Vom ICH zum WIR -  - E-Book

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Beschreibung

Spätestens seit der Aufklärung sind wir insbesondere in westlichen Gesellschaften den Weg der Individualisierung zum ICH gegangen. Was auf der einen Seite einen immensen Zugewinn an persönlicher Ausdrucksmöglichkeit brachte, hat uns zugleich voneinander entfernt. Aktuell stehen wir gesellschaftlich, in Organisationen, Teams bis hin zu Partnerschaften eher vor der Herausforderung, wie wir zu gemeinsamen Vorstellungen, zu Verbundenheit und zu einem neuen WIR kommen. Mit anderen Worten sind wir auf der Suche nach anderen Formen des Miteinander. Der vorliegende Herausgeberband versammelt Beiträge, die sich mit einem neuen Verständnis des WIR auseinandersetzen. Vorgestellt werden in zwei Grundlagenartikeln die Grundzüge eines beziehungsorientierten Menschenbildes, das den Menschen als Bezogenen versteht. Daran anknüpfend entfalten die weiteren Artikel Perspektiven der Entwicklung der Beziehungsfähigkeiten des Menschen und die Bedeutung von Beschleunigung, Digitalisierung und Intuition für die Gestaltung von Beziehungen. Abgerundet wird der Band durch die Vorstellung von Portraitfotografie als Gestaltungselement von beziehungsorientierten Lern- und Reflexionsprozessen.

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Seitenzahl: 214

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Überblick

01 Vorwort

02

Michael Korpiun, Martin Thiele

Am Ende des Individualismus: Warum wir ein neues Menschenbild brauchen

03

Michael Korpiun, Susanne Korpiun

Relationales Selbst: Was uns als Menschen einzigartig macht und zugleich verbunden sein lässt

04

Andrea Bloch, Dorothea & Friedrich-Wilhelm Falkenreck

Die Genese von Relationalität aus psychologischer und sozialer Sicht

05

Marion Lecour, Antje Lawa

Beschleunigung und Relationalität: Zur Bedeutung von Beschleuningung für unsere Identität für die Gestaltung von Beziehungen

06

Anja Stamm, Wolfgang Rohr

Digitalisierung und Beziehung - wie wollen wir den digitalen Beziehungsraum gestalten?

07

Martin Mirbizaval

Porträtfotografie als Gestaltungselement von Lern- und Reflexionsprozessen

08

Aliza Hiddessen

„Die Intuition ist ein göttliches Geschenk […]“ (Albert Einstein) - Eine Reflexion im Nachgang zum BeziehungsRaumEreignis 2017

09 Autoren und Autorinnen

Inhalt

01 Vorwort

02 Am Ende des Individualismus: Warum wir ein neues Menschenbild brauchen

1 Die Dynamisierung von Weltbildern

2 Eine kurze Ideengeschichte von Trennungen als Ursache der Erosion von Verbundenheit

2.1. Die Trennung von Körper und Geist

2.2. Die Trennung von Mensch und Umwelt

2.3. Die Trennung des Menschen vom Menschen

2.4. Die Trennung des Menschen von der Gemeinschaft

2.5. Die Trennung als substanzieller Verlust

3 Praxeologische Perspektiven von Trennungen am Beispiel von Mensch, Team und Organisation

3.1. Die Perspektive des Einzelnen oder die Vereinzelung

3.2. Die Entwicklung der Vereinzelung im Kontext von Sells Beziehungsformen

3.3. Die Gruppenperspektive oder „Was ist mein erstes Team?“

3.4. Die Organisationsperspektive oder Strukturillusion

4 Schlussfolgerungen

Literatur

03 Relationales Selbst – Was uns als Menschen einzigartig macht und zugleich verbunden sein lässt

Zusammenfassung

1 Einführung

2 Was alles passieren kann, wenn wir uns begegnen

3 Grundlagen des relationalen Selbst

3.1. Beziehungsräume als räumlicher Erfahrungszusammenhang von Beziehungen

3.2. Beziehung als verkörperter Prozess

3.3. Die abhängige Unabhängigkeit des Menschen als Bezogenem

3.4. Wahrnehmung als zirkulärer Prozess

3.5. Die objektivierende Leistung beziehungsbezogener Wahrnehmung

3.6. Die Intentionalität der Wahrnehmung des Menschen

3.7. Die Unmittelbarkeit der Beziehung und die Bedeutung des impliziten Wissens für die Beziehung

3.8. Metareflexion als Fähigkeit bewusster Beziehungsgestaltung

3.9. Persönliches Selbterleben als partizipativer Beziehungszustand

4 Zusammenfassung

5 Ich bin anders als du

Literatur

04 Die Genese von Relationalität aus psychologischer und sozialer Perspektive

1 Einleitung

2 Frühkindliche Resonanz und Interaktion

3 Entwicklung mit Beziehung im Kleinkindalter

4 Beziehungsbildung in der Schulzeit

5 Junge Erwachsene — Beziehungsgestaltung

6 Famous last words

Literatur

05 Beschleunigung und Relationalität: Zur Bedeutung von Beschleunigung für unsere Identität und für die Gestaltung von Beziehungen

