Vom Gott des Lebens - Markus Witte - E-Book

Vom Gott des Lebens E-Book

Markus Witte

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Beschreibung

Der Band bietet eine Sammlung von Predigten über Texte aus dem Alten Testament, die der Verfasser in den Jahren 2004 bis 2015 in Hochschulgottesdiensten gehalten hat. Mittels ausgewählter Bilder und Motive in den Schriften des alten Israel und des frühen Judentums wird menschliches Leben in der Spannung von Glück und Unglück, Gelingen und Misslingen, Freude und Trauer gedeutet. Die vorgeführten Auslegungen zielen auf Orientierung in einer oft rätselhaften Welt. Dabei werden neueste exegetische Erkenntnisse im Modus der Verkündigung für die Erhellung menschlicher Existenz fruchtbar gemacht. Den Predigten sind grundsätzliche Überlegungen zur literarischen und theologischen Rolle des Alten Testaments im Rahmen der einen aus zwei Teilen bestehenden christlichen Bibel, zum Verhältnis von Kirche und Judentum sowie zum lebensdeutenden Potential heiliger Schriften vorangestellt. Mit dieser hermeneutischen Einleitung und der Fokussierung auf Texte aus dem Alten Testament fügt sich der Band zur gegenwärtig wieder neu in Kirche und Theologie entbrannten Diskussion über die Frage der theologischen Zuordnung der Schriften Israels zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus.

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Markus Witte

Vom Gott des Lebens

Predigten über Texte aus dem Alten Testament

Mit einer Einführung in seine Bedeutung für Glaube, Theologie und Kirche

2015

Neukirchener Theologie

© 2015

Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten

Lektorat: Volker Hampel

DTP: Heye Jensen

E-Pub: Breklumer-Print-Service.com

Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN 978–3–7887–3023–9 (Print)

ISBN 978–3–7887–3024–6 (E-Book-PDF)

ISBN 978–3–7887–3025–3 (E-Pub)

www.neukirchener-verlage.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Eine Predigt ist öffentliche Deutung von Leben aus der Perspektive eines biblischen Textes. Sie hat ihren eigentlichen Ort in einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation, richtet sich an eine konkrete Gemeinde und vollzieht sich im Modus mündlicher Rede. Als ein solches aktuelles, einmaliges und von der Kommunikation zwischen Gemeinde und Predigendem lebendes Geschehen entzieht sich eine Predigt eigentlich der späteren Veröffentlichung in Schrifttum.

Wenn ich hier dennoch ausgewählte Predigten über Texte aus dem Alten, und in einem Fall, aus dem Neuen Testament, die ich in den Jahren 2002 bis 2015 überwiegend in Universitätsgottesdiensten gehalten habe, in schriftlicher Form vorlege, dann hat dies einen doppelten Anlass: zum einen den Wunsch zahlreicher Hörer und Hörerinnen, das Gepredigte noch einmal nachlesen zu können, zum anderen – und dies ist der ausschlaggebende Grund für die Publikation – die jüngst entflammte Diskussion über die kanonische Geltung des Alten Testaments. Mit der den hier abgedruckten Predigten vorangestellten Einleitung zur bleibenden Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, die christliche Theologie und die Kirche wird auf diese mitunter sehr heftig und weit über die Grenzen der theologischen Wissenschaft hinaus geführte Debatte reagiert. So verbindet sich mit dem vorliegenden Buch die Hoffnung, dass diese Predigten über alttestamentliche Texte auch in einer schriftlichen und ihrem ursprünglichen Kontext enthobenen Form die Funktion erfüllen können, dem Gott des Lebens nachzuspüren und so das Leben zu verstehen. Zugleich zeigen sie hoffentlich, dass jegliche christliche Rede von Gott angewiesen ist auf das Wort Gottes, wie es im Alten Testament in vielfältiger Weise Gestalt angenommen und immer wieder neue Auslegungen erfahren hat.

Die Anordnung der Predigten folgt der Bücherfolge in der Lutherbibel, die letztlich auf die Reihenfolge der biblischen Schriften in der Septuaginta und der Vulgata zurückgeht, auch wenn ihr, wie der Einheitsübersetzung und der Zürcher Übersetzung, der Wortbestand der Hebräischen Bibel zugrundeliegt. Natürlich wäre auch eine Anordnung gemäß der Bücherfolge in der Hebräischen Bibel denkbar gewesen, doch sind Hebräische Bibel und Altes Testament, wie ich in der Einführung erläutere, hermeneutisch und kanonsgeschichtlich nicht dasselbe.

