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Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch – Bestseller-Autor Michael J. Sandel erklärt, warum Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird erschreckend deutlich, dass das Gemeinwohl in unseren Gesellschaften in den letzten Jahren an Bedeutsamkeit verloren hat. Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD – das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel sieht die Ursache dafür in der Tyrannei der Leistungsgesellschaft. Wer hat in unserer Gesellschaft Erfolg – und warum? Unter dem gesellschaftlich unumstrittenen Mantra »Wer hart arbeitet, kann alles erreichen« haben wir gelernt zu glauben, dass jeder genau das hat, was er verdient. Die Profiteure und Nutznießer dieses Systems, das Erfolg auf Leistung und Talent zurückführt, gehen darum davon aus, dass sie ihren Erfolg verdienen, dass er ihnen zusteht, eben weil sie sich angestrengt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen, die am System scheitern, selbst Schuld sind. Die Hybris der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest, dessen Zeugen wir aktuell weltweit sind. Im Kern zielt der Unmut gegenüber den Eliten auf eine Kritik an der Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Kritik ist berechtigt. Seit Jahrzehnten nimmt die Ungleichheit in den demokratischen Gesellschaften zu, Verlierer und Gewinner des Systems entfernen sich sowohl auf sozialer als auch auf finanzieller Ebene immer weiter voneinander. Statt an einer trennenden Ethik des Erfolgs festzuhalten, müssen wir an einer Politik des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit arbeiten, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt. »Michael Sandel: Der Meister für die großen Fragen des Lebens« Andrew Anthony, »The Guardian« »Wir sollten die Würde der Arbeit erneuern und sie in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es bei der Arbeit nicht nur darum geht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass es auch darum geht, zum Gemeinwohl beizutragen und dafür Anerkennung zu bekommen.« Michael J. Sandel im TED-Talk zu »Vom Ende des Gemeinwohls«
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2020
Michael J. Sandel
Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt
Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch – Michael J. Sandel erklärt, warum
Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD – das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Die großen Parteien müssen sich verändern und die Bürger ernst nehmen. Deren Protest richtet sich nicht nur gegen Einwanderung, Outsourcing oder sinkende Löhne – er wehrt sich gegen die Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Klage ist berechtigt. Denn das Versprechen, harte Arbeit führe zum Erfolg, wurde nicht eingelöst. Stattdessen ist unsere Gesellschaft gespalten in Gewinner und Verlierer, die keine Solidarität kennen. Michael Sandel fordert eine Politik des Gemeinwohls, die Gerechtigkeit und Wertschätzung als Grundlagen einer modernen Gesellschaft anerkennt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt.
Helmut Reuter, geboren 1946, arbeitet seit 1995 als freier Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Neben den Werken Michael J. Sandels hat er u.a. Bücher von John Hands, Lawrence M. Krauss oder Niall Ferguson übersetzt. Er lebt in der Nähe von München.
[Widmung]
Prolog
Einführung: Reinkommen
1 Gewinner und Verlierer
2 »Groß, weil gut«: Eine kurze Moralgeschichte von Leistung und Verdiensten
3 Das Gerede vom Aufstieg
4 Kredentialismus: Das letzte akzeptable Vorurteil
5 Die Ethik des Erfolgs
6 Der Ausleseapparat
7 Arbeit anerkennen
Schluss: Leistung und das Gemeinwohl
Danksagung
Personen- und Sachregister
Für Kiku, in Liebe
Als 2020 die Coronavirus-Pandemie zuschlug, waren die USA wie viele andere Länder nicht vorbereitet. Obwohl es im Jahr zuvor Warnungen von Experten für öffentliche Gesundheit wegen der Gefahr einer globalen Virusansteckung gegeben hatte, und selbst als China im Januar mit dem dortigen Ausbruch kämpfte, waren die USA nicht in der Lage, die ausgedehnten Tests durchzuführen, mit denen man die Krankheit vielleicht hätte eindämmen können. Als dann die Ansteckung um sich griff, sah sich das reichste Land der Welt außerstande, auch nur adäquate Gesichtsmasken und andere Schutzkleidung bereitzustellen, die vom medizinischen Personal benötigt wurden, um die Flut der infizierten Patienten zu behandeln. Kliniken und die Verwaltungen der Bundesstaaten versuchten vergebens, eine ausreichende Zahl lebensrettender Atemgeräte zu beschaffen.
Diese mangelhafte Vorbereitung hatte mehrere Ursachen. Präsident Donald Trump ignorierte die Warnungen der Gesundheitsberater, spielte die Krise mehrere entscheidende Wochen lang herunter und behauptete noch Ende Februar: »Wir haben das sehr gut unter Kontrolle … Wir haben Unglaubliches geleistet … Es wird wieder verschwinden.« Die Zentren für Krankheitskontrolle und Vorbeugung (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) verteilten anfangs fehlerhafte Testkits und fanden dafür nur langsam eine Lösung. Und Jahrzehnte des Auslagerns durch amerikanische Unternehmen hatten die USA bei der Produktion von chirurgischen Masken und medizinischem Gerät in eine fast vollständige Abhängigkeit von chinesischen und anderen ausländischen Herstellern gebracht.[1]
Die mangelnde logistische Vorbereitung war die eine Seite, daneben war das Land aber auch moralisch nicht für die Pandemie gerüstet. Die Jahre bis zur Krise waren eine Zeit tiefer Spaltung – wirtschaftlich, kulturell und politisch. Jahrzehnte zunehmender Ungleichheit und kultureller Feindseligkeit hatten 2016 zu einer populistischen Gegenreaktion und zur Wahl Trumps geführt. Kurz nachdem dieser ein Amtsenthebungsverfahren hinter sich gebracht hatte, ohne sein Amt zu verlieren, fand er sich als oberster Lenker inmitten der schwersten Krise wieder, der das Land seit den terroristischen Attacken vom 11. September 2001 gegenüberstand. Die parteiische Spaltung bestand weiter, während die Krise sich verschärfte. Wenige Republikaner (29 Prozent) trauten den Nachrichtenmedien zu, dass sie verlässliche Informationen zum Coronavirus lieferten; wenige Demokraten (19 Prozent) trauten den Informationen, die Trump lieferte.[2]
Mitten in den Hader und das Misstrauen der Parteien platzte eine Seuche, die jene Art von Solidarität erfordert, zu der außerhalb von Kriegszeiten nur wenige Gesellschaften aufrufen können. Menschen in aller Welt wurden beschworen und in vielen Fällen angewiesen, Distanz zu ihren Mitmenschen zu wahren, die Arbeit einzustellen und zu Hause zu bleiben. Diejenigen, die nicht im Homeoffice arbeiten konnten, sahen sich mit ausfallenden Lohnzahlungen und verschwindenden Jobs konfrontiert. Die größte Gefahr stellte das Virus für Menschen fortgeschrittenen Alters dar, doch es konnte auch junge Leute treffen, und sogar diejenigen, die es unbeschadet überstehen konnten, hatten Eltern und Großeltern, um die sie sich sorgten.
Moralisch gesehen wurden wir von der Pandemie an unsere Verwundbarkeit und wechselseitige Abhängigkeit erinnert: »Wir sitzen alle im selben Boot«. Nach diesem Schlagwort griffen Amtsträger und Berater instinktiv. Doch die damit heraufbeschworene Solidarität war eine Solidarität der Furcht, einer Furcht vor Ansteckung, die eine »soziale Distanzierung« erforderte. Die öffentliche Gesundheit verlangte von uns, dass wir unsere Solidarität, unsere gemeinsame Verletzlichkeit dadurch zum Ausdruck brachten, dass wir Abstand hielten und die Einschränkungen der Selbstisolierung befolgten.
Im Kontext der Pandemie war die Koinzidenz von Solidarität und Trennung sinnvoll. Abgesehen vom heroischen medizinischen Personal und den Rettungsdiensten, deren Hilfe für die Betroffenen physische Anwesenheit notwendig machte, von den Kassenkräften in Supermärkten und den Beschäftigten der Lieferdienste, die ihre Gesundheit riskierten, um Lebensmittel und andere Vorräte zu denen zu bringen, die zu Hause Zuflucht suchten, sagte man den meisten von uns, wir würden unsere Mitmenschen am besten dadurch schützen, dass wir uns von ihnen fernhielten.
Doch das moralische Paradoxon der Solidarität durch Separation verdeutlichte, dass die Behauptung, wir säßen »alle im selben Boot«, ein wenig hohl klingt. Sie beschreibt keinen Gemeinsinn, der sich in einer fortwährenden Praxis wechselseitiger Verpflichtung und gemeinsamen Opfern ausdrückt. Im Gegenteil – die Behauptung trat zu einer Zeit fast beispielloser Ungleichheit und parteiischen Haders auf. Genau jenes marktgetriebene Projekt der Globalisierung, das die USA ohne Zugang zur heimischen Herstellung von chirurgischen Masken und Medikamenten zurückgelassen hatte, hatte eine sehr große Zahl von Arbeitskräften ihrer gutbezahlten Jobs und sozialer Wertschätzung beraubt.
Gleichzeitig waren diejenigen, die die wirtschaftliche Beute der globalen Märkte, Lieferketten und Kapitalflüsse an sich rissen, immer weniger von ihren Mitbürgern abhängig, sowohl als Produzenten wie als Konsumenten. Ihre ökonomischen Aussichten und Identitäten waren nicht mehr an lokale oder nationale Gemeinschaften geknüpft. Indem die Gewinner der Globalisierung sich so von den Verlierern absetzten, praktizierten sie ihre eigene Art der sozialen Distanzierung.