Zusammenfassung

1 Einleitung

2 Aspekte von Beschleunigung

3 Identität und Beschleunigung und Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Relationalität

4 Beschleunigung und Versuche der Entschleunigung

5 Vom Umgang verschiedener Kulturen mit Beschleunigung und ihrer Wirkung auf die Beziehungsgestaltung

6 Fazit

Literatur

06 Digitalisierung und Beziehung – wie wollen wir den digitalen Beziehungsraum gestalten?

1 Holistische Weltanschauung & ein neues „Wir-Gefühl“

2 Von der Sehnsucht nach Verbundenheit

3 Digitale Vernetzung – Bereicherung oder Verarmung zwischenmenschlicher Beziehungen?

4 …oder doch nur neuer Wein in alten Schläuchen?

Literatur

07 Porträtfotografie als Gestaltungselement von Lern- und Reflexionsprozessen

Zusammenfassung

1 Lebenslanges Lernen und persönliches Wachstum

2 Das Verständnis von „Lernen“ im Hinblick auf das relationale Menschenbild

3 Lernen in Gruppen

4 Lernen und Reflexionsprozesse

5 Gegenwärtige Wahrnehmung und Erinnerung in Reflexionsprozessen

6 Fotografie als Gestaltungselement von Reflexionsprozessen

7 Workshop Konzept

8 Workshop Analyse

Literatur

08 „Die Intuition ist ein göttliches Geschenk […]“ (Albert Einstein) - Eine Reflexion im Nachgang zum BeziehungsRaumEreignis 2017

Literatur

09 Autoren und Autorinnen

Vom ICH zum WIR

01

Vorwort

Vorwort

Spätestens seit der Aufklärung sind wir insbesondere in westlichen Gesellschaften den Weg der Individualisierung zum ICH gegangen. Was auf der einen Seite einen immensen Zugewinn an persönlicher Ausdrucksmöglichkeit brachte hat uns zugleich voneinander entfernt. Aktuell stehen wir gesellschaftlich, in Organisationen, Teams bis hin zu Partnerschaften eher vor der Herausforderung, wie wir zu gemeinsamen Vorstellungen, zu Verbundenheit und zu einem neuen WIR kommen.

Der vorliegende Herausgeberband versammelt Beiträge, die sich mit einem neuen Verständnis des WIR auseinandersetzen. Der Artikel von Michael Korpiun & Martin Thiele skizziert zunächst in knappen Zügen die Ideengeschichte der Individualisierung, erläutert, warum sie in der gegenwärtigen Form nicht zukunftsfähig ist und leitet ab, warum wir ein neues Menschenbild brauchen. Dies wird an den Beispielen von Partnerbeziehungen, Beziehungen in Teams sowie Organisationen beispielhaft illustriert.

Im Beitrag zum relationalen Selbst von Susanne & Michael Korpiun geht es darum, was uns als Menschen besonders und einzigartig macht und zugleich verbunden sein lässt. Ausgehend von einer konkreten Beziehungserfahrung machen Sie sich auf eine interdisziplinäre Spurensuche und verknüpfen physiologische, psychologische und soziologische Perspektiven zu einer theoretischen Grundlegung des relationalen Selbst und einem beziehungsorientierten Verständnis des Menschen.

Im Folgebeitrag gehen Andrea Bloch sowie Dorothea & Friedrich-Wilhelm Falkenreck der Frage nach, wie wir uns als Menschen in unserer Beziehungshaftigkeit entwickeln und unsere Beziehungskompetenzen sukzessive ausprägen. Die Autoren nehmen dabei eine entwicklungspsychologische Perspektive ein und entfalten das Bild des Menschen als zutiefst soziales Wesen anhand zentraler Entwicklungsstufen von der Geburt bis zum Ende der Pubertät.

Die weiteren Beiträge wenden sich eher anwendungsbezogenen Blickwinkeln zu. Die Bedeutung von Beschleunigung für die Identitätsentwicklung des Menschen und für die Gestaltung von Beziehungen sind Kern des Artikels von Marion Lecour & Antje Lawa. Die Autorinnen nehmen dabei insbesondere Strategien zur Entschleunigung in den Blick und spüren dem Umgang unterschiedlicher Kulturen mit der Beschleunigung nach und was das für die Beziehungsgestaltung bedeutet.

Anja Stamm und Wolfgang Rohr gehen dann der Frage nach, wie sich Digitalisierung auf Beziehungsgestaltung auswirken kann und welche Möglichkeiten sich daraus im Beziehungsraum ergeben. In seiner nachdenklichen Art kann der Beitrag als Plädoyer für einen bewussten und selbstbestimmten Umgang mit den sich durch die Digitalisierung bietenden Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung verstanden werden.

