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Wie bekommen wir Abstand zu unserem Kopfkino? Warum glauben wir alles, was wir denken? Wie werden wir leiser und unsere innere Stille lauter? Kommen Sie durch kreative Übungen Ihren Fallstricken auf die Schliche und entfalten Ihre schlummernden Potentiale. Folgen Sie einem Transformationsprozess hin zu mehr Balance. Bekommen wir Abstand zu unserem Kopfkino, glauben wir nicht mehr alles, was wir denken und erleben uns als Zusammenspiel aus Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen: kraftvoll, staunend, still. Yogapsychotherapie geht weit über die Ansätze von Psychotherapie und Yoga hinaus. Durch die Verbindung von westlicher Psychologie und Yoga entsteht eine neue und ganzheitliche Perspektive - inspirierend für gestresste Alltagsheld*innen und neugierige Profis. Die Yogapsychotherapie erweitert die psychotherapeutischen Blickwinkel um das psychologische Verständnis des Yoga. Zugleich vermag eine integrative Psychotherapie Lücken aufzufüllen und den Yoga um neuere Erkenntnisse zu bereichern. Zeitlose Weisheiten aus dem Yoga Sutra treffen im Buch auf moderne Erkenntnisse der Psychotherapie. Lebendige Beispiele aus der Praxis stehen neben praxiserprobten Anregungen von Experten wie Sigmund Freud, Patanjali und Pu dem Bären.
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2020
Steffen Brandt
Vom Kopfkinozur inneren Stille
Die Praxis der Yogapsychotherapie
Vom Kopfkino zur inneren Stille
Die Praxis der Yogapsychotherapie
© 2020 Steffen Brandt
Gestaltung Umschlag: Frank Ortmann
Gestaltung Innenteil: Kerstin Fiebig [ad-department.de]
Illustrationen: Katrin Funcke
Lektorat, Korrektorat: Dr. Richard Reschika, Ina Kleinod
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40 – 44, 22359 Hamburg
ISBN Taschenbuch: 978-3-347-11562-0
ISBN Hardcover: 978-3-347-11563-7
ISBN e-Book: 978-3-347-11564-4
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Inhalt
Vorwort aus einem klinischen Blickwinkel
Vorwort aus der Perspektive des Yoga
Einführung – Die Stille in mir finden
Teil 1 – Das Ringen ums Gleichgewicht
Die Eigenheiten unseres inneren Karussells
Quengelnde Qualitäten unseres Selbst
Facetten unsres Selbst – Tatort Verwechslung
Teil 2 – Jenseits des Kopfkinos – Weite. Stille
Die Freiheit der Ent-Täuschung
Die Freiheit des Angekommenseins
Die Freiheit des Unterscheidens
Teil 3 – Wege in die Balance
»Glaube nicht alles, was du denkst« –Ausstiegsmöglichkeiten
Ganz-Sein – Die Einheit von Körper, Atemund Herz-Geist
Ruhiger Kopf und neue Offenheit
Ausblick – dann wird es zuletzt leicht und lustvoll
Anmerkungen
Über den Autor
Dankeschön
Vorwortaus einem klinischen Blickwinkel
Es ist mir eine Freude, ein Vorwort zum vorliegenden Buch beizutragen, denn es ist ein ungewöhnliches Buch. Ein Buch, das Yoga aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und mit sehr erweiterten Gedanken und Erfahrungen betrachtet, erklärt und wichtige Verbindungen herstellt. Dabei steht die Verbindung von Yoga und Psychotherapie im Fokus, eine Yogapsychotherapie, die auf Erfahrungen von Stille, Weite und innerer Freiheit zielt. In dieser Dimension wird aber der Alltagskontext nicht vergessen, sondern durch Entwicklungsgeschichten, Fallbeispiele sowie Übungsvorschläge integriert.
Im Buch werden Techniken und Übungen zur Selbstreflexion und Achtsamkeit beschrieben. Der Autor vertieft elementare Aspekte des Stresserlebens und der Stressreduktion, aber nicht nur durch Beschreiben der zugrundeliegenden physiologischen und neurobiologischen Erkenntnisse, sondern vor allem auch durch einen erfahrenen psychotherapeutischen Blick, genährt durch zahlreiche plastische Beispiele und Erzählungen.
