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und wieder einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Das können Kochkurse für Kinder sein, Kultur- und Integrationsprojekte oder aber ein Bringdienst für ältere Menschen, die nicht mehr mobil sind.

Die Tafeln sind Ehrenamtsbewegung: Als spendenfinanzierte, gemeinnützige Organisationen sind die Tafeln auf Unterstützung angewiesen. Auf Geldspenden, Lebensmittel, Know-how und viele helfende Hände. 60.000 Frauen und Männer schenken den Tafeln ihre Zeit und leben Mitmenschlichkeit und Klimaschutz.

Sie möchten uns unterstützen? Verschenken Sie ein paar Stunden Ihrer Freizeit an die Tafel in Ihrer Stadt und retten Sie gemeinsam mit 60.000 Freiwilligen Lebensmittel vor der Tonne, um damit Menschen zu helfen. Denn das zum Leben Nötige an diejenigen zu verteilen, die von allem am wenigsten haben, ist immer noch die sinnvollste Lösung – das sagt sogar der Papst. Und wenn Sie keine Zeit übrig haben, freuen die Tafeln sich auch über jede kleine Geldspende, denn Lebensmittel retten sich nicht umsonst.

Die Tafel Deutschland ist der Dachverband der deutschen Tafeln. Der gemeinnützige Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und unterstützt mit praktischer Hilfe die Tafel-Arbeit vor Ort.

Weitere Infos gibt es auf www.tafel.de und www.facebook.com/DieTafeln/.

»Worum es geht? Um alles!«

JOCHEN BRÜHL

Mein Name ist Jochen Brühl, ich engagiere mich seit mehr als 20 Jahren bei der Tafel, in letzter Zeit als ihr Bundesvorsitzender. Fast jeder Deutsche kennt die Tafel, der Bekanntheitsgrad der Organisation ist mit Marken wie Coca Cola, Volkswagen oder der Tagesschau vergleichbar. Und wie bei allem hat natürlich auch zur Arbeit der Tafel jeder seine ganz eigene Meinung.

Manifestieren wir Armut? Machen wir sie sichtbar oder unterstützen wir sie gar? Entlassen wir den Staat aus seiner Verantwortung? Werden wir vielleicht sogar als Teil einer Armutsindustrie wahrgenommen? Oder ändert sich das Bild in Zeiten einer klimasensiblen jungen Generation, die bei den Fridays for Future lautstark ein Umdenken fordert und für die ein nachhaltigerer Umgang mit Ressourcen selbstverständlich ist? Sind wir hippe Lebensmittelretter oder biedere Armutsminderer? Was läuft in Deutschland eigentlich falsch, dass es die Tafeln überhaupt geben muss? Und was können wir konkret tun?

Was ich in all meinen Jahren in der Tafel-Arbeit gelernt habe: Tafeln sind nicht die Lösung für Armut oder Lebensmittelverschwendung. Sie lindern Probleme, sie bekämpfen die Folgen. Die Ursachen liegen aber ganz woanders – auch wenn sie durch die Arbeit der Tafeln immer wieder in die öffentliche Wahrnehmung geraten. Weil natürlich auch ich nicht alle Antworten auf die vielen Fragen habe, die es in diesem Zusammenhang gibt, habe ich mich für dieses Buch in die Bahn gesetzt und bin durchs Land gefahren. Nach Hamburg, nach Berlin, in den Osten der Republik und ins Ländle. Ich habe Ärzte, Unternehmer, Aussteiger, Millionenerben, bloggende Hartz-IV-Empfänger, Schauspieler, Sterneköche, Politiker, christliche Würdenträger und verurteilte Straftäter getroffen. Unterstützer unserer Arbeit ebenso wie Kritiker und andere Lebensmittelretter.

Alle hatten etwas zu sagen und ich habe genau zugehört. Nach 17 intensiven Gesprächen bin ich etwas schlauer. Meine wichtigste Erkenntnis: Unsere Zivilgesellschaft funktioniert noch immer gut. Ehrenamtliches Engagement ist fest im Alltag der Menschen verankert. Egal, ob im Fußballverein, in der Hospizbewegung, in der kirchlichen Gemeindearbeit, beim CVJM oder in sozialen Organisationen. Es gibt – Gott sei Dank – immer noch viele, viele Menschen, die bereit sind, sich für andere zu engagieren. Überall gibt es Orte, an denen sich Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus treffen. Wo sonst kommt die Rechtsanwältin mit der alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin ins Gespräch, die Cabrio fahrende IT-lerin mit dem Leergutsammler im Rentenalter? Organisationen wie die Tafeln bieten einen solchen Raum zur Begegnung.