Die den Predigten vorangestellte Einführung in die Bedeutung des Alten Testaments geht in ihrer Substanz auf eine öffentliche Disputation zur kanonischen Geltung des Alten Testaments zurück, die Herr Kollege Notger Slenczka (Theologische Fakultät Berlin), Frau Kollegin Hanna Liss (Jüdische Hochschule Heidelberg) und ich am 10.7.2015 vor über 600 Hörern und Hörerinnen im Audimax der Humboldt-Universität zu Berlin geführt haben, und nimmt Überlegungen auf, die ich in dem kleinen Band „Jesus Christus im Alten Testament“ (2013) ausführlicher entfaltet habe.

Den Predigten wurden, sofern zum Verständnis der zeitgeschichtlichen Situation nötig, für die Druckfassung Fußnoten beigegeben. Der Wortlaut der Predigttexte ist zumeist der Lutherübersetzung (1984) oder der Einheitsübersetzung (1980) entnommen. Wo ich auf eine andere Übersetzung zurückgegriffen habe, ist dies eigens angegeben. Bibelstellen werden nach den Loccumer Richtlinien abgekürzt. Hebräische und griechische Wörter gebe ich in einer vereinfachten Umschrift wieder. Für die Erstellung der Druckvorlage danke ich herzlich Herrn Heye Jensen. Beim Lesen der Korrekturen hat mich dankenswerterweise meine Tochter Zora unterstützt. Dem Neukirchener Verlag, zumal in Person von Herrn Dr. Volker Hampel, danke ich sehr für die Aufnahme der Sammlung in sein Verlagsprogramm.

Gewidmet ist der Band den Menschen, welche die hier abgedruckten Predigten erstmals in Frankfurt am Main, in Gießen oder in Berlin gehört haben.

Berlin, September im 2015Markus Witte

Zur Bedeutung des Aslten Testaments für den christlichen Glauben, die christliche Kirche und die christliche Theologie

„Der Grund der Theologie ist Bibel und der Grund des N. T. ist das alte. Unmöglich verstehn wir jenes recht, wenn wir dieses nicht verstehen: denn Christenthum ist aus dem Judenthum hervorgegangen, der Genius der Sprache ist in beiderlei Büchern derselbe.“ (Johann Gottfried Herder, 1782).1

Beide großen Bekenntnisse der christlichen Kirchen, das Apostolische Bekenntnis (Apostolicum) im Bereich der römisch-katholischen und der reformatorischen Kirchen, das Nizäno-Konstantinopolitanische Bekenntnis (Nicänum) im Bereich der orthodoxen Kirchen, spiegeln bereits mit ihrem ersten Satz, in dem sie den Glauben an Gott als den Vater, den Allmächtigen und den Schöpfer des Himmels und der Erde ausdrücken, die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, die christliche Kirche und die christliche Theologie. Jedes Element dieser Einleitung hat eine Wurzel im Alten Testament und im frühjüdischen Schrifttum. Der Glaube an Jesus Christus, der in den dann folgenden Zeilen beider Bekenntnisse artikuliert wird, hat das Vertrauen auf Gott als Vater, wie ihn das Alte Testament als Leben schenkende, Geschichte machtvoll gestaltende und Sinn stiftende Größe beschreibt, zur Voraussetzung. Christlichen Glauben gibt es nach diesen Bekenntnissen nur in der Rückbindung des Glaubens an den Gott, der sich in der Schöpfung, in der Geschichte Israels und in den Psalmen Israels als der Gott des Lebens erwiesen hat – und immer wieder als lebendiger Gott erweist. Indem die Einleitung des Apostolicums und des Nizänums alle christlichen Kirchen verbindet, steht sie stellvertretend für die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Kirche. Indem beide Bekenntnisse bis heute ein Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung, der Auslegung und der Adaption an den gegenwärtigen Glauben und das gegenwärtige Leben der Kirche sind, unterstreichen sie die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Theologie. Wenn nun aus der christlichen Theologie selbst, sei es aus literatur- und religionsgeschichtlichen, aus religionspsychologischen und religionsdialogischen oder aus theologischen Gründen, Zweifel an der Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, die christliche Kirche und die christliche Theologie erhoben werden, dann gilt es, an Grundlagen der christlichen Rezeption der im Alten Testament versammelten Schriften und an wesentliche Formen seines Verstehens zu erinnern.

