Vom Film zur Literatur - Klaus Maiwald - E-Book

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Klaus Maiwald

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Beschreibung

"Eine systematische Filmbildung findet an der Schule nicht statt"? Diesem Missstand will Klaus Maiwalds Band Abhilfe schaffen. Sieben Verfilmungen moderner (Schul-)Klassiker werden vorgestellt, u.a. ›Emil und die Detektive‹, ›Krabat‹, ›Der Vorleser‹ und ›Das Parfum‹. Jedes Kapitel besteht aus vier Teilen, einer medienübergreifenden Zusammenfassung der Story, Hintergrundinformationen mit einer knappen Analyse zum Erzähltext und Film, einer Untersuchung einer Szene oder Sequenz und der Eröffnung von Lernperspektiven. Der Band eignet sich für eine Vorbereitung des Literaturunterrichts an allen Schultypen und für eine vertiefende Einarbeitung in das spannende Gebiet der Literaturverfilmung.

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Seitenzahl: 192

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Klaus Maiwald

Vom Film zur Literatur

Moderne Klassiker der Literaturverfilmung im Medienvergleich

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2015

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960842-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-017686-3

www.reclam.de

Inhalt

1. »Ich habe das Buch vergessen und einen Film gesehen« – Anliegen, Grundlagen und Perspektiven des Bandes

1.1 Anliegen

1.2 Fachliche Grundlagen

1.3 Vermittlungsperspektiven

2. Ein Verfolger erhält Hilfe – Emil und die Detektiveim Film von Franziska Buch (2001) und im Roman von Erich Kästner (1929)

2.1 Die Story

2.2 Hintergrundinformationen

2.3 Transformationen: Das Zusammenrufen der Detektive

2.4 Lernperspektiven

3. Ein Junge steigt aufs Dach – Die Vorstadtkrokodileim Film von Christian Ditter (2009) und im Roman von Max von der Grün (1976)

3.1 Die Story

3.2 Hintergrundinformationen

3.3 Transformationen: Die Mutprobe

3.4 Lernperspektiven

4. Ein Müllerbursche flieht – Krabat im Film von Marco Kreuzpaintner (2008) und im Roman von Otfried Preußler (1971)

4.1 Die Story

4.2 Hintergrundinformationen

4.3 Transformationen: Die Flucht

4.4 Lernperspektiven

5. Freie Deutsche Jugend zwischen Liebe und Partei – (Am kürzeren Ende der) Sonnenallee im Film von Leander Haußmann (1999) und im Roman von Thomas Brussig (1999)

5.1 Die Story

5.2 Hintergrundinformationen

5.3 Transformationen: Der Diskussionsbeitrag

5.4 Lernperspektiven

6. Ein Liebespaar trifft sich zum letzten Mal – Die Entdeckung der Currywurst im Film von Ulla Wagner (2008) und in der Novelle von Uwe Timm (1993)

6.1 Die Story

6.2 Hintergrundinformationen

6.3 Transformationen: Das Wiedersehen

6.4 Lernperspektiven

7. Ein Liebespaar macht einen Ausflug – Der Vorleserim Film von Stephen Daldry (2008) und im Roman von Bernhard Schlink (1995)

7.1 Die Story

7.2 Hintergrundinformationen

7.3 Transformationen: Der Fahrradausflug

7.4 Lernperspektiven

8. Eine Hinrichtung fällt aus – Das Parfum im Film von Tom Tykwer (2006) und im Roman von Patrick Süskind (1985)

8.1 Die Story

8.2 Hintergrundinformationen

8.3 Transformationen: Die verhinderte Hinrichtung

8.4 Lernperspektiven

9. Abspann

Zusammenfassende Empfehlungen für die Behandlung eines Films im Unterricht

Glossar verwendeter Fachbegriffe

Anmerkungen

Literatur

    Filme

    Bücher

    Sekundärliteratur

1. »Ich habe das Buch vergessen und einen Film gesehen« – Anliegen, Grundlagen und Perspektiven des Bandes

1.1 Anliegen

Der Film ist eine über 100 Jahre alte Kunstform, die im 20. Jahrhundert zum Hauptmedium des Geschichtenerzählens avancierte. Dennoch genießt der Film im Vergleich mit der Literatur ein geringes kulturelles Prestige. Insbesondere herrscht an unseren Schulen nach wie vor ein ausgeprägt printmedialer Habitus, eine systematische Filmbildung findet nicht statt.