Gleichzeitig müssen wir daran mitwirken, den Staat konsequent auf seine oftmals unzureichenden Rahmenbedingungen aufmerksam zu machen – um mit den notwendigen Veränderungen die »Abhängten« wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen, so schwierig es auch sein mag.

Jede einzelne Begegnung fördert dabei eine elementare Erkenntnis zutage: Wir müssen endlich nachhaltiger mit unseren Ressourcen umgehen. Und da Lebensmittel eine Ressource sind, von der jeder von uns tagtäglich lebt, sind in diesem Buch neben den Worten auch ganz konkrete Handlungsaufforderungen zu finden, mit denen sich Lebensmittelverschwendung reduzieren lässt. Denn Fakt ist: Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Mülltonnen immer voller werden und dennoch viele Teller leer bleiben. Jeder von uns ist Teil dieser Gesellschaft und wenn wir auf sie schimpfen, kritisieren wir uns auch immer ein wenig selbst.

Wer um 22:00 Uhr noch frische Brötchen kaufen möchte, Erdbeeren im Februar genießen will und jeden Salat liegen lässt, der ein welkes Blatt vorweist, darf sich nicht beschweren, dass Unmengen von Nahrungsmitteln aussortiert werden. Und wer mit lauter Stimme nach politischen Lösungen wie etwa einem Lebensmittelgesetz ruft, vergisst, dass rund die Hälfte der 18 Millionen Tonnen verschwendeter Lebensmittel pro Jahr in Privathaushalten anfällt. Fingerpointing bringt uns aber nicht weiter, sondern Veränderungen können nur gelingen, wenn alle Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen.

Dass so etwas funktionieren kann, zeigen zum Beispiel die 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die sich in insgesamt 940 – sehr unterschiedlichen – Tafeln um 1,5 Millionen Bedürftige kümmern. Ihnen gebührt unser aller Dank, denn sie leisten täglich Großartiges. Sie verteilen Lebensmittel, die an anderer Stelle aussortiert wurden. Doch wir alle dürfen uns auf diesem zivilgesellschaftlichen Engagement nicht ausruhen. In einer immer komplexer werdenden Welt tun sich tiefe Gräben auf. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, die Schere zwischen Bildungsbürgertum und bildungsfernen Schichten ebenso.

Gute Zeiten für Rattenfänger, die mit scheinbar einfachen Lösungen daherkommen; die Abgrenzung propagieren und die Welt in Freund und Feind einteilen. Wir müssen wegkommen von diesem Schwarz-Weiß-Denken, zumal wir durch Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel oder verlängerte Lebensarbeitszeit vor riesigen Herausforderungen stehen. Und ja, wir müssen die Politik hierbei mehr in Verantwortlichkeit nehmen, aber immer auch selbst unseren Teil beitragen, damit unsere Gesellschaft und auch die globale Welt eine Zukunft haben.

Dieses Buch soll helfen – nicht nur mit der Spende, die von jedem verkauften Exemplar an die Tafeln geht, sondern auch durch jede Menge Denkanstöße und ganz verschiedene Sichtweisen dazu beitragen –, Lösungen zu finden.

Es bleibt viel zu tun. Hände, die zupacken, haben wir nie genug, und jede geleistete Stunde hilft uns dabei, Lebensmittel zu retten, nachhaltiger mit den begrenzten Ressourcen auf diesem Planeten umzugehen und den Alltag von bedürftigen Menschen etwas einfacher zu gestalten.

In diesem Sinne: Packen wir es gemeinsam an!

»Lebensmittel retten ist eine Herzensangelegenheit«

SABINE WERTH

Berlin, Anfang Januar. Es regnet, die Stadt ist grau und der Taxifahrer schimpft, dass jetzt, nach dem Weihnachts- und Silvestertrubel, alles nur noch langweilig vor sich hin dümpelt. Jahresanfangsmelancholie.