Die entscheidende politische Trennung, erklärten die Gewinner, beziehe sich nicht mehr auf links gegen rechts, sondern auf offen gegen geschlossen. In einer offenen Welt hängt Erfolg von Bildung ab – man muss sich selbst dafür rüsten, in einer globalen Wirtschaft konkurrieren und siegen zu können. Die Staaten müssen also gewährleisten, dass alle die gleiche Chance auf eine Ausbildung bekommen, von der ihr Erfolg abhängt. Damit einhergeht aber, dass diejenigen, die an der Spitze landen, zu der Überzeugung gelangen, sie hätten ihren Erfolg verdient. Und wenn die Chancen wirklich gleich sind, heißt das, dass diejenigen, die zurückgelassen werden, ihr Schicksal ebenso verdient haben.
Diese Art des Erfolgsdenkens macht es einem schwer zu glauben, dass wir »alle im selben Boot sitzen«. Es lädt die Gewinner ein, ihren Erfolg auf die eigene Arbeit zurückzuführen, während die Verlierer den Eindruck bekommen, dass die an der Spitze mit Verachtung auf sie herabschauen. Das erklärt zum Teil, warum diejenigen, die von der Globalisierung zurückgelassen wurden, wütend und verärgert reagierten, und warum sie sich zu autoritären Populisten hingezogen fühlten, die gegen die Eliten schimpfen und versprechen, die Landesgrenzen wieder mit aller Macht zu verteidigen.
Jetzt sind es genau diese politischen Figuren, die trotz ihres Argwohns gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und globaler Kooperation die Pandemie eindämmen müssen. Das wird nicht leicht werden. Denn um die gegenwärtige globale Krise des öffentlichen Gesundheitswesens bewältigen zu können, brauchen wir nicht nur medizinische und wissenschaftliche Expertise, sondern auch eine moralische und politische Erneuerung.
Die toxische Mischung aus Überheblichkeit und Verbitterung, die Trump an die Macht gebracht hat, ist sehr wahrscheinlich keine allzu gute Quelle für die jetzt notwendige Solidarität. Jede Hoffnung auf eine Erneuerung unseres moralischen und gesellschaftlichen Lebens hängt davon ab, dass wir verstehen, wie unsere sozialen Bindungen und der Respekt füreinander im Lauf der letzten vier Jahrzehnte zunichtegemacht worden sind. Mit diesem Buch möchte ich erklären, wie es dazu kam, und erwägen, wie wir den Weg zu einer Politik des Gemeinwohls finden können.
31. März 2020
Brookline, Massachusetts
Im März 2019, als Schüler der High Schools auf die Ergebnisse ihrer Uni-Bewerbungen warteten, veröffentlichten Bundesanwälte eine erstaunliche Bekanntmachung. Sie klagten 33 wohlhabende Eltern an, sich auf ein ausgeklügeltes Betrugssystem eingelassen zu haben, damit ihre Kinder bei Elite-Universitäten angenommen wurden, darunter Yale, Stanford, Georgetown und die University of Southern California.[1]
Im Zentrum des Schwindels stand ein skrupelloser Berater für College-Zulassungen namens William Singer. Er leitete eine Firma, die sich um ängstliche, betuchte Eltern kümmerte. Singers Unternehmen war darauf spezialisiert, das stark auf Wettbewerb ausgelegte Zulassungssystem der Universitäten zu manipulieren, das in den letzten Jahrzehnten zum wichtigsten Tor zu Wohlstand und Ansehen geworden war. Für Schüler, denen die von den Spitzen-Unis verlangten astronomischen Qualifikationen fehlten, entwickelte Singer unlautere Umgehungsmöglichkeiten – er bezahlte die Prüfer von Tests wie SAT und ACT dafür, die Antwortbögen von Schülern zu korrigieren und so deren Ergebnisse zu verbessern, bestach Trainer, Bewerber zu angeworbenen Sportlern zu erklären, auch wenn die Schüler den Sport gar nicht ausübten. Er lieferte gefälschte Sportzeugnisse und kopierte die Gesichter von Bewerbern mittels Photoshop in Aufnahmen aktiver Athleten.
Singers gesetzwidriger Zulassungsdienst war nicht billig. Der Vorsitzende einer angesehenen Anwaltskanzlei bezahlte 75000 Dollar dafür, dass seine Tochter an einem Universitäts-Eintrittsexamen teilnehmen konnte. Das betreffende Testzentrum wurde von einem Prüfer beaufsichtigt, den Singer dafür bezahlte, dass die Schülerin die erforderliche Note auch bekam. Eine Familie bezahlte Singer 1,2 Millionen Dollar, damit ihre Tochter als Anwärterin für die Fußballmannschaft von Yale angenommen wurde, obwohl sie mit Fußball nichts zu tun hatte. 400000 Dollar der Summe verwendete Singer, um den gefälligen Trainer zu bestechen, der ebenfalls angeklagt wurde. Eine Fernsehschauspielerin und ihr Mann, ein Modedesigner, bezahlten Singer 500000 Dollar dafür, dass er ihren beiden Töchtern die Aufnahme als fingierte Anwärterinnen für die Rudermannschaft der University of Southern California ermöglichte. Eine andere prominente Persönlichkeit, die durch ihre Rolle in der Serie Desperate Housewives bekannte Schauspielerin Felicity Huffman, ergatterte irgendwie einen Sonderpreis: Für nur 15000 Dollar ließ Singer die SAT-Ergebnisse ihrer Tochter manipulieren.[2]
Insgesamt nahm Singer innerhalb der acht Jahre, in denen er seinen Schwindel mit den Uni-Zulassungen betrieb, 25 Millionen Dollar ein.
Der Skandal löste allgemeine Empörung aus. In einer Zeit der Polarisierung, in der die Amerikaner sich kaum auf irgendetwas einigen konnten, wurde er über das gesamte politische Spektrum hinweg in allen Medien porträtiert und verurteilt – auf Fox News und MSNBC, im Wall Street Journal und in der New York Times. Alle waren sich einig, dass es verwerflich sei, die Aufnahme an Elite-Universitäten durch Bestechung und Betrug zu erlangen. Doch die Entrüstung brachte noch etwas anderes zum Ausdruck, etwas, das tiefer reichte als der Ärger über privilegierte Eltern, die illegale Mittel nutzten, um ihren Kindern den Zugang zu prestigeträchtigen Unis zu verschaffen. Auf eine Weise, die nur schwer in Worte zu fassen war, handelte es sich um einen sinnbildlichen Skandal: Einen, der weitaus größere Fragen zu dem Thema aufwarf, wer warum vorankommt.
Die Empörung äußerte sich zwangsläufig in politisch unterschiedlich gefärbten Aussagen. Stellvertreter von Präsident Trump nutzten Twitter und Fox News, um die in den Schwindel verstrickten Liberalen Hollywoods anzuprangern. »Schaut euch an, wer diese Leute sind«, höhnte Lara Trump, eine Schwiegertochter des Präsidenten, auf Fox. »Die Eliten Hollywoods, die liberalen Eliten, die immer über Gleichheit für alle geredet haben, und dass jeder eine faire Chance bekommen sollte, sie sind die größten Heuchler von allen: Sie schreiben Schecks aus, um zu betrügen und ihre Kinder in diese Schulen zu kriegen – wo die Studienplätze doch eigentlich an die Kinder gehen sollten, die sie wirklich verdienen.«[3]
Die Liberalen ihrerseits stimmten zwar zu, dass der Betrug qualifizierten Kindern die Plätze vorenthielt, die sie verdienten. Sie sahen darin jedoch eher ein eklatantes Beispiel einer viel weiter verbreiteten Ungerechtigkeit: Der generellen Rolle von Reichtum und Privilegien bei der Uni-Zulassung, auch wenn nichts Ungesetzliches daran beteiligt war. Bei der Verkündung der Anklage erklärte der Staatsanwalt, welcher Grundsatz hier auf dem Spiel stand: »Es darf kein separates Zulassungssystem für Reiche geben.«[4] Doch Leitartikler und Kommentatoren wiesen schnell darauf hin, dass bei der Vergabe von Studienplätzen regelmäßig Geld im Spiel sei – am auffälligsten bei der besonderen Berücksichtigung, die Kindern von Alumni und großzügigen Spendern an vielen amerikanischen Universitäten zuteilwürde.
