Vom Überfluss zur inneren Fülle - Oliver Bartsch - E-Book

Vom Überfluss zur inneren Fülle E-Book

Oliver Bartsch

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Beschreibung

Inmitten einer Welt, die unaufhaltsam wächst, konsumiert und entfremdet, erheben sich Fragen, die zum Innehalten zwingen: Was ist der Sinn meines Lebens? Welche Lebens-Aufgabe habe ich? Wie selbstwirksam kann ich leben? Dieses Buch ist kein sanftes spirituelles Trostpflaster, sondern eine radikale Erkundung des menschlichen Seins. Es verbindet die Erkenntnisse aus Achtsamkeit, Psychologie, Spiritualität und der Postwachstums-Ökonomie zu einem sinnvollen Ganzen. Es zeigt die fein verästelten Strukturen der Psyche auf, entlarvt Ersatzreligionen und rechte Esoterik und stellt die entscheidende Frage: Was bleibt, wenn die Wachstums-Ideologie endet?

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Oliver Bartsch

Vom Überfluss zur inneren Fülle

Oliver Bartsch

Vom Überfluss zur inneren Fülle

Selbstwirksamkeit statt Fremdbestimmung

Artikel, Essays und Rezensionen

Texte: © 2025 Copyright by Oliver Bartsch

Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Oliver Bartsch

Verlag:

Oliver Bartsch

Ringstraße 28

83128 Halfing

[email protected]

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Achtsamkeit

Leben in Achtsamkeit: Ein Retreat

Gewaltfreie Kommunikation

MBSR: Ruhe im Alltag finden

Psychologie

Ich habe ein Beziehungstrauma

Beziehungsangst: Interview mit Stefanie Stahl

Das Schatten- und das Sonnenkind

Berührung in der Psychotherapie

Intimität in Beziehungen

Die Struktur der Psyche

Beziehungstypen

Männerarbeit: Die 7 Archetypen der Seele

Mörderische Wut

Neuroplastizität: Ein Blinder lernt sehen

Wir-Kultur statt Ich-Kultur

Spiritualität

Brauchen wir einen spirituellen Lehrer?

Ersatzreligionen

Buddhistische Psychotherapie

Nichiren-Buddhismus: Mut, Weisheit und Mitgefühl

Seelenlehre: Die persönliche Seelenmatrix

Seelenwunden heilen

Taizé: Praktische Nächstenliebe

Postwachstumsökonomie

Degroth: Kritik am Wachstum

Der Billigwahn kommt uns teuer zu stehen

Ernährungssouveränität

Öko-Psychosomatik: Die Heilkräfte der Natur

Rezensionen

Entwicklungstrauma heilen

Das Ende des Kapitalismus

Rechte Esoterik

Achtsamkeit

Die westlichen Industriegesellschaften leiden am Überfluss, Reiz-Überflutung und zu viel Lärm. Das führt zu innerem Stress und psychosomatischen Beschwerden. Um dem vorzubeugen, ist es hilfreich, sich mit Methoden der Achtsamkeit zu beschäftigen.

Achtsamkeit bedeutet, den gegenwärtigen Moment bewusst wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten. Sie hilft, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und innere sowie äußere Wahrnehmungen bewusst zu erleben. Ursprünglich stammt das Konzept aus dem Buddhismus, wurde aber durch Jon Kabat-Zinn in der modernen Psychologie etabliert. Seine Methode MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) habe ich selbst ausprobiert und kann sie wärmstes empfehlen.

Sehr hilfreich für die Stress-Reduktion erwies sich auch ein österliches Retreat im Intersein-Zentrum bei Passau und ein Kurs in GFK (Gewaltfreie Kommunikation) nach Marshall Rosenberg.

Leben in Achtsamkeit

Ich habe kein Navi im Auto und möchte trotzdem das abgelegene Intersein-Zentrum finden, wo ich mich fünf Tage lang in Achtsamkeit üben will. Trotz Google-Maps und der Versicherung, dass es an der Straße ein Schild gibt, kann ich keins entdecken und irre orientierungslos durch die Gegend. In einem zünftigen bayrischen Wirtshaus frage ich nach einem von Laien geleiteten Zentrum für spirituelle Praxis und Meditation in der Übertragungslinie von Thich Nhat Hanh, dem Intersein-Zentrum für Leben in Achtsamkeit, was mit einem ungläubigen Achselzucken quittiert wird.

Zartes Grün

Erst als ich nach einem Ort frage, wo gestresste Großstädter nur durch Schweigen und Beten relaxen und zu sich selbst finden können, leuchtet ein verstehendes Wissen in den Augen der katholischen Wirtsleute: "Da müssen’s nur noch den Weg hochfahren und den Schildern folgen." Tatsächlich sehe ich nach wenigen hundert Metern ein kleines, verwittertes Holzschild mit dem Hinweis "Haus Maitreya".

Meine erste Lektion habe ich verstanden: "Vertraue darauf, dass du den Weg findest, auch wenn er noch vielleicht so weit entfernt scheint."

Ich komme zur Abendessen-Zeit an, genieße aber erst mal den grandiosen Ausblick, denn das Zentrum liegt eingebettet inmitten malerischer Hügel in unmittelbarer Nähe zum Nationalpark Bayerischer Wald. Ich setze mich auf eine Bank, die auf einer Anhöhe am Rand des Anwesens steht und den Blick auf ein atemberaubendes Landschafts-Panorama freigibt: Die Bäume tragen ein erstes zartes Grün, aber die in den Senken liegenden Schneereste zeugen noch vom nahen Winter.