1

Im Neuen Testament finden sich etwa 350 Zitate aus dem Alten Testament; hinzu kommen 3400 Anspielungen auf alttestamentliche Texte.2 Das Alte Testament, das zur Zeit der frühchristlichen Schriften noch nicht so heißt, sondern, wie auch im heutigen Judentum, einfach unter dem Namen „die Schrift“ (Lk 4,21; Röm 4,21) oder „Mose, die Propheten und die Schriften“ (Lk 24,27), gelegentlich auch im Blick auf die Fünf Bücher Mose / den Pentateuch als „das Gesetz (des Mose)“ (griech. nómos, hebr. tôrāh / die Weisung (vgl. Mt 5,17; 1Kor 9,9) erscheint, ist die Bibel der frühen Christen. Es ist das Buch, mit dessen Hilfe sie das Leben Jesu beschreiben und deuten. Es ist das Werk, das den neutestamentlichen Autoren die Begriffe und die Bilder zur Darstellung des Handels Gottes in Jesus gibt. Aus den Schriften des Alten Testaments wie aus weiteren jüdischen Schriften des antiken Judentums, die nicht in den späteren Kanon aufgenommen werden, stammt der Titel des Messias, des Gesalbten. In seiner griechischen Form christós wurde der alte Titel der judäischen Könige zum Beinamen Jesu von Nazareth und zum Programm seiner Funktion in der Geschichte Gottes mit Israel und, vermittelt über dieses, mit der Welt. Das Alte Testament ist das Lebens-, Lehr- und Gebetbuch des sich aus dem Judentum entwickelnden Christentums.

Bei der Anwendung der Schriften des Alten Testaments bedient sich das frühe Christentum grundsätzlich derselben Methoden, wie sie im zeitgenössischen Judentum in unterschiedlicher Profilierung in den Schriften von Qumran, bei Philo von Alexandria oder in frühen Targumen, aber auch in der nichtjüdischen griechischen Welt zur Deutung von Traditionstexten, wie z.B. der Werke Homers, üblich sind. So findet sich im Neuen Testament zunächst die allegorische Auslegung. Hier wird nach einer verborgenen Dimension im auszulegenden Text gefragt, die dann entschlüsselt wird. Als eine Sonderform der Allegorie begegnet die Typologie, bei der im auszulegenden Text ein Prototyp für eine spätere Figur oder ein späteres Ereignis gesehen wird. Schließlich kann der Text eschatologisch ausgelegt werden. Dabei wird der Text als eine Weissagung auf ein endzeitliches Geschehen verstanden. Dieses Geschehen kann auch im Sinn einer präsentischen Eschatologie in der als Endzeit verstandenen Gegenwart als realisiert betrachtet werden. Spezifisch christlich wird eine allegorische, typologische oder eschatologische Auslegung dadurch, dass sie das in den Schriften des antiken Judentums Erzählte oder Prophezeite auf das Handeln Gottes in Jesus von Nazareth bezieht. Im Zuge der Auslegung von Texten aus der Tora, den Propheten und den Psalmen wird dieser als Messias / Christus gedeutet. Insofern kennzeichnet die neutestamentliche Aufnahme der alttestamentlichen Texte eine messianische bzw. christologische, d.h. auf Christus orientierte und zentrierte Auslegung.

Ein charakteristisches und vielschichtiges Beispiel einer auf Jesus Christus bezogenen allegorischen Schriftauslegung bietet Paulus im Galaterbrief. So bezieht Paulus in Gal 4,21–31 die Erzählungen von Abraham, seiner Frau Sara, deren Magd Hagar sowie den von diesen beiden Frauen geborenen Söhnen Isaak und Ismael (vgl. Gen 16; 21) auf das Verhältnis zwischen dem an das „Gesetz“ gebundenen Weg zu Gott und dem durch den Glauben an Jesus Christus ermöglichten Heil. Paulus deutet die Magd Hagar aufgrund einer eigenwilligen arabischen Etymologie als Chiffre für den in Arabien lokalisierten Berg Sinai, an dem nach Ex 19 die Tora offenbart wurde. In Sara, der Freien, sieht er die Mutter des Sohnes der Verheißung (vgl. Gen 18,10), des Sohnes der Freiheit vom „Gesetz“. Isaak erscheint als eine Chiffre für Jesus Christus und für die an ihn Glaubenden (vgl. Röm 9,7; Hebr 11,18).