Anschließend beschreibt Martin Mirbizaval in seinem Beitrag die Portraitfotografie als Gestaltungselement von Lern- und Reflexionsprozessen. Ausgehend von praktischen Übungen und Reflexionen in Verbindung mit Selbsterfahrungen beschreibt der Autor neue Zugänge zum Verständnis der eigenen Identität, die sich aus der Beziehungserfahrung des Portraitiert-Werdens im Spannungsfeld von Selbstdarstellung und Gesehen-Werden zwischen Fotograf und sich selbst ergeben.

Den Abschluss bildet die Reflexion von Aliza Hiddessen, die im Nachgang zum BeziehungsRaumEreignis 2017 entstanden ist. Sie fokussiert die Bedeutung der Intuition für die ganzheitliche, umfassende Erfassung von Beziehungen.

Nicht zuletzt möchten wir uns bei allen Autoren und Autorinnen für Ihre Beiträge und Gedanken bedanken. Wir freuen uns über die Vielfalt, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Gleichfalls danken wir herzlich unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Cornelia Jenke für die sorgfältige Zusammenstellung und Redigierung der Texte einschließlich ihrer inhaltlichen Weiterbearbeitung für die 2. Auflage als Mitherausgeberin. Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir eine inspirierende Lektüre.

Michael Korpiun und Martin Thiele

August 2022

Vom ICH zum WIR

02

Michael Korpiun, Martin ThieleAm Ende des Individualismus: Warum wir ein neues Menschenbild brauchen

Am Ende des Individualismus: Warum wir ein neues Menschenbild brauchen

Michael Korpiun, Martin Thiele

Zusammenfassung

In unserem Verständnis sind wir mit dem Individualismus am Ende. Mit dem Begriff Individualismus wird eine Weltanschauung beschrieben, die den Einzelnen in seiner Bedeutung gegenüber der Gruppe betont und entsprechend Normen, Theorien und Weltvorstellungen daran ausrichtet. Der folgende Artikel bietet einen Überblick über die Entfremdungs- und Objektivierungsgeschichte des Menschen, um daran die tiefe Verwurzelung und ubiquitäre Wirksamkeit individualistischer Denktraditionen und die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels aufzuzeigen.1 Was es braucht, ist ein konzertiertes Nachdenken über ein neues Menschenbild, das die Beziehungshaftigkeit des Menschen berücksichtigt. Der nachfolgende Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die Dynamisierung von Weltbildern (Kapitel 1), in deren Entwicklung sich der Individualismus ausprägen konnte. Weiterhin geben wir einen kurzen ideengeschichtlichen Überblick über wesentliche Meilensteine und Eckpunkte, welche diese Entwicklung befördert haben (Kapitel 2). Anschließend illustrieren wir die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf den Ebenen Mensch, Team und Organisation (Kapitel 3). In einem kurzen Ausblick skizzieren wir zusammenfassend unsere Überlegungen dazu, warum wir ein neues Menschenbild brauchen (Kapitel 4).

1 Die Dynamisierung von Weltbildern

Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hat sich ein gravierender Wandel im Weltbild des europäischen Menschen vollzogen. Zunächst schleichend und dann mit zunehmender Dynamik verabschiedeten sich die Menschen des ausgehenden Mittelalters vom Bild der beseelten Natur, den Geistwesen, geheimnisvollen und oft auch unheilvollen, personifizierten Kräften der Natur. Noch im ausgehenden Mittelalter waren Gärten und insbesondere Wälder immer auch Orte, an denen Menschen unvorbereitet Geistern und Wesen begegnen und diese von ihnen Besitz ergreifen konnten. Daher war Achtsamkeit gegenüber der Natur geboten, um nicht unfreiwillig mit diesen Wesen in Konflikt zu geraten.

Mit den beginnenden Reformationsbewegungen und der nachfolgenden Aufklärung verabschiedeten sich die Menschen schrittweise von diesen Vorstellungen. Das in Mythen und Märchen überlieferte Weisheitswissen begann zu erodieren. Bisherige Traditionen wurden durch das Einsetzen der Moderne hinterfragt und durch eine Fokussierung auf wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzt. An die Stelle von Überlieferungen trat die eigene Spurensuche nach dem Urgrund des Lebendigen und der Natur. Die dabei gemachten Entdeckungen waren in Teilen spektakulär. Beispielhaft genannt seien die Begründung des kopernikanischen Weltbildes (Kopernikus), die Gesetze der Planetenbewegung (Kepler), die erste Umrundung der Erde (Magellan) sowie der Beginn wissenschaftlicher Archäologie und Kunstgeschichte (Winckelmann).