Kurze Zeit später stehe ich auf dem Gelände des Berliner Großmarktes. Hier beginne ich heute eine Reise, die mich in den nächsten Wochen zu ganz unterschiedlichen Menschen führen wird. Prominente und weniger Prominente, Politiker, Kritiker, Unterstützer und Kunden der Tafeln. Wir werden uns über Lebensmittelverschwendung, Armut, Ehrenamt und Öffentlichkeit unterhalten. Über die Frage, warum ein reiches Land wie Deutschland überhaupt Tafeln braucht. Was schiefläuft, wo wir Veränderung bewirken können und was jeder Einzelne tun kann, um die Missstände umzudrehen. Denn wir wissen auch: Eigentlich ist genug für alle da.

Auf dem Großmarkt liegt die Geschäftsstelle der Berliner Tafel. Ein unscheinbares Gebäude, Zweckarchitektur. Doch die Flotte der geparkten Transporter und LKW mit Tafel-Logo davor ist umso beeindruckender. Meine erste Gesprächspartnerin ist Sabine Werth. Sie ist keine Außenstehende, ganz im Gegenteil: Mit ihr begann die Tafelbewegung in Deutschland. Vor mehr als 25 Jahren gründete sie die erste Tafel und ist seitdem aktiv dabei. Wo, wenn nicht hier, muss dieses Buch beginnen? Wer, wenn nicht sie, könnte besser über Herausforderungen, Veränderungen und Niederlagen berichten?

Es muss hier beginnen. Denn hier begann alles.

Anfang der 1990er-Jahre war Sabine Werth Mitglied der »Initiativgruppe Berliner Frauen«, ein Verein, der in Hotels und Gaststätten Lebensmittelspenden für Obdachlose sammelte. Hilfe vor Ort, direkt und nah bei den Menschen. Heute sitzen wir in einem Seminarraum der Geschäftsstelle und aus diesem lokalen Hilfsprojekt ist eine der größten und erfolgreichsten sozialen Bewegungen entstanden. Deutschlandweit gibt es mehr als 940 Tafeln, 60.000 Menschen engagieren sich tagtäglich ehrenamtlich, um Lebensmittel zu retten und Armut zu lindern.

WIR HABEN DEN UNTERNEHMEN DURCH UNSERE ARBEIT KLARGEMACHT, DASS SIE EINE UNTERNEHMENSFEINDLICHE POLITIK BETREIBEN.

Sabine Werth

Doch am Anfang musste sich Sabine Werth durchsetzen, gegen den Widerstand und das Unverständnis der Kohl-Regierung, in der es hieß, es gäbe gar keine Armut in Deutschland, unser Sozialsystem würde das alles regeln. Sabine Werth lacht: »Heute würde sich niemand mehr trauen, eine solche Aussage zu machen. Die Politik sieht Armut mit anderen Augen, und das ist auch der Verdienst der Tafeln.« Zu Recht schwingt in ihrer Antwort ein wenig Stolz mit, immerhin retten die Tafeln inzwischen rund 260.000 Tonnen Lebensmittel im Jahr. Das ist viel, aber die traurige Wahrheit ist: Von allen zu viel produzierten und überschüssigen Lebensmitteln in Europa können die Tafeln und andere Foodbanks gerade einmal 1% retten. Wie kommt das, und was können wir tun, um diese Zahl weiter zu erhöhen?

»Wir haben den Unternehmen durch unsere Arbeit klargemacht, dass sie eine unternehmensfeindliche Politik betreiben«, sagt Sabine Werth. »Sie haben durch die Masse an gespendeten Lebensmitteln gemerkt, dass sie wirtschaftliche Fehler machen und falsch disponieren oder produzieren. Die Spenden an uns sind ein Verlustgeschäft für Unternehmen. Und der Handel lernt daraus. Langfristig bekommen wir also immer weniger Ware hier in Deutschland. Und an die europäische Ware kommen wir gar nicht ran. Die wird eher untergepflügt oder flutet den afrikanischen Markt. Eine gesetzliche Abgabeverordnung würde sicherlich nicht schaden. Es gibt nach wie vor Schwachstellen im System und diese Schwachstellen könnte solch ein Gesetz beseitigen.«