Typologische Auslegungen finden sich im Neuen Testament für fast alle großen Figuren und Ereignisse, die in der alttestamentlichen Darstellung der Geschichte Israels eine zentrale Rolle spielen, so, wenn beispielsweise Adam, die Erzväter, Mose, David, Salomo oder Elia bzw. der Exodus oder die Bewahrung Israels auf der Wüstenwanderung als Vorbilder Jesu Christi bzw. als frühgeschichtliche Modelle des Handelns Gottes in Jesus Christus verstanden und zugleich zur Deutung von dessen Leben, Tod und Auferstehung herangezogen werden. Jeweils spezifische Funktionen der einzelnen Figuren oder bestimmte Geschehensstrukturen werden typologisch auf Jesus Christus hin gelesen, z.B. die universalen Auswirkungen der Sünde Adams,3 das befreiende Handeln Gottes im Exodus,4 die Rettung Israels in der Wüste durch Mose5 oder die Weisheit Salomos6. Eine besonders ausgestaltete Typologie bietet der Hebräerbrief, wenn er auf die in Gen 14,18–22 und davon abhängig in Ps 110,4 genannte Figur des Melchisedek zurückgreift. So versteht der Hebräerbrief diesen Melchisedek als Urbild des Hohepriesters und als Prototyp eines als Priester tätigen Jesus Christus.7 Die Melchisedek-Typologie des Hebräerbriefs zeigt, wie frühchristliche Autoren an einem im Judentum in hellenistisch-römischer Zeit verbreiteten Auslegungsdiskurs – hier an den auch über das Schrifttum aus Qumran (11Q13) bekannten Melchisedek-Spekulationen – teilhaben und wie sie zentrale jüdische Vorstellungen über den Tempel, den Priesterdienst, das Opfer und die Sühne zur Deutung von Person und Werk Jesu Christi heranziehen.

Die sowohl für den Schriftgebrauch Jesu als auch für den der neutestamentlichen Autoren wichtigste Hermeneutik stellt das eschatologische Verständnis der Schriften Israels dar. Eine eschatologische Interpretation ist nicht auf die Auslegung futurisch ausgerichteter Texte wie prophetischer Orakel beschränkt. Sie kann sich auch auf gegenwartsbezogene Texte wie weisheitliche Mahnungen oder Klage- und Bittgebete erstrecken. Bereits innerhalb der Schriften Israels findet sich spätestens seit dem 4./3. Jh. v. Chr. eine eschatologische relecture älterer Texte. So wurden in die Geschichtsbücher eschatologische Texte eingebettet.8 Die Prophetenbücher wurden zu einem zwei- oder dreigliedrigen universalen endzeitlichen Drama ausgestaltet, das über die Stufen des Gerichts an Israel, an den Völkern und an der gesamten Welt zum endgültigen von Gott gewirkten Heil führt. Alte Jahwe-König-Psalmen9 wurden in Lieder von Gottes endzeitlichem Königtum umgeformt und einzelne Weisheitstexte10 erhielten einen eschatologischen Ausblick. Im zeitlichen Umfeld des Auftretens Jesu belegen aus Qumran bekannte jüdische Kommentare (Pescharim) zu einzelnen Prophetenbüchern und Psalmen eine vergleichbare eschatologische Interpretation.11