Hier setzt der vorliegende Band an. Er stellt sieben Verfilmungen moderner (Schul-)Klassiker vor: Emil und die Detektive, Vorstadtkrokodile, Krabat, (Am kürzeren Ende der) Sonnenallee, Die Entdeckung der Currywurst, Der Vorleser, Das Parfum. Den Begriff (Schul-)Klassiker verwende ich hier alltagssprachlich für einen Text, der (auch im Deutschunterricht) eine anhaltende und weite Verbreitung hat. Die auch einzeln lesbaren Kapitel bestehen jeweils aus vier Teilen:

– Zunächst wird medienübergreifend die gemeinsame Story zusammengefasst.

– Sodann erfolgen Hintergrundinformationen mit einer knappen Analyse zum jeweiligen Erzähltext und Film.

– Im dritten Teil werden anhand einer speziellen Szene oder Sequenz Transformationen zwischen Film und (Schrift-)Literatur genauer erschlossen. Entschieden geht es dabei nicht um Vorlagentreue, sondern um ästhetische Eigenwerte des Mediums Film. Die hier jeweils vorgestellten Ausschnitte sind besonders ergiebig und aufgrund ihrer Kürze besonders praktikabel für ein gezieltes medienvergleichendes Lernen.

– In Teil 4 jedes Kapitels werden Lernperspektiven eröffnet. Diese betreffen mögliche Herangehensweisen oder Umgangsformen, und sie verweisen auf weitere betrachtenswerte Textpassagen.1

Der vorliegende Band versteht sich als Teil der kulturellen Bemühungen um den Film. Er richtet sich allgemein an Film-interessierte, besonders an angehende und praktizierende Lehrer(innen), und möchte dazu ermutigen, Literaturverfilmungen nicht abweichungsorientiert und nachträglich, sondern als eigenständige Rezeptionsform von Literatur wahrzunehmen. Im Vergleich filmischen und schriftlichen Erzählens ergeben sich medienübergreifende, aber auch medienspezifische Kategorien, wobei das Besondere des Films in seinen auditiven und visuellen Darstellungsmitteln liegt. Deren Analyse ist jedoch kein Selbstzweck, sondern dient stets der Klärung inhaltlich-interpretatorischer Fragen. Auch aus diesem Grund erfolgt hier keine systematische Einführung in Darstellungsmittel des Films, die andernorts leicht greifbar sind.2 Als Verständnishilfe dient ein Glossar verwendeter Fachbegriffe im Anhang.

Was die Zielgruppe der Lehrer(innen) angeht, so baue ich darauf, dass es diesen weniger um vorfabrizierte Unterrichtsmodelle als um fachliche und didaktische Anregungen zu tun ist. Die hier vorgestellten Modelle sind daher keine Blaupausen für Unterricht, mit vorgezimmerter Zeitleiste, abgemischtem Methodencocktail und »direkt einsetzbaren« Kopiervorlagen. Guter Unterricht und gute Lehrer(innen) haben derlei nicht nötig – im Gegenteil.

Im folgenden werden die (fachlichen) Fundamente des Themas Film-/Literaturverfilmung gelegt und die (filmdidaktischen) Vermittlungsperspektiven näher erläutert.

1.2 Fachliche Grundlagen

In seinem Aufsatz »Der Film nach der Literatur ist Film« von 1989 würdigt Knut Hickethier die künstlerische Eigenständigkeit der Blechtrommel-Verfilmung von 1979 gegenüber dem gleichnamigen Roman von 1959. Dessen Autor Günter Grass soll zu Schlöndorffs Werk geäußert haben: »Eine geballte Ladung … Ich habe das Buch vergessen und einen Film gesehen«.3 Hickethier wendet das Beispiel ins Grundsätzliche: »Von ›Literaturverfilmung‹ zu reden, heißt, den ersten Schritt in die falsche Richtung zu tun: denn im Begriff der Verfilmung steckt bereits die erlittene Verformung des Kunstwerks, eines Originals, das dabei seine Originalität verliert«.4 Der Film dürfe nicht sekundär als Nachahmung ohne eigenen Kunstcharakter, sondern müsse als genuin eigenständiger Text aufgefasst werden: »Der Film aber ist immer zuerst Film« – weshalb der Bezug zu anderen Filmen möglicherweise wichtiger sei als der zur literarischen Vorlage.5