Dieses Zeitalter der Entdeckungen im Zeitraum vom 15. bis zum 18. Jahrhundert hat wesentlich zur Veränderung und Entwicklung des Weltbildes des Menschen beigetragen. Im Fokus der Entdeckungen lagen die zunehmende Durchdringung naturgesetzlicher Zusammenhänge und ihrer Elemente, die letztlich die modernen Naturwissenschaften in Biologie, Chemie, Physik und mithin die Quantenphysik begründeten. Zugleich erlebte der Mensch sich in diesem Prozess als zunehmend potent, der Natur und ihren Gesetzen auf die Spur zu kommen. Eine zunächst moderat begonnene Suche nach diesen Gesetzen hat sich über die Zeit rasant entwickelt und dynamisiert. Die letzten Universalgelehrten, wie z.B. Leonardo da Vinci, Gottfried Wilhelm Leibniz, Alexander von Humboldt oder Isaac Newton, markieren diesen unumkehrbaren Trend exponentiell ansteigender Informationsgewinnung.

Information und Wissen waren nun nicht mehr in einer Person vereint. Fachgebiete entwickelten sich und die Spezialisierung schritt massiv voran. Das wiederum führte zu einer weiteren Beschleunigung der Entwicklung und infolgedessen zu zunehmender Arbeitsteilung, Mechanisierung, Technisierung und Digitalisierung sowie als Konsequenz deutlich steigende ökonomische Wachstumsraten.

Es scheint daher fast konsequent, dass sich an das Zeitalter der Entdeckungen nahezu unmittelbar die industrielle Revolution anschloss. Ausgehend von England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat sie zu tiefgreifenden Umgestaltungen der technologischen, wirtschaftlichen, ökologischen sowie sozialen Verhältnisse und Bedingungen geführt, deren einschneidende und strukturelle Veränderungen bis heute ihre Wirkung entfalten (vgl. Brüseke 1991; Avery & Steinisch 2004). Neben Industrialisierung und Aufklärung spielte noch die Säkularisierung (Trennung von Kirche und Staat) eine erhebliche Rolle bei der Erschütterung der bisherigen Werte und der damit einhergehenden Wegbereitung der Postmoderne – vor allem, weil damit sinnbildlich Glaube und Wissen getrennt und Wissen ein bedeutsamerer Status zugewiesen wurde. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Entwicklung von der Industrialisierungsgesellschaft über eine Wissensgesellschaft hin zu einer bloßen Informationsgesellschaft beschreiben. Letztere entwickelte sich unweigerlich aus dem Leistungsanspruch (vgl. „Leistungsgesellschaft“) der Moderne, denn ein Höchstmaß an Leistung lässt sich kaum mit zeitaufwändiger Einbettung von Wissen vereinbaren. Die Informationsgesellschaft häuft zahllose Informationen an, welche kaum mehr zu überblicken sind und daher seltener in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden können (vgl. Liessmann 2006).

Diese, exponentiell wachsende, Entwicklung hat weitreichende Konsequenzen, wenn es um den Menschen geht: wir verlieren über den immer tiefer ins Detail gehende, der differenzierendanalytischen Exploration den Blick für die Zusammenhänge, die mit einer bedenklichen Fragilität der westlichen Gesellschaftsordnung einhergeht. Und wir merken, dass die zeitgleichen Explorationen und Abstiege in die Tiefen des Seins insbesondere dann zu neuen Irritationen führen, wenn sie unverbunden nebeneinander bis zu bewusst abgrenzend betrieben werden.

„Von frühester Kindheit an lernen wir, Probleme in ihre Einzelteile zu zerlegen und die Welt zu fragmentieren. Dadurch werden komplexe Aufgaben und Themen scheinbar leichter zu handhaben, aber wir zahlen einen hohen Preis dafür. Wir sind nicht mehr in der Lage, die Konsequenzen unseres Handelns zu erkennen; wir verlieren die innere Verbindung zu einem umfassenden Ganzen“ (Senge 2011, S. 13).

Bohm geht davon aus, dass die Kreativität und Vernetzung der Wissenschaften zugunsten der naturwissenschaftlichen Wahrheitssuche zunehmend aufgegeben wird und zu Fragmentierungen führt (vgl. ebd. 2002, S. 8). Aus systemischer Sicht verlieren die einzelnen Wissenschaftszweige dadurch ihren Gesamtzusammenhang und letzten Endes auch ihre eigentliche Funktion (vgl. ebd. S. 9).

Bezeichnend für die Fragmentierung der Wissenschaften ist, dass Descartes in seinem Werk „dicsours de la méthode“ Regeln formulierte, welche Widersprüche in den Wissenschaften durch Systematisierungen ersetzen sollte: Eine davon beinhaltet die These, dass paradoxe Fragen und Probleme stets in einzelne Bestandteile zerlegt werden sollen, die eindeutiger zu lösen sind, und anhand dessen beantwortet werden sollen (vgl. ebd. 1943; Kap. 2.1 in diesem Artikel). Vielmehr sind Widersprüche in den Wissenschaften als ein Ausdruck von Zirkularität und Ganzheit anzuerkennen. Lediglich die Tendenz zu linearem Denken bringt Dichotomien und Widersprüche hervor, die unlösbar erscheinen. So werden vielmehr Probleme geschaffen, als dass sie tatsächlich von vornherein existieren.