Der Vorschlag eines Gesetzes, das den Handel dazu verpflichtet, unverkäufliche Ware an soziale Einrichtungen zu spenden, geistert seit einiger Zeit durch die Öffentlichkeit. Nicht zuletzt, weil einige unserer europäischen Nachbarn solche Regelungen bereits umgesetzt haben. Aber dürfen die Tafeln als eine vor allem ehrenamtliche Bewegung, die bisher nicht institutionell vom Staat gefördert wird, wirklich die ausführende Hand gesetzlicher Vorgaben sein? Machen sie sich damit nicht abhängig? Und ist so ein Gesetz nicht zu kurz gedacht, wenn die, die Lebensmittel retten, dafür auch noch die dafür notwendigen finanziellen Mittel selbst beschaffen sollen? Die Tafelbewegung steht ja lediglich am Ende einer langen Wertschöpfungskette.

Müssen nicht auch wir Verbraucher endlich umdenken? Warum müssen Supermärkte bis 22:00 Uhr geöffnet haben? Und warum erwarten wir, dass es um 21:45 Uhr noch frische Brötchen gibt? Welche Macht hätten wir Verbraucherinnen, wenn es uns ernst wäre mit dem Schutz von Ressourcen? Für mich wäre eine gesetzliche Abgabenverordnung in der Form, wie sie manche derzeit protegieren, eher eine Art Pflästerchen, die vieles und viele aus der Pflicht nehmen würde. Und ich will nicht, dass Politik und Gesellschaft so leicht aus ihrer Verantwortung kommen. Es braucht vielmehr nachhaltige und tragfähige Lösungen, die die ganze Wertschöpfungskette umfassen und dann am Ende auch die unterstützen, die sich gegen Verschwendung einsetzen und bestehende Ressourcen nutzen.

Sabine Werth sieht das pragmatisch anders und gibt sich kämpferisch: »In solch einem Abgabegesetz stünde im Zweifelsfall nicht die Tafel als Empfänger, sondern irgendeine soziale Einrichtung. Wenn wir – aus welchen Gründen auch immer – nicht kooperieren wollten, würden die Lebensmittel an andere Einrichtungen gehen. Darin sähe ich erst einmal noch keine Verpflichtung der Politik gegenüber.«

BEREITS BEI DER PRODUKTION MUSS GEGEN DIE VERSCHWENDUNG ANGEKÄMPFT WERDEN. WARUM MÜSSEN LANDMASCHINEN SO EINGESTELLT WERDEN, DASS KLEINE KARTOFFELN DIREKT AUF DEM ACKER BLEIBEN?

Sabine Werth

Aber auch ihr ist klar, dass der Handel nicht allein Schuld hat an Containern voller weggeworfener Lebensmittel. »Bereits bei der Produktion muss gegen die Verschwendung angekämpft werden. Wenn Landmaschinen so eingestellt werden, dass kleine Kartoffeln direkt auf dem Acker bleiben, dann ist das ein riesiges Problem.« Eine direkte staatliche Förderung in Form von finanziellen Mitteln lehnt die 62-Jährige hingegen ab: »Wir wären nicht mehr frei in unserer Arbeit. Wenn wir für unsere originäre Tafel-Arbeit Geld bekommen würden, dann müssten wir etwas leisten. Wir stünden in der Pflicht der Politik. Müssten dokumentieren, müssten nachweisen, müssten gegebenenfalls Lebensmittel vorhalten, damit wir unseren Auftrag erfüllen können. Ich will lieber als Mahnerin auftreten.«

Diese Freiheit der Tafeln existiert nicht nur in ihrem Verhältnis zu Politik oder Gesellschaft. Auch innerhalb des Verbandes agieren die einzelnen Tafeln sehr autonom, individuell und durchaus kontrovers, wie man an diskutierten Entscheidungen örtlicher Tafeln immer wieder ablesen kann. Tafel-Arbeit ist vielfältig, unterschiedlich und in Form und Inhalt immer auch ambivalent. Das lässt viele Gestaltungsräume für die Arbeit vor Ort, führt allerdings auch dazu, dass die Organisation sehr heterogen und komplex ist. Große und kleine Tafeln, die Arbeit in bevölkerungsdichten Gebieten oder Flächenländern, arme und reiche Bundesländer, viele und wenige Ehrenamtliche – das sind besondere, immer auch örtlich bedingte Herausforderungen der täglichen Arbeit. In einzelnen Bundesländern gibt es zudem schon jetzt kommunale Träger, die die Miete für Räumlichkeiten der Tafeln übernehmen und somit konkret unterstützen.