Nonverbale Kommunikation

Ulrike, ein Mitglied der elfköpfigen Sangha, die ständig dort lebende spirituelle Gemeinschaft der Praktizierenden, zeigt mir das "Eichelhäher"-Zimmer, dass ich zusammen mit zwei anderen, mir noch unbekannten männlichen Besuchern teile. Ich muss wohl leicht die Augenbrauen nach oben gezogen haben, denn ich werde von Ulrike gefragt, ob mit meinem Bett etwas nicht in Ordnung sei und ob ich ein anderes möchte. Beschämt muss ich mir eingestehen, dass ich unangenehm überrascht war, eine auf dem Boden liegende Matratze und kein richtiges Bett vorzufinden, dies aber verbal nicht kommunizieren wollte und mich zu einer mir unbewussten nonverbalen Kommunikation habe hinreißen lassen. Ich stammele etwas von "Nein, ist schon in Ordnung so" und denke mir, dass die Mitbewohner nicht nur "Achtsamkeit" in ihre Werbe-Broschüre hineingeschrieben haben, sondern sie auch im Alltag praktizieren. Meine zweite Lektion: "Achte darauf, was du sagst und auch darauf, was du nicht sagst."

Buddha und Jesus

Das Oster-Retreat trägt den Titel "Lebendiger Buddha – lebendiger Christus". Karl Riedl, der zusammen mit Helga Riedl das Zentrum mit viel Liebe, aber auch Disziplin seit 1999 leitet, wird den rund vierzig aus ganz Deutschland und dem benachbarten deutschsprachigen Ausland angereisten Gästen – darunter vielen, die jedes Jahr wiederkommen – in vier Vorträgen seine Gedanken dazu nahe bringen.

Natürlich frage ich mich als blutiger Anfänger (ich meditiere erst seit zwei Monaten regelmäßig) schon, wie ich in mir das Christusbewusstsein und die Buddhanatur entdecken kann, die das im Prospekt angekündigt werden, aber nach fünf Tagen intensiver Zurückgeworfenheit auf mich selbst bekomme ich eine Ahnung davon, was es heißt, ein "Bodhisattva" zu sein. Meine dritte Lektion lautet: "Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen."

Aus dem Strom treten

Bevor die Buddhanatur in mir lebendig werden kann, heißt es fünf Tage lang alles ganz langsam tun: "Aus dem Strom treten" nennt Helga das bei der Begrüßung von uns Neuen – von den 42 Gästen sind nur acht zum ersten Mal hier. Entschleunigung ist also angesagt, beim Treppensteigen, beim Essen, beim achtsamen Tun (jeden Vormittag eineinhalb Stunden putzen oder im Garten arbeiten) – bei allem, was du tust. "Schenkt euch jeden Morgen im Spiegel ein Halblächeln", sagt Helga noch, und "der Geist sollte uns nicht beherrschen, erlauben wir ihm, sich auszuruhen", da rast mein Gedankenkarussell schon wie wild, weil ich hin- und hergerissen bin zwischen den tausend Fragen, die ich als Journalist noch habe und dem Verlangen nach innen zu gehen, zur Ruhe zu kommen, in die Stille zu gelangen.

Ich beschließe, keine Fragen zu stellen und früh zu Bett zu gehen, denn am nächsten Morgen reißt mich der Gong um 5.30 Uhr aus meinen Träumen, und ich wanke zur Morgenmeditation.Um 5.55 Uhr gelange ich in den Meditationssaal, verneige mich vor dem Buddha – eigentlich vor meiner Buddhanatur – und begebe mich auf den einzigen noch freien Platz: Ich bin der letzte, falle gleich vom viel zu schmalen Meditationskissen und versuche, mich bei der angeleiteten zwanzigminütigen Meditation nicht auf meine eingeschlafenen Beine, sondern auf meinen Atem zu konzentrieren. Wir sitzen dicht an dicht, und ein leichtes Gefühl der Beklemmung breitet sich in mir aus; der Soziopath in mir beansprucht mehr Platz und der Asthmatiker mehr frische Luft. Ich fange an zu schwitzen und atme in meine Beklemmung, in die Enge meines Brustkorbs hinein in der Hoffnung, dass er sich ein wenig öffnen möge und ich Gedanken, Ängste, Sorgen und Probleme loslassen kann. Dann endlich der erlösende Gong, dem sich eine fünfminütige Gehmeditation anschließt. Das Blut strömt in meine Beine zurück; dankbar nehme ich die Gelegenheit zur Bewegung wahr. Meine stillen Wünsche werden erhört, denn ein Mitglied der Sangha öffnet die Fenster; gierig sauge ich die frische Luft in meine Lungen.

Sonnengruß

Dann folgt die Morgen-Gymnastik, und ich entscheide mich für Yoga mit Helga, eine weise Entscheidung, denn schon nach zehn Minuten "Sonnengruß" bin ich wohltuend in meinem Körper angekommen und fange an zu schwitzen, diesmal aber nicht aus Beklemmung, sondern weil mein Puls auf 180 ist. Erstaunt stelle ich fest, dass Helga, obwohl schon fast siebzig Jahre alt, so gelenkig ist wie eine 18-Jährige und alle Übungen mit ruhiger, nicht-außer-Atem kommender Stimme erklärt, während ich und die anderen Praktizierenden schon außer Atem sind: "Ich war steif wie ein Brett, als ich vor dreißig Jahren mit Yoga anfing", versichert sie uns. Seitdem praktiziere sie jeden Morgen ihr Yoga, dass ihr Frische und ein gutes Körpergefühl beschere. Ich beschließe, ab heute jeden Morgen den Sonnengruß zu machen, um mit siebzig auch noch so jugendlich und fit zu sein wie sie. Meine vierte Lektion lautet: "Es ist nie zu spät, mit etwas anzufangen, solange du es regelmäßig praktizierst."

Achtsames Tun

Im Morgenkreis fassen wir uns alle an den Händen, werden uns unseres Atems bewusst, singen ein gemeinsames Lied und werden für "das achtsame Tun" eingeteilt – eine Art Arbeitsmeditation. Ich melde mich zum Glastüren putzen, eine auch in meiner Freizeit außerordentlich befriedigende Tätigkeit, denn sie sorgt für den klaren Durchblick. Während des Tages erklingt in unregelmäßigen Abständen ein Gong, der zum Innehalten, zum Unterbrechen des Redens oder Tuns, zum Wahrnehmen des Atems und damit des Lebens einladen soll. Ich erwische mich dabei, wie ich noch mehr Zeit schinden will, indem ich den Teebeutel noch während des Gongs in das heiße Wasser tauche, damit er während der Pause ziehen kann, und ich so die zwei Minuten Stille nicht vergeude. Wie tief ich von dem Gedanken geprägt bin, mehrere Dinge auf einmal zu tun, um Zeit zu sparen, und mich damit vom "zur Ruhe kommen" selbst abhalte, wird mir erst im Laufe dieses Retreats so richtig bewusst.