Dazu ein geopolitisches Beispiel mit einem Betrachtungszeitraum von 15 Jahren: der Irak greift Kuwait an. Kuwait ist Partner der USA. Die USA greifen den Irak an. Das autoritäre Regime stürzt. Die gesamte Region wird politisch zunehmend instabil. Der arabische Frühling polarisiert die arabische Welt. Im Nachbarland zum Irak, in Syrien, bricht ein Bürgerkrieg aus. Infolgedessen fliehen über 10 Millionen Menschen aus der Region. Über eine Million davon kommen in Deutschland an. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kann diesen Ansturm nicht bewältigen. Eine Unternehmensberatung optimiert daraufhin die Entscheidungsprozesse. Dabei werden Fallaufnahme und Fallentscheidung getrennt. Die Effizienz der Behörde steigt rasant. Die Qualität der Entscheidungen der Behörde sinkt deutlich. Die Anzahl der Klagen gegen Entscheidungen steigt drastisch an. Die damit befassten Verwaltungsgerichte sind überlastet. So wirkt amerikanische Außenpolitik von vor mehr als 15 Jahren zeitversetzt heute in Deutschland nach. Und dies ist nur ein sehr kleiner Ausschnitt, ein pointiertes Beispiel von Verflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten, deren Konsequenzen und Folgen wir in zunehmendem Maße selbst nicht mehr überblicken. Andere Beispiele, wie die 2007 beginnende Finanz- und Wirtschaftskrise, ließen sich anfügen.

Was uns über die letzten Jahrhunderte zunehmend verloren gegangen zu sein scheint, ist das Bewusstsein unserer Verbundenheit als Menschen. Dies hat ideengeschichtliche Ursprünge, die wir in den nachfolgenden Kapiteln näher beleuchten wollen. Sie können vor dem Hintergrund der Komplexität der ihnen zugrundeliegenden Zusammenhänge allerdings nicht mehr als ein kurzes ideengeschichtliches Schlaglicht sein.

2 Eine kurze Ideengeschichte von Trennungen als Ursache der Erosion von Verbundenheit

Die kurze Ideengeschichte von Trennungen als Ursache der Erosion von Verbundenheit wollen wir anhand von fünf Perspektiven betrachten. Zunächst anhand der Trennung von Körper und Geist (Kapitel 2.1), dann anhand der Trennung des Menschen von der Umwelt (Kapitel 2.2.), gefolgt von der Trennung des Menschen vom Menschen (Kapitel 2.3.), der Trennung des Menschen von der Gemeinschaft (Kapitel 2.4.) und schließlich dem Existenzverlust der klassischen Materie (Kapitel 2.5.) als vielleicht weitreichendster Erschütterung gegenwärtiger Menschenbilder.

2.1. Die Trennung von Körper und Geist

Die Trennung von Körper und Geist hat eine lange Tradition insbesondere in der westlichen Philosophiegeschichte der Menschheit. In der östlichen Philosophie ist sie weniger ein Thema. Sie geht zumindest bis auf Platon (vgl. Platon 1857) zurück und ideengeschichtlich vielleicht noch viel weiter, wie z.B. auf die griechisch-mythologischen Vorstellungen vom Januskopf, welcher generell für die Ursprünge des Dualismus steht. Platon entwickelte Vorstellungen der unabhängigen Existenz der Seele vom Körper in seinem Konzept der Seelenwanderung. Neuzeitlich befeuert wurden diese Vorstellung der Trennung von Körper und Geist von René Descartes (1596 - 1650): cogito ergo sum („Ich denke, also bin ich.)“. Descartes unterschied zwei nach seiner Ansicht grundsätzlich unterschiedliche Welten: die Welt des Körpers als physiologisch erfahrbare Grundtatsache (res extensa) und die Welt des Geistes als subjektiv erfahrbare Grundtatsache (res cogitans) (vgl. ebd.1943). Das nach ihm benannte cartesianische Denken unterscheidet materielle von ideellen oder körperliche von mentalen Strukturen (vgl. Abbildung 1) mit einschneidenden und weitreichenden Konsequenzen für den Blick auf das Leben selbst.