Ähnlich vielfältig ist der Umgang mit großen Konzernen. Kritikerinnen werfen den Tafeln vor, dass sie mit den vermeintlichen Mitverursachern der Misere, also Handelsunternehmen vor allem aus dem Lebensmittelbereich, kooperieren. Und zwar nicht nur in der Form, dass Lebensmittelspenden gesammelt werden, sondern auch Geld- und Sachspenden angenommen werden. Ist das eine paradoxe Form des sozialen »Greenwashings«, wie Kritiker es beschreiben, oder doch ernsthaftes gesellschaftliches Interesse? Oder erhöhen Tafeln mit ihren Möglichkeiten, ihrer öffentlichen Wahrnehmung, ihrem Handeln gegebenenfalls sogar den Druck auf die Unternehmen, aus ökologischen und/oder wirtschaftlichen Gründen Überschüsse weiter zu reduzieren? Können wir guten Gewissens mitmachen, wenn einzelne Konzerne, die in der Öffentlichkeit durchaus kritisch gesehen werden, ihre Tafel-Unterstützung werbewirksam darstellen würden? Wer soll mittelfristig die Kosten eines solchen bürgerschaftlichen Engagements tragen, das sich mit einem so sensiblen und kostenintensiven Thema wie Lebensmittelrettung befasst? Muss Unterstützung nicht doch auf andere, mehrere Schultern verteilt werden und trotzdem auch immer aus dem Bereich Lebensmittelhandel kommen? Fragen über Fragen ...

WENN WIR UNS AUF DIE FÖRDERUNG SEITENS DER POLITIK BESCHRÄNKEN, MACHEN WIR UNS ABHÄNGIG VON WECHSELNDEN MEHRHEITEN. DESHALB SIND GROSSSPENDEN VON UNTERNEHMEN SO WICHTIG.

Sabine Werth

Die Antwort der Berliner Vorsitzenden kommt prompt. Sie kennt diese Argumentation aus unzähligen Diskussionsrunden, Podien und Konferenzen, auf denen sie die Arbeit der Tafeln vorstellte. »Ja, natürlich ist es ein Stück weit paradox. Aber wenn wir uns ausschließlich auf die Förderung seitens der Politik beschränken, machen wir uns abhängig, weil wechselnde politische Mehrheiten immer wieder zu Finanzierungslücken führen können. Genau das ist vor nicht allzu langer Zeit bei einer Tafel im Osten passiert. Deshalb sind Großspenden von Unternehmen so wichtig. Für die Unternehmen ist das natürlich eine Form des Greenwashings, aber solange wir so viele Vorteile davon haben, kann ich das ausblenden.« Gleichzeitig betont sie, dass der Verband weiterhin in der Bevölkerung etabliert sein muss, und setzt auf die breite Unterstützung von Klein- und Kleinstspendern, die 2,75 oder 10 Euro geben. Wenn viele Menschen nur wenig geben, summiert sich das am Ende des Jahres zu einer gewaltigen Summe.

Ich komme noch einmal auf die Politik zu sprechen. Es gibt kritische Stimmen, die sagen, dass wir uns als Tafeln zwar engagieren, aber nicht politisch und gesellschaftlich positionieren sollten. Andere wiederum werfen den Tafeln vor, dass sie mit ihrer Arbeit den Staat von seiner Verantwortung entbinden. Ich bin anderer Meinung und denke, dass wir uns auf jeden Fall gesellschaftspolitisch einbringen und Themen wie Armut, Lebensmittelverschwendung und Ehrenamt in die Öffentlichkeit tragen müssen. Gleichzeitig wehre ich mich gegen die strikte Trennung der Begriffe »die Wirtschaft«, »die Politik« und »der Staat«. Dies sind ja keine voneinander losgelösten Gruppen. Sie sind Teil der Gesellschaft, in der wir alle leben – von der wir leben.

ALS EHRENAMTLICHE SIND WIR NIEMANDEM VERPFLICHTET. DENNOCH WÄRE ES STRÄFLICH, WENN WIR UNS NICHT ZU POLITISCHEN UND GESELLSCHAFTLICHEN THEMEN ÄUSSERN WÜRDEN.