Charakteristisch für das im Neuen Testament vorliegende eschatologische Verstehen sind zwei Punkte: Erstens hat bereits Jesus selbst seine Person und sein Auftreten mit Metaphern gedeutet, die in den Schriften Israels auf die Endzeit bezogen sind. Dies gilt für die vor allem in den prophetischen Büchern, einzelnen Psalmen und in den apokalyptischen Passagen des Danielbuchs ausgedrückte Vorstellung von der im Anbruch befindlichen endgültigen Königsherrschaft Gottes,12 und dies gilt für den vor allem im nicht kanonisch gewordenen, frühjüdischen apokalyptischen Schrifttum beheimateten Titel „Menschensohn“. Die traditionsgeschichtliche Entwicklung und das alttestamentliche Verwendungsspektrum des Titels „Menschensohn“ umfassen die einfache Kennzeichnung eines Menschen in seiner Beziehung zu Gott (Ps 8,5), die spezifische Bezeichnung des Propheten Ezechiel (Ez 2,1) sowie die Titulierung einer vieldeutigen endzeitlichen, himmlischen (Retter-)Gestalt (Dan 7,13)13. Zweitens haben die frühchristlichen Autoren, mit charakteristischen Differenzen im jeweiligen eschatologischen Wirklichkeitsverständnis, Leben, Tod und Auferstehung Jesu als Erfüllung „alttestamentlicher“ Weissagungen interpretiert.

Wie die unterschiedlichen alttestamentlichen Eschatologien ihr Zentrum im endgültigen Handeln des einen und einzigen Gottes Jahwe finden, so gilt für alle neutestamentlichen Autoren, dass sie in Jesus Christus das unumkehrbare und unüberbietbare Heilshandeln dieses Gottes sehen. Dementsprechend kennzeichnet die Rezeption der alttestamentlichen Schriften im Neuen Testament der „eschatologische Weissagungsbeweis“. Auf diese Weise wird Jesus mit unterschiedlichen, im antiken Judentum für die Endzeit erwarteten Heilsfiguren identifiziert, und so werden die entscheidenden Situationen seines Lebens von der Geburt bis zum Tod am Kreuz und der Auferstehung als ein schriftgemäßes Handeln Gottes interpretiert.14 Dabei kann der auf Jesus Christus bezogene Weissagungsbeweis auf die ausdrückliche Zitation von Einzelstellen und auf die gesamte aus Tora und Propheten bestehende, im Bereich der sogenannten Hagiographen (Ketuvim) noch im Werden befindliche Sammlung der heiligen Schriften Israels rekurrieren. Beispielsweise stellt Lukas den auferstandenen Christus als den exemplarischen Ausleger der Schriften Israels dar (Lk 24,27). Aus dieser Charakterisierung spricht zugleich das frühchristliche Bewusstsein einer so erst durch Jesus Christus ermöglichten Lektüre der Schriften Israels (vgl. Apg 8,26–40; 2Kor 3,12–18).

Im Rahmen der eschatologischen Interpretation wird mitunter eine scharfe Antithetik zwischen dem als endgültige Offenbarung Gottes verstandenen Jesus Christus und den dann als vorläufig oder überholt betrachteten Offenbarungen Gottes vor Abraham und Mose, wie sie in der Tora verschriftet sind, aufgebaut. In diesem Fall erscheint Jesus Christus nicht primär als Erfüllung, sondern als Überbietung alttestamentlicher Heilsvorstellungen. Das Alte Testament wird dann zur Kontrastfolie der Darstellung von Leben und Werk Jesu Christi.15 Auch eine solche Form antithetischen oder überbietenden Schriftverständnisses ist von ihrer Struktur her nicht eigentlich christlich. Dies belegen die inneralttestamentliche Kritik an der Tora des Mose bzw. am Umgang mit dieser seitens bestimmter weisheitlicher und prophetischer Autoren16 sowie esoterische Texte aus Qumran17 oder die frühjüdische Henochüberlieferung. Die antithetische Auslegung hat aber durch die exklusive Bindung an Jesus Christus eine neue Dimension erreicht. Noch deutlicher als bei der Allegorie und bei der Typologie zeigt sich beim eschatologischen Weissagungsbeweis und bei der antithetischen Gegenüberstellung die Wechselwirkung zwischen dem auf Jesus Christus hin ausgelegten Alten Testament und der Deutung von Person und Werk Jesu mittels des Alten Testaments. So erschließt sich hier das Alte Testament von Jesus Christus her wie umgekehrt das Alte Testament das Verständnis Jesu Christi ermöglicht.