Wenn ich spüle, spüle ich

Im Spülraum hängt ein Schild: "Wenn ich spüle, spüle ich; wenn ich esse, esse ich; wenn ich schlafe, schlafe ich." Genau das ist der Kern des achtsamen Tuns, der täglichen Praxis, die sehr schwer umzusetzen ist und der täglichen Übung bedarf. Nur wer sich voller Aufmerksamkeit auf das konzentrieren kann, was er gerade tut, sei es spülen, spazieren gehen oder einen Bericht wie diesen schreiben, wer sein Bewusstsein wie einen Laserstrahl auf sein jeweiliges Tun – und später auch Denken – richten kann, der nähert sich seiner Buddha-Natur, die ein Leben voller Liebe, Frieden, Glück und Mitgefühl bedeutet.

Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zunächst muss ich mal verkraften, dass meine sauber geputzten Glastüren am nächsten Tag vor lauter unachtsamem Anfassen schon wieder voller Fingerabdrücke und Fettflecken sind, und mich weht der Hauch der Vergeblichkeit und die Vergänglichkeit allen Tuns an. "Du musst nichts erreichen, sei einfach wachsam und aufmerksam im Hier und Jetzt", hält mir eine Teilnehmerin entgegen, als ich mich über die Unachtsamkeit beschwere, wie hier mit geputzten Glastüren umgegangen wird. Meine fünfte Lektion lautet: "Sei tolerant deinen Mitmenschen gegenüber, andere Menschen gibt es nicht."

Nichts tun

Karl Riedl zitiert in seinem österlichen Vortrag ein Gedicht von Bertold Brecht:

Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang.Der Fahrer wechselt das Rad.Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?

"Was will uns Bertold Brecht damit sagen? Er beschreibt eine wichtige innere Bewegung: Wir sollten den Radwechsel – der nichts anderes ist als eine spirituelle Krise – dazu benutzen, den Feldherrnhügel zu besteigen, eine höhere Warte einzunehmen. Wir sind immer noch mit allem verbunden, aber mit einem Abstand, der es uns erlaubt, aus dem Verurteilen auszusteigen und nur das wahrzunehmen, was ist, ohne Bewertung, ohne Urteil, ohne Anklagen, ohne Suchen nach dem Warum, ohne etwas gut oder schlecht zu finden. Ankommen bei uns selbst ist die grundlegende Praxis, der Kern allen Lebens. Wer bin ich? Wo bin ich? Was mache ich gerade? Wir sind es nicht gewohnt, aus dem Strom unseres Denkens auszutreten, wir alle sind mit dem absurden Gedanken verbunden, irgendwann irgendwo anzukommen. Dabei ist selbst der Tod nicht endgültig, sondern nur der Übergang von einer materiellen in eine andere Form der Existenz. Wir müssen lernen, zu stoppen. Stillwerden, hinschauen, das ist der erste Schritt auf einem spirituellen Weg."

Innere Freiheit

Das bedeute aber nicht, auszusteigen, Urlaub vom Ich zu machen, alles hinter sich zu lassen, denn dann werde alles nur noch schlimmer. Eines Tages kommt dann das böse Erwachen, und man holt zum Rundumschlag aus gegen die bösen Umstände: "Die spirituelle Praxis bedeutet, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, tue ich erst mal nichts, nehme eine höhere Warte ein und frage mich, was tue ich hier eigentlich? Bin ich Opfer oder auch Täter? Am Ende dieses inneren Prozesses der wachen und klaren Selbstbeobachtung steht die Befreiung, die Unabhängigkeit vom äußeren Geschehen. Buddha und Jesus waren sich im Grad der Wachheit und Erleuchtung gleich, sie waren keine Sozialrevolutionäre und haben das System, in dem sie lebten, angenommen. Sie waren aber offen und wach für das Dasein, waren mutig genug, auf das menschliche Miteinander zu achten. Beide hatten einen immensen inneren Freiheitsgrad, der es ihnen erlaubte, den Weg des Herzens und des Mitgefühls zu gehen, auch wenn es gerade eine Gruppe betraf, die gesellschaftlich nicht sehr geachtet war", erklärt Karl.

Die Auferstehung des Geistes

"Wir alle haben das Potential zu erwachen", fährt Karl fort. "Es ist an keine soziale Schicht und keine berufliche Position gebunden, das ist die Botschaft von Jesus und Buddha. Die größten Hindernisse der Befreiung sind dabei: Rituale, Gewohnheiten, Konditionierungen. Die bringen uns in das Gefängnis, aus dem wir heraus nicht mehr sehen können, was Sache ist. Ängste, Blockaden, Vorwürfe – alle Formen der Ablehnung setzen uns zu. Wir sind nicht erschöpft, wir haben nur zu viele Baustellen. Wir haben genug Energie, wir müssen nur ein paar Baustellen schließen und die Energie dem Augenblick schenken, dann handeln wir wach und klar, sind präsent und geistesgegenwärtig. Jesus und Buddha haben ihre geistige Kapazität auf Laser umgestellt und nicht auf eine diffuse 20 Watt Nachttischlampe, wie die meisten von uns, das ist das Geheimnis von der Kraft des Geistes. Das ist die Botschaft von Ostern: die Auferstehung des Geistes aus der selbstverschuldeten Trägheit und Stumpfheit", gibt uns Karl mit auf den Weg.