Als Reaktion auf die Versuche von Trump-Anhängern, liberalen Eliten die Schuld an dem Zulassungsskandal zuzuschieben, veröffentlichten Liberale Berichte, wonach Jared Kushner, der Schwiegersohn des Präsidenten, trotz bescheidener Noten in Harvard angenommen worden war, nachdem sein Vater, ein reicher Immobilienentwickler, der Universität 2,5 Millionen Dollar gespendet hatte. Trump selbst soll der Wharton School an der University of Pennsylvania angeblich 1,5 Millionen Dollar gespendet haben, als seine Kinder Donald Jr. und Ivanka die Business School besuchten.[5]
Singer, der Kopf des Schwindels, bestätigte, dass eine große Spende manchmal dafür sorgt, einem gering qualifizierten Bewerber einen Zugang durch die »Hintertür« zu verschaffen. Seine eigene Technik, die er als »Seiteneingang« bezeichnete, sah er daher lediglich als kostengünstige Alternative. Seinen Kunden sagte er, die übliche Hintertür sei »zehnmal so teuer« wie sein Betrugssystem, und dazu auch noch unzuverlässiger. Eine große Spende für eine Uni biete keine Garantie für einen Studienplatz – sein Seiteneingang mit Bestechungsgeldern und falschen Prüfungsergebnissen dagegen schon. »Meine Familien wollen eine Garantie«, erklärte er.[6]
Auch wenn Geld sowohl Zulassungen durch die Hintertür als auch durch den Seiteneingang erkaufen kann, sind diese beiden Zugangsformen moralisch gesehen nicht identisch. Zunächst einmal ist die Hintertür legal, was für den Seiteneingang nicht zutrifft, wie der Staatsanwalt betonte: »Wir reden hier nicht über die Spende für ein Gebäude, damit Ihr Sohn oder Ihre Tochter mit höherer Wahrscheinlichkeit von einer Uni angenommen wird. Wir reden von Täuschung und Betrug, von gefälschten Prüfungsnoten, gefälschten Sportbescheinigungen, gefälschten Fotos und bestochenen Universitätsangestellten.«[7]
Mit ihren Anklagen gegen Singer, seine Kunden und die bestechlichen Trainer erklärten die Bundesanwälte den Universitäten nicht, dass sie keine Plätze für Studienanfänger verkaufen durften; sie zerschlugen lediglich ein betrügerisches Netzwerk. Abgesehen von der Legalität unterscheiden sich die Hintertür und der Seiteneingang aber noch in einem anderen Punkt: Wenn Eltern ihren Kindern den Studienplatz durch eine große Spende erkaufen, geht das Geld an die Uni, die es dafür verwenden kann, die für alle angebotene Ausbildung zu verbessern. Bei Singers Masche geht das Geld an Dritte, weshalb der Universität wenig oder gar nicht geholfen ist. (Zumindest eine der von Singer bestochenen Personen, der Segeltrainer in Stanford, verwendete das Bestechungsgeld anscheinend zur Unterstützung des Segelprogramms. Andere steckten das Geld in die eigene Tasche.)
Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit kann man jedoch nur schwer zwischen der Hintertür und dem Seiteneingang unterscheiden. Beide verschaffen den Kindern wohlhabender Eltern einen Vorteil, weil sie anstelle von besser qualifizierten Bewerbern angenommen werden. Beide ermöglichen es dem Geld, sich über Leistung und Verdienst hinwegzusetzen.
Eine Zulassung aufgrund von Leistung definiert den Zugang durch die Vordertür. Mit Vordertür ist – in Singers Worten – gemeint, dass man es »aus eigener Kraft schafft«. Diesen Zugangsweg halten die meisten Menschen für fair; Bewerber sollten aufgrund der eigenen Leistung und nicht wegen des Geldes der Eltern angenommen werden.
In der Praxis ist es selbstverständlich nicht ganz so einfach. Denn Geld schwebt sowohl über der Vordertür als auch über der Hintertür. Maßstäbe für Leistung sind nur schwer von wirtschaftlichem Vorteil abzulösen. Standardtests wie der SAT geben vor, die Leistung als solche zu messen, so dass Schüler mit bescheidenem Hintergrund ihre intellektuellen Fähigkeiten demonstrieren können. In Wahrheit spiegeln SAT-Noten das Familieneinkommen jedoch recht genau wider. Je reicher die Familie eines Schülers ist, desto höher ist die Bewertung, die er oder sie wahrscheinlich bekommen wird.[8]
Wohlhabende Eltern melden ihre Kinder nicht nur bei Vorbereitungskursen für den Test an, sie stellen auch private Zulassungsberater ein, um ihre Bewerbungen aufzupolieren, schreiben sie für Tanz- und Musikstunden ein, lassen sie in Elite-Sportarten wie Fechten, Squash, Golf, Tennis, Rudern, Lacrosse und Segeln ausbilden, wodurch sie sich für die Aufnahme in Uni-Mannschaften qualifizieren können, und schicken sie an weit entfernte Orte, um gute Werke zu vollbringen und so zu zeigen, dass sie sich für die Unterdrückten einsetzen. All das gehört zu den kostspieligen Wegen, auf denen begüterte, anspruchsvolle Eltern ihren Nachwuchs für den Kampf um eine Zulassung rüsten.
Und dann gibt es noch die Studiengebühren. Sieht man von der Handvoll Unis ab, die reich genug sind, Studenten ungeachtet ihrer finanziellen Möglichkeiten aufzunehmen, werden bei allen anderen Colleges diejenigen, die keine finanzielle Hilfe brauchen, mit größerer Wahrscheinlichkeit angenommen als die bedürftigen Bewerber.[9]
Angesichts dieser Tatsachen überrascht es nicht, dass mehr als zwei Drittel der Studenten an den Unis der Ivy League aus den oberen 20 Prozent der Einkommensskala stammen; in Princeton und Yale kommen mehr Studenten aus dem obersten Prozent als aus den unteren 60 Prozent des Landes.[10] Diese erstaunliche Ungleichheit beim Zugang ist zum Teil auf Zulassungen von Kindern von Ehemaligen oder Großspendern zurückzuführen (die Hintertür), aber auch auf die Vorteile, die Kinder aus bessergestellten Familien durch die Vordertür befördern.
Kritiker sehen in dieser Ungleichheit einen Beleg dafür, dass das Hochschulwesen nicht die Leistungsgesellschaft ist, die es zu sein behauptet. Aus dieser Perspektive ist der Skandal bei den Uni-Zulassungen ein ungeheuerliches Beispiel für die weiter reichende, allgegenwärtige Unfairness, die verhindert, dass die höhere Bildung sich zu dem meritokratischen Grundsatz aufschwingt, den sie predigt.
Ungeachtet ihrer Differenzen teilen diejenigen, die den Betrugsskandal für eine schockierende Abweichung von der normalen Praxis der Studienplatzvergabe halten, und diejenigen, die ihn als Extrembeispiel einer bei den Uni-Zulassungen bereits vorherrschenden Tendenz betrachten, eine gemeinsame Voraussetzung: Studenten sollten von den Universitäten nicht aufgrund von Faktoren, die sie nicht selbst in der Hand haben, sondern wegen ihrer eigenen Fähigkeiten und Talente aufgenommen werden. Und sie stimmen zumindest implizit darin überein, dass diejenigen, die aufgrund ihrer Leistung reinkommen, sowohl ihre Zulassung als auch die daraus erwachsenden Vorteile verdient haben.
Falls diese verbreitete Ansicht zutrifft, liegt das Problem der Leistungsgesellschaft nicht in ihrem Prinzip, sondern an unserer Unfähigkeit, entsprechend zu leben. Die politische Debatte zwischen Konservativen und Liberalen bestätigt das. Unsere öffentlichen Auseinandersetzungen befassen sich nicht mit der Meritokratie selbst, sondern damit, wie sie zu erreichen ist. So meinen Konservative beispielsweise, dass eine Politik der sogenannten positiven Diskriminierung (»affirmative action«), die Hautfarbe und Ethnie als Faktoren bei der Zulassung berücksichtigt und Minderheiten bevorzugt behandelt, auf einen Verrat an den auf Leistung beruhenden Zulassungen hinausläuft. Liberale hingegen verteidigen das Vorgehen als Möglichkeit, bestehende Unfairness auszugleichen; sie meinen, eine wahre Meritokratie könne nur erreicht werden, wenn man die Privilegierten und die Benachteiligten unter gleichen Bedingungen antreten lasse.
Doch diese Debatte verkennt die Möglichkeit, dass das Problem mit der Meritokratie tiefer geht.
Sehen wir uns den Zulassungsskandal noch einmal an. Die Empörung konzentrierte sich zumeist auf den Betrug und die damit verbundene Unfairness. Ebenso beunruhigend sind jedoch die Einstellungen, die den Betrug überhaupt erst motivierten. Im Hintergrund des Skandals stand eine Ansicht, die uns inzwischen so vertraut ist, dass wir sie kaum noch bemerken – nämlich dass die Zulassung zu einer Elite-Universität eine höchst begehrte Auszeichnung sei. Der Skandal erregte nicht nur deshalb Aufmerksamkeit, weil Prominente und Moguln des Privatkapitals darin verwickelt waren, sondern auch, weil der Zugang, den sie sich erkaufen wollten, als Objekt fiebrigen Strebens so allgemein begehrt war.
Woran liegt das? Warum ist die Zulassung an einer prestigeträchtigen Universität zu einem so leidenschaftlich angestrebten Gut geworden, dass privilegierte Eltern betrügen, um ihre Kinder dort unterzubringen? Warum zahlen sie – knapp am Betrug vorbei – Zehntausende von Dollar an private Zulassungsberater und für Vorbereitungskurse, um die Chancen ihrer Kinder zu steigern? Warum verwandeln sie deren Jahre an der High School in einen von Stress erfüllten Spießrutenlauf aus Kursen auf College-Niveau, dem Aufbau eines beeindruckenden Lebenslaufs und einem von Druck geprägten Strebertum? Wieso hat die Zulassung zu Elite-Universitäten in unserer Gesellschaft eine derart herausragende Bedeutung erlangt, dass das FBI umfangreiche Ressourcen darauf verwenden muss, den Schwindel aufzudecken, der dann monatelang die Schlagzeilen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit beherrscht – von der Anklage bis zur Verurteilung der Übeltäter?