Schon für die neutestamentliche Aufnahme des Alten Testaments ist wesentlich, dass das Gelesene verstanden wird. Glaube und Verstehen gehören für das Christentum, das in dieser Hinsicht ein Erbe der frühjüdischen kritischen Weisheit (Hiob, Kohelet, zum Teil auch Jesus Sirach) ist, von seinen Anfängen an zusammen. Beispielhaft zeigt sich dies an der Erzählung vom äthiopischen Beamten, der bei der Lektüre einer Jesajarolle dem Apostel Philippus begegnet und sich mit der Frage konfrontiert sieht: „Verstehst du, was du liest?“ (Apg 8,30–36). Das von Philippus bzw. vom Verfasser der Apostelgeschichte gemeinte Verstehen bezieht sich auf eine typologische Identifikation des in Jes 53,7–8 genannten Gottesknechtes mit Jesus Christus. Der stellvertretende Tod des leidenden Gerechten aus Jes 52–53 wird hier als Vorbild des stellvertretenden Todes Jesu verstanden, dessen Biographie im Neuen Testament selbst nach dem Muster des alttestamentlichen Motivs eines leidenden Gerechten und eines verfolgten Propheten gestaltet werden kann. Das Alte Testament wird hier im Zusammenspiel mit dem Christusereignis zum Grund des Glaubens und zum Mittel dieses zu verstehen.

2

Die im Neuen Testament vorhandenen Auslegungs- und Verstehensmethoden des Alten Testaments prägen den Umgang des Christentums mit den Schriften des antiken Judentums, die sich im Laufe des zweiten und dritten Jahrhunderts zu einer mehr oder weniger fest abgegrenzten Gruppe von Schriften zusammenfinden, die spätestens im vierten Jahrhundert als kanonisch gelten und die fortan gemeinsam mit einer Auswahl von frühchristlichen Schriften, die den Kriterien der apostolischen Herkunft und der Geltung in der gesamten Ökumene genügen, in einer Bibel tradiert werden.18 Wie hinter der Idee eines nun aus Altem und Neuem Testament bestehenden Kanons die Vorstellung von der Identität des von beiden Testamenten bezeugten Gottes und seines Handelns steht, so finden auch die oben skizzierten Methoden auf beide Testamente ihre Anwendung. Es ist die eine, aus zwei Teilen verbundene Bibel, die im Christentum bis in die frühe Neuzeit ganz überwiegend allegorisch, typologisch oder eschatologisch verstanden wird.

Die im Mittelalter entfaltete Lehre vom vierfachen Schriftsinn, demgemäß zwischen erstens einem wörtlichen (ereignishaften) Sinn, dem Literalsinn, zweitens einem allegorischen/typologischen (auf den Glauben bezogenen) Sinn, drittens einem moralischen/tropologischen (auf das Handeln, die tätige Liebe bezogenen) Sinn und viertens einem eschatologischen/anagogischen (auf die Hoffnung auf das zukünftige Handel Gottes bezogenen) Sinn unterschieden werden kann, oder Luthers Reduktion des vierfachen Schriftsinns auf einen wörtlichen und einen auf Christus bezogenen Sinn, entsprechen prinzipiell und strukturell den im Neuen Testament vorhandenen Auslegungen. Allerdings finden sich von der Alten Kirche an immer wieder auch kritische Anfragen an die Gleichsetzung des im Alten Testament beschriebenen Gottes mit dem Gott des Neuen Testaments. Dabei sind es vor allem Bilder eines kriegerischen oder gewalttätigen Gottes, die als unvereinbar mit dem Gott der Liebe angesehen werden. So führt bei Marcion von Sinope (um 85 bis 160 n. Chr.)19 eine scharfe Antithetik alt- und neutestamentlicher Aussagen zu einer Aufspaltung des Gottesbildes in ein vermeintlich jüdisches und in ein vermeintlich christliches Bild sowie zur Forderung, das Alte Testament aus dem Bestand der heiligen Schriften des Christentums auszugliedern und die neutestamentlichen Schriften von allem Alttestamentlichen (Jüdischen) zu reinigen. Die Kirche hat gegenüber solchen Forderungen, die im Laufe der christlichen Auslegungsgeschichte punktuell immer wieder auftauchten, am Alten Testament und seiner Kanonizität festgehalten. Wesentliche Formulierungen ihrer grundlegenden Gebete und Bekenntnisse verdanken sich einzelnen im Alten Testament entwickelten und begründeten Gottesvorstellungen. Weder das Vaterunser noch das Apostolische Glaubensbekenntnis sind ohne die frühjüdische Gebetssprache und die im Alten Testament entfalteten Vorstellungen von Gott als Schöpfer, König, Herr über Leben und Tod, Richter und Spender eines Geistes, der das Leben als Geschenk erfahren lässt, denkbar. Durchgehend zeigt sich in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte, dass dort, wo der Glaube in der Anfechtung steht, wo das Leben in die absolute Krise geraten ist, die alttestamentlichen Psalmen und die im Hiobbuch versammelten Deutungen des Leidens, in Sprache verleihen und Sinn entdecken lassen.