Sabine Werth

»Wir machen das hier in Berlin alles ehrenamtlich«, sagt Sabine Werth, die genau für dieses ehrenamtliche Engagement 2003 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet wurde. »Und als Ehrenamtliche dürfen wir alles machen und sind niemandem verpflichtet. Aber so groß, wie wir inzwischen geworden sind, wäre es sträflich, wenn wir uns nicht immer wieder zu politischen und gesellschaftlichen Themen äußern würden.«

Auf die häufig vorgetragene Kritik, die Tafeln würden staatliche Aufgaben übernehmen und die Armut im Land verwalten, reagiert sie inzwischen etwas resigniert. Oder gelangweilt. »Ich verstehe die Tafeln als einen Finger in der Wunde. Das sage ich seit fünfundzwanzig Jahren. Wir weisen auf Notwendigkeiten hin. Wir zeigen, wo gehandelt werden muss. Natürlich beseitigen wir keine Armut. Dafür sind wir auch nicht angetreten. Wir lindern Armut. Und selbst das nicht umfassend. In Berlin haben wir 750.000 Bedürftige. Über unsere Ausgabestellen erreichen wir lediglich 50.000 Menschen. Das ist nur ein Bruchteil. Die Mehrheit kommt gar nicht zur Tafel.«

Bei solch einer großen Zahl an Bedürftigen stellt sich natürlich die Frage, an welcher Stelle im Sozialsystem es hakt. Sehr häufig wird die Hartz- IV-Reform unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder als Ursprung allen Übels genannt. Bis heute hadern die Sozialdemokraten mit dieser Reform. Ich möchte von Sabine Werth wissen, was sie den politischen Entscheidern ins Stammbuch schreiben würde.

»Ich denke, die Politik muss verstärkt ihre eigenen Hausaufgaben machen und sich um die Sachen kümmern, für die sie zuständig sind. Die Tafeln haben eine Nähe zur Politik, und mir gefällt es, wenn Politiker die Arbeit wertschätzen, die wir leisten. Aber sie dürfen nicht vergessen, dass sie selbst etwas tun müssen. Frau Nahles in der Arbeitsmarktpolitik, Frau Giffey in der Familienpolitik. Statt sich in parteipolitischen Grabenkämpfen zu verlieren, sollten sie mal schauen, was sie eigentlich für einen Auftrag von den Wählern bekommen haben.«

An der Arbeitsmarktreform lässt sie erwartungsgemäß kaum ein gutes Haar: »Mit der Einführung von Hartz-IV haben sich alle sozialen Themen polarisiert und wir haben seitdem ganz andere Diskussionen. Vor der Einführung hatten die Menschen noch die Vorstellung, dass es so etwas wie eine soziale Hängematte gibt. Dass das Sozialsystem funktioniert. Danach hatten aber viele das Gefühl, dass sie durch die Maschen dieser Hängematte gefallen sind. Das Gefühl der Sicherheit ging verloren. Heute ist ein Mensch ab einem bestimmten Zeitpunkt Hartz-IV-Empfänger. Und Hartz-IV ist unterste Schicht. Das muss auf jeden Fall modifiziert werden. Als Allererstes müsste der Name weg, selbst wenn das System bliebe. Das hat inzwischen einen falschen Klang.«

ICH VERSTEHE DIE TAFELN ALS EINEN FINGER IN DER WUNDE. WIR WEISEN AUF NOTWENDIGKEITEN HIN. NATÜRLICH BESEITIGEN WIR KEINE ARMUT. WIR LINDERN ARMUT.

Sabine Werth

Man hört einen gewissen Zorn in der Antwort der studierten Sozialpädagogin. Und Zorn ist manchmal nicht die schlechteste Motivation, um Dinge zu verändern und die Welt ein wenig besser zu gestalten. Doch seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass Zorn und Empörung vielfach zum bloßen Selbstzweck verkommen. Auf das Anprangern von Missständen folgt nur selten eine Verhaltensänderung oder der Wunsch nach konstruktivem Dialog. Beim heutigen Blick in Zeitung und soziale Medien hatte ich wieder mal das Gefühl, dass alles in diesem Land schlecht ist: Die Bahn, die Flughäfen, die Dieselautos beweisen es doch. Es ist offenbar schlecht bestellt um dieses Deutschland. Und es sind immer die anderen, die schuld sind.