Gehmeditation

Auf der am Nachmittag stattfindenden Gehmeditation haben wir Gelegenheit, das Gesagte schweigend zu verinnerlichen und in die Praxis umzusetzen. Ich spüre unter den Fußsohlen die verschiedenen Untergründe: Asphalt, Wiese und Laub, die Wärme der Sonne und die Kühle des Schattens. Nehme den unterschiedlichen Vegetationsstand der Bäume wahr, höre das sanfte Plätschern des Wassers und den einsamen Ruf eines Amselhahns. Ich erwische mich dabei, wie ich gerade an nichts gedacht, nur gespürt habe, was um mich ist. Ich fühle mich aufgehoben und geborgen. Meine sechste Lektion lautet: "Es braucht nicht mehr als einen wachen Geist und ein offenes Herz, um sich von der Schönheit des Moments berühren zu lassen."

Ich-Bezogenheit

Nach meinen ersten Achtsamkeitserfolgen verfalle ich in eine Art Hochleistungsaufmerksamkeitstraining, womit ich mich so sehr unter Druck setze, dass ich wieder in meine alten Gewohnheiten verfalle und mich dafür verurteile, wie erbärmlich wenig ich davon umsetzen kann, was Karl predigt und die Gemeinschaft der Praktizierenden vorlebt. Aber auch hier kommt mir der Vortrag von Karl zu Hilfe: "Das zweite Hindernis auf dem Weg der Befreiung ist die Illusion, dass mein Ego, mein Ich, völlig unabhängig von allem Übrigen existiert. Ohne Ich wären wir nur Tomaten. Wir brauchen ein bewusstes Ich, aber keine Ich-Bezogenheit, die denkt, alles ist nur dazu da, um uns zu ärgern und Probleme zu machen. Wir sollten unser angeblich so böses Ego nicht an die Wand nageln und zerstören wollen, das ist Gewalt. Wir sollten liebevoll mit unserer Ich-Bezogenheit umgehen und auch unsere langsamen Fortschritte würdigen. Wir alle wollen ins reine Land, mit aller Unzulänglichkeit, Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit. Seien wir gnädig zu uns selbst und verzeihen uns, wenn wir wieder in Unachtsamkeit und Unbewusstheit fallen."

Mitgefühl

Sehr viel gäbe es noch zu sagen, was fünf Tage Stille und Achtsamkeit mit mir gemacht haben. Nur zwei Dinge, die mich tief bewegt haben, möchte ich aus alledem herausgreifen. Im Morgenkreis haben wir oft gemeinsam das Lied an die "Gottheit des Mitgefühls" gesungen, schon da hat mich ein noch nie erlebtes Gefühl für die Gemeinschaft bewegt. Während des Retreats erreichte Helga die Nachricht, dass ein ehemaliger Teilnehmer und Freund des Hauses im Sterben liege und als letzten Wunsch geäußert habe, noch einmal das Lied an die Gottheit des Mitgefühls zu hören. Da er aber zu schwach zum Reisen war, haben wir es dem Sterbenden am Telefon vorgesungen und ihm damit einen letzten Herzenswunsch erfüllt.

Voller Dankbarkeit ließ er durch seine Frau ausrichten, dass er jetzt beruhigt sterben könne. Mir schießen bei der Erinnerung an diesen bewegenden Moment immer noch die Tränen in die Augen, denn es war für mich das erste Mal im Leben, dass ich mich mit allem verbunden gefühlt habe – mit den Menschen um mich herum, mit dem todkranken Menschen am Telefon, ja sogar mit dem ewigen Kreislauf von Geburt du Tod, dem wir nicht entrinnen können.

Schweigen aushalten

Neben dem Innehalten, der Entschleunigung ist vor allem das Schweigen für die Praxis der Achtsamkeit wichtig. Alle Mahlzeiten werden schweigend eingenommen. Zum einen soll das der Nahrungsaufnahme die gebührende Aufmerksamkeit schenken: Die Nahrung ist ein Geschenk des Universums und das Ergebnis von viel Mühe und Liebe. Zum anderen ist es eine gute Übung, dabei auf sein Körpergefühl zu achten und so besser spüren zu können, wann der Körper satt ist, denn oft ist man in Gedanken so weit weg vom Essen, dass der Geist es gar nicht mitbekommt, dass der Körper mehr isst als gut für ihn ist. Das Schweigen ist aber vor allem gut für die menschlichen Beziehungen, so paradox es sich zuerst anhören mag. Schweigendes, einfühlsames Zuhören ist die Grundlage jeder achtsamen Kommunikation, wie auch die Methode der "gewaltfreien Kommunikation" des Amerikanischen Psychologen Marshall Rosenberg zeigt, der sein Modell mit Erfolg schon in höchst konfliktträchtigen Situationen zur Anwendung gebracht hat."Je stiller es draußen ist, desto lauter ist es in uns", sagt Karl weiter. "Deswegen ist es so schwer, die Stille auszuhalten. Dann kommen die äußeren Ängste – es passiert nichts mehr, ich fühle mich ausgegrenzt – und die inneren Ängste vor den eigenen Gedanken, den hervorbrechenden Gefühlen von Sinnlosigkeit. Aber es ist gut, wenn wir die Stille eine Weile aushalten, denn nur in der Stille kommen innere Bilder hoch, die wir dann ausfüllen und so ein erfülltes Leben führen können. Wir wachsen dann in das hinein, was uns von tiefstem Herzen erfüllt".

Ich bin angekommen

Ich stimme ihm zu: Das gemeinsame Schweigen legt sich wie Balsam um meine von unachtsamen Worten gerissenen Wunden. Ich atme auf, fühle mich angenommen und bei mir angekommen – ich bin zu Hause. Ein letztes Mal besteige ich mit einem breiten inneren Lächeln meinen Feldherrnhügel, setze mich auf die Bank und betrachte die Landschaft, die durch die warmen Ostersonnentage zum Leben erwacht ist. Aus dem Strom treten und innehalten. Uns unseres höheren Selbst bewusst werden, unserer Verbundenheit und Aufgabe im Leben. Wie schön wäre es, wenn man seine innere Glocke auch im Alltagsgetümmel ertönen lassen könnte! Meine siebte Lektion lautet: "Ich bin angekommen, ich bin zu Hause."

Gewaltfreie Kommunikation

Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) erhöht die Wahrscheinlichkeit, die eigene Bedürfnisse zu erfüllen und befriedigende Beziehungen aufzubauen, die auf Empathie und Wertschätzung beruhen.