Abbildung 1: Körper-Geist-Verhältnis in den gegenwärtigen Theorien der Analytischen Philosophie des Geistes (Quelle: Fuchs 2017, S. 105 mit eigenen Ergänzungen)

So behandeln wir seitdem, wenn es um den Menschen geht, seine Psyche und seinen Körper getrennt. Um Ersteres kümmern sich Psychologen. Um Letztes Ärzte. Die einen erklären Bewusstsein als primär mentale Phänomene des Geistes. Die anderen als hirnphysiologische Phänomene, die sich über neuronale Erregungs- und Aktivitätsmuster nachweisen und dort lokalisieren lassen (Lokalisationstheorien: vgl. Clarke & Dewhurst 1973; Hagner 2005; 2008). Grundsätzlich gelten beide Perspektiven als unvereinbar. So lässt sich beispielsweise persönliche Wahrnehmung nicht in objektive Beobachtung überführen und vice versa. Das bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Etwa dann, wenn beispielweise persönlich beklagte Leiden, wie z.B. Kopf- oder Rückenschmerzen, nicht auf körperliche Ursachen zurückzuführen sind.

Beeinflusst durch dieses cartesianische Denken unterscheiden wir ebenfalls die Natur- von den Geisteswissenschaften (vgl. Abbildung 2). Demnach liegt der naturwissenschaftliche Fokus auf der Erklärung naturgesetzlicher Zusammenhänge (nomothetische Perspektive), während der geisteswissenschaftliche Fokus eher auf dem Verstehen von Ereignissen und Geschehnissen liegt (ideographische Perspektive).

Bestimmte Wissenschaftsdisziplinen, wie insbesondere die Psychologie und die Ökonomie, haben ein eher ideographisches Erkenntnisinteresse, bedienen sich im Prozess der Erkenntnisgewinnung indes eher nomothetischer Methoden und Ansätze (vgl. Plickert 2016; Roth et al. 2018).

Abbildung 2: das Gegenüber von Natur- und Geisteswissenschaften (Quelle: eigene Darstellung)

Wirkliche Integrationen beider Perspektiven sind indes noch überschaubar (vgl. Treeck & Urban 2016; Roth et al. 2018). Zwar gibt es zahlreiche Versuche und Bemühungen, den Körper-Geist-Dualismus zu überwinden. Ein wirklicher Durchbruch ist indes bislang nicht sichtbar. Eher beobachtbar ist der Versuch, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Erklärungsansätze für das Verständnis ideographischer Phänomene nutzbar zu machen (vgl. z.B. Bauer 2004, 2013a). Sichtbar wird dies beispielsweise an der Kombination neurowissenschaftlicher Forschungsansätze mit geisteswissenschaftlichen Fragestellungen, wie z.B. Neuro-Psychologie (vgl. Gauggel & Herrmann 2008), Neuro-Ökonomie (vgl. Reuter & Montag 2016), Neuro-Marketing (vgl. Raab et al. 2013) oder Neuro-Pädagogik (vgl. Meier 2004). Für das Verständnis des Menschen seien hier beispielhaft die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen (vgl. Rizzolatti et al. 1996), das Bindungssystem sowie das Belohnungs- bzw. Motivationssystem genannt (vgl. Carter & Lederhendler 1999).

Erwähnenswert sind ferner die psychosomatische Medizin sowie die Psychotherapie (Letztere gerade in Abgrenzung zur Psychiatrie). Immerhin existierten das Fachgebiet bzw. der Facharzt für psychosomatische Medizin in anerkannter Form seit 1992. Und innerhalb der psychotherapeutischen Schulen gibt es Ansätze, die konkretes körperliches Erleben integrieren, wie beispielsweise die Gestalttherapie, die auf Fritz Perls zurückgeht (vgl. Perls 2004, 2015; Perls et al. 2016) oder somatopsychische Ansätze, wie die Feldenkrais-Methode (vgl. Feldenkrais 2013, 2016). Des Weiteren ist eine Entwicklung hinsichtlich der Popularität ganzheitlicher Medizin zu beobachten, welche sich bspw. durch die Anerkennung als Kassenleistungen ausdrückt. Gleichwohl, und hier liegt die Herausforderung der Kombination beider Erkenntnisfiguren, lässt sich beispielsweise die Messung hormoneller Schwankungen von Bindungshormonen nicht in konkretes subjektives Erleben überführen (vgl. Shamay-Tsoory et al. 2009; Spitzer 2013, S. 137). So konnten in Stimmungsfragebögen keine allgemeinen Auswirkungen festgestellt werden. Gleichzeitig konstatiert Bauer (vgl. Bauer 2013b unter Bezug auf Friedmann 2005 und Kiecolt-Glaser 2005), dass die Ausschüttung von Oxytocin Stresssymptome dämpft, psychische Entspannung und Blutdrucksenkung hervorbringt.