Allzu selten jedoch wird beim Sehen eines Films tatsächlich »das Buch vergessen«; allzu selten wird versucht, Filmen »als eigenständigen Artefakten mit jeweils spezifischer Ästhetik gerecht zu werden«6 bzw. ihren eigenständigen Werkcharakter zu würdigen. Allzu oft prägen Vorurteile über die Verfilmung als Verfälschung und über das Sehen als passiven Konsum sowie das fragwürdige Kriterium der Werktreue Abwertungen, die in Abweichungen von der Vorlage gründen.

Das ästhetisch-kulturelle Misstrauen gegen den Film im Vergleich zur Literatur hat gewiss mit den Anfängen und der Entwicklung des Mediums zu tun. Der Film begann seine Karriere um 1900 als »Jahrmarkt- und Wanderkino«7 auf Rummelplätzen und Kirchweihfesten. Noch das erste Berliner Kino trug 1899 den bezeichnenden Namen Abnormitäten- und Biograph-Theater,8 die frühen Filme dienten der Belustigung eines meist weniger gebildeten Publikums, in einer Reihe mit und nicht weit entfernt von der »Frau ohne Unterleib«. Allerdings entwickelte sich das frühe »Kino der Attraktionen«9 sehr rasch zu einem Ort des Geschichtenerzählens. Edwin S. Porters The Great Train Robbery von 1903 oder D. W. Griffiths The Lonedale Operator von 1911 zeigen trotz der knappen, für die Entstehungszeit jedoch enormen Lauflängen von 12 bzw. 17 Minuten bereits ein Erzählen einer kontinuierlichen Handlung. Mit Paech lässt sich der Film als das Medium sehen, welches im 20. Jahrhundert die Stelle der realistischen Erzählliteratur (eines Dickens oder Flaubert) übernimmt, bzw. das Kino als der Ort, an dem die das 19. Jahrhundert kennzeichnende »Hypertrophie des Sichtbaren […] endlich ihren exemplarischen ›Ort‹ bekommen« hat.10 Stellan Ryes und Paul Wegeners fast anderthalbstündiger Kunstfilm Der Student von Prag von 1913 zählt zu den frühen Belegen für die These, dass der realistische Film in seinen narrativen Strukturen und in seiner kulturellen Funktion »der direkte Nachfolger des Romans des bürgerlichen Realismus« wird.11

Schon in der Frühzeit, als Filme rein technikbedingt lediglich unverbundene Einzelszenen vorstellten, wurde bereits auf literarische Vorlagen zurückgegriffen:12 1896 drehte Louis Lumière den ersten Faust-Film, 1902 Edwin S. Porter Szenen nach Uncle Tom’s Cabin, dem Roman von Harriet Beecher- Stowe von 1852. Ab 1907 verfolgte die französische Produktionsgesellschaft Le Film d’Art die Herstellung hochwertiger und anspruchsvoller Filme auf der Basis literarischer Stoffe oder Drehbücher angesehener Schriftsteller wie Anatole France und Edmond Rostand. Im selben Jahr entstanden Fünf Bilder nach Schillers Die Räuber als erste deutsche Literaturverfilmung.13 Der Anschluss an bekannte literarische Vorlagen war dreifach vorteilhaft: Er half, den »Stoffhunger« des neuen Mediums zu stillen,14 machte die zumal noch stummen Filme leichter verständlich und ließ sie partizipieren »an der Reputation der literarischen Hochkultur«.15 Einschlägig zeigt dies etwa D. W. Griffiths Melodram Enoch Arden von 1911 nach der gleichnamigen Ballade von Alfred Tennyson von 1864. Andererseits markieren Enrico Guazzonis Quo Vadis von 1912 nach dem Bestseller von Henryk Sienkiewicz von 1896 oder die fünfteilige Fantômas-Reihe von Louis Feuillade 1913/14 nach Serienromanen des Autorenduos Pierre Souvestre und Marcel Allain bereits früh einen gegenläufigen Trend: Obwohl der Begriff Literaturverfilmung gemeinhin für Vorlagen von hohem literarischen Rang reserviert ist, beruht der weitaus größere Teil bis heute auf als trivial geltenden Vorlagen.16