Neulich saß ich nach einem ausgiebigen Schwimmen am See auf einer Bank und sonnte mich. Neben mir hing ein Handtuch, das eine Dame dort platziert hatte, während sie im See schwamm. Da kam ein älterer Mann, schüttelte den Kopf und sagte zu mir: „Jetzt sitzen Sie auf der Bank wie auf einem Thron und ihr Handtuch liegt neben Ihnen, und für andere Leute ist gar kein Platz mehr.“ Ich merkte, wie leichter Ärger in mir hochstieg, denn er hatte eine falsche Vermutung angestellt, mich indirekt bewertet und verurteilt – und hörte ich nicht auch eine indirekte Forderung an mich? Er möchte wahrscheinlich gern einen Platz auf der Bank, aber er hat sein Bedürfnis indirekt durch Bewertung, Interpretation und Vermutung ausgedrückt. Ich hörte Kritik und ging in den Widerstand. Gleichzeitig sank meine Bereitschaft fast auf den Nullpunkt, sein Bedürfnis zu erfüllen.

Die 4 Schritte der Gewaltfreien Kommunikation

Diese Art der Kommunikation, die der Begründer der Methode Marshall B. Rosenberg als lebensentfremdend bezeichnet, blockiert die Verbindungen zwischen Menschen und trägt zu psychischer oder physischer Gewalt bei.

Dabei gibt es vier einfache Schritte, wie man sein Bedürfnis gewaltfrei kommunizieren kann.

Beobachten: In einem ersten Schritt wird die Situation beobachtet und wertfrei beschrieben. Es ist von großer Bedeutung, dass lediglich ein Zustand beschrieben wird, der nicht bewertet wird. In unserem Beispiel könnte die bewertungsfreie, neutrale Beobachtung in Ich-Form so lauten: „Ich sehe, dass Sie auf der Bank sitzen und ein Handtuch neben Ihnen hängt und auf der Bank jetzt kein Platz für mich ist.“

Gefühl: In einem zweiten Schritt wird beschrieben, was diese Beobachtung emotional in uns auslöst, und zwar ohne indirekte oder direkte Verurteilung: „Das ärgert mich, und ich bin besorgt…,“

Bedürfnis: In einem dritten Schritt wird das beschriebene Gefühl ergänzt durch die Formulierung des eigenen Bedürfnisses. Dieser Schritt ist manchmal schwierig, weil es uns nicht leichtfällt, zu sagen, welches Bedürfnis wir konkret haben. In unserem Beispiel könnte das Bedürfnis vielleicht lauten: „Ich bin müde, und ich brauche eine Pause, bevor ich schwimmen gehe. Ich habe Probleme mit meinem Rücken und es fällt mir schwer, auf dem Boden zu sitzen.“

Bitte: Abschließend wird in einem vierten Schritt durch eine Bitte beschrieben, wie das Bedürfnis erfüllt werden kann. Hier kann und soll das erste Mal das Wort „du“ fallen. Die Bitte sollte sich möglichst konkret auf den aktuellen Zustand beziehen und möglichst positiv formuliert werden. Das heißt, dass gesagt werden soll, was man sich wünscht, nicht, was unterlassen werden soll. Auch soll die Bitte so formuliert werden, dass diese mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden kann. Bei der gewaltfreien Kommunikation nimmt man in Kauf, dass die Antwort tatsächlich „Nein!“ ist. In unserem Beispiel könnte die Bitte so lauten: „Ich möchte gerne, dass Sie Platz machen, damit ich eine Weile hier auf der Bank sitzen kann. Ist das in Ordnung für Sie?“

Das Menschenbild

Bei der gewaltfreien Kommunikation wird von einem Menschenbild ausgegangen, wie sie die „Human Potential“ Bewegung propagiert, nämlich dass Menschen von Grund auf gut und kooperativ sind und von Natur aus ein Interesse daran haben, sich gewinnbringend in eine Gemeinschaft einzubringen und Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Menschen zu nehmen. Unangemessenes, trotziges und feindseliges Verhalten ist demnach ein tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse – ein Ausdruck der Frustration über die nicht gewürdigte Kooperationsbereitschaft der Menschen und nicht Ausdruck ihrer natürlichen Bösartigkeit oder ihres Egoismus. Dass die Kooperationsbereitschaft grundsätzlich vorhanden ist, hat evolutionäre Gründe.

Jahrtausende lang war das Leben ein Kampf ums Überleben, Ressourcen waren knapp. Da galt es in der Gemeinschaft den anderen zur Seite zu stehen und gemeinsam dafür zu sorgen, dass es ein Dach über dem Kopf und genügend Nahrung für alle gab. Das Ganze versprach umso erfolgreicher zu sein, je mehr man sich aufeinander verlassen konnte und einander half. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen tatsächlich überaus kooperativ sind, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Gefühle und Bedürfnisse ernst genommen werden und sie die Freiheit haben, selbst entscheiden zu dürfen. Kommuniziert man empathisch mit ihnen, fühlen sie sich wertgeschätzt und übernehmen diese Art, sich auszutauschen. Wenn man nachvollzieht, wie sich jemand fühlt, kann man auch dessen Bedürfnisse verstehen. Werden die eigenen Bedürfnisse ernst genommen und berücksichtigt, ist man selbst viel eher bereit, die der anderen auch zu erfüllen.

Die Grundlagen

Die Gewaltfreie Kommunikation basiert hauptsächlich auf dem Konzept der Freiwilligkeit – ich bitte um eine Handlung die mir helfen kann, mein Bedürfnis zu erfüllen, nehme aber auch in Kauf, dass die Bitte nicht erfüllt wird. Wenn ich also eine Bitte formuliere, dann weiß ich vorher, dass ich ein „Nein!“ akzeptiere. Wenn ich ein „Nein!“ nicht akzeptieren kann, dann formuliere ich eine Forderung. Diese Differenzierung ist sehr wichtig, denn je mehr ihr bittet, desto weniger werden eure Bitten diskutiert und desto größer wird die Wahrscheinlich, dass eure Bedürfnisse erfüllt werden.