Zeitlose Weisheiten aus dem Yogasutra treffen auf moderne Erkenntnisse der Psychotherapie. Beispiele aus der Praxis stehen neben praxiserprobten Anregungen von so unterschiedlichen Quellen wir Patanjali und Pu dem Bären, Rilke, Leonard Cohen, Joseph Beuys, Willigis Jäger, Krishnamurti, Eckhart Tolle, aber auch Tocotronic. Die Lesenden partizipieren somit nicht nur an der wertvollen Erfahrung des Autors, sondern erhalten bei der Lektüre eine Essenz wesentlicher Einsichten großer Denker*innen, Kreativer und Künstler*innen sowie spiritueller Lehrer*innen der Kulturgeschichte Asiens und der westlichen Welt – mal ernst, mal spielerisch und humorvoll. Auch die Mystiker Kabir, Rumi, Tauler kommen zu Wort und so wird spielerisch und dennoch ernsthaft das ureigenste Ziel aller Yoga-Tradition vermittelt: die Grenzerfahrung, die spirituelle Dimension der eigenen Existenz.
Der innovative Ansatz des vorliegenden Buches imponiert dabei durch die Vielzahl der Perspektiven und durch eine lebendige Bildsprache. Es findet sich in jedem Kapitel „das Blauen“, d. h. potentialentfaltende und unterstützende Reflexionsfragen, die das Aufziehen dunkler Wolken verstehen wollen. Mit dem Bild der Kuh und des Widerkäuens werden die Lesenden in das zielgerichtete Fokussieren und Nachspüren eingeführt – eine wichtige Methode gegen das Grübeln und für die schwierig zu erreichende innere Stille und Harmonie.
Konkret werden Möglichkeiten aufgezeigt, aus leidverursachenden Verhaltensmustern auszusteigen, um schlummernde Potenziale zu wecken. Mit den Übungen in jedem Kapitel wird die Selbstreflexion unterstützt. So können wir altbekannten Fallstricken auf die Schliche kommen und werden zu einem ausgewogeneren Alltag inspiriert.
Dann entsteht Raum und die Suche nach dem „Mehr“ kann beginnen. In der Verdichtung von Wissensvermittlung, Inspiration, Anregung und Übung kann das vorliegende Buch so einen Weg eröffnen – heraus aus dem Karussell von Ängsten, Wünschen, Gewohnheiten, Erwartungen, die heute die Grundproblematik für seelische Erkrankungen und krank machenden Stress und das viel zu häufige Burn-out darstellt.
So schreibt der Autor: „Es ist für all jene geschrieben, die seit Jahren zum Yoga gehen und immer wieder merken, dass es mit der Entspannung spätestens nach drei Stunden vorbei ist und die üblichen Muster wieder fest zugreifen.“
Ich wünsche dem Buche, dass es viele Leser und Leserinnen erreichen wird, Yoga Lehrende, mit Yoga Therapierende, Psychotherapeuten und Yoga Praktizierende und Menschen, die auf der Suche nach Stille, Ausrichtung und Achtsamkeit sind.
Es ist sicher ein für einen Tiefenpsychologen untypisches Buch, in der Musik würde man „Cross-over“ zur stilistischen Einordnung sagen. Und eben dies macht dieses Buch so besonders und lesenswert.
Prof. Dr. Andreas Michalsen
Berlin im Juli 2020
Vorwortaus der Perspektive des Yoga
Ein Buch über Yogapsychotherapie zu schreiben kann eine sehr ernste Angelegenheit sein und birgt die Tendenz, zu einer trockenen Abhandlung zu geraten. Dieses Buch ist anders: Es zu lesen macht Spaß, es ist kurzweilig und tiefgründig, es spürt sein Thema in der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft auf und in tagesaktuellen Zitaten „bedeutender“ und „weniger bedeutender“ Persönlichkeiten, in alten Geschichten und in Nachrichtensendungen.
Und bleibt seinem Bezug zum Yoga immer treu.
So alt wie der Yoga ist, so lebendig ist er, wenn sich Menschen von ihm inspirieren lassen. Sich seiner wirklich anzunehmen bedeutet immer eine kritische Auseinandersetzung; wie schön, dass aus einer solchen immer ein kreatives Neues entsteht.