So stellt sich die Frage, wann überhaupt von einer Literaturverfilmung oder sogar von Literaturverfilmung als Genre zu sprechen sei.17 In einem sehr allgemeinen Sinn ist eine Verfilmung »Prozeß und Produkt der Umsetzung eines schriftsprachlich fixierten Textes in das audiovisuelle Medium des Films«;18 in einem engeren Verständnis basieren Literaturverfilmungen auf hochliterarischen Vorlagen, deren Bekanntheit unabhängig vom Film vorausgesetzt wird und die eine »Auseinandersetzung mit der literarischen Gestalt ihrer Vorlage erkennen lassen«.19 Sichtet man einschlägige Monographien und Sammelbände zur Literaturverfilmung,20 so fällt eine anhaltend starke, die medial-kulturelle Realität indes wenig spiegelnde Dominanz hochliterarischer Vorlagen auf: »Die Forschung zur Literaturverfilmung beschäftigt sich in erster Linie mit Höhenkammbeispielen«.21 Ein breiteres (Kultur-)Verständnis zeigt die Enyclopedia of Movies Adapted from Books, in die Tibbett und Welsh (1999) auch Filme wie The Firm, The Hunt for Red October oder The Shining aufgenommen haben.

Bleibt die Frage, was ›Auseinandersetzung mit der literarischen Gestalt‹ bedeutet, ob sie durch das kulturelle Prestige der Vorlage automatisch angenommen wird bzw. wie sie zu identifizieren ist, wenn nicht in expliziten Verweisen im Film selbst oder in dessen Nebentexten.22 Es trifft zu, dass die Existenz und Bekanntheit einer Vorlage zum Produktions- wie zum Rezeptionskontext einer Verfilmung zählt. Filme mit dem Titel Shining (R: Stanley Kubrick, 1980) oder Effi Briest (R: Hermine Huntgeburth, 2009) standen natürlich im (Erwartungs-)Hintergrund der Romane von Stephen King bzw. Theodor Fontane (bzw. auch vorangehender Verfilmungen).

Wie sich die Existenz einer bekannten Vorlage auf Produktion und Rezeption einer Transformation aber auswirkt, dürfte von Fall zu Fall stark variieren: Wieweit nimmt der Autor der Vorlage Anteil an der Verfilmung? Wie groß ist der zeitliche und damit kulturelle Abstand zur Vorlage, und welche Notwendigkeiten der Aktualisierung erzeugt dies? Inwiefern ist nicht nur mit dem vagen Wissen, »dass da zuerst ein Buch war«,23sondern mit tatsächlicher Textkenntnis beim Publikum zu rechnen? Obwohl es zu Hitchcocks Psycho (1960) und Vertigo (1958) literarische Vorlagen gibt,24 werden diese Filme kaum als Literaturverfilmungen wahrgenommen. Ich plädiere folglich dafür, Literaturverfilmung weniger als eine (wie auch immer geartete) interne Textqualität denn als eine externe Zuschreibung anzusehen. Filme werden zu Literaturverfilmungen erklärt: in Nebentexten wie Vorspannen, Trailern, Websites, Filmplakaten, DVD-Covern, Interviews, Making Of ’s etc.; in der kritischen Experten- und Laienrezeption (Rezensionen, Foren); in der wissenschaftlichen Beobachtung. Literaturverfilmungen wären so gesehen Filme, die im kulturellen Handlungssystem als Transformationen einer literarischen Vorlage deklariert sind. Der Genrebegriff scheint damit wenig kompatibel. Zwar steuern Genres ebenfalls das Entstehen und das Verstehen von Texten, doch gibt es bei Literaturverfilmungen keine für Genres konstitutive inhaltlich-strukturelle Gemeinsamkeit der »Erzählmuster, Themen und Motive«, wie etwa für den Western oder für den Thriller.25