Die Zulassungsbesessenheit ist aus der in den letzten Jahrzehnten zunehmenden Ungleichheit hervorgegangen. Sie spiegelt die Tatsache wider, dass mittlerweile sehr viel mehr davon abhängt, wer wo reinkommt. Als die reichsten zehn Prozent sich von den anderen absetzten, wurde der Einsatz für den Besuch einer prestigeträchtigen Uni höher. Noch vor 50 Jahren war die Bewerbung für eine Universität weit weniger nervenaufreibend. Kaum 20 Prozent der Amerikaner absolvierten eine vierjährige Hochschulausbildung, und die jungen Leute neigten dazu, sich für Studienplätze in der Nähe ihres Wohnorts einzuschreiben. Uni-Ranglisten spielten eine geringere Rolle als heute.[11]
Als aber die Ungleichheit zunahm und die Einkommenslücke zwischen jenen mit einem Uni-Abschluss und jenen ohne Titel breiter wurde, stieg die Bedeutung der Universität, und in diesem Zuge auch die der Uni-Wahl. Heute suchen Schüler sich gewöhnlich die selektivste Uni aus, die sie aufnimmt.[12] Auch die elterliche Fürsorge hat sich verändert – insbesondere bei den Akademikern. Wenn die Einkommenslücke größer wird, wächst auch die Angst vor dem Absturz. Weil sie bestrebt sind, diese Gefahr abzuwenden, greifen Eltern intensiv in das Leben ihrer Kinder ein – sie verwalten ihre Zeit, überwachen ihre Noten, lenken ihre Aktivitäten und kuratieren ihre Uni-Qualifikationen.[13]
Diese Epidemie der Überfürsorge und der Helikopter-Eltern kam nicht aus dem Nichts. Sie ist eine ängstliche, aber verständliche Reaktion auf die zunehmende Ungleichheit und den Wunsch wohlhabender Eltern, ihrem Nachwuchs ein prekäres Leben in der Mittelklasse zu ersparen. Der Abschluss an einer namhaften Universität gilt inzwischen als vorrangiges Mittel des Aufstiegs für diejenigen, die aufsteigen wollen, und als sicherstes Bollwerk gegen den Abstieg für alle, die darauf hoffen, sich in den komfortablen Schichten verschanzen zu können. Diese Mentalität brachte panische, privilegierte Eltern dazu, sich auf den Betrug mit den Uni-Bewerbungen einzulassen.
Doch wirtschaftliche Ängste erklären nicht alles. Denn Singers Kunden kauften mehr als nur eine Absicherung gegen den Abstieg, sie kauften etwas, was weniger greifbar, aber dafür wertvoller ist. Indem sie ihren Kindern einen Platz an prestigeträchtigen Unis sicherten, kauften sie den geborgten Glanz der Leistung.
In einer Gesellschaft der Ungleichheit wollen diejenigen, die ganz oben landen, daran glauben, dass ihr Erfolg moralisch gerechtfertigt ist. In einer meritokratischen Gesellschaft heißt das, die Gewinner müssen glauben, dass sie ihren Erfolg aufgrund des eigenen Talents und harter Arbeit verdient haben.
Paradoxerweise wollten die betrügenden Eltern ihren Kindern genau das zum Geschenk machen. Wenn es ihnen nur darum gegangen wäre, ihren Kindern ein Leben im Wohlstand zu verschaffen, hätten sie ihnen Treuhandfonds schenken können. Doch sie wollten etwas anderes – das meritokratische Siegel, das durch die Zulassung an einer Elite-Uni verliehen wird.
Singer hatte das verstanden, als er erklärte, die Vordertür bedeute, dass man es »aus eigener Kraft schafft«. Seine Betrugsmethode war die zweitbeste Lösung. Aber wenn man aufgrund eines aufgehübschten SAT-Resultats oder erfundener Sportreferenzen angenommen wird, bedeutet das natürlich gerade nicht, dass man es aus eigener Kraft schafft. Deshalb verbargen die meisten Eltern ihre Machenschaften vor ihren Kindern. Denn eine Zulassung durch den Seiteneingang vermittelt nur dann dieselbe meritokratische Ehre wie die Zulassung durch die Vordertür, wenn der unredliche Zugang verborgen bleibt. Niemand ist stolz auf die Aussage: »Ich bin in Stanford aufgenommen worden, weil meine Eltern den Segeltrainer bestochen haben.«
Der Gegensatz zu einer auf Leistung beruhenden Zulassung scheint zunächst auf der Hand zu liegen. Diejenigen, die mit glänzenden und legitimen Referenzen zugelassen werden, sind auf ihre Leistung stolz und vertreten die Ansicht, sie seien aus eigener Kraft reingekommen. Doch das ist in gewisser Hinsicht irreführend. Es trifft zwar zu, dass ihre Zulassung Hingabe und harte Arbeit widerspiegelt, doch man kann nicht wirklich sagen, das sei allein ihr eigenes Werk. Was ist mit den Eltern und Lehrern, die ihnen unterwegs geholfen haben? Was ist mit Talenten und Begabungen, die sie nicht vollständig selbst entwickelt haben? Was ist mit dem glücklichen Umstand, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Talente, die sie zufällig haben, gefördert und belohnt werden?
Diejenigen, die sich in einer wettbewerbsorientierten Meritokratie aufgrund von Anstrengung und Talent durchsetzen, stehen auf eine Weise in der Schuld, die durch den Wettbewerb verdeckt wird. Wenn die Leistungsgesellschaft an Intensität gewinnt, werden wir durch unsere Bestrebungen so in Anspruch genommen, dass wir diese Dankesschuld aus den Augen verlieren. Insofern vermittelt selbst eine faire Leistungsgesellschaft ohne Betrug oder Bestechung oder Sondervorrechte für Reiche einen falschen Eindruck – nämlich den, dass wir es aus eigener Kraft geschafft haben. Die Jahre voller Mühe und Anstrengung, die den Bewerbern von Elite-Unis abverlangt werden, zwingen sie schon fast dazu zu glauben, ihr Erfolg sei ihr eigenes Werk, und falls sie scheitern, sei niemandem außer ihnen selbst ein Vorwurf zu machen.
Für junge Leute ist das eine schwere Bürde. Und sie wirkt zersetzend auf empfindliche Werte der Zivilgesellschaft. Denn je mehr wir uns für eigenverantwortlich und autark halten, desto schwieriger ist es, Dankbarkeit und Demut zu lernen. Doch ohne diese Empfindungen ist es so gut wie unmöglich, sich um das Gemeinwohl zu sorgen.
Die Uni-Zulassung ist nicht der einzige Anlass für Diskussionen über Leistung und Verdienst. In der Politik gibt es zurzeit eine Menge Debatten darüber, wer was verdient. An der Oberfläche geht es dabei um Fairness: Haben alle eine wirklich gleiche Chance im Wettbewerb um wünschenswerte Güter und gesellschaftliche Positionen?
Doch unsere Uneinigkeiten über Verdienste betreffen nicht nur die Fairness. Sie handeln auch davon, wie wir Erfolg und Scheitern definieren, Gewinnen und Verlieren – und von den Einstellungen, die Gewinner gegenüber denen einnehmen sollten, die weniger erfolgreich sind als sie selbst. Das sind höchst brisante Fragen, und wir versuchen sie so lange zu ignorieren, bis sie sich uns regelrecht aufdrängen.
Um einen Weg aus der polarisierten Politik unserer Tage finden zu können, brauchen wir eine Abrechnung mit Verdienst und Leistung. Wie ist die Bedeutung dieser Begriffe in den letzten Jahrzehnten umgeformt worden – so dass die Würde der Arbeit zersetzt wurde und viele Menschen mit dem Gefühl zurückgelassen wurden, die Eliten würden auf sie herabschauen? Ist die Überzeugung der Globalisierungsgewinner berechtigt, sie hätten sich ihren Erfolg erarbeitet und damit auch verdient, oder handelt es sich dabei um meritokratische Überheblichkeit?
In einer Zeit, in der die Wut auf Eliten die Demokratie an den Rand des Abgrunds geführt hat, gewinnt die Frage nach den Verdiensten eine besondere Dringlichkeit. Wir müssen klären, ob die Lösung für unsere zerrissene Politik darin besteht, noch vertrauensvoller nach dem Leistungsprinzip zu leben, oder ob wir nach einem Gemeinwohl jenseits der Auslese und des Wetteiferns Ausschau halten sollten.
Die Demokratie durchlebt gefährliche Zeiten. Die Gefahr wird erkennbar in zunehmender Fremdenfeindlichkeit und wachsender öffentlicher Unterstützung für autokratische Gestalten, die die Grenzen demokratischer Normen austesten. Diese Trends sind an sich schon beunruhigend. Ebenso alarmierend ist jedoch die Tatsache, dass Parteien und Politiker der Mitte anscheinend kaum verstehen, welche Unzufriedenheit die Politik in aller Welt in Aufruhr versetzt.
Manche prangern das Anschwellen des Populismus als wenig mehr denn eine rassistische, fremdenfeindliche Reaktion auf Immigranten und Multikulturalismus an. Andere betrachten ihn vorwiegend in ökonomischen Begriffen – als Protest gegen den Verlust von Arbeitsplätzen, den der globale Handel und neue Technologien mit sich bringen.
Es ist jedoch ein Fehler, in populistischen Protesten ausschließlich Engstirnigkeit zu sehen oder sie lediglich als ökonomische Vorwürfe zu verstehen. Wie der Triumph des Brexit im Vereinigten Königreich war auch die Wahl Donald Trumps ein wütendes Urteil gegen Jahrzehnte wachsender Ungleichheit und eine Version der Globalisierung, die nur denen dient, die ohnehin an der Spitze stehen, normale Bürger aber mit einem Gefühl von Machtlosigkeit zurücklässt. Ebenso stellte sie eine Zurückweisung eines technokratischen Politikansatzes dar, der taub ist für den Unmut von Menschen, die glauben, von der Wirtschaft und der Kultur fallen gelassen worden zu sein.