Das Buch von Steffen Brandt bezieht sich nicht zufällig auf den philosophischen Grundlagentext des Yoga, das gut 1500 Jahre alte Yogasutra. Beinhaltet der Text doch eine intensive Beschäftigung mit dem Feld, welches heute die Psychologie und Psychotherapie bearbeitet – den menschlichen Geist. Seitdem die moderne Psychologie diesem wesentlichen Teil unseres Seins die Türen geöffnet hat, sind viele wichtige Erkenntnisse gewonnen worden, die einen differenzierten Blick auf die Strukturen von Wahrnehmung, psychischer Verarbeitung und Bewältigung unserer eigenen inneren wie sozialen Begegnungen ermöglichen. Dabei sind Konzepte wie Verdrängung, Affektisolierung und Rationalisierung weit differenzierter und handlungsweisender als die einfachen Unterscheidungen, die das Yogasutra trifft. Es bietet zu vielen Aspekten unseres Geistes nur ein recht grobes Raster, und zwar nicht allein dort, wo es etwa um angemessene und unangemessene Wahrnehmung geht, um innere Bilder, die wir von uns und anderen entwickeln. Auch verfügen wir heute über ein sehr viel umfangreicheres und vielschichtigeres Wissen über Traum und Schlaf oder das Wesen menschlicher Erinnerung, als wir es im Yogasutra finden.
Gleichwohl zeigt dieses Buch, dass der Text jemanden – setzt er sich so intensiv und kompetent damit auseinander wie Steffen Brandt – bei der Entwicklung von Konzepten und Übungen zu inspirieren vermag, die gerade auch für die schnelle Welt heutzutage von großer Bedeutung sind.
Aus den grundlegenden Aussagen des Textes schlägt der Autor Brücken in die Welt der Konzepte von Psychologie und Psychotherapie. Die Frage, inwieweit das Konzept des Selbst, wie es das Yogasutra vertritt, sich dafür eignet, regt zu weiterer Diskussion an. Das vorliegende Buch macht vor allem dort einen großen und notwendigen Schritt über den Yoga-Text hinaus, wo es um das wichtige Thema der Begegnung mit unseren Mitmenschen geht. Der Kontext des Yogasutra war ja bekanntermaßen einer des Rückzugs aus einer Welt, die den Yogi von seinem Streben nach seiner individuellen inneren Freiheit nur ablenken könne. Hier und heute geht es aber darum, die persönliche Identitätsklärung und das kontinuierliche Ringen um Selbsterkenntnis durch praktische Reflexion und therapeutisches Gespräch voranzubringen, um eine Welt mitzugestalten, die auf Respekt und Zuneigung basiert.
In diesem Sinne ist dieses kluge Buch ein gutes Beispiel für Tradition in ihrem besten Sinne: eine kreative Synthese von Yoga-Tradition und moderner Erkenntnis. Und es beweist wieder aufs Neue: Wo aus der Auseinandersetzung mit Tradition Inspiration und Reflexion erwachsen, entsteht Beachtenswertes für das Heute.
Imogen Dalmann & Martin Soder
Groß Kreutz im Mai 2020
TEIL EINSDas Ringen um Gleichgewicht
Zukünftiges Leid kann verhindert werden.
___ YS 1.16, Patanjali, Yogaphilosoph
Verzweiflung ist der Rohstoff grundlegender Veränderung.
___ William S. Burroughs, Autor
Man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern zu gebären.
___ Friedrich Nietzsche, Philosoph
Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.
___ Rainer Maria Rilke, Autor
Und manchmal wünsch ich mir
Ich hätte ein Herz aus Stein
Und ich versuch's, ich versuch's
Doch es ist völlig unmöglich …
Zu entkommen
___ Flowerpornos, Band
Keiner will so sein, doch alle sind so
Im Zweifel gut gemeint, doch alle sind so
___ Herrenmagazin, Band
Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
Im Zweifel für den Zweifel
Und die Unfassbarkeit
___ Tocotronic, Band
1. Die Eigenheiten unseres inneren Karussells
Um Ihnen dieses innere Karussell zu veranschaulichen, möchte ich Sie zu einem Gedankenexperiment einladen. Stellen Sie sich Folgendes vor:
Es ist der erste Abend Ihres wohlverdienten Sommerurlaubs. Es ist ein schöner milder Abend an der Rivera. Die Abendsonne unterstützt den stürmisch-jugendlichen Impuls, das faszinierende Trampolin eines Vergnügungsparkes am Strand zu entern. Die nicht mehr ganz so jungen, urlaubsreifen Knochen beginnen zu springen. Nach immer mutiger und höher werdenden Sprüngen mit Meeresblick ein unsanftes Landen. „Aua!“ Stechende Schmerzen!