Mit dem Aufkommen der historischen Bibelkritik, die unter dem Einfluss von Aufklärungsphilosophie und Romantik nach den historischen Ursprüngen, nach der ursprünglichen Situation, Intention und Zielgruppe eines biblischen Textes fragt, wurde die Kritik am Alten Testament oder an einzelnen alttestamentlichen Schriften, wie sie vereinzelt in der Alten Kirche oder im Mittelalter und in der frühen Neuzeit laut wurde, auf eine ganz neue Basis gestellt. Die Erkenntnis, dass die im Alten Testament versammelten Schriften eine Entstehungszeit von rund tausend Jahren haben, dass sie ganz unterschiedliche Gattungen und Sitze im Leben aufweisen, dass sie einem vielfältigen Prozess von Selektion, Redaktion und Transformation unterlagen, dass sie ursprünglich an Menschen in Israel und Juda gerichtet waren und sie im historischen Sinn nicht von Jesus Christus reden, ließ zunehmend die Fragen aufkommen, welche Rolle diese Schriften für den christlichen Glauben, die Kirche und die Theologie spielen.

Gelten die Schriften des Alten Testaments nicht primär oder gar ausschließlich Israel? Können Dokumente einer altorientalisch-hellenistischen Religion überhaupt Anspruch auf Geltung im Horizont des Christentums erheben? Handelt es sich bei der christlichen Rezeption der Schriften des antiken Judentums nicht um ein religionsgeschichtliches Fossil, das mit gegenwärtigem religiösen Empfinden nicht mehr vereinbar und daher aufzugeben ist? Wie lassen sich die Erzählungen von Krieg und Vernichtung ganzer Völker im Buch Josua, die Rede von Gottes Zorn und Strafe oder die Gebete um Rache an den Feinden mit dem christlichen Glauben vereinbaren? Liegt mit einer Verwendung des Alten Testaments im persönlichen Gebet, im christlichen Gottesdienst oder in der christlichen Theologie nicht eine Enteignung Israels, mithin ein antijudaistischer Akt vor? Relativiert die kanonische Geltung des Alten Testaments im Raum der Kirche nicht die Bedeutung Jesu und seiner Botschaft? Mit diesen und ähnlichen Fragen sah sich die christliche Auslegung des Alten Testaments zunehmend seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und mit besonderer Schärfe in den 1920/30er Jahren konfrontiert.20

Genau diese Fragen sind in jüngster Zeit, angestoßen von Thesen des Berliner systematischen Theologen Notger Slenczka, wieder aufgetaucht.21Sie lassen sich auf die Frage zuspitzen, wie eine kanonische Geltung des Alten Testaments unter den Bedingungen historischen Denkens, das heißt unter Verzicht auf eine aus der neutestamentlichen Rückschau gewonnene, christologisch orientierte Hermeneutik, und angesichts der Tatsache, dass die im Alten Testament versammelten Schriften in Gestalt der Hebräischen Bibel bis heute selbstgewichtige heilige Schrift des Judentums sind, vertreten werden kann.

Die vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entworfenen Hermeneutiken des Alten Testaments bieten hier vielfältige Modelle des Verstehens. Sie reichen von einer Wiederbelebung der Antithetik, indem das Alte Testament dem Neuen als einer Geschichte des Scheiterns vorgeordnet wird, über die Bestimmung einer frömmigkeitsgeschichtlichen oder traditionsgeschichtlichen Kontinuität, die Beschreibung von strukturellen Analogien hinsichtlich des Gottes- und Menschenbildes in beiden Testamenten bis hin zu Versuchen einer doppelten, d.h. einer jüdischen und einer christlichen Lesart, der Annahme einer internen (binnenalttestamentlichen) und einer externen (christusbezogenen) Mitte des Alten Testaments oder der Formulierung von beiden Testamenten gemeinsamen Themen. Diese einzelnen Entwürfe, die zum Teil auf mehreren hundert Seiten entfaltet werden, können hier nicht im Detail dargestellt werden. Eine repräsentative Auswahl von Ansätzen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet Claus Westermann (1960).22 In jüngerer Zeit haben Manfred Oeming (1998) und Frank Crüsemann (2011) entsprechende Übersichten mit einer kritischen Würdigung verfasst.23