Die harte Wirklichkeit ist, dass Trump gewählt wurde, weil er eine Quelle von Ängsten, Frustrationen und legitimen Klagen angezapft hat, für die die etablierten Parteien keine überzeugenden Antworten hatten. Eine ähnliche Misere setzt den europäischen Demokratien zu. Ehe sie darauf hoffen können, die Unterstützung der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, müssen diese Parteien ihre Mission und ihren Zweck überdenken. Dafür sollten sie von den populistischen Protesten lernen, die sie verdrängt haben – nicht durch eine Nachahmung ihrer Fremdenfeindlichkeit und ihres strikten Nationalismus, sondern dadurch, dass sie die legitimen Klagen ernst nehmen, mit denen diese hässlichen Gefühle verschränkt sind.
Ein solches Denken sollte mit der Einsicht beginnen, dass diese Klagen nicht allein wirtschaftlicher, sondern auch moralischer und kultureller Natur sind; es geht hier nicht allein um Löhne und Arbeitsplätze, sondern auch um gesellschaftliche Wertschätzung.
Die etablierten Parteien und herrschenden Eliten, die sich als Zielscheibe populistischer Proteste wiederfinden, tun sich allerdings schwer, einen Sinn darin zu entdecken. Typischerweise verfallen sie auf einen von zwei Erklärungsansätzen – die beide etwas Entscheidendes vermissen lassen.
Die erste Diagnose erkennt in der populistischen Wut auf Eliten vor allem eine Gegenreaktion auf die zunehmende Diversität von Ethnien und Geschlechtsidentitäten. Die weißen, männlichen Wähler und Unterstützer Trumps aus der Arbeiterklasse, daran gewöhnt, die soziale Hierarchie zu dominieren, fühlen sich bedroht durch die Aussicht, in »ihrem« Land zur Minderheit, zu »Fremden im eigenen Land«, zu werden. Sie sehen sich – mehr als Frauen oder ethnische Minderheiten – als Opfer von Diskriminierung und fühlen sich durch die Forderungen nach einer »politisch korrekten« öffentlichen Debatte unterdrückt. Die Diagnose eines beschädigten sozialen Status stellt die hässlichen Merkmale der populistischen Stimmungslage in den Vordergrund – die von Trump und anderen populistischen Figuren zum Ausdruck gebrachte Betonung der Herkunft, die Frauenfeindlichkeit und den Rassismus.
Die zweite Diagnose führt die Stimmungslage der Arbeiterklasse auf die Desorientierung und die Verwerfungen zurück, die sich aus dem schnellen Wandel im Zeitalter der Globalisierung und Technologisierung ergeben. In der neuen Wirtschaftsordnung ist die Vorstellung der an eine lebenslange Karriere gebundenen Arbeit nicht mehr gültig; heutzutage kommt es auf Innovation, Flexibilität, Unternehmertum und die beständige Bereitschaft an, neue Fertigkeiten zu erlernen. Dieser Erklärung zufolge wehren sich viele Arbeiter dagegen, sich selbst neu erfinden zu müssen, während die Jobs, die sie einst hatten, in Niedriglohnländer ausgelagert oder an Roboter übergeben werden. Sie sehnen sich – fast schon nostalgisch – nach den stabilen Gemeinschaften und Karrieren der Vergangenheit. Gegenüber den unaufhaltsamen Mächten der Globalisierung und der Technologie fühlen sie sich fehl am Platz, und so schlagen sie auf Immigranten, Freihandel und die herrschenden Eliten ein. Ihr Zorn trifft jedoch die Falschen, weil sie nicht erkennen können, dass sie gegen Kräfte polemisieren, die so unabänderlich sind wie das Wetter. Ihren Ängsten begegnet man am besten mit Umschulungsprogrammen und anderen Maßnahmen, die ihnen helfen, sich an die Zwänge des globalen und technologischen Wandels anzupassen.
Beide Diagnosen enthalten ein Stück Wahrheit. Doch keine von beiden dringt bis zum Kern des Problems vor. Interpretiert man den populistischen Protest als entweder böswillig oder fehlgeleitet, entlässt man die herrschenden Eliten aus der Verantwortung dafür, dass sie die Bedingungen geschaffen haben, welche die Würde der Arbeit zersetzt und viele mit dem Gefühl zurückgelassen haben, nicht geachtet zu werden und machtlos zu sein. Der verringerte wirtschaftliche und kulturelle Status der arbeitenden Menschen in den letzten Jahrzehnten ist nicht das Ergebnis unaufhaltsamer Kräfte – er ist auf die Art und Weise zurückzuführen, in der die etablierten politischen Parteien und Eliten regiert haben.
Wegen der Gefahr, die Trump und andere populistisch grundierte Autokraten für die demokratischen Normen darstellen, sind diese Eliten nun – zu Recht – beunruhigt. Doch sie sind blind für die Rolle, die sie selbst bei der Entstehung des Unmuts gespielt haben, der zu dieser populistischen Gegenreaktion geführt hat. Sie sehen nicht, dass die Unruhen, die wir gerade erleben, eine Antwort auf ein politisches Versagen historischen Ausmaßes sind.
Im Zentrum dieses Versagens steht der Ansatz, nach dem die etablierten Parteien das Projekt der Globalisierung in den vergangenen vier Jahrzehnten entworfen und ausgeführt haben. Zwei Aspekte dieses Projekts ließen die Bedingungen entstehen, die den populistischen Protest in Gang halten. Der eine ist die technokratische Art, das Gemeinwohl zu formulieren, der andere ist die meritokratische Art, Gewinner und Verlierer zu definieren.
Das technokratische Konzept von Politik ist eng an ein Vertrauen in die Märkte gebunden – nicht unbedingt ein entfesselter Laissez-faire-Kapitalismus, sondern die weiter gefasste Überzeugung, dass Marktmechanismen die vorrangigen Werkzeuge zur Erlangung des Gemeinwohls sind. Dieser politische Denkansatz ist insofern technokratisch, als er zentrale moralische Erörterungen aus der öffentlichen Debatte abzieht und ideologisch strittige Fragen behandelt, als seien sie Angelegenheiten der wirtschaftlichen Effizienz und damit Aufgabe von Experten.
Es ist unschwer zu erkennen, wie der technokratische Glaube an die Märkte dem populistischen Unmut die Bühne bereitet hat. Die vom Markt angetriebene Version der Globalisierung brachte zunehmende Ungleichheit mit sich. Außerdem entwertete sie nationale Identitäten und Loyalitäten. Im Zuge der frei über nationale Grenzen hinweg flutenden Waren- und Finanztransaktionen erhoben diejenigen, die auf der Welle der globalen Wirtschaft ritten, kosmopolitische Identitäten zur progressiven, aufgeklärten Alternative zu den engen, provinziellen Formen von Protektionismus, Tribalismus und Konflikten. Die eigentliche politische Spaltung, meinten sie, verlaufe nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen offen und geschlossen. Das implizierte, dass Kritiker von Auslagerung, Freihandelsabkommen und uneingeschränktem Kapitalfluss nicht aufgeschlossen waren, sondern engstirnig – nicht global denkend, sondern dem Stammesdenken verhaftet.[1]
Unterdessen behandelte der technokratische Führungsansatz viele öffentliche Fragen als Angelegenheiten technischen Fachwissens, die außerhalb der Reichweite normaler Bürger lagen. Das engte den Rahmen demokratischer Auseinandersetzung ein, höhlte die Begriffe der öffentlichen Debatte aus und erzeugte ein zunehmendes Gefühl der Machtlosigkeit.
Das marktfreundliche, technokratische Konzept der Globalisierung wurde von den etablierten Parteien sowohl der Linken wie der Rechten übernommen. Doch wie sich zeigen sollte, wirkte sich die Übernahme von Marktdenken und Marktwerten durch die Mitte-Links-Parteien am stärksten aus – auf das Projekt der Globalisierung an sich sowie auf die darauf folgenden populistischen Proteste. Als Trump gewählt wurde, war die Demokratische Partei zu einer Partei des technokratischen Liberalismus geworden, die den Akademikern geistig näherstand als den Wählern aus dem Arbeitermilieu und der Mittelklasse, die einst ihre Basis gebildet hatten. Gleiches galt für die britische Labour Party zur Zeit des Brexit und die sozialdemokratischen Parteien Europas.
Dieser Wandel hatte in den 1980ern eingesetzt.[2] Ronald Reagan und Margaret Thatcher waren der Meinung, der Staat sei das Problem, und die Märkte seien die Lösung. Als sie von der politischen Bühne abtraten, waren es die auf sie folgenden Mitte-Links-Politiker – Bill Clinton in den USA, Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland –, die den Marktglauben abmilderten, aber auch konsolidierten. Sie glätteten die rauen Kanten der entfesselten Märkte, ließen aber die zentrale Prämisse der Ära Reagan/Thatcher – dass Marktmechanismen das vorrangige Werkzeug zur Verwirklichung des Gemeinwohls sind – unangetastet. Im Einklang mit dieser Überzeugung übernahmen sie eine vom Markt angetriebene Version der Globalisierung und begrüßten die zunehmende Vereinnahmung der Wirtschaft durch den Finanzmarkt-Kapitalismus.
In den 1990ern förderte die Clinton-Regierung zusammen mit den Republikanern globale Handelsabkommen und die Deregulierung der Finanzbranche. Die Profite dieser Politik flossen überwiegend zu denen an der Spitze, doch die Demokraten unternahmen wenig, um der sich vertiefenden Ungleichheit und der wachsenden Macht des Geldes in der Politik etwas entgegenzusetzen. Nachdem der Liberalismus von seiner traditionellen Mission – den Kapitalismus zu zähmen und die wirtschaftliche Macht zu demokratischer Verantwortung anzuhalten – abgeirrt war, verlor er seine Fähigkeit, die Menschen zu inspirieren.