Unabhängig von der Vorlagen- oder von der Genrefrage ist die Bezeichnung Literaturverfilmung, wie bereits angeklungen, problematisch. Die Vorsilbe ver- suggeriert Ableitung und Verschlechterung gegenüber einem Original. In diesem Sinn sprach Fritz Martini 1965 im Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte von »Veränderungen«, die das »Wortkunstwerk erleidet bei der Verfilmung«,26 oder Gero von Wilpert im Sachwörterbuch der Literatur von »je nach Ambition und Sachlage oberfl. oder tiefergreifende[n] Umformungen und Verzerrung der Vorlage […], die fast überall zu e. Zerstörung wesentl. Züge und Strukturen des (zumal ep.) Werkes führen«27. Folgte man dem, so hätte die wichtigste Ambition bzw. das erste Gütekriterium einer Verfilmung die Vorlagen- bzw. Werktreue zu sein. Um die abwertend normativen Konnotationen des Verfilmungsbegriffes zu umgehen und wertfrei eine Eigenständigkeit des Films zu signalisieren, werden alternative Bezeichnungen wie Adap(ta)tion, Lesart, Transformation oder Resultattext verwendet.28 (Wobei auch die in der Adaption steckende Vorstellung der Anpassung latent abwertend ist.29) Wenn im folgenden – und auch im Titel dieses Buches – dennoch von Literaturverfilmungen gesprochen wird, dann ist dies ausschließlich der Gebräuchlichkeit der Bezeichnung geschuldet. Entgegen der »Forderung nach möglichst werkgetreuer ›Verfilmung‹« aber sollen »Literaturverfilmungen [vielmehr] als Interpretation betrachtet werden und stellen einen Teil der Rezeptionsgeschichte von Literatur dar«.30

Dass sie ein Abziehbild der Vorlage zu sein habe, dies aber gar nicht sein kann, ist eine doppelte Diskreditierung der Literaturverfilmung. Die Forderung nach Treue gegenüber der »nobleren« Literatur ist nicht nur normativ fragwürdig, sondern auch zur Beschreibung des spezifisch Filmischen untauglich. Gewiss lassen sich allgemeine Parallelen zwischen filmischer und schriftliterarischer Narration identifizieren: In beiden Fällen geht es um die Transformation eines Geschehens in eine fiktive Redeform;31 in beiden Fällen erfolgt eine raumzeitliche Organisation dieses Geschehens in einem Erzähldiskurs; in beiden Fällen stellen sich dieselben erzählerischen Grundfragen: »Aufbau von Plot und Spannung, die Gestaltung von Charakteren und Dialogen, die Wahl einer Erzählperspektive, die Herstellung intertextueller und intermedialer Bezüge«.32Ausgehend von der Gemeinsamkeit des narrativen Anliegens lassen sich gleichwohl Fragen nach den spezifischen Mitteln des Films und der Schriftliteratur stellen.33 Dass auch eine Verfilmung »immer zuerst Film« ist,34 erzeugt meist weitreichende inhaltliche Änderungen sowie eine »visuelle Interpretation durch die dem Film eigenen erzählerischen Mittel«.35 Zu Recht werden daher die Grenzen der Vergleichbarkeit bzw. mediale Eigenwerte des Films hervorgehoben, welche sich von grundlegenden semiotischen Qualitäten bis hin zu Modi der Produktion und Rezeption erstrecken. Der in der Literaturverfilmung stattfindende Medienwechsel kann nur dann angemessen nachvollzogen werden, wenn prototypische Unterschiede zwischen filmischem und schriftliterarischem Erzählen berücksichtigt sind:

– Zeichentyp/Zeichenträger: Der Film ist ein visuell-auditiver Zeichenträger. Dominant sind ikonische (Bild-)Zeichen, die in einem Ähnlichkeitsverhältnis zum Bezeichneten stehen. Hinzu treten auditive Zeichen wie Sprache, Musik, Geräusche. Abgesehen von den sprachlichen Anteilen (Figurenrede, Schrift als Teil der erzählten Welt, Zwischentitel, voice-over-Erzähler) sind die Zeichen nicht konventionalisiert. Es gibt keine distinkt isolierbaren und frei kombinierbaren kleinsten Einheiten, kein Lexikon und keine Grammatik im linguistischen Sinn. Hingegen dominiert im schriftlichen Text mit der (Schrift-)Sprache ein konventionell systematisierter, symbolisch-arbiträrer, zufälliger Zeichencode.36 Generell sind die Zeichen des Films konkret, die der Schriftliteratur abstrakt; das (Film-)Bild erzeugt eine »immediate visual synthesis«, die schriftliche Erzählung ein »linear detailing through time«.37