3

Die folgenden Ausführungen zur bleibenden theologischen Bedeutung des Alten Testaments knüpfen an die vor allem von Hartmut Gese vertretene traditionsgeschichtliche Zuordnung beider Testamente und an die besonders von Horst Dietrich Preuss entwickelte Strukturanalogie an.24Koordinaten eines Verstehens des Alten Testaments sind einerseits die im Alten Testament selbst sichtbaren Entwicklungen und geschichtlichen Entfaltungen grundlegender Vorstellungen zur Wahrnehmung und Deutung der Welt hinsichtlich ihrer Aufnahme und Transformation im Neuen Testament, andererseits die strukturellen Entsprechungen zwischen Altem und Neuen Testament hinsichtlich ihres sprachlich und geschichtlich vielfältigen Redens von Gott und dem Menschen. Die im Prolog des Hebräerbriefes angesprochene Vielfalt des Redens des einen Gottes (Hebr 1,1–2) gilt es bei einem Verstehen des Alten Testaments in literatur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht ebenso ernst zu nehmen wie in theologischer und anthropologischer Dimension. Mittels einer traditions- und literaturgeschichtlichen Kontextualisierung der alttestamentlichen Texte selbst, beider die fortlaufende Auslegung und Korrektur bestimmter Gottesaussagen innerhalb des Alten Testaments deutlich wird, einerseits und mittels einer existentialen Auslegung im Sinne einer Bestimmung des den jeweiligen Texten zugrundeliegenden Verständnisses Gottes und des Menschen samt einer Verknüpfung mit gegenwärtigem Menschen- und Existenzverständnis andererseits kann das lebensdeutende Potential des Alten Testaments erhoben und so seine grundlegende Bedeutung für das Existenzverständnis bestimmt werden.

Das Alte Testament ist, wie skizziert, aus sprach- und traditionsgeschichtlichen, aus literatur- und rezeptionsgeschichtlichen sowie aus theologischen Gründen ein integraler Teil der einen aus zwei Teilen bestehenden christlichen Bibel. Zu diesen Gründen kommen praktisch-theologische und ökumenische hinzu, insofern alttestamentliche Texte und Symbole bis heute in allen christlichen Kirchen Grundlagen für Predigt, Verkündigung, Unterricht, Liturgie und Seelsorge sind. Der Begriff „Altes Testament“ ist dabei insoweit flexibel, als in den unterschiedlichen christlichen Kirchen der Umfang der Sammlung alttestamentlicher Schriften, deren Anordnung und deren immanente Kapitelfolge mitunter stark variiert. Drei Beispiele mögen dies verdeutlichen:

1) Das Jeremiabuch der Hebräischen Bibel, die im wesentlichen die Texgrundlage für die Bibelübersetzung der reformatorischen Kirche darstellt, bietet den Zyklus der Sprüche gegen die fremden Völker im letzten Buchteil in den Kap. 46–51. Im Jeremiabuch der Griechischen Bibel findet sich dieser Zyklus in der Mitte des Buchs im Anschluss an Kap. 25, dabei in teilweise anderer Anordnung der Orakel. Damit weisen beide Bücher ein grundlegend unterschiedliches dramatisches Profil auf.

2) Zur Griechischen Bibel, der Septuaginta, welche die heiligen Schriften des griechischsprachigen Judentums in der hellenistischen Metropole Alexandria enthält und die das eigentliche „Alte Testament“ des frühen Christentums ist, zählen einige Schriften, die keinen Eingang in die Hebräische Bibel gefunden haben, die aber im Bereich der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirchen zum Kanon gehören. Dabei variieren auch die großen altkirchlichen Codizes – wie die mittelalterlichen jüdischen hebräischen Bibelhandschriften – in der Anordnung einzelner Bücher.

3) Zum Kanon der Bibel der äthiopischen Kirche gehört mit dem Henochbuch eine umfangreiche frühjüdische Schrift, deren Bedeutung für die Religions- und Theologiegeschichte das antiken Judentums überragend war.