All das schien sich zu ändern, als Barack Obama auf der politischen Bühne erschien. In seinem Präsidentschaftswahlkampf von 2008 bot er eine mitreißende Alternative zu der geschäftsmäßigen, technokratischen Sprache, die zum Merkmal der liberalen öffentlichen Debatte geworden war. Er zeigte, dass fortschrittliche Politik zu einer Sprache moralischen und spirituellen Charakters fähig war.
Doch er vermochte es nicht, die moralische Energie und den bürgerlichen Idealismus, die er als Kandidat versprüht hatte, während seiner Präsidentschaft aufrechtzuerhalten. Er übernahm das Amt inmitten der Finanzkrise und ernannte Wirtschaftsberater, die während der Clinton-Jahre die Deregulierung gefördert hatten. Mit ihrer Unterstützung rettete er die Banken zu Bedingungen, die ihnen keine Rechenschaft für das Verhalten abverlangten, das zur Krise geführt hatte. Jenen, die ihre Häuser verloren hatten, bot er dagegen nur wenig Hilfe an.
Nachdem seine moralische Stimme verstummt war, beschwichtigte Obama die kochende Wut auf die Wall Street eher, als dass er sie zum Ausdruck gebracht hätte. Der anhaltende Zorn über die Bankenrettung beschattete Obamas Präsidentschaft und befeuerte letztlich eine Stimmung populistischen Protests, die das gesamte politische Spektrum erfasste – aufseiten der Linken die Occupy-Bewegung und die Kandidatur von Bernie Sanders, aufseiten der Rechten die Tea-Party-Bewegung und die Wahl von Donald Trump.
Das populistische Aufbegehren in den USA, Großbritannien und Europa ist eine Gegenreaktion, die sich allgemein gegen Eliten richtet, doch die auffälligsten Zielscheiben waren die liberalen und Mitte-Links-Parteien – die Demokratische Partei in den USA, die Labour Party in Großbritannien, die SPD in Deutschland, deren Stimmanteil bei der Bundestagswahl 2017 einen historischen Tiefstand erreichte, die Demokratische Partei Italiens, deren Stimmanteil unter 20 Prozent fiel, und die Sozialistische Partei Frankreichs, deren Präsidentschaftskandidat im ersten Wahldurchgang von 2017 nur sechs Prozent der Stimmen erhielt.
Ehe diese Parteien darauf hoffen können, die Unterstützung der Öffentlichkeit wiederzugewinnen, müssen sie ihren marktorientierten, technokratischen Führungsansatz überdenken. Außerdem müssen sie sich mit etwas auseinandersetzen, das subtiler, aber nicht weniger folgenschwer ist – die Einstellung gegenüber Erfolg und Scheitern, die die zunehmende Ungleichheit der letzten Jahrzehnte begleitet hat. Sie müssen sich fragen, warum diejenigen, die in der neuen Wirtschaft nicht erfolgreich waren, den Eindruck haben, dass die Gewinner mit Verachtung auf sie herabschauen.
Was also hat den Unmut gegenüber den Eliten ausgelöst, den viele Wähler aus der Arbeiter- und Mittelklasse verspüren? Die Antwort beginnt mit der zunehmenden Ungleichheit der letzten Jahrzehnte, findet dort aber kein Ende. Denn letztlich hat er mit den sich verändernden Begriffen von gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung zu tun.
Das Zeitalter der Globalisierung hat seine Belohnungen ungleich verteilt – um es vorsichtig auszudrücken. In den USA ist der größte Teil der Einkommenszuwächse seit den 1970ern auf die obersten zehn Prozent entfallen, während die untere Hälfte praktisch nichts davon abbekommen hat. Was die Realeinkommen angeht, liegt das Median-Einkommen von Männern im arbeitsfähigen Alter mit ca. 36000 Dollar niedriger als vor vier Jahrzehnten. Das Einkommen des reichsten Prozents der Bevölkerung ist heute höher als das der unteren Hälfte zusammengenommen.[3]
Doch selbst diese Explosion der Ungleichheit ist nicht die wichtigste Quelle der populistischen Wut. Die Amerikaner haben Ungleichheiten von Einkommen und Wohlstand lange hingenommen, weil sie glaubten, es sei ungeachtet des Ausgangspunktes im Leben möglich, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. Dieser Glaube an die Möglichkeit eines Aufstiegs macht den Kern des amerikanischen Traums aus.
In Übereinstimmung mit diesem Glauben haben die etablierten Parteien und Politiker auf die zunehmende Ungleichheit reagiert, indem sie nach größerer Chancengleichheit riefen – Umschulung von Arbeitern, deren Jobs aufgrund von Globalisierung und Technologisierung verschwunden sind, verbesserter Zugang zu höherer Bildung, Abbau von Barrieren, die sich auf Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit und Geschlechtsidentitäten beziehen. Diese Phrasen von den Chancen finden ihren klassischen Ausdruck in der Parole, dass diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, »so weit aufsteigen können, wie ihre Talente sie tragen«.
In den letzten Jahren haben Politiker beider Parteien diese Parole so lange wiederholt, bis sie zu einer magischen Beschwörungsformel wurde. Ronald Reagan, George W. Bush und Marco Rubio bei den Republikanern sowie Bill Clinton, Barack Obama und Hillary Clinton bei den Demokraten gleichermaßen. Obama begeisterte sich für eine aus einem Popsong stammende Variation des Themas: »You can make it if you try.« Während seiner Präsidentschaft verwendete er diese Zeile in Reden und öffentlichen Erklärungen mehr als 140 Mal.[4]
Doch inzwischen klingen die Phrasen vom Aufstieg hohl. In der heutigen Wirtschaft ist der Aufstieg alles andere als einfach. Amerikaner, die als Kinder armer Eltern zur Welt kommen, bleiben als Erwachsene tendenziell arm. Von denen, die im unteren Fünftel der Einkommensskala geboren werden, schafft es nur etwa einer von 20 ins obere Fünftel; die meisten steigen nicht einmal in die Mittelklasse auf.[5] Aus Armut aufzusteigen ist in Kanada, Deutschland, Dänemark und anderen europäischen Ländern leichter als in den USA.[6]
Das widerspricht der lange gehegten Überzeugung, soziale Mobilität sei Amerikas Antwort auf Ungleichheit. Die USA, sagen wir uns selbst, könnten es sich leisten, sich weniger um Ungleichheit zu sorgen als die Klassengesellschaften Europas, weil hier ein Aufstieg möglich sei. 70 Prozent der Amerikaner glauben, die Armen könnten sich aus eigener Kraft aus der Armut herausarbeiten, während das nur 35 Prozent der Europäer glauben. Dieser Glaube an die soziale Mobilität könnte erklären, warum die USA über einen weniger großzügigen Wohlfahrtsstaat verfügen als die meisten großen Länder Europas.[7]
Doch heute sind die Länder mit der höchsten sozialen Mobilität tendenziell diejenigen mit der größten Gleichheit. Die Fähigkeit zum Aufstieg hängt anscheinend weniger vom Ansporn der Armut ab als vom Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und anderen Ressourcen, die Menschen dafür ausrüsten, in der Arbeitswelt Erfolg zu haben.
Die Explosion der Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten hat die Durchlässigkeit nach oben nicht gesteigert, sondern hat im Gegenteil diejenigen an der Spitze in die Lage versetzt, ihre Vorteile zu sichern und sie an ihre Kinder weiterzugeben. Während des letzten halben Jahrhunderts haben Elite-Colleges und -Universitäten die auf Hautfarbe, Religion, Geschlechtsidentität und ethnischer Zugehörigkeit beruhenden Barrieren abgebaut, die eine Zulassung einst auf die Söhne der Privilegierten beschränkten. Der Scholastic Aptitude Test (SAT) ging aus dem Versprechen hervor, zukünftige Studenten wegen ihrer akademischen Verdienste und nicht aufgrund der Klasse und der Abstammung zuzulassen. Doch die heutige Meritokratie hat sich zu einer Erbaristokratie verhärtet.
Zwei Drittel der Studenten in Harvard und Stanford stammen aus dem oberen Fünftel der Einkommensskala. Trotz großzügiger finanzieller Hilfen kommen weniger als vier Prozent der Studenten an den Unis der Ivy League aus dem unteren Fünftel. In Harvard und an anderen Unis der Ivy League gibt es mehr Studenten aus Familien im obersten einen Prozent (Einkommen über 630000 Dollar jährlich) als Studenten aus der unteren Hälfte der Einkommensverteilung.[8]
Der amerikanische Glaube, mit harter Arbeit und Talent könne jeder aufsteigen, stimmt nicht mehr mit den Grundtatsachen überein. Das könnte erklären, warum die Phrasen von den Chancen nicht mehr so wie einst zünden. Soziale Mobilität kann Ungleichheit nicht mehr kompensieren. Jede ernst zu nehmende Reaktion auf die Kluft zwischen Reich und Arm muss die Ungleichheiten von Macht und Vermögen in den Blick nehmen, anstatt sich damit zufriedenzugeben, Menschen beim Erklettern einer Leiter zu helfen, deren Sprossen immer weiter auseinanderklaffen.
Das Problem der Meritokratie besteht nicht allein darin, dass die Praxis hinter der Theorie zurückbleibt. Wäre das das Problem, bestünde die Lösung darin, die Chancengleichheit zu perfektionieren und eine Gesellschaft anzustreben, in der die Menschen ungeachtet ihrer Ausgangssituation wirklich so weit aufsteigen könnten, wie ihre Anstrengungen und Talente sie tragen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob selbst eine vollkommene Meritokratie moralisch oder politisch zufriedenstellend wäre.