– Vermittlung: In beiden Erzählformen gibt es »eine perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz«.38 Trotz seiner grundsätzlichen Ikonizität wäre es naiv, »im Film ein Fenster zur Wirklichkeit, statt ein Schaufenster zu sehen«.39Ähnlich einem Schaufenster präsentiert der Film ein Arrangement, für welches vor allem die Mise en scène vor und in der Kamera sowie Schnitt und Montage nach der Kamera verantwortlich sind. Weitere, freilich eher unfilmische Erzählmittel sind der voice-over-Erzähler oder Zwischentitel. Unabhängig davon, ob man beim Film überhaupt von einem Erzähler sprechen mag, die Kamera als Erzähler auffasst oder einen virtuellen »grand imagier«40 sieht, so ist die filmische Erzählinstanz doch anders beschaffen und stärker im Hintergrund, als dies (zumindest potentiell) beim schriftlichen Erzähltext der Fall ist. Der Film »zeigt«, und »der Signifikat ist das Gezeigte«;41 der literarische Erzähler hingegen reiht symbolisch-abstrakte Zeichen aneinander, kann sich »als Ambivalenz schaffende Instanz in das Gezeigte selbst integrieren«42 und so eine »reflexive Thematisierung der eigenen Mittelbarkeit«43 vollziehen. Weil die filmische Erzählung immer etwas zeigen muss, kann sie die »Physiognomie der Dinge«44 nicht ausblenden oder in dem Maße ambivalent halten wie ein Schrifttext. Immer wird sie einen Raum, das Aussehen und den Habitus einer Figur wenigstens umrisshaft erkennbar werden lassen. Auch ein Film kann verschiedene Zeitebenen markieren (z. B. über Zwischentitel, Farbfilter oder Schwarzweiß, Überblendungen, verfremdeten Ton), und natürlich kann auch ein Film ironisieren, etwa über Musik und Montage. Derlei Möglichkeiten der erzählerischen Gestaltung sind jedoch andere und generell begrenzter als die des literarischen Erzählers. (Dies mag ein Grund sein, warum in Literaturverfilmungen häufig voice over genutzt wird.) Das Prototypische des filmischen Erzählens lässt sich mit Peter Christoph Kern zuspitzen:

»Kinonarrationen sind Erzählungen pur, ohne Adjektive, ohne Adverbien, ohne Präpositionen, ohne Nebensätze und schon gleich ohne Negation. Geschichten also in ihrer reinsten Form, die nicht durch Beschreibung und Erklärung, Wertung und Einschränkung, sondern durch unmittelbare Evidenz des Erzählten beim Beschauer ankommt.«45

Allerdings ist die »unmittelbare Evidenz« eine nur »scheinbare Natürlichkeit«, welche nicht zu einer »naiven Auffassung vom Film als Widerspiegelung von Wirklichkeit«46 führen dürfe. (Der Filmseher schaut nicht in die Wirklichkeit, sondern in ein ›Schaufenster‹.) Die Evidenz des Filmischen, also das aus sich selbst heraus zu Sehende, wirkt sich jedoch auf die Beschaffenheit der erzählten Welten aus:

– Erzählte Welten: Die Konkretheit des Visuellen im Gegensatz zur Abstraktion des verbalsprachlichen Zeichens führt den Film »näher an Handlung als an Reflexion, näher an Szene als an Resümee, näher an das Äußere als an das Innere«.47 Der zeigende filmische Text weist eine stärkere Gebundenheit an die äußere Realität auf, während die abstrahierende schriftliche Erzählung eher eine innere Welt stilisiert. Zuspitzen lässt sich, dass es in den erzählten Welten des Films eher »um unsere Emotionen und nicht um unsere Probleme« geht48 bzw. dass der Film »die größte Emotions-Maschine des 20. Jahrhunderts gewesen« ist.49