Je mehr ihr fordert, bewertet und urteilt, desto mehr Kritik und Widerstand kommt euch entgegen und desto wahrscheinlicher wird es, dass eure Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Die konkreten Handlungen zur Erfüllung dieser Bedürfnisse nennt man Strategien. Der alte Mann war müde und brauchte eine Pause, eine Erholung. Sitzen auf der Bank war seine Strategie. Mehrere Strategien können uns helfen, unser Bedürfnis zu erfüllen. Gab es ein Stuhl in der Nähe für ihn? Oder vielleicht ein Auto, wo er sich eine Weile erholen kann? Oder ein Glas Wasser, falls er dehydriert war? Die Gewaltfreie Kommunikation geht von einem partnerschaftlichen und liebevollen Umgang miteinander aus. Sie basiert zum einen auf dem Verstanden werden und zum anderen auf dem Verstehen des Gegenübers. Es sollen gemeinsam Wege gefunden werden, Konflikte zu lösen – ohne Vorwürfe, ohne Machtausübung und ganz ohne moralische Urteile. Grundlage für die Gewaltfreie Kommunikation ist Empathie – also die Fähigkeit die Gedanken, Gefühle und Beweggründe des Gesprächspartners zu verstehen.

Für die Gewaltfreie Kommunikation ist es wichtig, auch die Bedürfnisse des Anderen zu sehen und zu verstehen und die eigenen Bedürfnisse so zu formulieren, dass ein empathischer Kontakt zwischen den Personen entsteht. Damit wird es einfacher für beide, sich zu öffnen für mögliche Strategien zu Erfüllung der Bedürfnisse beider Personen. Ohne diesen Kontakt gibt es ein größeres Risiko, dass jemand eine Abwehrhaltung einnimmt.

Gewaltfreie Kommunikation heißt aber auch: Ich nehme in Kauf, dass mein Bedürfnis möglicherweise nicht erfüllt wird durch die erste Strategie, an die ich denke. Aber es gibt viele mögliche Strategien, und alle Bedürfnisse können durch eine Strategie erfüllt werden. Erfüllte und unerfüllte Bedürfnisse sind für die Gewaltfreie Kommunikation die Ursache von Gefühlen. Ist ein Bedürfnis erfüllt, fühlen wir uns verbunden, friedlich, ruhig, entspannt, angenehm, befreit, wohl, kraftvoll, energetisch, freudvoll, mitfühlend, leicht, unbeschwert oder vergnügt. Bleibt ein Bedürfnis unerfüllt, fühlen wir uns bedrückt, eifersüchtig, beschämt, schuldig, erregt, angespannt, kraftlos, unruhig, ärgerlich, wütend, verletzt, angeekelt, verwirrt oder traurig.

Kooperation durch Bitten

Bitten werden als Forderungen aufgefasst, wenn der andere davon ausgeht, dass er beschuldigt oder bestraft wird, wenn er nicht zustimmt. Wenn jemand eine Forderung von uns hört, dann sieht er nur zwei Möglichkeiten: Unterwerfung oder Rebellion. In beiden Fällen wird die bittende Person als jemand wahrgenommen, der Zwang ausübt, und so lässt die Bereitschaft des Zuhörers, einfühlsam auf die Bitte einzugehen, rapide nach. Wie findet man heraus, ob es sich um eine Forderung oder eine Bitte handelt? Einfach beobachten, wie sich der Sprecher verhält, wenn seine Bitte nicht erfüllt wird. Wenn der Sprecher dich kritisiert, verurteilt oder dir Schuldgefühle macht, war es eine Forderung. Wenn der Sprecher anschließend einfühlsam auf deine Beweggründe und Bedürfnisse eingeht, die zur Ablehnung der Bitte geführt haben, dann war es eine Bitte. Wir können anderen helfen, uns zu vertrauen, dass wir bitten und nicht fordern, indem wir deutlich machen, dass wir nur dann ihre Zustimmung möchten, wenn sie freiwillig gegeben wird. Wenn wir eine Bitte statt einer Forderung auswählen, heißt das nicht, dass wir unser Anliegen aufgeben, wenn jemand auf unsere Bitte mit „Nein“ antwortet. Wir müssen dann schauen, welche Alternativen wir haben, unser Bedürfnis erfüllt zu bekommen. Es heißt aber ganz sicher, dass wir erst dann einen neuen Überzeugungsversuch starten, wenn wir einfühlsam auf die Gründe reagiert haben, die die andere Person von einem „Ja“ abhalten.

Bitten, deren Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie erfüllt werden, zeichnen sich durch fünf Kriterien aus:

Sie sind positiv formuliert

Sie sind konkret, kurz und prägnant Sie sind gegenwartsbezogen Sie sind erfüllbar Sie setzen Freiwilligkeit voraus, können also auch mit einem „Nein“ beantwortet werden

Eine Bitte, die alle Kriterien für die Gewaltfreie Kommunikation erfüllt und darüber hinaus noch Gefühle und Bedürfnisse miteinander verknüpft, könnte so lauten: „Ich bin hier mitten im Kochen und merke gerade, dass mir da ein paar Zutaten fehlen. Weil mir wichtig ist, das Essen pünktlich um 12 Uhr fertig zu haben, wenn Vati nach Hause kommt (Bedürfnis nach Pünktlichkeit), weiß ich gar nicht, wie ich das schaffen soll (Gefühl der Überforderung). Könntest Du deshalb für mich gerade noch diese drei Zutaten besorgen?“ Wenn mir die Reaktion auf meine Bitte nicht gefällt, kann ich in die Schleife der Verständigung eintreten, indem ich empathisch auf die Gefühle und Bedürfnisse meines Gegenübers eingehe. Werden diese Schleifen mehrmals durchlaufen, lassen sich in aller Regel Lösungen finden, mit denen alle zufrieden sind. So kann es beispielsweise sein, dass der eine sieht, wie wichtig das Anliegen für den anderen ist und sich spontan entscheidet, die Bitte zu erfüllen. Oder der andere kann die Bedürfnisse des einen sehen, die diesen davon abhalten, die Bitte zu erfüllen. Deshalb sucht der andere dann gern nach weiteren Möglichkeiten, sich sein Bedürfnis zu erfüllen.