Moralisch gesehen ist nicht klar, warum die Talentierten die überdimensionierten Belohnungen verdienen, mit denen marktgetriebene Gesellschaften die Erfolgreichen überschütten. Das entscheidende Argument zugunsten der meritokratischen Ethik ist die Vorstellung, dass wir es nicht verdienen, aufgrund von Faktoren, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, belohnt oder aufgehalten zu werden. Doch ist es tatsächlich unser eigenes Werk, wenn wir bestimmte Talente besitzen (oder eben nicht)? Wenn das nicht der Fall ist, ist es schwer zu vermitteln, warum diejenigen, die dank ihrer Talente aufsteigen, größere Belohnungen verdienen als diejenigen, die vielleicht ebenso hart arbeiten, aber nicht in gleichem Maß mit den Gaben ausgestattet sind, welche die Marktgesellschaft zufällig gerade schätzt.
Diejenigen, die das meritokratische Ideal rühmen und es zum Mittelpunkt ihres politischen Projekts machen, sehen über diese moralische Frage hinweg. Zudem ignorieren sie etwas, was politisch wirkungsvoller ist: die moralisch unattraktiven Einstellungen, die durch die meritokratische Ethik gefördert werden – unter den Gewinnern und auch unter den Verlierern. Bei den Gewinnern sorgt sie für Überheblichkeit, bei den Verlierern für Demütigung und Unmut. Diese moralischen Empfindungen machen den Kern des populistischen Aufstands gegen Eliten aus. Denn die populistische Klage ist mehr als ein Protest gegen Einwanderer und Auslagerung, sie betrifft die Tyrannei der Leistung. Und diese Klage ist gerechtfertigt.
Dass unablässig betont wird, man müsse eine faire Meritokratie erschaffen, wirkt sich zersetzend auf die Art und Weise aus, in der wir unseren Erfolg (oder dessen Ausbleiben) deuten. Die Aussage, das System belohne Talent und harte Arbeit, ermutigt die Gewinner, ihren Erfolg als ihr eigenes Werk anzusehen, als Maß der eigenen Tugend – und auf diejenigen hinabzuschauen, die weniger Glück haben als sie selbst.
Die meritokratische Überheblichkeit spiegelt die Neigung der Gewinner wider, ihren Erfolg zu tief in sich einzusaugen und das Glück und die günstigen Umstände zu vergessen, die ihnen auf ihrem Weg geholfen haben. Es ist die selbstgefällige Überzeugung derer, die an der Spitze landen, dass sie ihr Schicksal verdient haben, und dass diejenigen, die unten sind, ihres ebenfalls verdienen. Diese Einstellung ist der moralische Begleiter technokratischer Politik.
Ein reges Bewusstsein für die Zufälle unseres Geschicks führt uns zu einer gewissen Demut: »Das hätte auch mir passieren können, wenn nicht die Gnade Gottes, der Zufall der Geburt oder das Mysterium des Schicksals mich davor bewahrt hätte.« Eine vollkommene Meritokratie verbannt jedoch jeden Sinn für Gabe oder Gnade. Sie mindert unsere Fähigkeit, uns als Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sehen. Sie lässt wenig Raum für die Solidarität, die entstehen kann, wenn wir über die Zufälligkeit unserer Talente und unseres Glücks nachdenken. Das macht Leistung und Verdienst zu einer Art von Tyrannei oder ungerechter Herrschaft.
Von unten gesehen ist die Überheblichkeit der Eliten kränkend. Niemand mag es, von oben herab betrachtet zu werden. Doch der meritokratische Glaube fügt der Kränkung die Beleidigung hinzu. Die Vorstellung, man habe sein Schicksal selbst in der Hand, man könne »es schaffen, wenn man es versucht«, ist ein zweischneidiges Schwert – einerseits inspirierend, andererseits gehässig. Damit wird den Gewinnern gratuliert, doch die Verlierer werden – selbst in ihren eigenen Augen – schlechtgemacht. Für diejenigen, die keine Arbeit finden oder nicht über die Runden kommen, ist es schwer, sich der demoralisierenden Überlegung zu entziehen, dass sie ihr Scheitern selbst verantworten müssen und dass es ihnen für den Erfolg einfach an Talent und Antrieb fehlt.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Politik der Demütigung von der Politik der Ungerechtigkeit. Proteste gegen Ungerechtigkeit blicken nach außen; sie beklagen, dass das System manipuliert ist und die Gewinner für ihren Aufstieg betrogen oder getäuscht haben. Proteste gegen Demütigung sind psychologisch stärker aufgeladen. Sie vereinen den Unmut gegen die Gewinner mit nagendem Selbstzweifel: Vielleicht sind die Reichen reich, weil sie es mehr verdient haben als die Armen; vielleicht tragen die Armen am Ende eine Mitschuld an ihrem Unglück.
Dieser Aspekt einer Politik der Demütigung ist leichter entzündlich als andere politische Gedanken. Er ist eine kräftige Zutat für das explosive Gebräu aus Ärger und Unmut, das die populistischen Proteste antreibt. Donald Trump, obwohl selbst Milliardär, verstand diesen Unmut und nutzte ihn. Anders als Barack Obama und Hillary Clinton, die ständig von »Chancen« sprachen, erwähnte Trump das Wort kaum. Stattdessen redete er unverhohlen von Gewinnern und Verlierern. (Interessanterweise spricht Bernie Sanders, ein sozialdemokratischer Populist, ebenfalls nur selten von Chancen und Mobilität, sondern konzentriert sich auf die Ungleichheiten von Macht und Reichtum.)
Eliten haben Uni-Abschlüsse – als goldenen Weg für das Vorwärtskommen und ebenso als Grundlage für soziale Wertschätzung – so sehr aufgewertet, dass es ihnen schwerfällt, die Überheblichkeit zu verstehen, die eine Meritokratie hervorrufen kann, oder zu begreifen, welch hartes Urteil sie für diejenigen bereithält, die keine Universität besucht haben. Solche Einstellungen bilden den Kern der populistischen Gegenreaktion und von Trumps Sieg.
Einer der tiefsten politischen Gräben in der heutigen amerikanischen Politik ist der zwischen jenen mit einem Uni-Abschluss und jenen ohne. Bei der Wahl von 2016 holte Trump zwei Drittel der Stimmen weißer Wähler ohne Uni-Abschluss, während Hillary Clinton unter Wählern mit höheren Abschlüssen entscheidende Gewinne einfuhr. Ein ähnlicher Graben trat im britischen Brexit-Referendum in Erscheinung. Wähler ohne Universitätsausbildung stimmten mit überwiegender Mehrheit für den Brexit, während die große Mehrheit derer mit einem akademischen Titel für den Verbleib in der EU stimmte.[9]
Als Hillary Clinton eineinhalb Jahre später auf ihre Präsidentschaftskandidatur zurückblickte, demonstrierte sie die meritokratische Überheblichkeit, die zu ihrer Niederlage beigetragen hatte. »Ich habe die Orte gewonnen, die für zwei Drittel des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes stehen«, sagte sie auf einer Konferenz im indischen Mumbai im Jahr 2018. »Ich siegte also an Orten, die optimistisch, vielfältig und dynamisch sind und vorankommen.« Dagegen bezog Trump seine Unterstützung von denen, die »es nicht mochten, dass Schwarze Bürgerrechte erhalten«, und die »Frauen nicht mochten … die Jobs bekommen«. Sie hatte die Stimmen der Globalisierungsgewinner geholt, während Trump bei den Verlierern gewonnen hatte.[10]
Die Demokratische Partei war einst an der Seite von Farmern und Arbeitern gegen die Privilegierten eingestanden. Heute, in einer Ära der Meritokratie, rühmte sich ihre besiegte Bannerträgerin, dass die wohlhabenden, aufgeklärten Teile des Landes für sie gestimmt hätten.
Donald Trump war sich der Politik der Demütigung extrem bewusst. Aus der Perspektive der ökonomischen Fairness war sein Populismus vorgetäuscht – eine Art von plutokratischem Populismus. Er legte einen Plan vor, der die Gesundheitsversorgung vieler seiner Anhänger aus der Arbeiterklasse eingeschränkt hätte, und er erließ ein Gesetz, das die Reichen mit Steuersenkungen überhäufte. Doch wenn man den Blick allein auf die Heuchelei richtet, entgeht einem das, worauf es wirklich ankommt.
Als Trump aus dem Pariser Klimaschutzabkommen ausstieg, erklärte er – kaum nachvollziehbar –, er wolle damit amerikanische Arbeitsplätze sichern. Doch der eigentliche Grund für seine Entscheidung, seine politische Motivation, offenbart sich in der folgenden, scheinbar abschweifenden Anmerkung: »Wo ist der Punkt, an dem Amerika herabgesetzt wird? Ab wann fangen sie an, über uns als Land zu lachen? … Wir wollen nicht, dass andere Führer und andere Länder noch länger über uns lachen.«[11]
Bei der Befreiung der USA von den unterstellten Lasten des Klimaschutzabkommens ging es also in Wahrheit nicht um Arbeitsplätze oder um die globale Erwärmung. In Trumps Vorstellungswelt ging es darum, Demütigung abzuwehren. Bei Trumps Wählern fand das Anklang – sogar bei denen, die wegen des Klimawandels besorgt waren.