– Rezeption: Der Gegensatz von Emotionalität und Diskursivität50 ist auch prägend für (allerdings eindimensionale) Typisierungen der Rezeptionsmodi. Danach steht gegen die (bedenkliche) Überwältigung durch große Bilder im dunklen Kino die (bekömmliche) Bewältigung kleiner Buchstaben im hellen Leselicht. Die feste Ablaufstruktur des filmischen Textes im Verbund mit den evidenten Bildern führt zum (Vor-)Urteil über das passiv-konsumierende, anstrengungslose, degradierende Sehen im Gegensatz zum aktiv-konstruierenden, aufwendigen, erhebenden Lesen.51 Hinzu kommt, dass Lesen etwas Individuelles, die Rezeption eines Filmes hingegen etwas Kollektives (im Kino) oder gar Massenhaftes (vor dem Fernseher) ist.52 Rechnet man noch die Anfänge des Films als Jahrmarktattraktion und Varieté-Nummer mit ein, so führen die skizzierten Modi der Rezeption rasch zu kulturellen Diskreditierungen des Films als billiges Vergnügen für die Masse im Gegensatz zur Schriftliteratur als wertvolle Bildungserfahrung für das Individuum.

– Produktion: Die kulturelle Aburteilung des Films wird weiter begünstigt durch die Umstände seiner Produktion. Die schriftliterarische Erzählung entspringt in der Regel dem Tun eines Individuums mit vergleichsweise geringem materiellem Aufwand. (Erst bei Vervielfältigung und Verbreitung kommen weitere Akteure ins Spiel.) Ein filmischer Text ist hingegen das meist sehr kostenintensive Produkt eines Kollektivs aus Drehbuchschreiber, Regisseur, Schauspielern, Kameraleuten etc. Mit der Schriftliteratur verbinden sich (seit der Epoche des Sturm und Drang) genieästhetische Vorstellungen vom original geschöpften Werk eines erhabenen Autors: Der Dichter kehrt sein Innerstes nach außen und will uns etwas Wichtiges, Tiefgründiges sagen – selbst wenn er dabei arm bleibt. Dagegen kann ein Film sehr leicht als kommerziell und daher ästhetisch kalkuliertes Konsumgut abgetan werden: Die Urheber sind keine Schöpfer, sondern Filmemacher; das Resultat ist kein Werk, sondern ein Produkt; der Zweck ist weniger die Erhebung des Geistes als der Erfolg am box office.53

Die Differenzen zwischen schriftliterarischen und filmischen Texten sollen – einschließlich normativer Vergröberungen – noch einmal pointiert werden (Tab. 1):

Tab. 1: Prototypische Differenzen zwischen Schriftliteratur und Film

In ihrer Studie Der verwandelte Text von 1981 sieht Irmela Schneider die hier nachgezeichneten Gegensätze in eine fundamentale – oder möchte man sagen: fundamentalistische? – Unterscheidung zwischen (Literatur als) Kunst und (Film als) Nicht-Kunst einmünden54. Dagegen setzt Schneider die Forderung, nicht »zwischen sog. literarischen und sog. medialen Texten« zu diskriminieren55 und an die Stelle einer normativ-dichotomischen Aufteilung von Literatur in »Hohes« und »Niederes« eine »kommunikationstheoretische Analyse des literarischen Lebens«56 zu setzen. Dies bringt uns zu Fragen der (Film-)Bildung.

1.3 Vermittlungsperspektiven

Was die institutionalisierte Filmbildung angeht, blieb der Widerhall von Schneiders Forderung in den letzten 30 Jahren gering. Im Zuge der Kommunikativen Wende um 1970 fanden Sachtexte und sogenannte Trivialliteratur Eingang in die Curricula. Zudem wurde über das Printmediale hinaus die »Dominanz der optischen Massenmedien wie Fotografie, Film, Fernsehen, Illustrierte, Werbung, Comics usw.«57 stärker anerkannt. So ging es nun nicht mehr um die ehrfurchtsvolle Vermittlung hoher Kulturgüter, sondern um die kritische Reflexion auch »visuelle[r] Kommunikation im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang«.58 Nach der Ermüdung der Reformbewegungen der 1970er Jahre und trotz der Entwicklungen der Medienkultur seit den 1990ern mit PCs, Privatfernsehen, Internet, Web 2.0 usw. hat die schulische Integration von Medien indes nicht annähernd den didaktisch und kulturell erforderlichen Stand erreicht.59 Als symptomatisch hierfür kann gelten, dass auch in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) für die Allgemeine Hochschulreife (2012) nach wie vor und doch wenig sinnvoll die Rede von »Texten und Medien« ist – als ob (Schrift-)Texte nicht auch Medien wären bzw. eine eigene Medialität hätten; und dass literarische Texte geschieden werden von pragmatischen und von »Texten unterschiedlicher medialer Form« – als ob Literatur nicht in unterschiedlichen medialen Ausformungen vorliegen kann.60