Empathisch zuhören

Die Gewaltfreie Kommunikation kann in folgendem Satz zusammengefasst werden: „Wenn ich a sehe, dann fühle ich b, weil ich c brauche. Deshalb möchte ich jetzt gerne d.“

Auch als Haltung für das empathische Zuhören empfiehlt Rosenberg, aus dem, was der andere sagt, diese vier Informationen herauszufiltern, da sie in der Regel das Herz der Botschaft darstellen. Zur Überprüfung, ob seine Deutung stimmt, kann der Zuhörende anbieten, was er in Form der vier Schritte hört („Fühlst du …, weil dir … wichtig ist?“). Das kann auch hilfreich sein, wenn der Sprecher durch dieses Spiegeln selber mehr Klarheit darüber gewinnt, was er eigentlich ausdrücken will. Das ausgesprochene und stille empathische Zuhören ist ein wesentlicher Aspekt der Anwendung von Gewaltfreier Kommunikation. Für jeden Menschen ist es unglaublich wichtig, das Gefühl zu haben, verstanden zu werden. Das klingt recht profan, ist aber wirklich essentiell. In Konflikten haben wir es oft mit starken Gefühlen zu tun, die unsere Verletzungen und Wunden triggern. Manchmal möchte ich mich beleidigt zurückziehen, dem anderen quasi durch Liebesentzug zeigen, wie sehr ich verletzt bin.

Das ist ein von meinen Eltern erlerntes Verhalten – in meiner Kindheit war das ihr Mittel, mich zu bestrafen. Auch in solchen Situationen wirkt die Gewaltfreie Kommunikation überraschend deeskalierend. Wenn unser Gegenüber merkt, dass wir ernsthaft an seinen Gefühlen interessiert sind und gewohnt ist, dass konstruktiv eine Lösung gesucht wird, wird sich die Situation schneller entspannen, als wenn mit Macht und Druck gearbeitet wird. Wenn eine Problemlösung im Gespräch nicht möglich ist und zur Setzung von Grenzen führt, spricht Marshall Rosenberg von der schützenden Anwendung von Macht, die er von der strafenden Anwendung unterscheidet. Während letztere den Fokus hat, menschliches Verhalten auf Basis von Bestrafung zu ändern (was oft zum gegenteiligen Effekt führt, nämlich zur Abwehr des gewünschten Verhaltens), geht es bei ersterer darum, weitere Verletzungen zu verhindern und für Schutz zu sorgen, aus dem heraus überhaupt erst wieder die Bereitschaft entstehen kann, erneut in Kontakt zu treten.

Ärger und Wut ausdrücken in vier Schritten

Die Gewaltfreie Kommunikation beschäftigt sich sehr zentral mit Ärger, wobei es darum geht, Ärger nicht wegzudrücken, sondern anzunehmen und vollständig auszudrücken. Ärger wird in der Gewaltfreien Kommunikation, ähnlich wie Wut, Empörung, Schuld und Scham, als Folge unseres moralischen, verurteilenden und Schuld zuweisenden Denkens gesehen, was die Welt in Kategorien von „richtig“ und „falsch“ einteilt und sprachlich wenig Wahlfreiheit bietet. Ärger drückt sich sprachlich in Schuldzuweisungen, Vorwürfen, Unterstellungen, Drohungen oder Strafanweisungen aus. Zusätzlich wird Ärger von gedanklichen Formulierungen begleitet wie: „Dieses oder jenes sollte und dürfe man nicht tun oder man müsste etwas tun.“ Jeder Ärger enthält einen bereichernden Kern, da hinter ihm immer unerfüllte Bedürfnisse liegen, die wahrgenommen und erfüllt werden möchten. Ärger ist eine gute Gelegenheit, noch besser mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Marshall Rosenberg empfiehlt vier Schritte, um unseren Ärger vollständig auszudrücken:

Innehalten, atmen: Wir halten uns von jeglicher Regung zurück, den anderen zu beschuldigen oder zu bestrafen. Wir bleiben einfach still.

Unsere verurteilendenGedanken identifizieren: Wir finden heraus, welcher Gedanke uns wütend macht.

Kontakt mit unseren Bedürfnissen herstellen: Da wir wissen, dass hinter ärgerlichen Gefühlen unerfüllte Bedürfnisse stecken, nehmen wir Kontakt mit den Bedürfnissen hinter den Gedanken auf.

Unsere Gefühle und unerfüllten Bedürfnisse aussprechen: Wir sprechen unseren Ärger aus, der jetzt in Bedürfnisse und die dazugehörigen Gefühle umgewandelt worden ist.

Wertschätzung ausdrücken

Marshall Rosenberg sah Lob und Komplimente als lebensentfremdend an, weil damit Urteile kommuniziert würden, egal ob negativ oder positiv. Für ihn sind die herkömmlichen Formen von Anerkennung oft mit einer Absicht verbunden und damit manipulativ. Da Anerkennung und Wertschätzung aber grundlegende Bedürfnisse jedes Menschen sind, schlägt er folgende Art der Wertschätzung vor, die zum gemeinsamen Feiern einlädt und aus drei Bestandteilen besteht: Wir benennen die Handlung, die zu unserem Wohlbefinden beigetragen hat Wir benennen unser Bedürfnis, dass zufrieden gestellt wurde Wir benennen unser freudiges Gefühl als Ergebnis der Handlung Wenn Wertschätzung uns gegenüber so ausgedrückt wird, dann können wir Sie ohne Selbstüberschätzung oder falsche Bescheidenheit annehmen und gemeinsam mit demjenigen, der sie uns gibt, feiern. Statt einen Schüler für sein Gedicht mit den Worten zu loben: „Toll gemacht“ können wir sagen: „Als du dein Gedicht vorgetragen hast, habe ich mich an meine Jugend erinnert und fühlte mich leicht und glücklich. Das löst in mir das Bedürfnis aus, auch wieder kreativ zu werden.“