2.2. Die Trennung von Mensch und Umwelt

Die Trennung von Körper und Geist ist darüber hinaus Wegbereiter der Entwicklung eines mechanistischen Menschenbildes geworden in der sich Mensch und Natur getrennt voneinander gegenüberstehen. Sie drückt sich aus in der Spaltung von Subjekt und Objekt (vgl. Jaspers 1974). Unter dem aufklärerischen Primat der Vernunft strebte der Mensch danach, die Natur in ihrer naturgesetzlichen Bestimmtheit deterministisch zu erkunden und zu erklären, um sodann auf sie einzuwirken, sie zu beeinflussen und zu nutzen (vgl. Abbildung 3).

Gehlen verstand den Menschen als ein Mängelwesen, das sich aufgrund seiner Unangepasstheit eine eigene „Zweitnatur“ erschaffte (vgl. ebd. 1955). Richter geht sogar so weit, dass er unter Bezug auf Freuds Begriff des „Prothesengottes“ (vgl. Freud 1974, S. 451) der heutigen Gesellschaft eine Arroganz gegenüber der Natur diagnostiziert (vgl. Richter 2002, S. 11). Diese zeige sich in der Machtausübung, Ausbeutung und Selbsterhöhung gegenüber der Natur und der damit einhergehenden Verkennung der immanenten Verbindung bzw. Abhängigkeit bzgl. der Umwelt (vgl. ebd.).

Abbildung 3: Grundlagen des deterministischen Menschenbildes (Quelle: eigene Darstellung)

Die Natur verlor damit ihre Seele und wurde objektiviert (vgl. Garcia 2017). Der Mensch hingegen wurde zum Betrachter und Beobachter derselben, zum Forscher und Analytiker. Im Zuge dieses ideengeschichtlichen Entwicklungsschritts hat sich die Überzeugung entwickelt, ein von der Welt unabhängiges Beobachten sei denkbar (vgl. Baecker 2013). Der Mensch als beobachtender und analysierender Forscher sei eben kein teilnehmender Beobachter, sondern unabhängig vom betrachteten Objekt.

Insbesondere in der Frühzeit dieser Entwicklungen war daher das Verständnis für den Beobachtereinfluss auf die Umwelt noch vergleichsweise gering bis gar nicht ausgeprägt. Die Vorstellung einer „objektiven Betrachtung“ hat hier ihren Ursprung. Mit ihr verbunden ist die Vorstellung einer „objektiven Intervention“, eines Eingriffs im Sinne einer Veränderung, die zwar das betrachtete Objekt, nicht aber den Eingreifenden verändert. Diese Vorstellungen haben weitreichende Konsequenzen. Zum einen verbinden sich mit der Vorstellung einer naturgesetzlich bestimmten Welt die Grundidee, dass ein nur hinreichendes Verständnis dieser Gesetzlichkeit reziprok ihre gleichfalls vorhersagbare Beeinflussung ermögliche. Und zum anderen die Vorstellung, derartige Eingriffe könnten ohne mittelbare oder unmittelbare Rückwirkungen auf den oder die Eingreifenden erfolgen. Das Verständnis reziproker Systemzusammenhänge, wie wir es heute kennen, ist einem deterministischen Weltbild fremd. Auch physikalische Erkenntnisse und Zusammenhänge wie die Parallaxen (Verschiebung der Perspektive des Beobachters führt zu einer scheinbar veränderten Position des Beobachtungsgegenstandes) und die Heisenbergsche Unschärferelation (Phänomene sind abhängig vom Versuchsaufbau bzw. der Wahrnehmungsweise des Beobachters) stehen vorherbestimmenden Anschauungen unabhängiger Beobachter entgegen.

Gleichzeitig hat dieses deterministische Weltbild insbesondere Beratungsverständnisse geprägt, und zwar in der Weise, dass dem Objekt der Analyse, dem Patienten etwa, der von diesem Objekt getrennte Experte, etwa in Form eines Arztes oder eines Psychotherapeuten gegenübertritt und heilend interveniert. Oder in der Weise, dass der Unternehmensberater oder Organisationsentwickler auf Basis diagnostischer Einsichten interveniert, ohne dabei die eigene Entwicklung und Veränderung im Prozess zu bedenken. Organisationen werden damit zu Objekten und die in ihnen arbeitenden Menschen objektiviert. Die Stellenbeschreibung ist nicht etwa eine Personenbeschreibung, sondern sie objektiviert das zu vollziehende Leistungsobjekt. Einzigartigkeit mithin Verschiedenheit werden dabei oft als eher hinderlich empfunden bzw. außen vor gelassen. Ein weiteres Beispiel ist die der Lehre, die annimmt, der Lehrende bewirke die Entwicklung der Lernenden, ohne sich selbst zu entwickeln und zu verändern.