»Literaturverfilmungen sind Neuversinnlichungen literarischer Texte. […] Literatur ist hier in einem anderen Aggregatzustand«61. Mitunter wird der Film sogar als eigene, vierte Großgattung der Literatur betrachtet,62 denn in der Tat: Im Gegensatz zu Hyperfiction oder narrativen Computerspielen hat der Film eine über 100jährige Geschichte, in der er distinkte Epochen durchlaufen, Genres ausgebildet, ihm eigene Darstellungsmittel entwickelt, künstlerische Potenz und kulturellen Rang erworben hat.63 Der Spielfilm ist seit geraumer Zeit ein, wenn nicht das fiktionale Leitmedium unserer Kultur. Dennoch bleibt Spielfilmbildung an unseren Schulen, wie Matthis Kepser (2008) erhoben hat, weitgehend »Fehlanzeige«. Im günstigeren Fall dienen Literaturverfilmungen der abschließenden »Belohnung« für anstrengende Lektüre; im schlimmeren werden mit Popcorn-Kino die letzten Tage vor den Ferien totgeschlagen. Die Bildungsstandards der KMK legen diesbezüglich keinen grundlegenden Wandel nahe. Für den Mittleren Bildungsabschluss ist der Film kaum mehr als ein Anhängsel. Wo für den Umgang mit literarischen Texten detaillierte Standards formuliert sind, taucht der Film lediglich am Rande unter »medienspezifische Formen« auf.64 Demgegenüber stellen die Standards für das Abitur einen – freilich kleinen – Fortschritt dar: Die Schüler(innen) analysieren und erstellen »Theaterinszenierungen, Hörtexte und Filme«, wobei sie sich mit »Welt- und Wertvorstellungen, auch in einer interkulturellen Perspektive, auseinandersetzen«.65 Auf einem »erhöhten Niveau« geht es um ästhetische Qualität, um kulturelle und historische Dimensionen und um Filmkritik und Filmtheorie. Ungeachtet solcher Ansätze herrscht in Bildungsplänen und Klassenzimmern nach wie vor ein printmedialer und buchkultureller Habitus vor.

Diese Einseitigkeit ist umso bemerkenswerter, als sie den kulturellen und fachdidaktischen Bemühungen um den Film keineswegs entspricht. Ein von der Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) 2003 vorgestellter Kanon aus 35 Filmen war ein wichtiger Schritt für die Bewusstmachung des Films als kulturellen Gegenstands und für eine verbesserte schulische Vermittlung von Filmkompetenz. »Das Medium Film als wesentliches Element unserer Kultur soll stärker als bisher im Schulunterricht verankert werden«66 – so die explizite Zielsetzung.67 Die Länderkonferenz Medienbildung hat ein kompetenzorientiertes Modell für die schulische Filmbildung vorgelegt;68 und last but not least ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe filmanalytischer und filmdidaktischer Publikationen erschienen.69

Da es hier um den Eigenwert des Mediums Film geht, mag man fragen, warum keine genuinen Filmwerke herangezogen werden. Hierauf gibt es zwei Antworten: Einmal ist der Umgang mit Schriftliteratur für Lehrer(innen) wie Schüler(innen) vertraut; den vergleichsweise ungewohnten Umgang mit dem Film damit zu verknüpfen, schafft daher pragmatische wie auch fachliche Synergien. Der Fokus auf Verfilmungen begründet sich aber vor allem aus dem Lernpotential von Vergleichsoperationen: Was Film ist und kann, das wird besonders gut erfahrbar im Vergleich zu dem, was Schriftliteratur ist und kann.

In diesem Vergleich wird die Verfilmung nicht als zweitrangiges Derivat der Vorlage und nach dem Kriterium der Werktreue bemessen, sondern als eigenständiger Text. Es geht um Mehrwerte der Transformation bzw. des Medienwechsels, um die »wechselseitige Erhellung des Unterschiedlichen«,70 um die Frage: »Wie erzählen Schrifttexte und wie erzählen Filmtexte?«71