MBSR: Ruhe finden im Alltag

Die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR) wurde von dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn Ende der 70iger Jahre entwickelt, um Stress durch Achtsamkeitsübungen zu reduzieren. MBSR wird von Krankenkassen bezahlt und an vielen Reha-Kliniken angeboten. Ich habe den achtwöchigen Kurs ausprobiert…

Ich hatte es verdammt nötig, so einen MBSR-Kurs zu machen. Ich konnte mich schlecht konzentrieren, war oft abgelenkt, habe schlecht geschlafen, war ungeduldig, dauernd unzufrieden mit mir und meinem Leben und irgendwie neben der Spur, nicht so ganz bei mir. Zudem plagten mich immer mehr Zipperlein angefangen von Atemwegserkrankungen über Magenprobleme bis hin zu Zahnfleischbluten. Über die Warteliste bin ich in letzter Sekunde noch in den begehrten MBRS-Kurs gerutscht und hatte so schon mein erstes Erfolgserlebnis, obwohl ich noch keine Sekunde meditiert hatte.

Der achtwöchige Kurs (jeweils 2,5 Stunden) ist jeweils einem Thema gewidmet (etwa „Achtsamkeit und Stress“ oder „Achtsamkeit und Wahrnehmung“ oder „Achtsamkeit und Kommunikation“) und mit jeder Menge formeller Übungen gespickt. Später habe ich erfahren, dass es nicht so sehr auf die formellen als vielmehr auf die informellen Übungen ankommt, das heißt es ist wichtiger, dem Alltag achtsam zu begegnen als jeden Tag die formellen Übungen zu machen. Am besten, du machst beides, dann bist du auf der sicheren Seite.

Die formellen Übungen stammen aus der hinduistischen und buddhistischen Meditationspraxis und bestehen aus folgenden Elementen:

Bodyscan: die Einübung achtsamer Körperwahrnehmung

Yoga: das sanfte und achtsame Ausführen einer Anzahl von Yogastellungen im Liegen und Stehen

Sitzmeditation: das Kennenlernen und Einüben des Stillen Sitzens

Gehmeditation: das achtsame Ausführen langsamer Bewegungen

dreiminütige Atemmeditation

Die Übungen der achtsamen Körperwahrnehmung wurden aus körpertherapeutischen und körperpsychotherapeutischen Methoden abgeleitet. Yoga steht in der hinduistischen Tradition, die Sitzmeditation und Gehmeditation sind der buddhistischen Meditationspraxis (Zazen und Vipassana) entliehen. Bei allen Übungen steht im Vordergrund das nicht-beurteilende Annehmen dessen, was gerade im Augenblick wahrnehmbar ist. Das können Körperempfindungen, Gefühle, Sinneswahrnehmungen oder Gedanken sein.

Achtsamkeit als Lebenshaltung

Warum ist es so wichtig, dass Achtsamkeit die Grundlage des gesamten Lebens wird? Das ist nicht so leicht zu beantworten, denn Achtsamkeit täglich zu praktizieren klingt erstmal ziemlich anstrengend und kaum praktikabel. Meine vorläufige Antwort lautet: Durch Achtsamkeit machst du dir bewusst, wie viel in deinem Leben nach automatisierten Gewohnheitsmustern abläuft, von denen du im Alltag kaum etwas mitbekommst. Das heißt ohne Achtsamkeit für das, was du gerade tust, bist du nicht im hier und jetzt, sondern mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt und nicht ganz da. Für mich bedeutet Achtsamkeit eine Zeit der Stille, des Fühlens und des Spürens. Nicht nur, wenn ich allein bin, sondern auch beim Einkaufen, beim Autofahren oder beim gemeinsamen Essen. Ich mache kein überforderndes Multitasking mehr, sondern tue die Dinge hintereinander: Wenn ich esse, esse ich, und rede nicht, schaue kein Fernsehen und höre kein Radio. Wenn ich mich dusche, dann dusche ich mich, spüre das Wasser auf meiner Haut, die Wärme, die Kälte, den Schaum des Shampoos, die Berührung meiner Hände auf der Haut etc. Vor dem MBSR-Kurs war ich Weltmeister im Multitasking, habe während des Zähneputzens das Kaffeewasser angemacht, während des Kaffeetrinkens Zeitung gelesen und während des Zeitunglesens darüber nachgedacht, welche Artikel ich noch schreiben muss. In Wirklichkeit ist kein Mensch multitaskingfähig, auch Frauen nicht. Es führt nur dazu, dass du die Dinge schlecht und unkonzentriert machst.

Die sieben Grundlagen des MBSR

Was ich bei Kursleiterin Kristin Turnblad gelernt habe, sind vor allem die sieben Grundlagen der Achtsamkeit und das Achtsamkeit etwas ganz Natürliches ist, dass jedem Menschen angeboren ist und in der Kindheit meistens verlernt wird. Achtsamkeit ist etwas anderes als Entspannung, auch wenn Entspannung wichtig ist. Achtsamkeit ist auch mehr als einfach vorsichtig zu sein oder besonders aufzupassen. Insofern ist dieses Wort Achtsamkeit, das sich zum „Unwort“ entwickelt hat, erklärungsbedürftig: Achtsamkeit ist das ruhige und gelassene Wahrnehmen von allem was in unserem Gewahrsein auftaucht, also auch schwieriger Gedanken und Gefühle. Achtsamkeit erlaubt uns, dieses eigene Erleben ohne Scheu zu betrachten und mit dem zu sein, was gerade da ist, unabhängig davon, wie schwierig es ist. Dazu braucht es allerdings ein Training. Denn wie wir wissen, kann das was in unserem Gewahrsein auftaucht auch beunruhigend oder gar beängstigend sein. Die Erfahrung und die Forschung haben gezeigt, dass ein Training von acht Wochen bereits einen erheblichen Unterschied machen kann. Üben wir die Achtsamkeit im Alltag, können daraus innere Ruhe, Kraft, Lebenslust und Arbeitsfreude geschöpft werden.

1. Nicht-Beurteilen