Der Gang ins Hotel ist die Konsequenz. Kühlen, Salbenverband und Nachtruhe. Nächtliches Wälzen bei pochendem Fußgelenk. Am nächsten Morgen wachen Sie bei strahlendem Sonnenschein auf. Der Schmerz ist weg. Der Fuß fast wieder heil.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Das märchenhafte Happy End klingt fast nach Hollywood. Die wahrscheinlichere Variante ist nachfolgende.
Ich möchte Sie einladen, sich die Erfahrung von „Dumm gelaufen mit Meeresblick“ erneut vorzustellen:
Es ist der erste Abend Ihres wohlverdienten Sommerurlaubs. Es ist ein schöner milder Abend an der Rivera. Die Abendsonne unterstützt den stürmisch-jugendlichen Impuls, das faszinierende Trampolin eines Vergnügungsparkes am Strand zu entern. Die nicht mehr ganz so jungen, urlaubsreifen Knochen beginnen zu springen.
Nach immer mutiger und höher werdenden Sprüngen mit Meeresblick ein unsanftes Landen. „Aua!“ Stechende Schmerzen!
Kurz nach dem stechenden Schmerz setzen Gedanken ein. „Ist da was gerissen?“ – „Mit Sicherheit ist da was gerissen!“ – „Warum war ich nur so trottlig?“ – „Jetzt ist der ganze Urlaub ruiniert!“ – „Ich bin doch so urlaubsreif!“ – „Den Urlaub brauchte ich so dringend!“ – „So was Ähnliches ist mir doch in Spanien auch passiert …“ Dazu gesellen sich Gefühle: Panik, Angst, eine Menge Sorgen, Wut (auf sich selbst), Traurigkeit. Und nachdem der Körper sich in den ersten Stunden des Ankommens und spätestens nach dem Baden und dem Strandspaziergang entspannt hatte, nun das genaue Gegenteil: Anspannung, Unruhe, Magengrummeln und – bei genauem Hinspüren – der flache, fahrige Atem. Kein besonnener Gang zurück ins Hotel, um den leicht verstauchten Knöchel zu versorgen. Stattdessen wird aus Schmerz Leid. Die Schmerzen bringen uns in Unruhe. Wir werden eng.
In Variante 1 handeln wir ruhig, besonnen und zielgerichtet, ohne in das kreisende innere Karussell einzusteigen. In Variante 2 hingegen erfahren wir die kraftvolle Dynamik des leidvollen Zusammenspiels von Gedanken, Gefühlen, Körper und Verhalten. Beide Varianten stehen uns als Potenzial zur Verfügung. Das einzige Problem ist, dass Variante 2 uns sehr vertraut ist und Variante 1 aus einer Märchenwelt zu kommen scheint.
Lassen Sie uns nun die verschiedenen Eigenheiten des inneren Karussells anschauen.
Wir kauen auf unseren Gedanken
Was wir mit Kühen zu tun haben? Wir sind Wiederkäuer.
Unsere sieben Mägen befinden sich im Kopf. Dort kauen wir endlos an unseren Gedanken. Uns geht es ähnlich wie Tanja:
„Gestern Abend, das Konzert war toll. Oh je, ich bin so müde. Ich brauch’ dringend noch ’nen Kaffee. Eigentlich wollte ich doch mehr auf meine Gesundheit achten. Wen soll ich heute noch gleich anrufen? Hab’ ich mir das im Büro aufgeschrieben? Oder liegt der Zettel zu Hause? Wann war ich eigentlich das letzte Mal auf ’nem Konzert? Warum fährt der so langsam. Schönes Auto. Ja, irgendwann möchte ich auch so einen fahren …“
Der volle Kopf und die kreisenden Gedanken werden Grübeln genannt. Das Grübeln ist wie Wiederkäuen. Wenn wir im Bett liegen und wiederkäuen, sind wir wie Kühe, die dasselbe tun. Nur sehen Kühe auf der grünen saftigen Wiese im Sonnenschein deutlich entspannter aus.