Auch hier haben sich im Rahmen einer intersubjektiven Wende alternative Strömungen entwickelt, wie bspw. die intersubjektive Selbstpsychologie (Mitchell 2002) oder die relationale Psychoanalyse (vgl. Orange et al. 2001; Ermann 2014). Diese enthalten einen cartesianischen Rest und erfahren dennoch häufig Ablehnung, da sie sich einer wissenschaftlichen Objektivierbarkeit entziehen (vgl. Mertens 2011, S. 269). Analog zur Heisenbergschen Unschärferelation kann man selbsterfüllende Prophezeiungen (vgl. Rosenthal 1963) verstehen. Oder Allegianz-Effekte (vgl. Leichsenring 2017), die einen Zusammenhang zwischen Modelltreue von Behandelnden und Verzerrungen von Studienergebnissen zum Behandlungserfolg, trotz objektiv korrekter Versuchsanordnung, beschreibt. Eine Beeinflussung des Klienten durch die Einstellungen des Behandelnden kann hierbei ebenfalls in Betracht gezogen werden. Diese Sichtweise enthält neben der Relationalität ein personales Verständnis von Therapeuten oder Beratern, das zum einen das Veränderungspotenzial nicht ausschließlich bei Patienten oder Organisationen sieht und zum anderen Beratende von dem Anspruch entlastet, stets alles wissen zu müssen (vgl. Buchholz 2003, S. 7). Zudem beinhaltet die Relationalität eine Unabdingbarkeit für Entwicklungsprozesse gegenüber der bloßen Anwendung von Theorien (vgl. Buchholz 2003, S. 7).

2.3. Die Trennung des Menschen vom Menschen

Anknüpfend an das deterministische Menschenbild haben sich insbesondere evolutionsbiologische Vorstellungen entwickelt, die den Menschen als in Konkurrenz zueinander sehen. Grundlegend hierfür ist die von Charles Darwin (1809 – 1882) entwickelte Theorie zur Entstehung der Arten (vgl. Darwin 1875). Demnach stehen sich Mensch und Natur in einem von Darwin als „war of nature“ bezeichnetem Spannungsfeld gegenüber (vgl. Abbildung 4). Dieses Spannungsfeld erzeuge einen Selektionsdruck auf den Menschen und zwinge ihn in die Anpassung. In dem daraus resultierenden „struggle for life“ überleben die Menschen bzw. Arten, die sich unter den jeweiligen Umständen am besten behaupten könnten („survival of the fittest“).

Abbildung 4: Grundlagen des darwinistischen Menschenbildes (Quelle: eigene Darstellung)

Die Theorien Darwins haben zunächst die Evolutionsbiologie und die Biologie insgesamt maßgeblich beeinflusst. Auch spätere Wissenschaftszweige, wie z.B. die Soziobiologie, haben sich an dem Denken Darwins orientiert. Die Soziobiologie ist ein evolutionsbiologisch orientierter Zweig der Verhaltensbiologie. In deterministischer Denktradition liegt ihr die Annahme der insbesondere genetischen Bestimmtheit des Menschen zugrunde (vgl. z.B. Crook 1970; Dawkins, Morris 1994; Wilson 1975). Insbesondere Dawkins ist mit seinen Ansichten zum „Das egoistische Gen“ (1978) bekannt geworden. Sowohl darwinistisches Denken als auch die Einflüsse soziobiologischer Überlegungen haben unrühmlichen Eingang gefunden in rassenideologische Positionen, die im 19. und 20 Jahrhundert viel Leid in die Welt auf Basis ideologischer Trennung des Menschen vom Menschen gebracht haben (vgl. beispielsweise Bauer 2014, der dazu eine deutliche Gegenthese formuliert hat).

Insbesondere das 19. und 20. Jahrhundert waren die Jahrhunderte der Ideologien und kollektiven Überzeugungen. Sie entschieden über die Zugehörigkeit zu Gruppen. Auf diese Weise haben sich vielfach unrühmlich Menschen von Menschen differenziert und getrennt. Kollektivismus ist somit die Separierung des Menschen im Sinne von „wir“ versus „die“. Entgegen der Verbundenheit innerhalb der eigenen Gruppe ist der Kollektivismus ein Bestandteil der Trennungsgeschichte des Menschen (vgl. Funk 2005). Seine primäre Ausrichtung war die Orientierung am kollektiven Sinn oder der Ideologie verbunden mit hohem sozialen Anpassungsdruck (vgl. Honneth 2006). Je höher dieser Anpassungsdruck kollektiv war, desto stärker prägte sich bei einzelnen eine zunehmende Sehnsucht nach Individualität aus. Das individuelle Versagen am System als eingeschränkte Fähigkeit oder Bereitschaft zu dieser Anpassung erfolgte typischerweise über die Neurose als Flucht zwischen gewünschter Wirklichkeit und erfahrener Realität (vgl. Abbildung 5 sowie Ehrenberg 2008).

Abbildung 5: Individualität und die Trennung des Menschen vom Menschen. Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Freuds „Narzissmus der kleinen Differenzen“ (erstmals veröffentlicht in: Freud, S. [1931]: Das Unbehagen in der Kultur) sowie Ehrenberg, A. (2009): Das erschöpfte Selbst