An sich ist die Idee, dass verdienstvolle Personen regieren sollten, kein spezielles Merkmal unserer Zeit. Im China des Altertums lehrte Konfuzius, dass diejenigen herrschen sollten, die in Sachen Tugend und Fähigkeiten herausragten. Im antiken Griechenland stellte Platon sich eine von einem Philosophenkönig regierte Gesellschaft vor, unterstützt von Wächtern, die am Gemeinwohl orientiert waren. Aristoteles lehnte Platons Philosophenkönig ab, doch auch er meinte, dass verdienstvolle Personen in öffentlichen Angelegenheiten den größten Einfluss haben sollten. Für ihn waren allerdings nicht Reichtum oder edle Geburt das Kriterium für Verdienste, sondern Vortrefflichkeit bei den bürgerlichen Tugenden und bei der phronesis, der praktischen Klugheit beim Nachdenken über das Gemeinwohl.[12]
Die Gründer der amerikanischen Republik nannten sich selbst »Men of Merit« (Männer mit Verdiensten) und hofften, dass tugendhafte, kompetente Männer wie sie ins Amt gewählt würden. Sie waren zwar Gegner einer erblichen Aristokratie, aber nicht erpicht auf eine direkte Demokratie, da sie befürchteten, sie könnte Demagogen an die Macht bringen. Sie waren bestrebt, Institutionen wie die indirekte Wahl des US-Senats und des Präsidenten zu formen, die den verdienstvollen Männern die Herrschaft ermöglichten. Statt »einer künstlichen, auf Reichtum und Geburt gegründeten Aristokratie« bevorzugte Thomas Jefferson »eine natürliche Aristokratie«. Er schrieb: »Diese Staatsform ist die beste«, da sie »eine unverfälschte Auslese dieser natürlichen Aristokraten in die Regierungsämter« ermöglicht.[13]
Ungeachtet ihrer Unterschiede haben diese traditionellen Versionen der politischen Meritokratie – von der konfuzianischen über die platonische bis zur republikanischen – die Vorstellung gemeinsam, dass die für die Herrschaft relevanten Leistungen und Verdienste moralische und bürgerliche Tugenden einschließen. Denn alle stimmen darin überein, dass das Gemeinwohl zumindest teilweise von der moralischen Erziehung der Bürger abhängt.
Unsere technokratische Version der Meritokratie beschädigt diese Verknüpfung zwischen Verdiensten und moralischen Urteilen. Auf dem Gebiet der Wirtschaft geht sie schlicht davon aus, dass das Gemeinwohl durch das BIP definiert wird, und dass das, was die Menschen dazu beitragen, im Marktwert der von ihnen angebotenen Waren und Dienstleistungen liegt. Auf dem Gebiet des Regierens geht sie davon aus, dass Verdienst technokratische Expertise bedeutet.
Das zeigt sich in der zunehmend größeren Rolle der Ökonomen als Politikberater, dem wachsenden Vertrauen auf Marktmechanismen, wenn es darum geht, das Gemeinwohl zu definieren und zu erreichen, und im Versagen der politischen Debatte, sich der wichtigen moralischen und zivilen Fragen anzunehmen, die im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung stehen sollten: Was sollten wir hinsichtlich der zunehmenden Ungleichheit unternehmen? Welche moralische Bedeutung haben Ländergrenzen? Was macht die Würde der Arbeit aus? Was schulden wir einander als Bürger?
Diese moralisch blinde Art, Leistungen, Verdienste und das Gemeinwohl zu konzipieren, hat demokratische Gesellschaften in vielerlei Form geschwächt. Die erste ist am leichtesten zu erkennen: In den letzten vier Jahrzehnten haben die meritokratischen Eliten nicht sehr gut regiert. Die Eliten, die die USA von 1940 bis 1980 regiert haben, waren weit erfolgreicher. Sie gewannen den Zweiten Weltkrieg, halfen beim Wiederaufbau Europas und Japans, stärkten den Wohlfahrtsstaat, bauten die Rassentrennung ab und leiteten vier Jahrzehnte des wirtschaftlichen Wachstums ein, das Reichen wie Armen gleichermaßen zugutekam. Dagegen haben uns die seitdem herrschenden Eliten vier Jahrzehnte stagnierender Löhne für die meisten Arbeiter beschert, Ungleichheiten der Einkommen und des Wohlstands, wie man sie seit den 1920ern nicht mehr gesehen hat, den Irakkrieg, einen 19 Jahre dauernden, ergebnislosen Krieg in Afghanistan, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Finanzkrise von 2008, eine zerbröselnde Infrastruktur, die höchste Rate an Gefängnisinsassen weltweit und ein System von Wahlkampffinanzierung und manipulierbaren Wahlbezirksgrenzen, das aus der Demokratie eine Farce macht.
Die technokratischen Verdienste sind nicht nur als Herrschaftsmodell gescheitert – sie haben auch das Projekt der Zivilgesellschaft eingeengt. Inzwischen wird das Gemeinwohl vor allem in ökonomischen Kategorien verstanden. Es geht weniger darum, die Solidarität zu pflegen oder die bürgerlichen Bindungen zu vertiefen, sondern darum, die anhand des BIP gemessenen Verbraucherwünsche zu befriedigen. All das sorgt für eine ausgezehrte politische Debatte.
Was heutzutage als politische Argumentation gilt, besteht entweder aus verengtem, verwaltungstechnischem und technokratischem Gerede, das keinen mitreißt. Oder aus Schreiduellen, in denen aneinander vorbeigeredet wird, anstatt sich wirklich zuzuhören. Über das gesamte politische Spektrum hinweg finden Bürger diese entleerte politische Debatte frustrierend und entmachtend. Sie wissen, dass die Abwesenheit einer kraftvollen öffentlichen Debatte nicht bedeutet, dass keine politischen Entscheidungen beschlossen werden. Doch diese werden andernorts getroffen, abseits der Öffentlichkeit – durch Verwaltungsinstanzen (die oftmals von den Branchen gekapert wurden, die sie zu kontrollieren hätten), durch Zentralbanken und Anleihemärkte, durch Lobbyisten, die sich durch Wahlkampfbeiträge Einfluss auf Amtsträger erkaufen.
Aber das ist noch nicht alles. Abgesehen von der Aushöhlung der öffentlichen Debatte hat die Herrschaft der technokratischen Verdienste die Vorstellung sozialer Anerkennung auf eine Weise neu festgelegt, die das Prestige der akademischen Klassen steigert und die Beiträge der meisten Arbeiter abwertet, was deren soziale Stellung und Wertschätzung zersetzt. Dieser Aspekt der technokratischen Verdienste trägt am unmittelbarsten zur wütenden, polarisierten Politik unserer Zeit bei.
Vor sechs Jahrzehnten antizipierte der britische Soziologe Michael Young die Überheblichkeit und den Unmut, die von der Meritokratie hervorgerufen werden. Tatsächlich war er es, der den Begriff geprägt hat. In einem Buch mit dem Titel The Rise of the Meritocracy (dt. Es lebe die Ungleichheit! Auf dem Wege zur Meritokratie) fragte er, was geschehen würde, wenn eines Tages die Klassenschranken überwunden würden, so dass jeder und jede eine wirklich gleiche Chance hätte, allein aufgrund seiner oder ihrer Verdienste und Leistungen aufzusteigen.[14]
In einer Hinsicht wäre das etwas, was man feiern sollte; die Kinder der Arbeiterklasse würden schließlich fair am Wettbewerb beteiligt sein – Seite an Seite mit den Kindern der Privilegierten. Doch das würde, wie Young glaubte, kein umfassender Sieg sein, da bei den Gewinnern zwangsläufig Überheblichkeit gefördert und unter den Verlierern Demütigung auftreten würde. Die Sieger würden ihren Erfolg als »gerechte Belohnung ihrer eigenen Fähigkeit, ihrer eigenen Anstrengungen, ihrer eigenen unbestreitbaren Errungenschaften« ansehen. Deshalb würden sie auf diejenigen hinabschauen, die weniger erfolgreich sind als sie selbst. Diejenigen, denen kein Aufstieg gelang, würden das Gefühl haben, sie müssten allein sich selbst die Schuld geben.[15]
Für Young war die Meritokratie daher kein erstrebenswertes Ziel, sondern ein Rezept für gesellschaftliche Zwietracht. Damit warf er schon vor Jahrzehnten einen Blick auf die harte meritokratische Logik, die inzwischen unsere Politik vergiftet und die populistische Wut motiviert. Für diejenigen, die sich von der Tyrannei der Leistung und der Verdienste geschädigt sehen, besteht das Problem nicht nur in den stagnierenden Löhnen, sondern auch im Verlust der sozialen Wertschätzung.
Der Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund von Technologie und Auslagerung ging mit dem Gefühl einher, dass die Art von Arbeit, die von der Arbeiterklasse verrichtet wird, in der Gesellschaft weniger Achtung genießt. Als die wirtschaftliche Aktivität sich von der Produktion von Dingen auf die Verwaltung von Geld verlagert hat, als die Gesellschaft überdimensionierte Belohnungen über Hedgefondsmanager, Banker der Wall Street und Akademiker ausgeschüttet hat, ist die Wertschätzung, die der Arbeit im herkömmlichen Sinn entgegengebracht wird, zerbrechlich und unsicher geworden.
Den etablierten Parteien und Eliten entgeht diese Dimension der Politik. Sie denken, das Problem der marktgetriebenen Globalisierung habe lediglich mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun: Diejenigen, die vom globalen Handel, von neuen Technologien und der Umstellung der Wirtschaft zu einem Finanzmarkt-Kapitalismus profitiert haben, hätten diejenigen, die dabei verloren haben, nicht angemessen entschädigt.
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