Für Tanja, eine Grafikdesignerin, war der Grund für den Wunsch nach therapeutischer Unterstützung nicht der volle Kopf. Sie lebte erfolgreich und brannte für ihren Beruf. Verlagsanstellung, tolle Partnerschaft, viele Freunde. Mit 33 Jahren hatte sie viel erreicht. Doch dann warf sie eine Trennung aus der Bahn. Die ersten Tränen waren schnell geweint und sie wollte wieder durchstarten. Das Yogaüben in ihrer Gruppe unterstützte sie. Danach war sie relaxter. Dann begann das mit dem schlechten Schlafen. Sie schlief schlechter, wachte mitten in der Nacht auf und der Kopf war voll: Erinnerungen an ihn, Vorwürfe an ihn, schöne Situationen mit ihm und Tränen.
Wenn wir grübeln, sind wir in der Regel gestresst. Brüten wir in passiver Weise über unseren Problemen und Unzulänglichkeiten, dann verstärkt das Wiederkäuen möglicher Ursachen oder Konsequenzen unsere missmutige Grundstimmung. Denn ein Merkmal des passiven Grübelns ist der Drang, weiterzukauen. Eine Gewissheit hält uns bei der Stange. Die Gewissheit, dass hinter der nächsten Ecke die Lösung lauert. Dort angekommen, ist es dann doch erst die nächste Ecke. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Wir müssen dranbleiben und erleben dieses Dranbleiben als sinnlos und überflüssig.
Neben dieser passiven Art des Grübelns gibt es die aktive Variante des Reflektierens. Hier ist es mehr ein Kauen als ein Wiederkäuen. Dabei lenken wir gezielt unsere Aufmerksamkeit, haben überraschende Ideen und können Probleme lösen.
Das Kreisen im Gedankenkarussell
Gedanken haben eine eigene Dynamik. Ein Gedanke führt zum nächsten. So reihen wir Gedanken aneinander. Fleißig produziert unser Gehirn Gedanke um Gedanke, es entstehen ganze Gedankenketten. Und diese sind bestens vernetzt. Wir surfen nicht nur im World Wide Web, sondern auch permanent in unserem Gedankennetz. Natürlich haben wir eine Suchfunktion: Begriff eingeben – Return-Taste – seitenlange Antwortlisten. Die Google-Funktion unseres Gehirns ist leistungsfähig. Bis zu 60.000 Gedanken denken wir pro Tag.
80 Prozent davon sind Wiederholungen. Das heißt, wir drehen uns im Kreis. Sitzen Runde um Runde in unserem Gedankenkarussell auf den immer gleichen Gedanken: mal auf dem Pferdchen, mal auf dem Löwen.
„Bin schon spät. Warum schleicht der da?! Meine Güte, und jetzt bremst der auch noch! Fahr doch! Was mach ich denn, wenn ich zu spät komme? Warum bin ich auch so spät los? Ich weiß eigentlich, dass ich zu dieser Zeit länger brauche. Nun kann ich Gas geben. Warum habe ich vorher nur wieder so getrödelt?!“
So schilderte Tim sein Erleben, nachdem er fünf Minuten verspätet zur vereinbarten Therapiestunde erschien. Er ist Polizist und ist es gerne, weil der Job abwechslungsreich und der Zusammenhalt unter den Kollegen gut ist. Zur Therapie kam er wegen Eheproblemen.
So wie Tim begleiten uns unsere Gedanken permanent. Wir führen Selbstgespräche und kommentieren sehr angeregt unser Tun und Lassen.
Gedanklich drehen wir uns in zwei Richtungen, mal rückwärts und mal vorwärts. Wir denken nach und wir stellen vor. Nachdenkend erinnern wir uns an das, was zurückliegt. Mit den Vorstellungen bewegen wir uns in die Zukunft. In beiden Richtungen kann das beschwerlich oder unbeschwerlich sein.