Dabei verlieren wir mehr und mehr den Blick für die guten Dinge in unserer Gesellschaft. Man könnte manchmal meinen, es grenze fast an ein Wunder, dass wir noch Licht und fließendes Wasser haben. Sogar Menschen, die sich für gute Dinge engagieren wollen, werden beschimpft oder für ihr Engagement kritisiert, wie die jungen Menschen, die sich für das Klima einsetzen.

Ich nenne dieses Jammern und Nörgeln gern »Entrüstungspopulismus«. Gefühlt klagt jeder immer irgendetwas an, und politische Entscheiderinnen oder solche, die es gerne werden wollen, stimmen oft genug aus wahltaktischen Gründen in diesen Chor mit ein. Dabei leben wir in einem »gesegneten« Land, das sich zwar nicht auf Erreichtem ausruhen darf, aber gleichzeitig auch wieder neu wahrnehmen muss, was es hat. Die 60.000 Ehrenamtlichen der Tafeln sind beispielsweise nur ein Bruchteil einer unfassbar großen Menge von Menschen, die sich in Sportvereinen, kirchlichen Gemeinden, bei der freiwilligen Feuerwehr, im Hospiz oder Stadtteilinitiativen engagieren und unsere Gesellschaft unschätzbar bereichern. Würdigen wir so etwas doch endlich!

Sabine Werth lacht: »Entrüstungspopulismus gefällt mir gut.« Sie schlägt eine Brücke von der Wut hin zum wachsenden Populismus in der Welt. »Ich empfinde das ganz genauso und habe manchmal das Gefühl, dass sich alle über alles empören. Da wird eine Welle losgetreten, auf der dann alle mitschwimmen. Und das sehe ich als großes Problem. Wir haben eine aufblühende AfD, die in Brandenburg bei der Wahl im Mai 2019 als stärkste Partei das Rennen machen könnte. Wir haben in ganz Europa, in der ganzen Welt einen extremen Rechtsruck. Wenn ich nach Nordkorea und Russland schaue, in die USA und in die Türkei, da wird mir schlecht. Und gleichzeitig haben wir hier im Land eine Bevölkerung, die zunehmend unzufrieden ist und empfänglich für jeglichen Populismus wird. Es ist ja nicht nur ein Schlechtreden, es ist einfach auch jede Menge Dummschwätzerei dabei. Das geht mir auf die Nerven und ich versuche zumindest in meinem direkten Umfeld etwas dagegenzusteuern.«

Allein in Berlin gibt es 45 Ausgabestellen, berichtet die Vorsitzende. Und ebenso vielfältig wie die Kundschaft sind auch die Ehrenamtlichen. »Wenn ich höre, was dort teilweise von sich gegeben wird, das ist Pegida in Reinkultur«, sagt Sabine Werth. Doch Schwarz-Weiß-Denken hilft in solchen Fällen nicht weiter. Es geht immer nur im Dialog. »Wir stehen natürlich im direkten Kontakt mit den Stellen vor Ort und versuchen, andere Umgangsformen zu etablieren.«

Was Sabine Werth sagt, passt in mein eigenes Bild der Tafeln. Sie sind nicht nur Lebensmittelretterinnen und Armutslinderer, sie sind auch Orte der Begegnung. Hier trifft die Lehrerin auf die Sozialhilfeempfängerin und der pensionierte Beamte vom Oberlandesgericht auf den geflüchteten Syrer. Und manchmal eben auch der Wutbürger auf den Refugees-Welcome-Aktivisten. Man redet heute ja oft von Filterblasen, in denen sich die Menschen befinden und die sie vor scheinbar falschen Meinungen von außerhalb schützen. Ist es nicht eigentlich toll, weil man im Dialog bleibt? Meiner Meinung nach bräuchte es wieder mehr Orte außerhalb des Internets, an denen die Meinungen aufeinandertreffen!

EINE ÄLTERE DAME KOMMT UM 14:00 UHR IN DIE AUSGABESTELLE UND SAGT ZU MIR: »SIE SIND DER ERSTE MENSCH, MIT DEM ICH HEUTE REDE.«

Sabine Werth