Nachdenken heißt: Etwas ist vorbei und dann startet unser Denken. Die Erinnerung ist wie ein Keil, der sich zwischen uns und unser Erleben treibt. Denken wir nach, sind wir besetzt: „Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Versuchen Sie es später noch einmal.“ Wir kreisen um uns selbst und sind in Gedanken versunken. Versunken in die Frage, ob etwas richtig oder falsch war; versunken in das „Ach, hätte ich es doch anders gesagt!“ des letzten Streits, der heute Morgen, vor einer Woche, einem Jahr war. Dabei sind wir mit der Aufmerksamkeit in der Vergangenheit.
Zu sehen beim Blick in den Rückspiegel: Bilder, Erinnerungen, in denen wir verbittert, ärgerlich, wütend waren, uns schuldig oder traurig gefühlt haben.
Ein unbeschwerter Blick in den Rückspiegel kann das Wissen ermöglichen, dass schwierige Momente vorübergehen und wir sie meistern können. Oder das Vertrauen in uns selbst und andere. Oder auch ein verlässliches Das-bleibt-so bei den Eigenheiten unseres Mannes/unserer Frau, unserem Verein oder unserer Yogaklasse.
Mit dem Vorstellen stellen wir das Zukünftige vor unser Erleben im Augenblick. Wir verstellen den Moment und kreisen. John Lennon sagte dazu: „Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“ Wie oft ist es so, dass wir beim Zähneputzen am Morgen an der imaginären To-do-Liste arbeiten, Termine hin und her schieben, alles auf Vollständigkeit prüfen, um bloß nichts zu vergessen und den Tagesablauf zu optimieren? Wir gehen von A nach B und sind innerlich schon bei C. Wir essen Mittag und sitzen in Gedanken schon wieder am Schreibtisch und bereiten das Nachmittagsmeeting vor. Während sich das Gedankenkarussell eifrig dreht, schmecken wir selbst das aromatische Curry nicht mehr.
Manchmal flüchten wir mit unseren Gedanken in die Zukunft, entfliehen dem erlebten Druck und Stress oder stellen vor unseren nervigen und aufreibenden Streit eine rosige Zukunft: „Wenn die Kinder erst mal aus dem Haus sind, dann …“ Oder wir träumen uns beim langweiligen Nachmittagsmeeting auf unser Sofa, startklar für das Binge-Watching der nächsten Staffel von Babylon Berlin, House of Cards, Grey’s Anatomy oder Sopranos. Die Sehnsucht lässt uns nach vorne schauen.
Oder Vorstellungen drehen sich um „Um-zu’s“: Diäten oder Intervallfasten, um abzunehmen; Karrierepläne, um sich zu verwirklichen oder finanziell abgesichert zu sein; einen neuen Yogakurs, um endlich zufrieden zu werden. Endlos können wir diese Liste fortsetzen. Immer mit dabei: unser momentanes defizitäres Leben und das erlösende Übermorgen.
Andere Szenarien einer vorgestellten Zukunft sind düsterer. Wir sorgen uns um das, was geschehen könnte, oder haben Angst vor dem, was kommt. Wir erleben uns dabei gestresst, angespannt, gereizt.
Unser Verweilen in einer imaginierten Zukunft bringt aber auch Positives mit sich. Mit dem von Lennon angemerkten Pläneschmieden können wir uns sicherer fühlen. Wir sind in der Lage, uns auf Wagnisse vorzubereiten, uns Ziele auszumalen und sie schrittweise umzusetzen. Keine vernünftige Yogapraxis ohne Struktur. Keine Psychotherapie ohne angemessene Behandlungsplanung. Manchmal lernen wir aus vergangenen Fehlern.
Egal, ob wir nachdenken oder uns etwas vorstellen. In beiden Fällen sind wir wie von Sinnen und haben kein offenes Ohr, riechen, schmecken, spüren nicht, weil unser Gedankenkarussell sich dreht. Löwen, Pferdchen und dann und wann ein weißer Elefant.
Die Gefühle im Gedankenkarussell
Nicht jeder Gedanke gleicht dem anderen, einige sind dynamischer als andere. Unsere Gefühle regulieren die Dynamik der Gedanken. Isolierte Gedanken existieren nicht. Gedanken sind vernetzt und emotional eingefärbt. Die Intensität der Gefühle entscheidet darüber, auf welchem Gedankenkarussell wir auf dem Rummel sitzen. Kinderkarussell, Kettenkarussell oder Star Flyer – das Kettenkarussell, das sich drehend dreißig Meter in die Höhe schraubt.